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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2

Zwischen Gott und Teufel
von

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Gehorsam und Loyalität

Die Zeit machte einen Sprung und stand plötzlich wieder still, wenn auch nur für einen Moment. Während ich den warmen Raum betrat, den Duft der Kerzen roch und den Teppich unter meinen Stiefeln spürte, fühlte ich mich zurückversetzt in meine ersten Tage in Brehms. Nichts hatte sich verändert, gar nichts. Der Tisch Domenicos stand noch immer unverändert in der Mitte des Raumes, zusammen mit dem Weinkelch und den flackernden Kerzen. Rechts war das Fenster, leicht geöffnet, der Regen draußen gab ein sanftes Geräusch von sich und der kühle Wind wehte durch das kleine Zimmer, als wollte er auf sich aufmerksam machen. Automatisch weckte alles ein Gefühl der Beklemmung in mir, ob es nun das Kreuz an der gegenüber liegenden Wand war oder der Siegelring der Inquisition am Finger des alten Mannes. Jeder noch so kleine Gegenstand, jede Bewegung, jede goldene Reflektion der Kerzen hatte etwas Bedrohliches.

Diesmal setzte ich mich ohne zu zögern auf den freien Platz, hob den Blick und sah Domenico an, so ruhig wie möglich. Hätte ich mich selbst sehen können, ich hätte wahrscheinlich gelacht. Durch das schlechte Umfeld im Arbeitshaus war meine Haut im Gesicht gereizt und pickelig, meine Hände waren rau und wund vom Garn, meine Haare lagen klitschnass in meinem Gesicht und ich hörte mich selbst kurz schniefen. In diesem Moment erinnerte ich eher an einen Streuner, als an einen ehemaligen Mönch, ähnlich wie Slade, warum auch immer ich zu diesem Zeitpunkt an den Dieb denken musste. Domenico hingegen saß wie immer aufrecht, gütig lächelnd und natürlich trocken und gepflegt vor mir. Ich beobachtete seine Augen, wie sie mich musterten und sich allmählich satt sahen, bereit, jedes Detail in sich aufzunehmen. Es konnte an meinem Hass liegen, aber mir war, als wenn er jede noch so kleine Demütigung erkennen wollte, förmlich spüren.

Während wir uns anstarrten und sich allmählich eine gefährliche Stille zwischen uns aufbaute, nahm Nevar irgendwo hinter mir seinen Platz ein. Er verschwand aus meinem Blickwinkel und anschließend irgendwo in der geringen Geräuschkulisse. Das einzige, was ich hörte, war nur noch Regen - Regen, mein Puls, mein Atem und Regen. Auch wenn ich bemüht war, mein Missfallen nicht zu zeigen, war ich dennoch zu stolz, um wieder aufzustehen, darauf wartend, dass ich mich setzen durfte. Zeitgleich jedoch hatte ich zu großen Respekt, als dass ich einfach los plappern konnte.

Nachdem Domenico mich genug betrachtet hatte, wandte er den Kopf und sagte ruhig: „Ihr könnt gehen, Bruder. Ihr werdet nicht mehr gebraucht.“

Wieder hörte ich kurz eine leise Bewegung, gefolgt von der Tür und anschließend Nevars Schritten, während er die Treppe hinunter ging. Kaum waren wir beide sicher, dass er außer Hörreichweite war, drehte Domenicos Kopf sich zu mir zurück. Ich wusste allerdings nicht, ob mich das freuen sollte.

Trotz all der Freundlichkeit, dem Mitgefühl und der geheuchelten Liebe zu jedem von Gottes Schafen, hatten seine Augen etwas Kaltes und Stechendes. Sie waren verachtend und voller Mitleid, strafend, so wie hilfsbereit, mitfühlend und zeitgleich angewidert. Eine Kombination, die einem in meiner Position durchaus Angst machen könnte, besonders, da seine Stimme genauso zweigeteilt war. In der einen Sekunde dachte man, er meinte es gut mit einem, in der anderen fürchtete man um sein Leben. Ein Verrückter, ein Fanatiker, mehr nicht. Aber zu hoch gestellt, um belanglos zu sein. „Schön, dass Ihr gekommen seid, Falcon. Wie geht es Euch? Seid Ihr gut untergebracht worden?“

Ich nickte, ehe ich antwortete, räusperte mich und gab dann leise zurück: „Es geht mir gut, vielen Dank.“

„Das sieht man, Ihr habt Euch in dem halben Jahr sehr verändert.“, mit einem Lächeln, das mich anekelte, griff er das erste Mal unter den Tisch, um auch für mich einen Kelch zu nehmen und fragte: „Wein?“, dabei goss er bereits ein und ich hatte keine Wahl, als zu bejahen. Dankbar nippte ich an der rötlichen Flüssigkeit, bemüht mein Gesicht aufgrund des bitteren Geschmacks nicht zu verziehen und stellte das Gefäß zurück. Es schmeckte scheußlich. „Wie ich erfahren habe, lebt Ihr in Marias Obhut? Es ist sehr angenehm dort, man hört nur Gutes. Wie seht Ihr das?“

„Es ist eine gute Unterstützung, wenn man vom rechten Weg abgekommen ist.“

„Genau das ist meine Meinung.“, auch er genoss einen kleinen Schluck und lehnte sich dann zurück. Das Kerzenlicht spiegelte sich in seinen Augen, als würde es darin tanzen. „Wir haben hier in vielen Teilen der Stadt solche Gottes-Häuser, Menschen wie Euch kann dort geholfen werden. Es gibt so viele verlorene Schafe, nicht wahr? Männer wie Ihr, die nicht mehr wissen, was gut für sie ist. Männer, die sich haben verleiten lassen und nun geblendet sind. Erbärmliche Kreaturen. Gestalten, die andere aufgeben würden. Aber nicht die Deo Volente, wir versuchen selbst den Verdammten zu helfen. Nicht wahr, Falcon?“

Während er den Rand seines Kelches wieder an seine Lippen führte, lächelte ich bescheiden. Allmählich rutschte ich in meine Rolle des kleinen, beschwerdefreien Mönchs zurück, genau so, wie Domenico es wollte. Ich wusste nicht, ob es automatisch geschah oder ob ich es unbewusst kontrollierte, doch ich war dankbar dafür. Nichts war besser, als ruhig zu bleiben und zu nicken, wenn es um Scheiterhaufen und Folter ging.

Mein Nicken war Domenico Antwort genug. Er genoss es, sich weiterhin in seinem eigenen Glanz zu sonnen und fuhr fort: „Es gibt so viele arme Seelen, Falcon. Jene, die in Gottes Ungnade fallen, weil sie von Faulheit und Trägheit erfüllt sind. Viel zu viele Menschen geben sich der Sünde hin und verlieren alles aus den Augen. Sie vergessen, was sie nach ihrem Leben erwarten könnte, vergessen ihren Platz. Kaum vorstellbar, nicht wahr? Aber was rede ich? Von uns beiden wisst Ihr wohl am besten, wie diese Leute, dieser Abschaum denkt. Habe ich Recht?“

Kurz zögerte ich und sah ihn an, dann senkte ich den Blick und betrachtete seinen Ring. „Ich würde solche Menschen nicht unbedingt als Abschaum bezeichnen, Herr, es gibt schließlich Hoffnung. Oder nicht?“, dann blickte ich ihm wieder entgegen und hoffte, mit dieser Gegenfrage irgendwie ausgewichen zu sein. Seltsamerweise zeigte sein Gesicht keinerlei Regung. Domenico lächelte einfach weiter, kühl und blass, fast wie eine Maske. Trocken bestätigte er:

„Natürlich. Selbstverständlich. Es gibt Hoffnung.“, doch es klang eher wie auswendig gelernt. Nach einiger Stille dann stand er auf und wandte sich von mir ab. Wie damals schon starrte Domenico zum Kreuz hoch und ich konnte mir bildlich vorstellen, dass er wohl die meiste Zeit seines Lebens davor kniete. „Aber für manche nicht mehr, Falcon. Es gibt Menschen, denen können wir helfen, ja. Aber ist es bei den meisten nicht so, dass sie rückfällig werden?“, wieder trank der Vertreter der Deo Volente etwas und ich sank ungewollt ein wenig in meinem Stuhl zusammen, merkte es aber recht schnell und setzte mich sofort wieder auf. Spielte er auf mich an? Konnte das sein? Allmählich schwand mein Gefühl der Betäubung, stattdessen kam die Nervosität zu mir zurück. „Wisst Ihr, ich habe schon viel gesehen. Genug, um mir Urteile zu erlauben, Falcon. Natürlich ist in jedem ein Teil des Herrn, ohne Frage, aber nicht jedem ist es bewusst. Es gibt gottlose Menschen, denen bringt keine Hilfe der Welt mehr etwas.“, Domenico hielt inne, als müsste er sich besinnen. Schweigend wartete ich darauf, dass er fortfuhr und als er es tat, war seine Stimme nur noch ein heiseres Flüstern. Es wirkte wie ein Selbstgespräch oder ein Dialog mit dem Kreuz, vollkommen verrückt. „Man versucht es immer wieder und wieder, aber letzten Endes kann niemand mehr etwas für sie tun. Sie haben sich dem Teufel verschrieben, daran gibt es nichts zu rütteln, sie sind verloren. Hexen, Häretiker, Ketzer, Gotteslästerer. Nur die heiligen Flammen können ihnen noch helfen. Das ist das Letzte, was wir für sie tun können.“, langsam drehte Domenico sich dann zurück und starrte mich an, als wäre ich das Beispiel für das, was er aufgezählt hatte. „Das versteht Ihr doch? Falcon?“

Ich konnte spüren, wie ein Schweißtropfen sich aus meinem Haaransatz löste und meine Schläfe hinunter lief, wagte es aber nicht, ihn weg zu wischen. Stattdessen hielt ich mich an den Lehnen fest, aus Angst hinaus zu rennen oder vornüber zu kippen und erwiderte den starren Blick. Allmählich wurde mir klar, wieso Domenico zur Inquisition gehörte.

Fast schon heiser hauchend brachte ich dann hervor: „Selbstverständlich, Herr. Ihr habt vollkommen Recht.“ Ich konnte spüren, wie meine Kehle sich immer mehr zuschnürte. Vorbei waren Nevars und meine Gedankengänge, dass Domenico darauf hoffte, mich bekehrt zu haben. Ich war ein Ketzer und ich würde ewig einer bleiben. Er setzte sich wieder, in aller Ruhe, ließ mich nicht aus den Augen und ich konnte eine Art Veränderung erkennen. In Domenico herrschte Ruhe. Es glich einer Vermutung oder einem geheimen Wissen, einer stillen Erkenntnis. Nur was er erkannt hatte, wurde mir nicht so wirklich klar. Vielleicht hoffte er nun, dass ich ihm keine Probleme machen würde? Vielleicht dachte er, ich war seiner Meinung und wäre sogar dankbar für die Flammen?

Falls ja, musste ich ihn enttäuschen. Ich wollte alles, aber nicht sterben! Zu lange hatte ich gelitten und geschuftet, das sollte nun alles umsonst gewesen sein? Oder aber, der Gedanke kam mir ein wenig später, er hoffte nun, dass ich um mein Leben bettelte. Vielleicht reichten meine Demütigung und meine Arbeit in Marias Obhut schlichtweg nicht aus, um ihn zufrieden zu stellen. Bevor Domenico mich dorthin geschickt hatte, hatte er verlangt, dass ich um Strafe bat. Nun hatte er die Gelegenheit sich das Bild von mir auf Knien zurückzuholen.

„Ich bin froh, dass wir uns einig sind, Falcon.“, ich hörte den dumpfen Laut, während er den schweren Kelch abstellte und auch das kaum hörbare Schaben, als er ihn beiseite schob, um seine Ellenbogen abzustützen. Mit gefalteten Händen unter seinem spitzen Kinn wanderten seine Augen meinen Oberkörper entlang, auf der Suche nach den richtigen Worten. „Es ist anstrengend, diese Tatsachen zu vertreten, aber selbstverständlich auch sehr ehrenvoll. Wisst Ihr, es ist mein Traum, eines Tages eine reine und Gott erfüllte Welt zu sehen. Natürlich liegt so etwas in weiter Ferne, aber wir sind auf dem besten Weg dorthin. Wisst Ihr, was das Schlimmste an der Gottlosigkeit ist, Falcon? Sie ist ansteckend. Es reicht ein verunreinigter Mann und jeder andere in seiner Umgebung ist gefährdet. Worte, gesprochen mit falscher Zunge können schreckliche Dinge anrichten. Das seht Ihr doch genauso?“, ein knappes Nicken meinerseits und er fuhr fort: „Wir haben in vielen Teilen des Landes angefangen, diese schrecklichen Dinge zu unterbinden, aber ich möchte ehrlich sein:

Wir sind kaum noch in der Lage, etwas zu tun. Ich will Euch erklären, wieso. Mittlerweile sind selbst gebildete Menschen betroffen. Sie halten Reden und pflanzen ihre abtrünnigen Worte in die Köpfe der Zuhörer. Sie schreiben Bücher mit verwirrenden Äußerungen, ketzerischen Absichten und unvorstellbar unreinen Gedanken. Sie verleiten den Leser dazu, in die falsche Richtung zu sehen, auf die falsche Art und Weise zu denken. Sie wollen, dass wir den Weg, dem wir folgen sollten, aus den Augen verlieren. Es dürfte Euch nicht schockieren, Euch am wenigsten, aber es gibt sogar Mönche, die ihren Glauben verlieren und eben diese, sind die schlimmsten. Sagt Euch der Titel ‚Gottes Blut’ etwas?“

Nun war es vorbei.

Die ganze Zeit über hatte ich Haltung bewahrt und geschwiegen, doch nun, mit einem Mal, wurde ich leichenblass. Ich konnte spüren, wie mein Körper kribbelte, durch die plötzliche Gänsehaut, als sich meine Haare warnend aufstellen. Gottes Blut? Natürlich kannte ich es. Es war das Tagebuch, das Nevar mir anvertraut hatte. Das Ketzersbuch aus der Bibliothek der Deo Volente, jenes, welches ich hatte in Marias Obhut zurücklassen müssen. Meine Glieder wurden eiskalt und ich bewegte mich nicht mehr, atmete nicht einmal mehr tief ein. Mit Sicherheit hatte man das Buch genauer betrachtet und Domenico informiert, von nun an gab es kein Zurück mehr. Wie kalt mir war...!

Da ich keine Antwort gab, schwiegen wir beide kurz, aber zumindest blieb Domenicos Blick so abwesend. Anders als sonst, wenn er mich anstarrte, als könnte er tief in mein Innerstes sehen, waren seine Augen nun stehen geblieben und fixierten fast schon apathisch irgendeinen Punkt auf meinem nassen Umhang. Nach einigen Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, murmelte er leise und kaum hörbar: „Gottes Blut. Es ist eine Schande, dass sie das Wort ‚Gott’ überhaupt in den Mund zu nehmen wagen, geschweige denn zu schreiben. Ich werde diese Welt erst in Frieden verlassen können, wenn ich sicher bin, dass jedes dieser abscheulichen Werke verbrannt worden ist. Sie sind zu gefährlich, Falcon, ebenso, wie jeder, der diese Lügen studiert. Jedes Schriftstück, jeder Schreiber und natürlich jeder Leser dieser abscheulichen Dinge muss schleunigst sein Ende finden, das steht außer Frage. Wie seht Ihr das, Falcon?“, und mit einem Mal existierte ich wieder. Domenicos Augen rückten das letzte Stück nach oben, starrten mir entgegen und zeigten mir deutlich, dass es nur eine Antwort gab. „Was denkt Ihr, muss mit diesen Dingen passieren?“

Ich zögerte. Diesmal dauerte es, ehe ich leise eine Antwort geben konnte: „Sie müssen ihr Ende finden, Herr, das steht außer Frage.“

Sein Gesicht, kühl und bedrohlich, verwandelte sich in ein sanftes, lobendes Lächeln.

„Wie schön, wir sind uns erneut einig.“, es war nur ein Spiel, das wurde mir immer bewusster und Domenico allein bestimmte, wie die Regeln lauteten und wer der Sieger war. Ein wenig desinteressiert griff er neben sich, um mit seinem Wein herum zu spielen und beiläufig erklärte er: „Die Deo Volente wurde bestohlen, es ist schon lange her. Ein Buch fehlt, ‚Gottes Blut’. Es wurde aus dem Regal genommen und entwendet, seitdem nicht mehr gesehen. Eigentlich sollte es den Schülern und Geistlichen dienen, als Sinnbild für Sünde, damit sie lernen, wie falsch die Teufelswerke auf uns wirken können, aber nun ist es fort. Schon allein da ich die Verantwortung trage, ist es meine Pflicht, dieses Buch zurückzubringen, Falcon.“, er sah erneut auf, den Weinkelch noch immer mit der Hand bewegend. „Egal, was es kostet und wenn ich über gottlose Leichen gehen muss.“

Schwer schluckend betrachtete ich die rötliche Flüssigkeit in seiner Hand, dann jene in meinem eigenen Kelch und atmete tief durch. Es fiel mir schwer nicht zu zittern. Was erwartete er? Ein Geständnis? Wenn ja, vielleicht war das meine letzte Chance?

In meinem Kopf drehte sich alles. Am liebsten hätte ich den Wein gegriffen und einen Schluck getrunken, um meine trockene Kehle neu zu beleben, aber ich fühlte mich zu schwach dafür. Wie benommen war ich auf meinem Stuhl zusammen gesackt, angestarrt von Domenico und dem heiligen Jesu’ weiter hinten an der Wand und in Begriff, zu brennen. Es kam Folter gleich, was Domenico mit mir trieb. Er sprach es nicht direkt an, dass ich schuldig war und dem Tode geweiht und egal wie absurd es war, das ließ mir Hoffnung. Es war qualvoll und ich stand kurz davor zu schreien: „Nun klagt mich endlich an, aber hört auf damit!“ Vielleicht wollte er, dass ich mich zu Boden warf und alles zugab, in der Hoffnung auf Vergebung, aber so viel Kraft konnte ich beim besten Willen nicht mehr sammeln. Ich war froh, wenigstens noch atmen zu können, ohne ohnmächtig zu werden. „Ihr seid so still, Falcon. Habt Ihr nichts dazu zu sagen?“

Das erste Mal während des ganzen Gespräches fühlte ich mich wirklich angesprochen. Seine Stimme war voller Spott und weitere Schweißtropfen lösten sich aus meinem Haar. Mir war kalt, unglaublich kalt und dennoch erschien mir der Raum stickig und unangenehm. In mir ratterte es, aber ich wusste kein einziges Wort, das ich sagen sollte. Unsicher blickte ich ihn an, zitternd, aschfahl und hilflos. Was wollte er hören? ‚Ja, Domenico, Ihr habt Recht, ich bin ein Sünder, verbrennt mich?’ Oder ‚Ich war es, der das Buch gestohlen hat, bestraft mich dafür?’ Wahrscheinlich. Ihm verlangte es danach, dass ich im Staub vor ihm lag und flehte, jammerte und weinte, wie ein kleines Kind oder eines der Hexenweiber. Der Alte hatte sich erhofft, mich durch die Folter und die Arbeit zu brechen und gewiss war es ihm in vielen Punkten gelungen. Nun wollte er die Ergebnisse sehen. Er wollte Wunden sehen, Narben, er lechzte danach Tränen zu erblicken oder Wimmern zu hören. Vielleicht bereute Domenico es sogar, meiner Folter nicht beigewohnt zu haben, denn was war erleichternder, als eine Seele, die Buße tat? Und es fehlte nicht mehr viel, ich hätte ihm all das gegeben. Seine starren Augen, diese Selbstverständlichkeit, diese Überlegenheit, all das zeigte mir, wie sinnlos jeder Fluchtversuch war. Verzweifelt senkte ich den Kopf wieder, kniff die Augen zu und fuhr mir das erste Mal mit der Hand über die nasse Stirn, weiterhin schweigend. Das Beste wäre, ich würde aufspringen und hinaus rennen, doch was, wenn die Rotröcke bereits warteten? Könnte es nicht sein, dass er Kontakt zu O’Hagan hatte? Könnte es sein, dass er Bescheid wusste und man erwartete mich bereits freudig? Vielleicht bezweckte Domenico mit seinen Worten, dass ich floh oder ihn angriff, damit er mich loswerden konnte. Vielleicht wollte er der Welt zeigen wie unglaublich verkommen die Ketzer waren, wenn sie sogar Männer Gottes angriffen?

Seine Stimme riss mich aus den Gedanken, so sehr, dass ich etwas zusammenzuckte und ich verfluchte mich, für meine Schwäche. Ich hatte mir vorgenommen, kühl zu sein, stattdessen saß ich auf dem Stuhl, als stünde ich vor dem Fallbeil.

„Ihr wirkt nervös, Falcon. Verständlich. Wenn jemand einst so nahe wie Ihr am Abgrund wanderte, ist es wohl nur normal, dass man so sehr auf die Vorstellung reagiert, hinunter fallen zu können. Aber keine Angst, ihr habt es geschafft.“, ich verstand kein Wort und das sah man mir auch an. Kurz hörten wir Hufschlag und ein stärkerer Windhauch löschte eine der vier Kerzen auf Domenicos Tisch. Gedankenverloren griff er die längste noch brennende und entzündete sie wieder. Es dauerte, da das Wachs herunter tropfte und auch fast jene in seiner Hand löschte. „Ich bin froh, dass mein guter Einfluss zumindest bei Euch Früchte tragen konnte, nur leider ist das an anderen Stellen nicht der Fall.“, der Mann seufzte bedauernd und lehnte sich wieder zurück. „Es ist unverzeihlich, dass ich nicht früh genug erkannt habe, was für einen schlechten Einfluss man auf Euch ausübte. Aber seid unbesorgt, nun gehört es zur Vergangenheit. Ich bin sehr zuversichtlich, Falcon. Eure Entwicklung gefällt mir, Ihr seid auf dem besten Weg, zurück zum Herrn zu finden.“, nach einem kurzen Aufblicken stellte er fest: „Ihr wirkt verunsichert.“

Leise gab ich zu: „Ich...denke, ich kann Euch nicht folgen.“, dann zwang ich mich, mich etwas zu entspannen. Was redete der Mann dort von schlechtem Einfluss?

„Dann will ich Euch nachhelfen: Nevar hat Euch verunreinigt, das ist offensichtlich. Ich werde mir nie verzeihen, wie blind ich war. Ihr habt so viel gegeben, um Euch zu bessern und ich habe es nicht sehen können!“, allmählich redete Domenico sich deutlich in Rage. Den Wein hatte er beiseite gestellt, stattdessen verschränkte er wieder die Finger ineinander und starrte wütend in die kleinen Flammen vor sich. Sie flackerten, wenn er die Luft zwischen den Worten ausstieß. „Nevar hat mich geblendet, er ist ein verräterischer Heuchler! Ein Ketzer! Ich habe mich täuschen lassen, aber das wird mir kein weiteres Mal passieren. Doch was rede ich mit euch darüber? Ihr seid nichts weiter, als ein Unschuldiger, der davon betroffen war. Ihr konntet nichts für das, wozu er Euch trieb. Glücklicherweise hat er Euch das Buch stehlen lassen, so wurde ich aufmerksam. Dieses gottlose Aas! Brennen wird er, da seid Euch gewiss!“, nun verstand ich gar nichts mehr. Ich wusste nicht, ob ich ihn mit aufgerissenen Augen anstarren sollte oder mit weit offen stehendem Mund. Nevar?! Es ging um Nevar?! Domenico musste verrückt geworden sein, aber viel schlimmer war die Tatsache, dass er etwas zu wissen schien. Ich musste den angeblichen Bruder warnen, ehe es zu spät war, aber wie? Ich konnte wohl kaum hinaus rennen, dann wäre ich genauso am Ende. Die Worte des Mannes vor mir brachten mich so durcheinander, dass ich kaum noch nachdenken konnte. Ich hatte keinerlei Ahnung, wie ich Nevar in Schutz nehmen sollte, ohne mich selbst zu gefährden. Außerdem, meinte Domenico das überhaupt ernst? Dachte er wirklich, dass ich darauf aus war, wieder gottesfürchtig zu werden und dass Nevar allein die Schuld trug, dass dem nicht so war? Er fuhr einfach fort, hörbar aggressiv und zeigte mir nur umso mehr, wie wenig Sympathie er mittlerweile für meinen Freund empfand: „Ich habe fest daran geglaubt, dass er den richtigen Pfad gefunden hat, aber scheinbar lag ich falsch. Während er mir Treue und Ehrlichkeit vorheuchelte brachte er Euch dazu, zu stehlen und zu lügen, aber nicht nur Euch! Jemand hat das Buch entgegen genommen und versteckt, letzten Endes an ihn übergeben und diesen jemand werde ich ebenso finden und über ihn richten! Es ist unfassbar, zu hören, dass eine Gottesdienerin diesem Dämon unter die Arme gegriffen hat! Das muss aufhören. Wenn selbst in unseren Gotteshäusern die Sündhaftigkeit einkehrt ist bald alles verloren, das seht Ihr doch ein?“

Ich war vollkommen hilflos. Nur nebenbei registrierte ich, dass eine der Schwestern Bescheid gewusst haben musste, wenn sie Nevar wirklich unterstützt hatte, aber wirklich voran brachte mich das nicht. An Domenicos Blick erkannte ich, dass er eine Antwort erwartete, die er selbst als selbstverständlich sah, dabei hatte ich nicht einmal die Frage verstanden. Mir wurde schwindelig und schlecht, das alles war viel zu viel. Sollte das bedeuten, dass ich Nevar verraten hatte, ohne es zu wollen? Hatte ich irgendeinen Fehler gemacht, weswegen man auf ihn aufmerksam geworden war? Das Buch hatte ihn verraten, aber hätte ich es ohne ihn überhaupt in den Händen gehabt, geschweige denn mitgenommen?

Konnte es vielleicht wirklich sein, dass er es mit meiner Hilfe lediglich aus der Deo Volente schmuggeln wollte? Wozu?

Der alte Mann beugte sich vor, starrte mich weiterhin an und zischte wie im Wahn: „Ich muss etwas unternehmen und Ihr werdet mir dabei helfen!“, es glich einer Drohung. Mit einem Ruck sprang er auf, kam zu mir und packte meinen Arm. Ich hatte keine andere Wahl, als zu folgen. Es war unglaublich wie viel Kraft im Arm dieses zerbrechlich wirkenden Mannes steckte! Schmerzhaft drückten sich seine dünnen, knochigen Finger in meinen Oberarm, während er mich zu einem seiner Bücherregale zog. Ich hatte kaum den Kopf dafür, um es ausgiebig zu mustern. An ruhigen Tagen vielleicht hätte ich Stunden davor stehen können, ein Werk nach dem anderen hervor ziehen, vielleicht etwas durchblättern oder lesen, aber so auf keinen Fall. Meine Knie waren ganz weich und ich kniff mein linkes Auge leicht zu, um den festen Griff zu ertragen. Nun, wo er mir so nah war, konnte ich Domenicos Alter riechen, den Wein, den er getrunken hatte und vor allem seinen Schweiß. Es war ein unangenehmes Gefühl, das ich gern vergessen hätte. „Seht Euch das an, das alles sind Werke des Teufels. Wisst Ihr, was mit den Männern und Weibern geschah, die diese törichten Wörter verfassten? Sie brannten, Falcon, allesamt!“, statt mich los zu lassen drückte er noch fester zu und versank in einer Art Ekstase, die ich nie hatte nachempfinden können. Der Gedanke an das, was er getan hatte, erfüllte den Gottesdiener vollkommen und fast schon liebevoll strich er mit den Fingern seiner freien Hand über die Kanten des Regals. „Kein einziger von ihnen hat überlebt, Falcon, kein einziger. Jeden habe ich in die Hölle geschickt, genauso, wie Gott es verlangt. Langsam und qualvoll. Und der Verfasser von Gottes Blut wird der nächste sein!“, es widerte mich an, ihm zuhören zu müssen. Ich wollte mich lösen, doch er ließ es nicht zu, sondern zog mich am Kragen zu sich. Sein Blick war fanatisch und Domenicos Stimme nur noch ein verrücktes Wispern: „Und Ihr werdet mir helfen, Falcon! Ihr liefert mir Nevar und er dann den Schreiber! Ihr und ich, wir werden diesen Samariter ein für allemal auslöschen! Dieser Narr vertraut Euch und genau das werden wir zwei uns zu Nutze machen. Denkt nur, all Eure Sünden würden Euch vergeben werden!“, dann endlich gab er mich frei. Ich stolperte unbeholfen zurück und rieb mir die Stelle, an der nun ohne Frage blaue Flecken entstehen würden. Domenico hatte vollends den Verstand verloren und das Schlimmste daran war, dass er mich mit hinein zog. Was sollte ich tun? Das, was er verlangte?! Das konnte unmöglich Nevars Ernst sein! Hatte er vermutet, was der Alte Narr vor hatte? Ich musste ihn fragen, bezweifelte jedoch stark, dass man mir Gelegenheit dafür gab. Während ich ein wenig zurückwich, um nicht erneut gepackt zu werden, spielte ich mit dem Gedanken raus zu rennen, doch Domenico gab mir zu verstehen, dass ich diese Idee bereuen würde. Er war aufmerksam und achtete darauf, stets zwischen mir und der Tür zu stehen und kaum wandte ich den Blick ab, wandte er sich mir zu. Einigermaßen gefasst, aber mit der Hand noch immer auf dem Regalrand, sagte er ruhig: „Ihr werdet noch heute Nacht Euer neues Quartier beziehen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er Euch aufsucht und wenn es so weit ist, verwickelt Ihr ihn in ein Gespräch."

„Gespräch, Herr?“, fragte ich leise und unsicher.

Nickend musterte Domenico die Buchrücken seiner kleinen Sammlung. Die meisten waren alte Werke, bereits kaputt und ausgefranst, vergilbt oder zerrissen, aber alles in Allem noch sehr gut lesbar. Etwas abwesend gab er zur Antwort: „Ich werde Euch mehrere Fragen mit auf den Weg geben, deren Antworten Ihr versucht herauszufinden. Seid unbesorgt, ich stehe hinter Euch und mit mir der Herr. Euch kann nichts passieren, Falcon, so lange Ihr nur auf dem richtigen Pfad bleibt. Und nun geht. Francesco gibt Euch die Adresse Eurer Unterkunft. Erwartet mein Schreiben im Laufe des morgigen Tages.“, Nur langsam setzte sich mein Körper in Bewegung, ich war wie gelähmt. Kurz bevor ich die Tür erreichte rief Domenico mich noch einmal zurück: „Ach ja, Falcon?“, ich drehte mich um und erkannte ein sanftes Lächeln, fern von jeder Verrücktheit. Der alte Mann wirkte freundlich wie eh und je. „Gute Nacht.“

Blass verbeugte ich mich leicht, richtete mich dann auf und verließ den Raum. Ich schaffte es nicht, den Gruß zu erwidern, sondern wollte nur noch weg. Mit jeder Stufe hinab zitterte mein Körper mehr und unten angekommen musste ich erst einmal ausharren. Hilflos hielt ich mich am Geländer, starrte die Tür an und dann zu den Fliesen auf dem Boden. Was sollte ich tun? Gehorchen, wie Nevar es gesagt hatte? Niemals! Das wäre früher oder später sein Todesurteil und der Untergang für alles, wofür er die letzten Jahre gekämpft hatte. Mein Körper verkrampfte sich so stark, dass es mich kurz schüttelte und ich schaffte es nicht, einfach zu Francesco zu gehen. Gut, ich war heil aus der Sache raus, aber wie lange? Über die Samariter wusste ich kaum etwas, aber konnten vielleicht auch sie mir gefährlich werden, wenn ich im Weg stand? Wie würde Nevar reagieren, wenn er hörte, was hier vor sich ging? Ahnte er es vielleicht schon?

Ich stand lange dort, lauschte meinen eigenen Gedankengängen, als würden sie nicht zu mir gehören und bekam immer stärkere Panik. Domenico wollte einen Keil zwischen uns treiben, das stand außer Frage, doch wie weit durfte ich das zulassen?

Und wie weit hielten wir beide das unbeschadet aus...?



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Pataya
2010-10-06T11:45:08+00:00 06.10.2010 13:45
tolltoll...*in die hände klatsch, wie ne blöde*

klasse^^, schade, dass du jetzt erst ma ne pause machst, aber dann freu ich mich umsomehr, wenn wieder ein kapi da ist^^

gaaaaaanz liebe Grüße und fühl dich geknuddelt

Pat ^^


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