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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2

Zwischen Gott und Teufel
von

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Die Stadt Brehms

Trotz der langen Zeit, die ich auf diese seltsame Art und Weise mit Nevar verbracht hatte, wusste ich noch genauso wenig von ihm, wie zu Anfang. Ich hatte nie wirkliches Vertrauen zu ihm fassen können und er hatte sich keine Mühe gegeben, dieses zu erschleichen. Und so kam es, dass wir zwei Fremde wurden, die sich dennoch irgendwie kannten. Ich meinte zu sehen, wenn er einen anstrengenden Tag, oder eine schlaflose Nacht hinter sich hatte und egal wie neutral er stets auftrat glaubte ich zu wissen, wenn er wütend war, oder mitgenommen.

Etwas an seinem Verhalten war dann anders, auch wenn ich nicht beschreiben konnte, was.

Aber auch ich selbst veränderte mich in der Zeit. Ich wurde selbstbewusster, stiller und überlegter. Aus dem Misstrauen heraus nahm ich bewusst Abstand und achtete auf jedes noch so kleine Wort von ihm. Ich begann zu registrieren, wenn Dinge anders standen als sonst, oder entwickelte ein Gespür für Atmosphären und Stimmungen. Ob er bewusst dafür sorgte, dass meine Gefühle sich darauf spezialisierten weiß ich nicht und irgendwann dachte ich nicht mehr darüber nach, denn ich empfand nicht die geringste Feindseligkeit ihm gegenüber.

An manchen Tagen, wenn er in die Hütte kam, sprachen wir stundenlang über Gott und die Welt – im wörtlichen Sinne. Wir verglichen unsere Ansichten und gaben preis, wie wir erzogen worden waren. Während er Realist war und an allem zweifelte, versuchte ich an meinem Glauben festzuhalten und Beweise dafür zu finden. Wir besprachen Themen, die man nicht besprechen durfte und führten ruhige Diskussionen über solcherlei Dinge, die anderswo zu Streitereien führten, bis wir uns in unseren eigenen Worten verstrickten. Mit ihm konnte man sprechen und zwar über alles, ohne dafür schiefe Blicke zu erhalten. Man hatte bei Nevar stets das Gefühl, er verstünde was man meinte und dass er die gleichen Gedanken gehabt hatte, wie man selbst.

Dennoch wurde ich nicht schlau aus ihm. Seine Gestalt war wie ein Schatten aus Nebel oder Rauch und wenn ich versuchte, ihn zu packen, löste er sich zwischen meinen Fingern auf.

Ich hatte mich daran gewöhnt, keine Antwort auf meine Fragen zu erhalten. Niemand würde mich darüber aufklären, warum man mir geholfen hatte zu überleben und wieso man mir all diese Dinge beibrachte. Das einzige, was Nevar einmal sagte war, ich solle niemals vergessen, wem ich mein Leben verdanken würde. Und das sagte er so scherzhaft, dass ich es kaum ernst zu nehmen wusste. Einerseits fühlte ich mich wie ein Diener, oder Schüler, andererseits hatte ich denselben Rang wie er. Was war ich nun? Und wer? Ein Gefangener? Oder meinte er, ich wäre ihm nun auf ewig verpflichtet?

Dann war es so weit. Nevar wies mich an, meine Sachen zu nehmen und mich bereit zu machen, da wir los ziehen würden. Schweigend gehorchte ich, jedoch dachte ich mir meinen eigenen Teil. Egal wohin wir gingen, sobald sich die Gelegenheit bot, würde ich abhauen, die Chance am Schopf packen und neu anfangen. Ich war nicht dumm und wusste, dass man mich auf ein Verbrechen vorbereiten wollte. Und auf keinen Fall hatte ich vor diesem Verbrechen beizuwohnen.

Ich zog mit ihm über die Felder der umliegenden Umgebung, Nevar vorneweg, ich schweigend hinterher. Über meiner Schulter trug ich einen braunen Sack mit meinem wenigen Hab und Gut: Ein paar Schnitzereien, warme Kleidung und etwas Brot. An meinem Körper trug ich mein langärmliges Hemd und eine Hose, dazu ein Paar Lederstiefel und meinen Umhang. Dennoch war es fast zu wenig für die Kälte. Wir durchquerten einen Wald, der so weiß war, dass es blendete. Ich sah zu, wie Schnee von den Baumspitzen fiel und Etappenweise Ast für Ast befreite. Dann rieselte der Schnee wie Staub umher und warf große Löcher in die gesammelten Massen auf dem Boden. Desto näher wir der Stadt kamen, desto unwohler fühlte ich mich in meinen selbst gemachten Sachen, jedoch zogen wir nicht Richtung Annonce. Nevar und ich gingen über einen Hügel und an deren Spitze hielten wir, um die Aussicht zu genießen. Gut fünf Stunden waren wir zu Fuß unterwegs gewesen, ohne Worte zu wechseln. Nur Anweisungen wie „Hier rasten wir.“, oder „Dort hinten rechts.“, hatte es zwischen uns gegeben. Meine Beine schmerzten, meine Zehen waren bereits seit Stunden taub und meine Fingerspitzen spürte ich ebenso wenig. Aber ich hatte mir vorgenommen keine meiner Schwächen zu zeigen und dem ging ich auch schweigend nach.

Unser Ziel lag am Ende des Hügels und begann mit ein paar einzelnen, weit auseinander stehenden Bauernhäusern. Sie schienen verloren vor lauter weiß, manche waren bis zum Dach verschneit. Anschließend folgte eine kleine Kapelle mit wild verstreuten Grabsteinen und schiefen Turm und erst dann begann die eigentliche Stadt. Eine hohe, aus Findlingen gebaute Mauer mit Türmen und einem riesigen Tor, dahinter Häuser über Häuser. Man konnte es nicht annähernd mit Annonce vergleichen, denn es war ein überwältigender Anblick. Es gab keinen Hafen, jedoch eine Kathedrale von unvorstellbarem Ausmaß und das größte Rathaus, welches ich jemals gesehen hatte. Die Spitzen der Kirchen ragten weit über die Mauern hinaus und sogar von weitem erkannte man die Kreuze darauf, die Stauen und die Verzierungen der verschiedensten Arten. Mit Blattgold geschmückte Engel, schneeweiße Skulpturen von Kriegern und der heiligen Jungfrau. Vor mir lag etwas Neues, etwas Unentdecktes und ich wollte dorthin, um jeden Preis. Nach unserem Halt stapften wir durch den fast kniehohen Schnee und arbeiteten uns vor bis zur breiten Landstraße, doch ich hatte nur Augen für das riesige Tor. Zwei Wachen im blauen Uniformen postierten an der rechten und linken Seiten und musterten uns eher freundlich, als skeptisch. Das Gitter, welches nach oben gezogen war, ließ sich seit Jahren nicht mehr bedienen und die zwei Wappen an den Torpfosten waren verblichen und splitterig. Dennoch wirkte das Gesamte Gebilde edel, durch die verzierten Fenster an den Seiten der Wachtürme und den klaren Wassergraben unter der frisch restaurierten, hölzernen Brücke. Zwischen den Wappen befand sich eine Portrait-Büste: Ein männlicher Kopf mit kurzem Haar und Bart starrte hinunter und betrachtete mit aufmerksamen Blick alle Kommenden und Gehenden. Unter dieser stand in goldener Schrift:

Komme mit erhobenem Haupt und bringe Glückseeligkeit in unsere Stadt und wenn nicht, so gehe mit gesenktem Haupt und drehe ewig uns den Rücken zu. Willkommen in der Handelsstadt Brehms.

Ich fragte mich, wer der Mann war. Der Gründer der Stadt, der Erbauer dieses Walls, oder einfach nur jener, welchen man für diese Inschrift zitiert hatte? Vielleicht war es auch nur ein irgendein Kopf und hatte gar keine weitere Bedeutung, außer, dass er bei dem Volk beliebt gewesen war? Jedenfalls war das Bildnisrelief einst mal grau-braun gewesen und nun mit einer weißen Schicht überdeckt. Wenn die Menschen ihn gemocht hatten, so konnten die Tauben ihn scheinbar nicht annähernd leiden.

Nevar und ich passierten das Tor und obwohl es tiefster Winter war, war es laut auf den Märkten. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Die Stadt Brehms galt im gesamten Land St. Katherine als Haupttreffpunkt sämtlicher Kulturen und auch wenn es keinen Anschluss zum Meer gab, so war Brehms dennoch die größte Handelsstadt unseres Landes. Hier sammelten sich die Händler wie Ameisen denn Brehms war der Mittelpunkt und von jeder Stadt auf direktem Weg zu erreichen. Wollte man von Norden nach Süden, musste man durch Brehms und von Osten nach Westen ebenso. Zwar war die Stadt alles andere als reich, da sich keiner die hohen Mieten leisten konnte, doch der Handel hielt diese Stadt aufrecht. Es gab mehr Gasthäuser, als Normale Gebäude und mehr Geschäfte, als Schenken. Zünfte und Gilden hatten hier ihre Hauptsitze und nirgendwo herrschte so viel Bewegung, wie hier. Kindern erzählte man, dass es in Brehms alles auf der Welt gäbe: Kleider, Süßwaren, Gewürze und Spielwaren. Man konnte hier die merkwürdigsten Tiere sehen, die verrücktesten Ausländer, die unterschiedlichsten Früchte und nun sah ich, dass es stimmte. Auf den Böden standen Käfige gefüllt mit Hühnern und Katzen, Hunden und bunten Vögeln, die ich nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte. Von manchen Ständen drangen Gerüche zu mir herüber, die mir das Wasser im Mund zusammen liefen lassen, oder meinen Geist tanzen. Eine dunkelhäutige Frau voller Ketten und Armbänder lächelte mich in einem bunten Kostüm an und versuchte mich in einer fremden Sprache für bunte Steine und Knochenschnitzereien zu begeistern.

Es fiel mir schwer, Nevar nicht aus den Augen zu verlieren und ich schob meinen Fluchtplan erst einmal beiseite. Zu fasziniert war ich von den vielen Fremdartigkeiten und den Gebäuden der Stadt. Zwar war sie heruntergekommen und viele Häuser wurden nur noch als Lager genutzt, dennoch zeugten die reichen Verzierungen an den Wänden von einer Zeit des Stolzes und des Reichtums. Die einzelnen, kaputten Statuen und das abgeblätterte Gold waren nur noch ein Abklatsch dessen, was diese Stadt einst gewesen war, aber doch reichte es völlig aus, um jemanden wie mich zu begeistern. Die Wände waren teils beige teils blendend weiß und manche der Fenster hatten abgerundete Formen, wie die der Kirchen von Annonce. Mir fiel auf, dass es keine Scheiterhaufen gab und auch keine Galgen und ebenso wenig Käfige, in welchen man die Gefangenen vorführte. Es schien das Paradies zu sein.

Nachdem wir uns durch das Treiben gekämpft hatten gelangten wir an eine ruhiger gelegene Gasse und kurz bleiben wir stehen, um zurück zu sehen. Die vielen Menschen in ihren bunten Kleidungen und mit ihren so unterschiedlichen Gesichtern wirkten auf mich wie eine Horde verrückter Tänzer, dennoch fand ich es wunderschön. Es war ein so starker Kontrast zu meiner Heimat, dieser tristen, freudlosen und fast schon toten Stadt. Wenn man Annonce als schwarz und dunkel bezeichnen wollte, so war Brehms weiß, strahlend weiß.

Wir folgten dem Weg der Gasse und noch minutenlang konnte ich die wirren Stimmen der Menschen hören. Verschiedene Sprachfetzen drangen zu uns durch und versetzten mich in eine Traumwelt. Jemand spielte Fidel, eine traurige und ruhige Melodie und Hufgeklapper kam scheinbar aus dem Nichts. Die Gasse war uneben gepflastert, immer wieder ging es hinauf und hinab, weswegen die Häuser schief und verbogen wirkten. Oft musste ich niedrigen Schildern neben kleinen Türen ausweichen, welche erst ein paar Stufen hinunter in den Boden und dann ins Untergeschoss des Hausinneren führten. Ich fragte mich, wie sie die Türen auf bekamen, wenn der Schnee sich in dem Bereich davor sammelte.

Die meisten Eingänge waren jene von Herbergen, aber vor keiner herrschte Leben. Die Gäste waren entweder drinnen, um vor der Kälte zu flüchten, oder aber sie waren dort, wofür sie hergekommen waren: Auf dem Marktplatz. Es war fast unheimlich, wie es mit jedem Schritt stiller und einsamer wurde. So voll, wie es auf dem Platz gewesen war, so leer und eng wurde es nun in den Gassen. Wenn sie um die Ecke führte, sah es aus, als wäre es keine Abbiegung, sondern ein Ende und oft sah man Abzweigungen erst dann, wenn man daran vorüber ging. Sie führten durch abgerundete Tore, oder niedrige Gänge. Teils dreistöckige Gebäude erhoben sich rechts und links von uns in die Höhe, mit schiefen Fensterläden und braunen Balken. Schwibbögen spreizten die gegenüberliegenden Häuserreihen und schienen sie zu stützen, um ihren Sturz mitten über uns zu verhindern. Sie und auch etliche, verzierte, pechschwarze Lampen reichten ins Innere des Ganges. Manche der Bogen waren nicht einmal einen Meter breit, andere wiederum wirkten wie Tunnel und verwehrten uns ab und an die Sicht zum Himmel, so dass abwechselnd mal Licht, mal Schatten auf uns fiel. Ein Händler mit einem Karren kam an uns vorbei und grüßte freundlich, als wir in einen Häusereingang gingen, um ihm auszuweichen, dann setzten wir unseren Weg fort. Ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Ich dachte an meinen letzten Spaziergang durch eine Stadt. Hätten die Rotröcke mich in Brehms verfolgt, hätten sie bereits nach zwei Sekunden aufgegeben. Es gab so viele Winkel und Ecken, dass eine Verfolgungsjagd gänzlich unmöglich war. Manche der Abstände zwischen den Häusern waren so gering, dass man sie nur seitwärts durchqueren konnte - oder gar nicht – und selbst bei Tageslicht waren sie bereits dunkel. Und so pfiff lediglich der Wind hindurch, um sich unbemerkt wieder in einem der Wege zu verlieren.

Hier will ich leben., dachte ich. Ich will unbedingt eines Tages hier leben…

Irgendwann gelangten Nevar und ich an eine Art Treppe. Eigentlich war es nur ein gepflasterter Weg, auf denen man Stufenähnliche ein par der Steine quer gelegt hatte. Und so konnte man die parallel zueinander angebrachten Streifen benutzen, als wären es Stufen und problemlos hinauf gehen. Vor dort aus ging es anschließend wieder direkt auf einen großen Platz. Sie gab es keinen Markt, denn dieser Ort stellte eher einen Platz der Kultur und des Ansehens dar. Er war rund gehalten und von Unmengen Häusern umgeben. Etliche Gassen führten von dort aus ab in alle Richtungen, als wäre dies das Zentrum der gesamten Stadt. Einige Menschen liefen umher, die meisten waren recht vornehm gekleidet und viele schienen gut gelaunt zu sein und trugen ein Lächeln im Gesicht. Auch die wenigen Soldaten, die eher spazieren zu gehen schienen, als zu patrouillieren wirkten freundlich und aufmerksam.

Mittig, auf einer rechteckigen, säulenartigen Anhöhe, welche mit Reliefen verziert war, stand eine große, weißliche Skulptur. Das Reiterbild eines Mannes auf einem riesigen Schlachtross. Durch die Patina war sie an manchen Bereichen grau, oder gar schwarz und wirkte nur umso älter und genauer. Während Nevar und ich daran vorüber schritten, musterte ich alles etwas genauer und versuchte das kleine Schild and er Vorderseite des Podestes zu lesen. Bisher kannte ich so große Figuren lediglich von Friedhöfen und davon nur Engelsversionen oder andere, katholische Werke. Das Abbild eines Helden, oder das Andenken an einen hohen Offizier, so etwas gab es in Annonce nicht. Der Soldat trug eine Rüstung mit unglaublich echt wirkenden Falten und sein Gesicht schien so real, als wäre es lediglich erstarrt. Er hob ein Schwert in die Höhe, in der anderen Hand trug er ein halb eingerolltes Pergament. Die Versuchung war groß, empor zu klettern um zu sehen, ob auch Schriftzeichen eingemeißelt waren. Neugierig betrachtete ich auch das Reittier. Der Schwanz des Pferdes war gekürzt und es warf den Kopf nach hinten, verziert mit geflochtenen Strähnen. Am Sattel waren Fransen und Bänder, an den Zügeln Glocken. Wer auch immer dieser Mann gewesen war, er hatte scheinbar ein gutes Leben gehabt. Dann ließ ich meine Blicke schweifen. Die meisten der den Platz umrundenden Gebäude waren keine einfachen Häuser, so wie in den Gassen, oder auf dem Markt. Es waren riesige Komplexe mit kleinen Anhöhen von zwei, drei Stufen, die zu den Eingängen führten. Über den meisten hangen Wappen, oder Schilder, so wie ein Handelskarren, oder überkreuzte Schwerter. Eines der Gebäude war besonders groß und zwischen den Stufen gab es in großen Abständen Freipfeiler, die das Dach über den Eingängen stützte. Das alles bildete eine große, nobel wirkende Arkadenmauer mit unwahrscheinlich aufwändigem Gebälk. Direkt darüber ging das Haus in Form eines Balkons weiter, dessen Umrandung aus schwarzem, pflanzenähnlichem Metall war. Die Wände waren verziert mit Pilastern und Ornamenten der künstlerischsten Arten und in goldener Schrift stand mit verzierten Buchstaben direkt über dem größten der Bögen:

Handelsgesellschaft Brehms.

Dies war also der Brehmser Hauptplatz, von dem ich so viel gehört hatte. Hier reihten sich die Gildenhäuser aneinander, wie nirgendwo anders auf dem gesamten Festland. In Annonce war das Zusammenschließen mehrere Menschen zu einer Gruppe verboten, da man Angst hatte, die Gruppierungen könnten Einfluss auf die Politik der Städte nehmen. Aber hier, in Brehms, war das nicht so. Hier hatten sich viele für Verschwörungen zusammen gefunden, hier gab es Organisation und Ordnung, hier gab es gemeinsames Denken und Zusammenhalt…hier gab es Gilden. Etwas, was in Annonce eindeutig fehlte. Händler aus dem gesamten Land hatten hier Partner und Freunde, die hinter ihnen standen, wenn ihre Waren gestohlen wurden. In Annonce musste man vielleicht sogar noch etwas als Strafe zahlen, weil die umgestoßene Karre eine wichtige Straße blockierte. Hier, in Brehms, bekam man Kredite, Ersatz, oder Unterstützung. Brehms, die Stadt des Geldes, der Kultur und der Freiheit… Und tatsächlich entdeckte ich nun immer wieder einen Mann mit einem goldenen Ohrring – dem Zeichen der Zunftzugehörigkeit.

Aber nicht jeder konnte in solch eine Zunft eintreten. Es galt, eine Meisterprüfung abzulegen, zudem gab es meines Wissens nach hohe Eintrittskosten und regelmäßige Zunftskosten, die gezahlt werden musste und zudem mussten die Mitglieder ein haus besitzen und von hoher Geburt sein. Jeder der Mitglieder genoss also hohes Ansehen, höher als ohnehin schon und es gab sicherlich den einen oder anderen, der sich zu viel darauf einbildete.

Nevar und ich steuerten jedoch nicht dieses Gebäude, sondern ein etwas Kleineres schräg gegenüber an. Auch dieses Haus war scheinbar das Gebäude einer großen Gruppierung, denn es sah nicht aus, als wäre es zum darin leben gedacht. Es war schlicht und grau und, das machte mich aufmerksam, das Erdgeschoss war auf einer Seite komplett offen. Es gab dort keine Wand, sondern nur einen schwarzen, verzierten Metallzaun, durch den man hindurch ins Zimmer treten konnte. Von dort aus führte dann eine hölzerne Tür nach rechts, zuvor kam man an einem langen Tisch mit Bank vorbei. Zu meinem Erstaunen stand auf dem Tisch ein Korb mit Fallobst – und weder er, noch deren Inhalt war geklaut worden. Wenn man sich auf die Bank setzte konnte man vom Schatten aus auf den belebten Platz hinaus blicken und die Statue bewundern, so wie die reichen Spielereien der Architekten. Nevar bat mich leise zu warten, dann zog er seine Kapuze zurück und glättete sein widerspenstiges Haar, ehe er die schwere Tür öffnete und in das Gebäude ging. Die Tür fiel langsam und von alleine wieder zu, keiner bewachte sie und sie hatte kein Schloss. Sicherlich konnte man sie von innen mit einem Balken verriegeln, wenn das in dieser Stadt überhaupt nötig war.

Der gesamte Aufbau wirkte naiv und leichtgläubig auf mich. Scheinbar waren alle sorglos und niemand sorgte sich darüber bestohlen zu werden. Ich setzte mich auf die Bank und beobachtete die Leute. Manche von ihnen waren in sich gekehrt und in Gedanken versunken, andere liefen aufrecht und fröhlich. Ich meinte fast jeden der Personen in eine dieser zwei Gruppen einsortieren zu können. In meinem Hinterkopf stellte ich mir vor, wie die Stadt im Sommer aussehen würde. Im Sommer war die Handelszeit und hier musste es von Karren und Wagen nur so wimmeln. Die wenigstens fuhren auch jetzt umher und wenn, dann pendelten sie nur zwischen zwei Städten umher und besuchten die umliegenden Dörfer.

Ich konnte mir solch ein Leben nicht vorstellen. Stets musste ich auf die Kurse achten, auf meine Waren aufpassen, Kontakte knüpfen und flexibel auf Angebote reagieren. Ein Leben als Händler stellte ich mir anstrengender vor, als das Leben eines Schreiners oder Schmieds. Wochenlanges Sitzen auf den Kutschböcken und Feilschen und Tricksen, das war nichts für mich. Mit einem Überfall, oder einer unerwarteten Wetteränderung konnte man sämtliches Hab und Gut verlieren und musste komplett von vorne anfangen. Zwar hatte man Geld, ein haus und vielleicht eine Familie, aber man war stets unterwegs und unter Zeitdruck, da man anderen Händlern zuvor kommen musste. Aber noch schlimmer stellte ich mir den Handel mit Silbermünzen vor. Fast jede Stadt hatte ihre eigene Währung und ihre eigenen Silberlinge mit entsprechenden Köpfen, oder Gebäuden darauf. Aus Angst, dass jene mit den Münzen, welche den größten Silber- oder Goldanteil besaßen die Wirtschaft und den Handel beherrschten, wurde der Silbergehalt immer wieder erhöht, oder gesenkt. Eine Art Krieg auf friedliche Art und Weise zwischen den verschiedenen Städten. Eine Annoncer Münze war zum Beispiel eine Zeit lang nur halb so viel wert gewesen, wie eine Veronische. Dadurch war in Annonce alles doppelt so teuer, wie in Verona, weswegen die Händler dort zwar verkauften, aber nichts auf ihren Karren luden – Annonce machte keinen Gewinn mehr, sondern nur noch Verlust und war gezwungen, den Silbergehalt um wenige Prozente zu erhöhen, so dass der Kurs wieder ausgeglichen war.

Kaum einer war wirklich in der Lage den Gold- und Silbergehalt in Münzen nachzuprüfen, nicht einmal Geldwechsler beherrschten diese Kunst wirklich. Dennoch gab es Menschen die damit ihr Glück versuchten, die einen an- oder die anderen verkauften, den einen oder anderen übers Kreuz legten und so Geschäfte machten ohne Risiko und Verlust. Entweder sie standen am gleichen Punkt, wie zuvor, oder aber sie besaßen ein wenig mehr, als am Anfang. Geschäfte, die Jahre dauerten, ehe man Profit machen konnte – wenn es denn Profit gab.

Manche waren sogar so dreist, dass sie Geldwechsler aufsuchten und beispielsweise zehn Annoncer Silberlinge gegen eine Goldmünze wechselten und diese wiederum in Verona gegen zehn neue, jedoch Veronische Silberlinge zurücktauschten. Mit zehn Silberlingen aus Verona konnten sie dann zwanzig Silberlinge aus Annonce kaufen, also hatten sie insgesamt einen Gewinn von zehn Münzen. Für solche Geschäfte mussten die Geldhändler von Stadt zu Stadt reisen, was je nach orten mehrere Tage oder Wochen und ebenfalls viel kostete. Zudem war es strafbar, denn Geldhandel war landesweit verboten und nicht jeder war schnell genug, solche Gelegenheiten beim Schopf zu packen. Oft, wenn die Händler die gesuchte Stadt erreichten, war der Silberanteil bereits wieder erhoben, weswegen sie zwar keinen Verlust, aber auch keinen gewinn mehr machen konnten, denn selbstverständlich versuchten die betroffenen Städte meist sofort etwas gegen diese Vorgehen zu unternehmen. Aber bei größeren Geldsummen und mit sehr viel Glück war es durchaus lohnend und man konnte binnen weniger Wochen der reichste Mann des Landes werden.

Nevar kehrte nach gut zehn Minuten noch immer nicht zurück und ich beschloss, mich etwas umzusehen. Mein Magen knurrte gequält und würde ich ihm weiter zuhören müssen, würde ich mich wohl bald selbst essen. Ich musste mich ablenken und zwar schnell. Lediglich einen Apfel hatte ich mir genommen und gegessen - das Brot hob ich mir auf, denn man wusste ja nie, was kommt. Und so stand erhob ich mich und schlenderte etwas über den Platz. Der Schnee war an vielen Stellen vollkommen zertreten und matschig, an manchen rutschte ich leicht aus, deswegen musste ich kleine Schritte machen. Umso mehr wirkte die Umgebung auf mich. Brehms war nicht annähernd so, wie ich es mir vorgestellt hatte – es war bei Weitem besser und schöner. Mit den Augen suchte ich über den Dächern nach dem Kreuz der Kathedrale und als ich es fand, schätzte ich die Entfernung ab. Da die Gassen so verwinkelt waren und ich mich nicht auskannte, würde ich sicherlich eine halbe Stunde bis zu ihr brauchen. Ich wusste nicht, wie viel Zeit Nevars Erledigungen in Anspruch nahmen, aber gewiss nicht eine Stunde. Und so beschloss ich, sie ein anderes Mal aufzusuchen. Er hatte mich gebeten, meine Sachen mit zu nehmen, also würden wir wahrscheinlich eine längere Zeit hier verweilen, vielleicht sogar den ganzen Winter. Unter Umständen hatte Nevar das Haus aufgegeben, da der Weg durch den vielen Schnee immer unpassierbarer wurde.

Ich tröstete mich mit dem begutachten des Reiterbildnisses und lief in aller Ruhe um die Statue herum. Luther Henry Mattheus von Brehms, konnte ich nun lesen, aber weiterhelfen tat mir sein Name nicht. Ich hatte davon noch nie zuvor gehört und meine Neugierde wurde nicht annähernd befriedigt. Ich blieb lange vor ihm stehen und starrte ihm in sein Gesicht. Auf andere musste es wirken, als würde ich Antworten suchen oder hoffen, er würde mich begrüßen. In Wahrheit erforschte ich dieses für mich völlig unbekannte Gebiet. Man konnte seine Wangenknochen erkennen und einzelne Locken seiner Haare, so wie eingravierte Pupillen. An seinen Augen waren Wimpern und in seiner Nase Andeutungen von Löchern. Wer auch immer diese Figur angefertigt hatte, ich begann ihn dafür zu bewundern. In letzter Zeit hatte ich selbst kleinere Schnitzereien angefertigt, aber ich war froh, wenn ich es schaffte dass die Beine oder Schnäbel von Vögeln nicht abbrachen, oder man eine Katze auch als Katze identifizieren konnte und nicht als schwanloses Biest mit zwei Hörnern.

Zwei Wachmänner wurden auf mich aufmerksam und blieben stehen, um mich zu beobachten. In dieser Zeit inspizierte ich alles peinlichst genau und wurde von Minute zu Minute faszinierter. An den zwei erhobenen Beinen hatte das Pferd Hufeisen und abstehende Haare über den Knöcheln, der Sattel besaß eine Naht und die Hände des Mannes hatten sogar Sehnen. In meinem kopf malte ich mir den Hergang der Herstellung aus. Ich stellte mir vor, wie jemand sich vor einen großen Steinklotz setzte und stückweise begann, die Skulptur anzufertigen. Hatte er ein Vorbild gehabt? Oder hatte er es aus dem Kopf heraus anfertigen müssen? Irgendwann dann tippte mir jemand auf die Schulter. Ich drehte mich um, in der Erwartung, es wäre Nevar.

Doch er war es nicht…



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