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Hannah lehnte an einem Baum, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, und blinzelte in die Sonne. Vor ihr lag das imposante Gebäude aus roten Backsteinen, in dem sich im Moment Dutzende von Schülern aufhielten. Ihre alte Highschool und die jetzige Schule ihrer Nichte Lucy und ihres Neffen Luke. Niemals hätte sie gedacht, dass ihre Schwester ihre Kinder ebenfalls in diese Schule schicken würde, hatten sie sie doch immer als "abgewrackt" und "Saftladen" bezeichnet.
Aber nun, sieben Jahre später, war sie kurz versucht, ihre Meinung vielleicht doch noch zu ändern. Links und rechts ragten zwei Türmchen in die Höhe, der Haupteingang war überdacht und gesäumt von zwei ebenfalls roten Säulen.
Mit dem großen Schulhof, bestehen aus Blumenbeeten, Bänken und der riesigen, grünen Wiese machte das alles einen idyllischen Eindruck, doch Hannah wusste, dass sich in diesen roten Backsteinwänden Dramen, Ungerechtigkeiten, persönliche Horrorszenarien und die ganz großen Liebesromanzen abspielten. Für die einen mehr hiervon, für die anderen mehr davon.
Nein, zurück in die Schule wollte sie auf keinen Fall mehr. Erwachsen und unabhängig zu sein, das hatte schon etwas für sich, fand sie.
Sie gähnte. Hätte sie sich nicht an die peniblen Anweisungen ihrer Schwester gehalten, die dazu geführt hatten, dass sie eine ganze Viertelstunde früher auf dem Schulgelände angekommen war, hätte sie nun nicht so lange in der brütenden Hitze warten müssen. Nur im Auto sitzen zu bleiben wäre schlimmer gewesen. Aber anders kannte sie es von Tess nicht, die immer darauf bedacht war, niemals zu spät zu kommen, alles richtig zu machen und immer tipp topp vorbereitet zu sein. Ihre Schwester, die Perfektionistin, ganz im Gegensatz zu Hannah selbst. Manchmal ging ihr das ziemlich auf den Senkel, aber mit der Zeit hatte sie gelernt, ihr einfach nachzugeben. So gab es weniger Streit und es war eine gute Möglichkeit, Tess bei Laune zu halten.
Hannah grummelte. Wann würden die vermaledeiten Lehrer die Kinder endlich aus ihren Gefängnissen entlassen? Es war Freitag Nachmittag, die Sonne schien erbarmungslos auf die trockene Erde herab und sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendwer im Umkreis von fünfzig, ach Quatsch, hundert Meilen tatsächlich Lust hatte, lieber in einem stickigen, alten Schulgebäude zu versauern, als an die frische Luft zu gehen und den sonnigen Tag zu genießen.
Die Tür des Haupteinganges öffnete sich und Hannah atmete schon erleichtert auf, doch es war nur ein einzelner junger Mann, wahrscheinlich ein Lehrer, der sich durch den kleinen Spalt hindurchzwängte, unter dem einen Arm seine Tasche, mit der anderen Hand, in der er ein Buch hielt, die Tür aufhaltend. Hannah erinnerte sich noch sehr gut daran, wie schwer das massive Ding aufzukriegen war. Ganz offensichtlich hatte in den sieben Jahren niemand daran gedacht, ein paar Neuerungen einzuführen, die alles ein bisschen einfacher und moderner machten.
Der junge Mann blieb kurz stehen, warf einen Blick zum wolkenlosen, blauen Himmel und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Allzu glücklich sah er nicht gerade aus, fand Hannah, doch das war ja auch kein Wunder. In seinem schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt, Hemd und Krawatte war ihm sicherlich viel zu heiß.
Amüsiert betrachtete sie ihn, als er näher kam, doch dann blinzelte sie.
"Nathan?"
Der Angesprochene hob den Blick und blieb wie vom Donner gerührt stehen, starrte sie an.
"Hannah?" In seinem Ausdruck spiegelten sich Überraschung - und fast schon so etwas wie Entsetzen wider.
Sie lächelte ihn an. "Ja. Ich wusste gar nicht, dass du hier unterrichtest. Warte. Du unterrichtest doch, oder? Hast du nicht Literatur studiert oder so?"
Er nickte und fühlte sich ganz und gar unwohl. "Ja, ich... Ich bin hier Lehrer. Seit zwei Jahren. Und du...?"
Hannah winkte ab. "Ich hol nur Lucy und Luke ab. Heute ist Babysittingtag. Eigentlich das ganze Wochenende. Tess und Rob machen einen Wochenendtrip irgendwo in die Pampa", plauderte sie frei heraus.
Sie kannte Nathan schon ihr Leben lang, doch sie waren nie wirklich Freunde gewesen. Aber wer könnte ihnen das bei einem Altersunterschied von über vier Jahren verübeln? Er hatte ihr Nachhilfe gegeben, damals, vor über sieben Jahren, als sie kurz davor stand, ihren Abschluss wegen amerikanischer Geschichte in den Sand zu setzen.
"Ach, so ist das", sagte er nur, sah sich ein wenig hilflos um und probierte es dann mit einem unsicheren Lächeln.
Hannah war nur allzu bereit, seine Schweigsamkeit zu kompensieren. "Tess hat mir gar nicht gesagt, dass du hier arbeitest. Hast du auch Lucy oder Luke im Unterricht?", wollte sie neugierig wissen. "Dann könntest du mir von ihren Schandtaten berichten und ich hätte über das Wochenende Erpressungsmaterial."
Nathan lächelte irritiert. "Ich hatte noch keinen von beiden in meinen Kursen."
"Hm. Dann muss ich mir was Anderes einfallen lassen", sagte Hannah mit einem Stirnrunzeln und deutete dann auf sein Buch. "Was liest du da?" Sie legte den Kopf schief und versuchte, den Titel zu entziffern.
"Oh, das?" Nathan hielt es hoch. "Das ist nur unsere nächste Lektüre. Für den Literaturkurs."
"Der große Gatsby? Ist das nicht ein wenig zu melodramatisch?"
Nathan schüttelte vehement den Kopf. "Ganz und gar nicht. Es enthält eine Menge Kritik an der Gesellschaft, dazu die obligatorische Tragik von Liebe, Verrat und Verlust, wie sie Teenager heutzutage lieben. In diesem Buch begegnet man vielen Menschen, die es nicht schaffen, aufrichtig zueinander zu sein und ehrliche Liebe zu empfinden, abgesehen von Gastby, dem alles andere völlig egal scheint, aber-"
"Und da sieht man wieder einmal, wozu Liebe einen führt. Er wird doch erschossen, oder?"
Nathan hüstelte. "Ja, das ist richtig. Er hat sich aufgeopfert für... für Daisy", schloss er lahm. Er hatte Hannah keinen Vortrag halten wollen, aber anscheinend hatte er es noch nicht geschafft, sich für heute aus dem Klassenzimmer zu verabschieden.
"Ich glaube", überlegte Hannah, "ich finde Happy-Ends besser. Doch, klare Sache. Gilt das etwa nicht für deine Teenager?"
Nathan schaute sie einen Augenblick lang schweigend an, doch dann trat ein besorgter Ausdruck auf sein Gesicht, so etwas wie eine plötzliche, beunruhigende Erkenntnis. "Doch... vielleicht... darüber habe ich noch nicht nachgedacht."
"Solltest du mal, Herr Lehrer. Vielleicht was mit ein wenig schmutzigem Sex, dann hättest du die Aufmerksamkeit gewiss." Sie lachte über seinen schockierten Blick und bemerkte mit Entzücken, wie seine Ohren und Wangen sich leicht rötlich verfärbten. "Nur Spaß. Ich weiß, ihr müsst euch an gewisse Vorgaben halten, nicht?"
"Ja, das stimmt, es ist-" Er wurde von der Schulglocke unterbrochen und nur Sekunden später wurde die Eingangstür weit aufgerissen und ein Meer an Kindern und Jugendlichen bahnte sich den Weg in die Freiheit.
"Endlich", kommentierte Hannah, während sie an Nathan vorbeispähte und versuchte, in der Menge ihren Neffen und ihre Nichte ausfindig zu machen.
Die Teenielawine rollte auf beide zu, doch kaum einen Meter vor ihnen teilte sich der Menschenstrom wie eine Flussgabelung, und lief rechts und links von ihnen weiter. Fasziniert betrachtete Hannah das Geschehen, bis jemand sie von hinten durch einen Hechtsprung attackierte.
Hannah lachte, drehte sich zu Luke um und grinste ihren elfjährigen Neffen an. "Na, Lucky, alles klar bei dir?"
Er strahlte. "Ja! Ich hab heute keine Hausaufgaben auf und Mom und Dad sind das ganze Wochenende über nicht da. Kriegen wir heute zum Abendessen Eis? Biiiittte!"
Wie aus dem Nichts tauchte Lucy neben ihnen auf. "Oh ja, Tante Hannah. Ich weiß auch schon, wo wir das beste Eis der Stadt kriegen. Hey, Mr. C.", begrüßte sie Nathan in ein und demselben Atemzug, ohne ihn richtig wahrzunehmen.
"Tz", machte Hannah gespielt entrüstet. "Eis zum Abendessen. Niemals! So etwas würde eure Mutter nie erlauben." Sie zwinkerte den beiden zu.
"Cool!", rief Luke, schubste seine Schwester zur Seite und rannte los. "Wer erster beim Auto ist darf vorne sitzen!"
"Das ist unfair!", kreischte Lucy aufgedreht und nahm dennoch die sofortige Verfolgung auf. "Ich bin älter! Na warte!"
Als die Luft rein war, wandte sich Hannah wieder an Nathan. "Wo hast du geparkt?"
"Da hinten." Er hob die Hand und deutete auf ein paar wenige Parklücken unter einer Ansammlung von Ahornbäumen, Hannah's Blick jedoch blieb an seinem langen Ärmel hängen.
"Ist dir nicht heiß?", wollte sie erstaunt wissen und betrachtete die ersten Schweißperlen auf seiner Stirn, die unter dem wirren, schokoladenbraunen Haar hervorlugten.
"Um ehrlich zu sein, doch, ja. Aber da drin gibt es eine Klimaanlage und bis jetzt hatte ich noch nicht die Zeit-" Er unterbrach sich räuspernd. "Ist ja auch egal. Wo parkst du? Ich könnte dich zu deinem Wagen begleiten..."
Nathan hielt inne und blickte Hannah mit zurückhaltender Erwartung an.
"Genau neben dir anscheinend", lachte sie und strich sich eine blonde Strähne ihres Haares zurück.
"Wenn du willst", begann sie, als beide den Weg zu ihren Autos antraten, "kannst du ja auch mitkommen, heute Abend. Es sei denn, Eis gehört nicht zu deinen Grundnahrungsmitteln."
Sie freute sich, als sie ihm damit ein ehrliches Lächeln entlocken konnte.
"Ich möchte euren Familienabend nicht stören", winkte er höflich ab, aber Hannah hatte nicht vor, ihn so einfach von der Leine zu lassen.
"Du störst doch nicht. Wir haben uns... wann das letzte Mal gesehen? Jedenfalls seit einer Ewigkeit nicht mehr. Die Kinder seh ich dauernd. Ich will alles wissen, was hier los gewesen ist, solange ich weg war. Tess ist so spießig, die würde niemals irgendwelchen Klatsch und Tratsch erzählen."
Nathan kramte geschäftig in seiner Tasche nach seinem Autoschlüssel, bevor er antwortete. "Also... wenn du das wirklich willst." Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu, um sich zu vergewissern. "Sieben Jahre."
Hannah sah ihn irritiert an.
"Ich meine, wir haben uns sieben Jahre nicht gesehen", erklärte er hastig. "Das letzte Mal kurz vor deiner Abschlussprüfung, da warst du siebzehn, und wir haben Geschichte gepaukt, bis-" Nathan brach seine Ausführungen ab und verfluchte sich, dass er nicht sein Gehirn benutzte, bevor er etwas so Uninteressantes und Irrelevantes sagte. Als würde es sie interessieren, wann und wo genau er was zu ihr oder sie zu ihm gesagt hatte. Halt einfach die Klappe, rief er sich grimmig in Erinnerung.
Hannah lächelte über seinen Gesichtsausdruck. "Stimmt. Geschichte. Total ätzend. Damals war ich ganz schön in dich verknallt, weißt du?"
Das traf ihn wie eine unvorbereiteter Schlag in den Magen und fassungslos starrte er sie an. "Wie... bitte?"
Sie nickte. "Ja, echt. Du warst so klug und so... ich weiß auch nicht. Älter, reifer. Viel cooler als die Jungs in meinem Alter. Das dachte ich damals zumindest", erklärte sie ihm vergnügt. "Ich war nach unserer letzten Nachhilfestunde ganze sechs Tage lang am Boden zerstört."
Nathan wusste nicht, was er sagen sollte. Ihm schwirrte der Kopf. Zu viele Informationen, zu viel Sonne. Hatte sie das eben tatsächlich zu ihm gesagt? Oder hatten die UV-Strahlen bereits seine Gehirnzellen weggebrannt und er halluzinierte?
"Das, äh... tut mir leid", sagte er verwirrt und schüttelte den Kopf, um ein bisschen Klarheit zu bekommen. Vergeblich.
Hannah zückte nun ebenfalls ihren Autoschlüssel und grinste ihn an. "Das ist schon okay, Nathan. Als Wiedergutmachung könntest du heute Abend Eis mit uns essen gehen?"
Benommen nickte er und antwortete das einzige, das ihm gerade einfiel: "Okay..."
"Na super. Dann bis nachher. Hier ist meine Nummer." Hannah zog eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche und reichte sie ihm. Er nahm sie wortlos entgegen und zwang sich dann, sich von ihrem Anblick loszureißen, während sie die Kinder ins Auto scheuchte.
Puh. Ihm war viel zu warm. Er musste dringend diesen Pullover loswerden, und auch die Krawatte, die ihm schon die ganze Zeit die Luft abzuschnüren schien. Zumindest seitdem er Hannah wiederbegegnet war.