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Briefe an Gary

von

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Post

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„Milch?“

„Etwas Zucker, bitte.“

Der Löffel klirrte, als Sokrates seinen Kaffee umrührte, bevor er an dem brühheißen Getränk nippte. Gary leerte das Kännchen Milch in seine Tasse, trank aber keinen Schluck. Er schaute den Mann, der ihm hier an seinem fünfundzwanzig Stunden alten Küchentisch an seinem ersten richtigen Tag als Verstorbener gegenüber saß und seelenruhig in seinem Kaffe rührte, neugierig an.

„Ist etwas?“, fragte dieser, als er Garys Blick bemerkt hatte. Gary lehnte sich zurück.

„Nun ja, ich weiß ja nicht, ob und wie Tote so über die Welt der Lebenden informiert werden, aber unter anderen Umständen würden wir mit unserem Kaffeekränzchen weltberühmt werden, wissen Sie.“

Sokrates gluckste und stellte seine Tasse ab.

„Den einen oder anderen Professor musste ich auch schon abwimmeln. Und ja, wir sind über die Lebenden informiert, eigentlich sogar recht gut. Aber weißt du, neben Elvis, Caesar und der Hälfte der Beatles bin ich hier relativ unauffällig.“ Er schmunzelte. Gary aber war hellhörig geworden.

„Und wie macht man sich hier über das Diesseits schlau?“

„Zeitungen, Fernsehen, auch Internet. Du kannst die Nachrichten und Medien der Lebenden hier empfangen. Aber bevor du fragst: Diese Verbindung ist größtenteils einseitig. Durch unsere Erinnerungen können wir uns, beziehungsweise, könnt ihr euch eure modernen Geräte erschaffen und sie mit uns alten Hasen teilen“, erklärte er und nahm einen weiteren Schluck. „Aber frag mich nicht, wie ihr die aktuellsten Meldungen bekommt.“

„Hier ist eben nichts an irdische Bedingungen gebunden“, wiederholte Gary Sophies Worte. „Was soll das heißen: Größtenteils einseitig?“

„Eigentlich ist das die Aufgabe deiner Betreuerin, aber na ja. Es heißt schlicht und einfach, dass wir zwar so ziemlich alles aus der Welt der Lebenden mitkriegen, aber andersrum können sie uns so gut wie nie wahrnehmen.“ Sokrates wurde von einem schrillen Läuten unterbrochen. Gary brauchte ein Weilchen, bis er begriff, dass es seine Türklingel war, die da durch die Zimmer gellte. Er eilte zur Tür und betätigte den Summer.

„Und, wer war das?“, fragte Sokrates, als Gary wieder hineinkam.

„Der Postbote“, antwortete er, ließ sich auf seinen Platz fallen und öffnete den dicken braunen Umschlag, den ihm der Kurier lächelnd gegeben hatte. Er riss die Längsseite auf und ein Schwall Papiere ergoss sich auf den Tisch, obenauf ein Zeitungsartikel des örtlichen Käseblatts von Cockermouth.
 

Jugendlicher tot durch Pfusch der Ärzte

Gestern gegen acht Uhr abends wurde der 18-jährige Gary Catrall, Sohn des Gemeindevorsitzenden Roger Catrall, tot in seinem Zimmer aufgefunden.

Da die Leiche Spuren eines vermeintlichen Kampfes trug, wurde sie noch in der folgenden Nacht in die Gerichtsmedizin gegeben. Die zuständigen Pathologen gaben nun Entwarnung: Gary sei kein Opfer von Gewalt geworden, sondern einer Lungenembolie, verursacht durch gelöstes Knochenmark, erlegen; die Verletzungen verursachte er selbst während der krankheitstypischen Krampfanfälle.

„Gary hatte chronische Osteomyelitis, war deswegen in Behandlung“, erzählte seine Mutter, Eileen Catrall, unserem Reporter. „Er wurde regelmäßig untersucht, immer ohne Befund.“

Osteomyelitis ist eine Knochenerkrankung, die häufig nach einem Bruch auftritt. Bakterien dringen in das Knochenmark ein und infizieren es. Bei chronischer Erkrankung bildet sich um die Betroffene Stelle eine Knochenverdickung, in der die Bakterien unerreichbar für jedwede Medikamente sind. Ablösung des Knochenmarks und das Gelangen dieses Stückes in die Blutbahn ist eher selten, aber nicht auszuschließen.

Was veranlasste die Ärzte, auf diese Nebenerscheinung nicht zu achten, wo sie unbehandelt durchaus tödlich sein kann?

Auch wenn wir es erfahren, wird die Einsicht der Ärzte für Gary und seine Familie zu spät kommen.

Er wird Mittwoch im Kreis der Familie und Freunde beigesetzt.
 

„Und?“

Gary schreckte hoch; über den Artikel des unbeliebten, aber von Allen gelesenen Wochenblattes hatte er seinen Gast komplett vergessen. Er warf einen angewiderten Blick auf den letzten Satz und reichte Sokrates den Zeitungsausschnitt. Während der alte Mann las, wühlte Gary sich durch die restlichen Papiere, die in dem Umschlag gewesen waren; gut fünfzehn Leserbriefe, die seinen Arzt mehr oder minder stark beschimpften. Außerdem fand er diverse Trauerkarten und Mitleidsbekundungen an seine Eltern, einen Autopsiebericht und letztendlich eine Einladung zur Beerdigung.

Seiner Beerdigung.

Ich werde da sein, dachte er bitter und bemühte sich, das seidene Briefpapier nicht zu zerreißen.

Sokrates hatte den Artikel inzwischen durchgelesen und zu den Leserbriefen gelegt.

„Warum bekomme ich Post aus dem Diesseits?“, fragte Gary, während er die Papiere grob ordnete und in den Umschlag zurückstopfte. Sokrates räusperte sich.

„Das ist so etwas wie eine Dienstleistung. Nein, eher Tabletten, oder vielleicht ein Herzschrittmacher.“

Gary hob fragend die Augenbrauen. Der alte Mann leerte seine Tasse und fuhr fort:

„Unsere Wohnungen richten wir doch ein, indem wir uns an unser altes Zuhause erinnern, nicht wahr?“

Gary nickte.

„Und die Medien der lebenden können wir empfangen, weil die jüngeren Verstorbenen die Erinnerungen an Fernseher und Radios und so weiter mit uns allen teilten, nicht wahr?“

„Jaah, kann sein.“

„Was könnte es also bedeuten, wenn ich sage, dass diese Erinnerungen unsere Herzschrittmacher sind?“

Gary überlegte, während er den braunen Großbrief anstarrte.

„Dass wir ohne Erinnerungen nicht leben können?“

„Korrekt.“ Sokrates nickte. „Wir existieren, weil jemand sich an uns erinnert. Alles, was wir tun, tun wir mit Erinnerungen. Wenn du nun hinausgehen und den Supermarkt besuchen würdest, würde er für dich anders aussehen, als für jemanden, der Zeit seines Lebens in einem anderen Supermarkt eingekauft hat, ganz einfach, weil das Gebäude in seiner Erinnerung ein anderes ist als das in deiner.“

„Macht Sinn. Aber was passiert, wenn sich keiner mehr an mich erinnert? Oder diese Leute sterben?“

„Wenn sie sterben, dich aber nicht vergessen haben, dann ist es kein Problem. Ihr könntet euch sozusagen gegenseitig am Leben erhalten“, erklärte Sokrates. „Allerdings, wenn du vergessen wurdest, bevor die betreffenden Personen gestorben sind… dann verblasst deine Seele und du verschwindest, aber niemand weiß wohin.“

Gary starrte ihn ungläubig an. Die katzenförmige Uhr seiner Mutter tickte unanständig laut, während das Schweigen wuchs. Sokrates räusperte sich.

„Das hört sich schlimm an, aber es kann noch schlimmer kommen.“

„Wie?“, fragte Gary atemlos.

„Indem man Selbstmord begeht.“ Er ließ seine Worte sacken, dann erklärte er: „Die Menschen zu meiner Zeit dachten, die Seele ist unsterblich, und das denken viele, viele Menschen auch heute noch. Aber ich habe dir ja eben erklärt, dass dem nicht so ist.

Und dieser Glaube, dass die Seele das womöglich das Unsterblichste überhaupt ist, machte sie zum kostbarsten aller käuflichen und nicht käuflichen Güter; nicht ohne Grund wurden Selbstmörder auf anderen Friedhöfen beerdigt.“ Sokrates nickte bestätigend, als er sah, dass diese Information neu für Gary war.

„Diese Menschen starben also im festen Glauben, für immer an Gottes Seite zu bestehen, und dann kamen sie hierher und haben gesehen, dass sogar die unendlich kostbare Seele vergänglich ist.“

„Und dann? Haben die dann beschlossen, jeden zu bestrafen, der seine Seele wegschmeißt?“

„Fast“, sagte Sokrates und runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, ob es die ersten zivilisierten Toten so veranlasst haben oder irgendein Gott. Jedenfalls, wenn du dir das Leben nimmst, bevor es eigentlich enden sollte, kommst du zwar auch hierher, allerdings in eine Art abgesperrten Bereich.“

„Ins Gefängnis?“, fragte Gary ungläubig.

„Nein, auch nicht ganz. Sie leben eigentlich wie wir, können aber nicht überall hin. Außerdem sind sie seit ihrer Ankunft hier verpflichtet, sollte eine unschuldige Seele vor ihrer Zeit durch Gewalt aus dem Diesseits gerissen werden, eben jene Seele durch Einsatz ihres zweiten Lebens zu beschützen.“

„Also eine Art Schutzengel?“

Sokrates schüttelte den Kopf.

„Wenn es diesem – gut, nennen wir sie vorläufig Schutzengel – wenn es diesem Engel nicht gelingt, die Seele zu retten, muss er seine eigene Seele in diesen Körper schließen und so das Leben retten.“

„Aber das würde ja heißen“, rief Gary und wurde mit jedem Wort aufgeregter, „wenn man so ein Engel wäre, könnte man sich einen Körper, dessen Seele dann eh schon tot ist, reinschmuggeln und weiterleben!“

Sokrates’ Reaktion stieß ihn in seiner Begeisterung vor den Kopf. Der alte Mann riss erschrocken die Augen auf und rief: „Himmel, nein!“

„Warum?“, fragte er und ließ die Tischkante los.

„Wenn diese Engel ihre Seele opfern – ja, opfern! – dann geht ihre gesamte Persönlichkeit verloren. Sie nehmen alle Eigenschaften der verstorbenen Seele an; dabei geben sie aber ihre eigenen auf und da ihre Seele dann nicht mehr als die ihre existiert, verschwinden sie auch aus den Erinnerungen.

Es ist, als hätte es sie nie gegeben.“

Die katzenförmige Uhr tickte empört.

„A-aber… Das geht doch… das kann nicht…“

Doch Sokrates nickte nur traurig.

„In all meinen Jahren hier habe ich oft erlebt, wie vor allem junge Verliebte von einem Tag auf den anderen, einige Male sogar schon eine Minute später vergaßen, von wem sie mir gerade vorschwärmten.“

„Wie können Sie mir das erzählen, wenn es diese Personen nie gegeben hat?“

„Aus demselben Grund, aus dem du dich gerade darüber wundern kannst: Ich habe sie nie persönlich getroffen.“ Sokrates machte eine kurze Pause und schenkte sich nach, bevor er fortfuhr. „Ich sagte, es ist, als hätte es sie nie gegeben. Das stimmt aber nicht ganz. Leben hinterlässt immer Spuren; ihre Seelen mögen gegangen sein, aber ihre Taten bleiben. Stell dir nur vor, ich hätte den Freitod gewählt: Ich möchte ja nicht angeben, aber dem heutigen Diesseits würde es jetzt an Einigem fehlen.“

„Also um es genauer zu definieren, es verschwinden die Gefühle und Eigenschaften der Seele, nicht aber, was sie einmal getan hat; aber weil sonst nichts existiert, kann man diese Taten mit keiner Person verbinden und sich deshalb nicht an sie erinnern?“

„So könnte man das sagen“, brummte der alte Mann. „Gefühle sind aber auch eine Sache für sich; Liebe verschwindet nicht einfach so. Wie sollte sie auch? Auf der ganzen Welt, in dieser und in jener, gibt es nichts, das so wunderbar und grauenvoll zugleich sein kann.“

„Ich kann nicht ganz folgen.“

„Pass auf: Stell dir vor, du wachst eines Morgens auf, und in dir, irgendwo in deinem Herzen verspürst du eine innige Zuneigung, die du dir nicht erklären kannst. Das ist fast unmöglich, aber versuch es einfach.“

Gary schloss die Augen. In seinem Herzen gab es eine Menge Zuneigung, aber jedes Mal, wenn er in diese Wärmequelle in seinem Innern eintauchte, erschienen in seinem Kopf die Gesichter seiner Familie und seiner Freunde. Er versuchte, die Erinnerung an sie zur Seite zu schieben und sie zu ignorieren, doch besonders eine Person drängte sich immer wieder ins Rampenlicht. Er öffnete die Augen wieder und merkte, dass Sokrates’ Augen ihn ein weiteres Mal röntgten.

„Wirklich vorstellen konnte ich es mir nicht, aber ich glaube, ich würde mich fragen, wen oder was ich so liebe“, antwortete er, nachdem er noch einmal erfolglos versucht hatte, Alice aus seinen Gedanken zu vertreiben.

„Und so ist es auch“, sagte Sokrates. „Starke Gefühle wie Liebe oder Hass verschwinden nicht so schnell. Ich weiß aber nicht, was ich deprimierender fände: Dem erneut Gestorbenen nachzutrauern oder nicht zu wissen, wer oder was so einen großen Platz in meinem Herzen ausfüllt.“ Er blickte gedankenverloren an die Decke und drehte Däumchen. Garys Blick wanderte erneut zu dem braunen Großbrief, der zwischen ihnen auf dem Holztisch lag.

Eine Weile hörte man nur die geschwätzige Küchenuhr, die fortwährend tickte und die Minuten fraß wie ein hungriger Wolf. Schließlich erhob sich Sokrates.

„Nun ja, ich denke, ich werde dich dann allein lassen“, sagte er, leerte seine Tasse erneut und schritt dann, von Gary gefolgt, zur Tür. Auf seiner Fußmatte angekommen, drehte er sich noch einmal um und blickte seinen Nachbar an.

„Wenn ich du wäre, würde ich mal in meinen Briefkasten schauen.“ Damit öffnete er seine Wohnungstür und ließ Gary allein im sonnendurchfluteten Treppenhaus zurück.

Mit dem Wohnungsschlüssel in der Hand lief Gary die Treppen hinunter ins Erdgeschoss; die Nachmittagssonne strahlte durch die Glastür herein und der Staub aalte sich in ihrem Licht. Inzwischen hatte jemand ein Namensschild an seiner Klingel angebracht. Er öffnete die blecherne Tür seines Briefkastens und fand tatsächlich einige Briefe darin. Während er die Treppen wieder hinaufstieg, sah er flüchtig seine Post durch. Neben einem seriösen Umschlag, der die Adresse des stellvertretenden Gemeindevorsitzenden trug, fand er auch einen an das Käseblatt adressierten Brief, ein paar karierte Zettel, die unverkennbar die Handschriften seiner Klassenkameraden trugen und – er schnappte nach Luft und fühlte, wie sein Herz zu seinem Adamsapfel hüpfte – einen Brief von Alice.

In seiner Wohnung angekommen, stieß Gary die Tür mit dem Fuß zu und ließ sich mit der Post auf sein Bett fallen. Es drängte ihn, den geliebten Umschlag aufzureißen, und es kostete ihn alle Mühe, sich das Schönste aufzubewahren und erst die anderen Briefe zu lesen.

Der Brief des Stellvertreters seines Vaters enthielt nur die übliche Beileidsbekundung, die niedere Arschkriecher in einem solchen Fall schreiben oder eher schreiben mussten, um auch ja mitfühlend und voller Anteilnahme zu erscheinen.

Im an das Klatschblatt adressierten Umschlag fand er einen Zettel Blankopapier, auf dem in der Handschrift seiner Mutter stand:
 

Gary Catrall

18. Mai 1991 – 21. April 2009

Im engsten Kreise nehmen wir Abschied

Von unserem geliebten Sohn, Bruder und Freund,

der so jung hat sterben müssen.
 

Die Wucht, mit der ihn diese Todesanzeige, seine Todesanzeige, traf, war härter als erwartet. Gary brachte es kaum über sich, die Briefe seiner Freunde und Bekannten zu lesen. Er ließ es auch bald sein, nachdem der dritte Brief einer nahezu fremden Person wieder die unendliche Trauer und Fassungslosigkeit gegenüber eines so sinnlosen Todes beteuerte. Gary war fast ein wenig enttäuscht, dass keiner seiner Kumpel ein Wort über sein Ableben verloren hatte.

Na ja, sagte er sich selbst, immerhin sind es Jungs, und so lang bist du auch noch nicht tot. Du liegst ja nicht mal unter der Erde.

Achtlos warf er die Briefe, bis auf den seiner Mutter, in den Müll, bevor er – vor Aufregung zitternd – den letzten Umschlag aufriss.
 

Lieber Gary, stand da durchgestrichen.

Nein, das ist blöd. Du bist nicht lieb.

O Gott, ich hasse dich so sehr. Wie kannst du mich nur allein lassen?!

Schon mal daran gedacht, dass es hier Leute gibt, die dich vermissen, wenn du einfach so ins Gras beißt?

Hast du vielleicht ein einziges Mal in Erwägung gezogen, wie ich mich fühlen würde, wenn du ohne ein Wort abkratzt?!

Nein, das ist auch nicht richtig. Du kannst da ja nichts für. Wenigstens nicht viel.

Was ist nur los mit mir?

Sieh mich doch an, ich bin so hilflos, dass ich einen Brief an einen Toten schreibe. Zu blöd, dass ich deine neue Adresse nicht kenne.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Oder was ich denken soll.

Schwing doch mal deinen Hintern von deiner rosa Wolke und sieh dir an, was du mit mir gemacht hast.

Siehst du es?

Nein, wie auch. Der Herr hat sich ja entschlossen, die Augen nie wieder zu öffnen.

Da auf meinem Bett liegen meine Fotoalben. Und daneben das Sweatshirt, das ich dir schon ewig zurückgeben wollte.

Das Grüne. Das Schwarze habe ich an.

Mir ist nie aufgefallen, dass es nach dir riecht.

Eigentlich ist es Selbstmord, es zu tragen.

Aber es wäre ebenfalls Selbstmord, es nicht zu tun.

Was, wenn es verschwindet? Geklaut wird, verbrennt? Was bleibt mir dann von dir, bis auf die Fotos?

Ich bereue es, meine Kamera nicht öfter mitgenommen zu haben. Ich bereue so vieles im Moment. Ich bereue jedes einzelne Mal, das ich dir ein Treffen absagen musste.

Wie konnte ich denn nur so kostbare Zeit verschwenden?

Ich werde sparsamer sein. Ich werde jede Minute an dich denken.

Komisch, wie kalt es im Frühling werden kann.

Ich vermisse dich so entsetzlich, jetzt schon.

Allein der Gedanke, morgen aufzuwachen – vorausgesetzt, ich kann schlafen – und zu wissen, dass der zweite Tag, ein Tag von vielen, ohne dich anbricht, macht mich wahnsinnig.

Du kannst doch nicht einfach aufhören zu existieren! Sieh mich doch an!

Siehst du, wie fertig ich bin?

Ich kann die Fotos nicht mehr sehen, aber wenn ich sie wegräume, habe ich Angst, dich zu vergessen.

Ist das nicht krank? Zwei Tage und ich fürchte mich davor, die Erinnerungen an dich zu verlieren.

Die Uhr tickt entsetzlich laut.

Hilf mir, Gary.
 

Etwas Heißes tropfte auf Garys Hand und holte ihn zurück in die Gegenwart. Er bemerkte, dass es eine Träne war, die sich ihren Weg seinen Nasenrücken entlang gebahnt hatte, bis sie todesmutig auf seine Hand und den Brief, den er umklammert hielt, herabstürzte. Er merkte auch, dass ihr viele weitere Tränen folgten, aber er machte sich nicht die Mühe, sie abzuwischen oder zu verbergen.

Wozu auch? Hier war niemand außer ihm.

Er war allein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2010-11-06T15:08:40+00:00 06.11.2010 16:08
Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Tote uns mit ihrer Abwesenheit strafen und nicht damit, dass sie als Geister zurückkehren.
Vielleicht wäre es genau das, was Alice in diesem Moment brauchen würde.

Irgendwie klang ein Teil des Briefes erstaunlich selbstsüchtig, aber vermutlich trauern die meisten Menschen tatsächlich aus diesem Grund, nicht weil der Tote nicht mehr alles mögliche Erleben kann, sondern weil sie es sind, die zurückgelassen wurden.

Ein wirklich interessantes Kapitel.
Obwohl man sich vermutlich darüber streiten könnte, ob Sokrates nicht doch so etwas wie Selbstmord begangen hat.

LG
Zwiebel
Von:  Shinosuke
2010-11-05T20:48:58+00:00 05.11.2010 21:48
Ich hab's ja vorhin schon gesagt und sag's gerne wieder:
Du hast echt Talent.
Das ist echt schön und super zu lesen.
Ich freu mich auf die nächsten Kapitel.


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