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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil

Das Tagebuch eines Gesuchten
von

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Viele Fragen

Philipp ließ mich nicht schlafen, obwohl es gerade mal sechs Uhr war. Er brauchte den Platz vor dem Ofen und eine Silbermünze war – angeblich - zu wenig, für Zimmer und Verpflegung, also musste ich mich hoch raffen, ob ich wollte oder nicht.

Glücklicherweise ließ er mich in Ruhe, bis ich richtig wach war. Ich setzte mich in den Schankraum und döste vor mich hin, mit knurrendem Magen, brennenden Augen und Kopfschmerzen. Ich fragte mich, wieso Philipp überhaupt noch den Laden öffnete. Solange die Rotröcke vor dem Haus postiert waren, würde ohnehin niemand das Wirtshaus betreten. Zu meiner Verwunderung jedoch stellten wir fest, dass sie verschwunden waren.

Vorerst, wie Philipp meinte.

Die nächtliche Begegnung mit dem Fremden erschien mir wie ein Traum und nun im Nachhinein beunruhigend. Was, wenn ich durch diese Geheimnistuerei in etwas verwickelt wurde, in das ich nicht verwickelt werden wollte? Was, wenn er mich in noch größere Schwierigkeiten hinein zog, als ohnehin schon? Ich hatte versprochen den Mund zu halten und ihn nachts in die Küche zu lassen. Was hatte er dort vor? Und galt das, was ich tat, als decken? Deckte ich womöglich einen Verbrecher?!

Aus dem oberen Stockwerk drang immer wieder Lärm herunter. Die Frau schrie hysterisch herum und Philipp erklärte mir, dass sie seit Tagen Fieber hätte. Es handelte sich wirklich um seine Ehefrau und der Wirt schien sie nicht sonderlich zu schätzen. Er sprach zwar nicht abfällig von ihr, jedoch auch nicht sonderlich liebevoll. Sie wirkte eher wie eine Last, als eine Lebensgefährtin, ausgesucht mit Liebe und Leidenschaft.

Jack, ihr Sohn, kam immer wieder hinunter um Wasser zu holen, Brot oder Suppe. Er wurde so gehetzt, dass er mir nicht einmal Guten Morgen sagte. „Sie will keinen Arzt.“, war das einzige, was er sprach.

Ich beschloss bis zum Mittag zu warten, irgendwann musste schließlich sogar dieses Weibsbild Ruhe geben. Dann würde ich mit Jack sprechen bezüglich Mary-Ann. Ich hatte ihm einen Tag Zeit gegeben, mehr hatte ich nicht. Nun musste ich beginnen Pläne zu schmieden. Aber bis dahin beobachtete ich den Alltag des Gasthauses.

Wie ich erfuhr war Jacks Mutter starke Alkoholikerin und durch die Temperatur nicht mehr klar bei Verstand. Jedoch fühlte Jack sich seiner Mutter verpflichtet und Philipp sich für Jack, weswegen der Wirt das Frauenzimmer nicht hinaus werfen wollte – dem Jungen zuliebe. Eine verzwickte Geschichte, die so leicht nicht zu lösen war. Er behandelte sie stets gut und mit Respekt. Etwas, was in meinen Augen eine Leistung war, denn manchmal schwang in seiner Stimme Abscheu und Hass mit. Das einzige, was er ihr verweigerte war Geld, da sie dieses zum Fenster hinaus warf für Rum, Bier, Schminke und teure Kleidung. Zwei Wochen lang hatte Philipp einst im Bett gefiebert und in dieser Zeit hatte sie es geschafft, sie hoch zu verschulden. Es hatte ganze drei Jahre gedauert, alles wieder abzubezahlen. Niemals wieder würde seine Frau eine Münze auch nur ansehen dürfen, außer sie verdiente sie sich selbst. Und das tat sie.

Wenn sie nicht gerade wehleidig im Bett lag und nach ihrem Sohn schrie, verkaufte sie sich an die wenigen Gäste. Nicht selten musste Jack sie in der Stadt suchen gehen, da sie das eine oder andere verdient und in verschiedenen Wirtshäusern versoffen hatte. Dann saß seine Mutter benommen vor einer Schenke, rief nach Jack und rührte sich keinen Zentimeter, ehe er nicht da war. Man könnte fast meinen, sie liebte ihren Sohn über alles.

Auf der anderen Seite, erklärte mir Philipp, gab sie jedoch ihm die Schuld für ihr Leben. Sie behauptete, sie hätte wegen der Geburtsschmerzen angefangen zu trinken und weil die Schwangerschaft sie hässlich und dick gemacht hätte.

Irgendwann krachte es oben, als wäre ein Tisch zu Bruch gegangen, dann knallte Jack die Tür zu und stampfte wütend hinunter. Er zitterte vor Zorn und seine Haare waren ganz zaus. „Bleib unten.“, brummte Philipp nur. „Die kriegt sich auch ohne dich wieder ein.“

Jack setzte sich an einen der Tische. Philipp stellte dem Jungen und mir einen Teller Suppe hin, dieser nickte nur schwer seufzend. Doch bereits nach fünf Minuten Rufen war er wieder nach oben verschwunden. Er konnte seine Mutter einfach nicht ignorieren.

Mir kam dies zugute, denn ich machte mich auch über seinen Teller her und versuchte, mich aus den Familien-Angelegenheiten raus zu halten. Nach einer Weile dann gesellte sich der Wirt zu mir. Wir begannen uns zu unterhalten, über meine Pläne, meine Ideen und meine Gedanken. Scheinbar wollte er herausfinden, was genau Jack und ich vorhatten, aber als erstes wusste ich es noch nicht und als zweites war ich nicht sicher, ob es klug war, ihn einzuweihen. Ich hielt mein Leben so gut aus dem Gespräch heraus, wie es ging. Ich erwähnte nur, was ich bereits gesagt hatte und schmückte es etwas feiner aus. Dass ich auf See gewesen war, auf einem Piratenschiff und dass ich dort als Schiffsjunge gearbeitet hatte. Von Black, Robert oder gar Kai erzählte ich nichts. Zwar sagte ich, dass ich im Tollhaus gearbeitet hatte, aber ich behauptete nur, ich hätte in der dortigen Küche geholfen. Ich erwähnte weder Mary-Ann, noch Pitt oder Charles. Am wenigstens den Zuchtmeister oder dass ich bereits als Kind dort gelebt hatte. Ich galt als freiwilliger, katholischer Arbeiter, der diese Arbeit aus Überzeugung angetreten hatte. Ich berichtete alles so freundlich und zuversichtlich, dass man meinen könnte, es hätte mir Spaß gemacht etwas Gutes für diese verlorenen Seelen zu tun.

Philipp gefiel meine Einstellung, wenn er auch offen sagte, dass er niemals kostenlos arbeiten würde und schon gar nicht in der Küche. Er überlegte, ob er mich als feste Arbeitskraft einstellen sollte. Ich müsste nur fleißiger werden und mein langes Schlafen unterlassen. er hatte vor das Wirtshaus wieder aufzubauen, aber ohne O'Hagan. Bald würde es keine Wirtshäuser mehr geben, in denen keine Rotröcke waren. Diejenigen, die den Soldaten ausweichen mussten, würden dann zu ihm kommen. Philipp hatte vor, die Preise dann zu senken. Momentan waren sie so hoch, da Geldmangel war aufgrund der wenigen Gäste. Ich könnte bei ihm schälen, kochen und putzen, vielleicht sogar Botengänge erledigen und ab und an kellnern. Da ich die Umsetzung dieser Ideen erst in weiter Ferne sah stimmte ich zu. so schnell würde das Haus ohnehin nicht wieder aufgebaut sein, wenn seine Träume überhaupt realisierbar waren und bis dahin hatte ich ein billigeres Leben und konnte mir vielleicht sogar etwas dazuverdienen.

Jack kam in seiner Zukunftsvision nicht vor. Er wollte den Jungen zur Schule schicken, damit er etwas Anständiges wurde. Sein Sohn war intelligent, gebildet und er konnte etwas erreichen, was andere nicht konnten. Das wusste Philipp zu hundert Prozent. Er hatte früher einmal den Priester von Annonce bezahlt, damit dieser dem Jungen nach den Sonntagsmessen etwas Unterricht im Lesen und Schreiben gab. Leider besaß er nicht genug Geld und so hatte sein Sohn nur drei Wochen am Unterricht teilnehmen können. Er selbst war einfach nicht gut genug und hatte keine Zeit dazu ihn in etwas zu unterrichten und so blieb die Schulung des Jungen auf der Strecke.

Ich nutzte die Gelegenheit mich als Lehrer anzubieten. Aufgrund meiner Klosterzeit beherrschte ich die Schrift einwandfrei und konnte Jack sicherlich einiges beibringen. Damit war Philipp einverstanden, so dass ich dem Jungen für ein festes Mahl Unterricht erteilen sollte.

Später kam der Fremde die Treppe hinunter. Sofort stand Philipp auf und ging an den Tresen, ich hingegen blieb sitzen und musterte den Mann genauer. Er wiederum mich ganz und gar nicht. Es schien fast, als hätten wir uns nie zuvor gesehen und schon gar nicht so, als hätten wir miteinander gesprochen. Diesmal war sein Umhang grau, an den Enden leicht ausgefranst, denn das Kleidungsstück war scheinbar bereits etwas älter. Er stellte Philipp den Suppenteller samt Löffel hin, ehe er leise sagte:

„Ich gehe aus. Wenn jemand nach mir fragen sollte, teilt es ihm mit. Wenn er in mein Zimmer möchte, lasst ihn hinein.“, dann deutete er auf die Kerze am Ende des Tresens. „Zündet sie an, wenn jemand oben ist.“

Der Wirt nahm den Teller entgegen und nickte knapp. „Sehr wohl. Soll ich die Tür wieder eine Stunde länger offen lassen, der Herr?“

„Nicht nötig. So spät wird es dieses Mal nicht werden. Wenn, dann komme ich morgen früh. Bitte stellt mir etwas vom Abendessen ans Bett.“, er drehte ab und ging hinaus, ohne eine Antwort abzuwarten. Philipp bejahte brummend und sah ihm nach. Dann schüttelte er den Kopf und brachte das Geschirr in die Küche.

Ich sah zu, wie der Fremde die Schenke verließ und die Katze fürchterlich zum Läuten brachte, ehe ich seinen Schritten lauschte, bis sie verklungen waren. Es hatte etwas geregnet, die Straßen waren feucht und so hörte man die Ledersohlen seiner Stiefel auf dem Pflaster. Fragend sah ich Philipp an, als dieser wieder seinen Platz mir gegenüber ansteuerte.

„Komischer Kauz.“, begann ich unschuldig das Gespräch, ganz nebenbei.

Er brummte. „Da sagst du was.“, dann lehnte er sich zurück. Der Stuhl knarrte bedrohlich unter seinem Gewicht. „Aber immerhin ein Gast. Einer von wenigen.“

Ich nickte und gähnte leicht, zur Tür sehend, durch welche der Gast verschwunden war. Ich schwieg eine Weile, als würde ich nachdenken müssen. Aber in Wahrheit hatte ich meine Frage die ganze Zeit vor Augen: „Was treibt er so? Er muss gut verdienen, wenn er sich diese Wucherpreise hier leisten kann.“

Das brachte den Wirt zum Grinsen. „Ja, stimmt schon.“, auch Philipp sah zur Tür, obwohl längst niemand mehr zu sehen war. „Was er treibt, weiß ich nicht. Aber er zahlt gut und pünktlich und das ist die Hauptsache. In meinem Geschäft stellt man besser keine Fragen. Zumindest nicht in Annonce.“

„Mir habt Ihr Fragen gestellt.“, wandte ich ein. Ich schob die zwei Suppenteller beiseite und stützte mich auf dich Tischplatte. „Und sicher habt Ihr doch Vermutungen? Fragen stellt man als Wirt zwar selten, aber Gerüchte gibt man umso öfter weiter.“

„Man munkelt, er sei ein Lord, der vor seiner Verantwortung flüchten will.“, gab Philipp nach einigem Grübeln zu.

„Ein Lord... In so einer Baracke, wie dieser hier?"

Philipp stand wieder auf und griff die zwei Teller. „Früher war dieses Haus ein wahres Prachtstück.“, verteidigte er sich dabei. Mit schlurfenden Schritten ging er Richtung Küche. Das tat er immer dann, wenn er keine Lust auf Gespräche hatte. „Der Kerl wohnt bereits seit sechs Monaten hier. Und jetzt genug. So viel Neugierde hält ja kein Mensch aus.“

„Sechs Monate...“, ich starrte Philipp nach, dann abermals zum Ausgang. Leise murmelte ich: „Meine Güte, der Kerl muss ja reich sein.“ Ein Lord, hm?
 

Mit den Gedanken, dass ich ohnehin nicht außerhalb arbeiten konnte, aufgrund der Rotröcke und dass es innerhalb des Wirtshauses nichts mehr zu tun gäbe, hatte ich mich mehr als nur geschnitten. In Bezug darauf Beschäftigungen zu finden, stellte sich Philipp als großes Talent heraus. Nachdem die Glocke der Kapelle die Mittagszeit eingeläutet hatte begann ich auf Knien den gesamten Boden zu wischen. Zu meiner Enttäuschung überließ er mir nicht vollends die Arbeit. Er nahm als erstes den Lappen, hockte sich umständlich auf den Boden und schrubbte einen Teil der Dielen so sauber, wie es nur ging. Und so, sagte er, sollte am Ende des Tages jedes einzelnes Brett aussehen. Ein Ziel, das nur schwer zu erreichen war.

Nach gut drei Stunden war ich noch immer nicht fertig. Meine Arme schmerzten und mein Rücken ebenso. Ich fühlte mich an alte Zeiten erinnert und seufzte mehrmals, laut hörbar, wie zur Beschwerde.

Doch nicht nur diese Körperstellten: Sobald ich Schritte hörte fuhr ich hoch und stieß mir den Kopf an der Unterseite eines Tisches oder eines Stuhles. Ich glaube noch nie zuvor an einem einzelnen Tag so oft geflucht zu haben, wie an diesem. Als ich endlich fertig war, hatte ich wunde Finger und Knie, aber die Arbeit hatte sich gelohnt. Philipp hatte registriert, dass ich dunkle Fußabdrücke auf dem Boden hinterlassen hatte und sich die Zeit genommen, mir sein altes Paar Schuhe zu suchen. Ich nahm sie mehr als nur dankbar entgegen, denn seit meiner Ankunft auf dem Schiff hatte ich keine mehr besessen. Eigentlich waren sie für Jack gedacht, aber der Junge wuchs nicht mehr. Die Schuhe waren einmal prächtig gewesen, doch nun war das schwarze Leder abgenutzt und an manchen Stellen ausgefranst, zudem viel zu groß. Aber wenn ich sie eng genug schnürte, waren sie erträglich. Abgesehen von den zwei kleinen Löchern in der rechten Sohle und den hellen Flecken an der linken Außenseite. Ich nahm mir fest vor, mir neue Kleidung zu besorgen, abgesehen von den Schuhen, denn noch immer trug ich die Hose und das Hemd, das man mir im Gefängnis bereitgestellt hatte. Von Außen wirkte ich wie ein Bettler, schlimmer noch. Es war kein Wunder, dass der Mann in schwarz mich so seltsam gemustert hatte, als er mich das erste Mal sah.

Philipp hatte sämtliches Geschirr zwar in die Küche getragen, aber das Abwaschen überließ er mir. Dasselbe galt für das Schälen der Kartoffeln, das Befreien der Erbsen von den Schoten, das Reinigen des Ofens, das Abkratzen des Wachses von den Tischen, das Putzen der Scheiben – die sicher seit zehn Jahren nicht einmal mehr angesehen worden waren – das Waschen der Bettbezüge, das Reparieren der Treppe und Stühle, so wie das Ausnehmen eines Huhnes für den nächsten Tag. Als Lohn bekam ich einen Teller kalte, dickflüssige und stinkende Suppe, so scharf gewürzt, dass mir Zunge und Mund fast weg brannten. Umso näher der Abend rückte, desto mehr beschlich mich das ungute Gefühl, es war ein Fehler gewesen, auf Philipps Angebot einzugehen. Ich versuchte der Arbeit zu entkommen, indem ich Jack zu einem Gespräch aufforderte, aber zu meiner Enttäuschung war er verschwunden, ohne dass ich es bemerkt hatte. Ich verfluchte mich dafür und beschloss, nichts zu trinken. Ich musste mit ihm reden, dringend! Und zwar mit klarem Verstand. Auch Philipp war aufgefallen, dass es kein Gespräch zwischen mir und dem Jungen gegeben hatte. Er jedoch schien sehr zufrieden damit zu sein. Allem Anschein nach machte Philipp sich große Sorgen darum, dass sein Junge sich in Schwierigkeiten bringen könnte. Und so sympathisch ich ihm aufgrund meiner politischen Einstellung auch war, es glich dennoch nicht die Tatsache aus, dass ich versuchte Jack in Schwierigkeiten zu bringen. So sehr er mir auch half und gute Worte schenkte, so machte er mir dennoch klar, dass ich es bereuen würde, würde Jack auch nur das Geringste wegen mir geschehen.

Nachdem ich endlich mit meiner Arbeit fertig war, es herrschte längst Ausgangssperre, sank ich völlig kraftlos und unter Schmerzen auf mein Lager. Keiner hatte nach dem schwarzen Mann gefragt, kein Gast war hinunter gekommen da Philipp ihnen alles nach oben gebracht hatte und von der Mutter gab es auch keine Anzeichen, dass sie überhaupt da war. Noch nie zuvor hatte ich einen so langweiligen und zugleich anstrengenden Tag erlebt. Die Aussicht auf einen weiteren, solch glorreichen Tagesablauf brachte mir miese Laune. Ich begann wütend auf Philipp zu werden, aufgrund meiner Unzufriedenheit. Endlich war mein Leben nicht mehr langweilig – ich wurde verfolgt! Und dennoch hätte ich auf diesen Tag schlichtweg verzichten können. Würde er einfach verschwinden, wäre es mir sicherlich nicht einmal aufgefallen – abgesehen davon, dass man sich in Fenstern und Boden spiegeln konnte und dass kein Stuhl mehr unter einem nachzugeben drohte.

Der Wirt begab sich sehr früh zu Bett. Seine Woche war anstrengend gewesen und da es nur noch die zwei Gäste gab, die ihr Zimmer verließen, hatte er keine Arbeit mehr. Ich blieb vor meinem Ofen sitzen, genoss die restliche Wärme und wartete auf Jacks Rückkehr. Ich hatte mich auf eine lange Wartezeit eingestellt, dennoch kam die Müdigkeit rasch. Ich überlegte kurzzeitig, ob ich mich ein wenig hinlegen sollte, bis er kam, wagte es aber nicht, aus Angst, ich würde seine Ankunft verpassen. Das Haus war totenstill, stiller als am Tage und auch die Stadt schien zu schlafen. Ich hörte den Nachtwächter, dann eine weitere Person, ansonsten fast nichts. Es schien, als wären sämtliche Anwohner gestorben. Dann, gegen drei Uhr hallten die Stimmen betrunkener, junger Männer durch die Gassen. Es müssen etwa fünf oder sechs gewesen sein. Wahrscheinlich klapperten sie gerade sämtliche Wirtshäuser ab, jedoch waren sie zu unvorsichtig. Es dauerte nicht einmal drei Minuten, schon hörte man etliche Schritte auf dem Weg zu ihnen und anschließend Stöhnen und Streiten. Man nahm sie fest, da sie die Ausgangssperre ignoriert hatten. Sollten sie sich jetzt noch gegen die Wachmänner wehren, war ihr Leben mit großer Wahrscheinlichkeit vorbei.

Mir wurde bewusst, wie ausweglos meine Lage war. Noch war sie ruhig, man hatte mich nicht gefunden. Aber bald würde man das tun und dann waren auch meine Tage gezählt.

Dieser Gedanke half mir eine Zeit lang, wach zu bleiben. Ich begann wieder zu grübeln, warum und wieso man mir das antat und was geschehen würde, würden sie mich kriegen. Dennoch wurde mir der Ernst der Lage nicht wirklich bewusst. Ich hatte neben dem Rotrock gestanden und er hatte das Wirtshaus einfach verlassen. Dieser Triumph verweigerte meinem Hirn sie als ernsthafte Gegner anzusehen. Ein Fehler, den ich später bereuen sollte.

Ein Klopfen an das Fenster ließ mich zusammen fahren und als hätte mich jemand gestochen, fuhr ich hoch. Ich starrte die Fensterläden an, doch natürlich verriet mir das Holz nicht, wer genau geklopft hatte. Dann klopfte es erneut, eindringlicher, fester.

„Ich weiß, dass Ihr da drin seid, Sullivan!“, flüsterte eine Stimme kaum hörbar. „Ich bin es, macht auf!“, doch ich öffnete nicht. Vielmehr zögerte ich und spürte meinen raschen Herzschlag. Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff, dass es der Mann in Schwarz war, der da vor dem Fenster stand. Er klopfte abermals und das bewegte mich dazu, die Fensterläden aufzusperren. Es bedurfte eines festen Rucks, ehe ich das Fenster aufbekam. Kühler Wind kam mir entgegen und ich konnte den Mann gar nicht erkennen, so schwarz war es draußen. Die Lampe neben der Tür war aus, obwohl ich hätte schwören können, Philipp hatte sie angezündet und nur ein schwaches Straßenlicht reichte bis an das Küchenfenster heran. Während er flink ein Bein auf einen hinausragenden Stein über dem Boden stützte und so gekonnt in die Küche sprang, wurde mir bewusst, wie unvorsichtig ich gewesen war. Was, wenn er mich verraten hatte? Was, wenn hier überall Rotröcke nur darauf warteten, dass er ihnen mein Gesicht zeigte? Ein wenig übereilt schlug ich die Fensterläden wieder zu. Es krachte leise, als eines der linken Scharniere nachließ und ich musste Gewalt anwenden, um es dennoch zu schließen. Nun war das Fenster schief verschlossen und geringes Licht kam hinein. Hektisch drehte ich mich zu ihm herum. Ich fühlte mich wie ein Idiot.

Der Fremde stand vor mir, wie aus Blei gegossen. Sein grauer Umhang wirkte im nicht beleuchteten Raum wie aus Pech und ich erkannte nicht einmal mehr seinen Mund. Alles, was mir verriet, dass er da war, war seine Silhouette und ein Stück Schulter, das sich im Licht befand. Aber noch ehe ich etwas fragen konnte, hörte ich Stimmen.

„Wo ist er?!“, rief ein Mann.

„Er ist dort entlang!“, ein anderer.

Dann rannten mehrere Männer am Wirtshaus vorbei. Ich hielt den Atem an und erst, als sie bereits längere Zeit nicht mehr zu hören waren, drehte ich mich herum. Unsicher, was ich denken oder fühlen sollte, starrte ich den Fremden an. Sah er zurück? Er stand noch immer da wie zuvor. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er mich töten möchte. Warum weiß ich nicht, aber ich wich zurück.

„Danke.“, flüsterte er mir entgegen. „Ich habe es nicht nach oben geschafft.“, dann verschwand seine Silhouette aus dem Licht. Ich lauschte, um zu erfahren, wo er war, doch es gab nicht den geringsten Hinweis. Der Wind trug die Stimmen der Wachmänner als undefinierbare Laute durch die Straßen. Unsicher tat ich einen Schritt nach links auf die Tür zu. Meine Augen wanderten umher in der Hoffnung auf irgendeinen Anhaltspunkt, wo er war – vergeblich. Ich empfand ihn als Feind, als gefährlich, ohne zu verstehen, warum eigentlich. „Ihr wurdet verfolgt.“, flüsterte ich dann, in der Hoffnung auf eine Antwort. Lange Zeit kam nichts.

Dann sprach er hinter mir, scheinbar in der Tür stehend: „Scheint so.“

Sofort fuhr ich herum und stolperte einen Schritt zurück. „Wieso schleicht Ihr so herum?!“

„Ich stehe nur hier. Ihr bewegt Euch hin und her, nicht ich.“, und nach einiger Zeit fügte er hinzu: „Entzündet doch den Ofen, dann ist es heller.“

„Der ist aus.“

„Wieso?“

Stille, etwas raschelte. Eine Ratte neben mir rutschte von einem Kartoffelsack hinunter und krabbelte über den Steinboden. „Wegen der Wachen.“

„Ist das nicht ein wenig paranoid?“, ich spürte, wie er an mir vorbei ging. Abermals wich ich zurück und registrierte, dass es die Dunkelheit war, die mich ängstigte. Er machte sich am Feuer zu schaffen und nachdem es entzündet war, legte sich auch etwas meine Nervosität. Der Fremde ließ die Ofentür einen Spalt offen und ein schwacher Lichtschein legte sich über das Zimmer. Schweigend sah ich zu, wie er die Fensterläden richtig schloss. Nun, wo es heller war, war dies um einiges leichter. Nachdem er fertig war, drehte er sich zu mir. Da der Mann mit dem Rücken zum Feuer stand, war sein Gesicht für mich fast unerkennbar. Dunkle Schatten lagen über seinen Augen und ließen sie wie tiefe, schwarze Höhlen erscheinen, ebenso wie der Bereich unter seiner Nase. Ruhig erklärte er mir: „Sie haben mich am Arm erwischt. Deswegen konnte ich nicht durch das Fenster rein. Ihr habt mich sozusagen gerettet.“, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Nicht der Rede wert., erschien mir unangebracht. Gern geschehen., oder Keine Ursache. ebenso. Er merkte scheinbar meine Hilflosigkeit und schmunzelte leicht. „Habe ich Euch wieder geweckt?“

Das lockerte mich etwas und ich schüttelte den Kopf. „Nein, nein.“

„Dann ist gut.“, er sah sich kurz um, als müsste er sichergehen, dass wirklich alles so war, wie er es kannte.

„Ich esse lieber allein.“, murmelte er nachdenklich. „Also, wenn es Euch nichts ausmacht? Es dauert nicht lang.“

„Ich habe Euch das Leben gerettet.“, protestierte ich leise. „Ist das nichts wert?“

Daraufhin sah er mich kurz an und wandte sich ab. „Da ich dieses Haus verlassen muss, ist es ohnehin egal.“

Ich sah ihm zu, wie er zum Geschirrschrank ging. Ein altes Gestell. Unten ein Fach mit zwei Türen, darüber ein Regal in dem Teller standen und darüber abermals ein geschlossenes Fach. Er rückte ihn vorsichtig ab.

„Wieso müsst Ihr gehen?“, fragte ich ohne Scheu, ihn aufmerksam beobachtend. Der Mann hatte nun einen kleinen Zwischenraum zwischen Schrank und Wand geschaffen, vorsichtig und fast völlig lautlos. Er hatte ihn etwas angehoben, damit er keine Spuren auf dem Boden hinterließ. Nun griff er dahinter und hob ein winziges Stück Diele an. Es war gerade mal so groß, dass seine Hand hinein passte. Er sank vollends auf die Knie, für einen Moment konnte ich eine tiefschwarze Stoffhose erkennen, und steckte den Arm umständlich tiefer in den Boden hinein. Scheinbar reichte das Loch bis unter die Mauer. Er zog einige gefaltete Blätter Papier heraus und dazu einen kleinen Lederbeutel, der leise klimperte.

„Weil ich Probleme habe. Das muss Euch als Erklärung genügen.“

Dann machte er sich daran, alles wieder so aufzubauen, wie zuvor. Keiner von uns sagte ein Wort und als wäre ich gar nicht da, setzte er sich auf den Küchentisch, entfaltete eines der Pergamente und beugte sich darüber. Leise kam ich einige Schritte näher und lugte über seine Schulter. Ich erkannte eine Karte der Stadt Annonce. Links das Kloster, der Fluss, der sich durch die Straßen schlängelt, rechts der Hafen. In der Mitte der Marktplatz nahe dem Rathaus. Überall waren Kreuze und Kreise, zudem Notizen in schwarzer und roter Tinte. Ich konnte die Buchstaben entziffern, aber die Wörter verstand ich nicht. Es schien, als wären sie in einer anderen Sprache. Neugierig musterte ich sie eine Zeit lang und sah zu, wie er mit Kohle ein paar der Kreuze und Kreise verschmierte. An seinem Handgelenk erkannte ich herunter gelaufenes, getrocknetes Blut. Ich wagte es nicht, zu fragen, warum er das tat und auch nicht, woher genau das Blut kam. Dennoch plagte mich die Neugierde. Nachdem er fertig war pustete er die Kohlereste hinunter und klappte sie wieder zu. Seine Finger hinterließen schwarze Fingerabdrücke auf dem Pergament. Er ließ das Papier im Innern seines Umhanges verschwinden, leckte kurz an seiner Handinnenfläche und verrieb den Schmutz, bis seine Finger einigermaßen gereinigt waren. „Ich gehe zu Bett.“, verkündete er dabei.

„Ich habe Euch das Leben gerettet.“, wiederholte ich abermals ruhig. „Ich möchte mit Euch reden. Das ist das Mindeste.“

Der Fremde hob seinen Blick und sah mich seelenruhig an. „Ihr werdet keine Antworten erhalten. Zumindest keine, die Euch interessieren oder befriedigen würden.“

„Das dachte ich mir. Aber vielleicht könnt Ihr mir trotzdem ein wenig weiter helfen.“

Ich sah, dass er grinste, als er sich ganz zu mir drehte. „Wenn es um Geld geht, Ihr solltet dankbar für den Silberling sein, ansonsten könnte es Eurerseits sehr teuer werden.“

Abwehrend hob ich die Hände und sagte ernst: „Keine Sorge. Ich werde nicht den Fehler machen, Euch zu erpressen. Ich bin nicht dumm und weiß, dass es schmerzhaft werden kann, mit Feuer spielen zu wollen. Ich wollte nur wissen, wer Ihr seid und auf welcher Seite Ihr steht. Zumindest…ungefähr.“

Er nickte. „Mein Name ist Nevar. Und ich bin auf der – von mir aus gesehen – rechten Seite.“

„Auf der rechten?“, fragte ich verwirrt.

„Jene, die in meinen Augen die Richtige ist.“, grinste Nevar mir entgegen. „Und meist jene, die mich weiter bringt.“

„Also seid Ihr ein Meuchler?“

„Nein.“

Ich schwieg kurz, dann sah ich nachdenklich zu Boden. „Ein…Spion?“

„Nein.“

Fragend sah ich ihn wieder an. „Was dann? Ein Dieb vielleicht?“

„Nein.“, sein Grinsen wurde wieder zu einem Schmunzeln und er schloss die Ofentür. Das Licht verschwand wieder. „Ich heiße Nevar. Nehmt es hin, das ist sicherer. Für uns beide.“

Ich seufzte leise, da er mir nicht einmal annähernd weiter half, ehe ich spüren konnte, wie er an mir vorbei ging. Nevar wollte die Küche verlassen und auf sein Zimmer. Reflexartig ging ich einen Schritt vor, streckte die Hand nach ihm aus und bekam ein Stück Stoff seines Umhanges zu fassen. Ich packte zu und das nächste, was ich spürte, war die Spitze einer Klinge an meinem Hals. Es ging unheimlich schnell.

Er befahl mir ruhig: „Lasst los.“, doch das hätte er nicht mehr tun müssen. Erschrocken war ich zurück gestolpert und hatte meine Hände abwehrend erhoben.

„Ich wollte Euch nichts tun!“, versicherte ich dabei. „!ch wollte Euch nur daran hindern, zu gehen!“

Nevar antwortete nicht. Einige Sekunden war ich unsicher, ob er verschwunden war, ehe er leise erklärte: „Ihr werdet mit großer Wahrscheinlichkeit keine Antworten erhalten, Sullivan. Aber wenn Ihr es dennoch versuchen wollt, begleitet mich auf mein Zimmer. Ich habe noch zu tun und nicht mehr viel Zeit, zu schlafen. Ihr haltet mich auf.“

Unsinniger Weise nickte ich, obwohl es wohl für keinen sichtbar war und so folgte ich ihm hinauf. Ich spürte, dass er die Treppe fast hinauf tanzte. Mal trat er links auf eine Stufe, dann besonders weit rechts, fast nie mittig. Sie gab unter seinen Füßen keinen Laut von sich und so sehr ich ihn auch nachzuahmen versuchte, ich brachte eher ein misslungenes Schleichergebnis Zustande. Als wir oben ankamen, öffnete er die erste Tür ganz links, die über Küche und Schankraum lag. Rechts daneben, in der Mitte der linken Seite, befand sich das Zimmer von Jack, Philipp und seiner Frau. Er zog einen Schlüssel und schloss auf, langsam und so leise wie nur möglich, dann schlüpfte er hinein. Kaum war auch ich eingetreten spürte ich den Luftzug der sich schließenden Tür und hörte anschließend das Schloss. Einige Zeit blieb ich stehen. Es war zu dunkel, ich hatte keine Orientierung und wusste nicht, wohin ich mich bewegen sollte. Dann entzündete Nevar eine Kerze.

Man sah seinem Raum an, dass er seit gut einem halben Jahr bewohnt wurde. Statt nur einem Bett, einem Schrank, einem Tisch und einem Stuhl gab es bei ihm noch mehr, viel mehr Einrichtungsgegenstände. Scheinbar hatte er sich das Zimmer wohnlicher gestaltet. Es war länglich, gegenüber der Tür gab es das Fenster, ansonsten nichts. Links stand der Tisch an die Wand gerückt, darüber waren zwei Regale angebracht. Sie waren überladen mit Büchern der verschiedensten Arten, ebenso wie der Tisch selbst. Rechts gegenüber stand das Bett, mit dem Kopf zur Türseite und einem winzigen Nachttisch daneben. Dahinter, neben dem Fenster, war ein großer Schrank. Er hatte zwei Türen und an der einen war ein runder, kleiner Spiegel angebracht. Links, dem Schrank gegenüber, stand eine Holztruhe mit Schloss. Nevar stellte die Kerze auf den Schreibtisch, zwischen ein Tintenfass und eine Pfeife, dann wandte er sich den Büchern zu. Er begann nach etwas zu suchen, wofür er die linke Hand ausstreckte und die Buchrücken entlang fuhr. Mich beachtete er nicht. Ich nahm mir die Zeit, sein kleines Reich näher zu erkunden. Vorsichtig machte ich ein paar Schritte durch sein Zimmer. Meine bloßen Füße liefen über einen weichen, karmesinroten Teppich, während ich das gewünschte Essen auf dem Nachttisch sah und den geschlossenen Krug Wein. Zu meinem Erstaunen lag dazu noch eine Keule des Huhnes bereit, das ich am Tag zubereitet hatte. Ich hatte nichts davon abbekommen. Neben dem Essen lag ein winziges, schwarzes Buch. Neugierig beugte ich mich herunter, um den Einband zu lesen. Mit goldener Schrift stand darauf: La Sacra Bibbia.

Nevar hatte das gesuchte Buch scheinbar gefunden, dann er zog einen dicken, grünen Schinken aus dem Regal und ließ ihn auf den Schreibtisch sinken. Dann begann er ihn zu durchblättern. Durch den Windzug flackerte die Kerze leicht und das Licht im Raum flimmerte. Ich sah zum Fenster. Es war durch einen schwarzen Vorhang verdeckt, der mit zwei Nägeln festgemacht worden war. Dies war die einzige Stelle im Raum, die nicht nobel wirkte, sondern eher provisorisch. „Wie lange seid Ihr bereits hier?“, fragte ich neugierig und ließ mich auf das Bett fallen. Es federte leicht und Staub wirbelte hoch. Fast wirkte es so, als wäre es bereits seit Tagen ungenutzt.

„Fünf Monate.“

„Eine Menge Zeit.“, er brummte nur. Scheinbar war das Buch doch nicht jenes, das er suchte, denn er griff nach einem neuen, diesmal roten. Dieses legte er auf das aufgeklappte, erstere und durchsuchte es. Bei jedem Seitenumschlag versuchte ich etwas zu entziffern. Ab und an hielt er eine Seite fest, um etwas zu lesen. Dann erkannte ich Wörter wie:

Paese, andare, Cittá, Monastero, oder Mare. Dazwischen waren kleine Zeichnungen und Karten von Orten, die ich niemals zuvor gesehen hatte. Ozeane, Berge, riesige Prärien oder gar Städte. Manche waren durchgestrichen, andere hektisch überkrakelt. An den Seiten gab es kleine Notizen und Anmerkungen. Desto länger ich ihm zusah, desto klarer wurde mir, dass ich es mit keinem Mann vom Festland zu tun hatte. Dann fand Nevar scheinbar das Gesuchte. Er riss eine Seite heraus und hielt sie in die Kerze. Der Geruch von verbranntem Papier erfüllte den Raum und ich hatte das Bedürfnis, zu lüften. Stattdessen hielt ich jedoch den Mund und wartete, dass er Zeit für mich fand. Nachdem Nevar alles vernichtet hatte, was zu vernichten war, schob er die Bücher zurück in das Regal. Er tat es so, als würde er das gesamte Geschehen rückwärts durchgehen. Als erstes legte er jenes, welches außen stand an die anderen, dann schob er das zweite zurück zwischen die Beiden. Es erschien mir umständlich, ich hätte sie nacheinander aufgestellt.

Mit einer kurzen Bewegung ließ er seine Kapuze hinunter sinken. Als er mich ansah, zuckte ich fast ein wenig zusammen. Nevars eisblaue Augen wirkten durch sein schwarzes, kurzes Haar noch heller und beißender. Sie standen in alle Richtungen ab, wie bei einem verwilderten Hund. Etwas amüsiert fragte er: „Bequem?“

Erschrocken sprang ich hoch. „Verzeihung. Ich war nur so in Gedanken.“

„Setzt Euch ruhig, wohin Ihr wollt.“, er öffnete die Vogelbrosche seines Umhanges, indem er die Flügel auseinander hakte, dann hängte er den Stoff in den Schrank. Das erste Mal erblickte ich seine Kleidung ganz und gar: Eine Stoffhose, ein Gürtel, ein langärmliges Hemd, alles in schwarz gehalten. Um die Unterarme trug er schwarze Ledermanschetten bis zu den Ellen, die mit zwei silbernen Schnallen zu verschließen waren. An seinem Gürtel hing eine kleine Ledertasche und an der linken Seite war ein Eisenring befestigt. Ich fragte mich, wofür er da war, während ich zurück auf das Bett sank. Nevar musterte sein Gesicht im Spiegel und versuchte sein Haar zu bändigen, aber schon nach wenigen Sekunden gab er auf. Sie waren geladen von der Kapuze und von Natur aus zu widerspenstig. Anschließend schlüpfte er aus seinem Hemd. Sein Körper war sehr muskulös und wie sein Gesicht leicht dunkel, zudem über und über besetzt mit kleineren Narben der verschiedensten Arten. Striemen, Schnitte, Kreise, Punkte, Brandstellen. Alles schien vertreten zu sein. Sowohl an Rücken und Seiten, als auch an Brust und Bauch. An seinen Oberarmen hatte er je einen Lederriemen angebracht, an denen je fünf kleine Messer befestigt waren. Diese löste er nun und legte sie in den Schrank. Ich erblickte eine kleine, schwarze Zeichnung in seinem Nacken, sie schien in die Haut eingraviert worden zu sein. Ein Vogel, der die Flügel von sich streckte, ohne Beine und mit seitlich gehaltenem Kopf. „Nun?“, fragte er und musterte im Spiegel eine tiefe Schnittwunde in seiner linken Schulter. Sie blutete und schien nicht mehr aufhören zu wollen. Seelenruhig betrachtete er sie mal von links, dann von rechts, dann öffnete er abermals den Schrank und begann darin herum zu suchen.

„Ich habe viele Fragen an Euch. Aber ich möchte Euch wirklich nicht belästigen.“

„Fragt nur. Noch habt Ihr Zeit.“

Ich räusperte mich verlegen. Die gesamte Situation erschien mir unangenehm und ich bereute es insgeheim, mitgegangen zu sein. Das Zimmer, seine Bücher, seine Verletzung. Das alles wirkte auf mich, als hätte ich das nicht sehen und wissen dürfen. Nevar tränkte ein weißes Stück Stoff in einer nach Alkohol stinkenden Flüssigkeit, anschließend hielt er dieses an die Wunde. Geduldig sah er mich an und wartete.

„Also… Als erstes möchte ich wissen, was Ihr treibt.“

„Aber das werde ich Euch nicht sagen.“, er schmunzelte und setzte sich mir gegenüber auf den Tisch.

„Das wiederum dachte ich mir.“, gab ich zu und faltete die Hände. Ich betrachtete sie nachdenklich, um ihn nicht ansehen zu müssen. Im Vergleich zu seinem Körperbau kam ich mir klein und schwach vor. „Und als zweites wollte ich wissen, woher Ihr meinen Namen kennt.“

„Ihr habt Angst, dass ich ein Feind bin.“, stellte er amüsiert fest.

Ich nickte, ohne aufzusehen und murmelte: „Ja, wahrscheinlich.“, fragend hob ich den Blick. „Was wisst Ihr von mir, Nevar?“

Kurz überlegte er, dann wog der Mann den Kopf. „Ihr solltet fragen, was ich nicht von Euch weiß. Die Antwort würde kürzer sein.“

„Gut. Was wisst Ihr nicht von mir?“

Kurz hob Nevar das Tuch an, um die Wunde zu betrachten, dann warf er es in hohen Bogen vor den Schrank. Während Nevar erklärte, griff er in eines der drei, nebeneinander liegenden Schubfächer des Tisches, zog einen Verband hervor und begann, seine Verletzung damit zu umwickeln. „Ich weiß nicht, wie Ihr es geschafft habt aus dem Gefängnis frei zu kommen und auch nicht, ob Ihr wirklich schanghait wurdet. Auch weiß ich nicht, wieso Ihr nach Eurer Freilassung ausgerechnet hier her kamt… Versteht mich nicht falsch, ich spioniere Euch nicht nach.“, er nahm kurz das eine Ende des Verbandes in den Mund und machte drei feste Knoten. Erst danach sah er mich ernst an. „Es ist Zufall, dass wir im gleichen Wirtshaus sitzen. Ich denke, Ihr seid auf dieses Gasthaus gekommen, da es Jack gewesen sein könnte, der Euch im Gefängnis versorgt hat. Aber ob es stimmt, weiß ich nicht. Ich kann nur Vermutungen anstellen.“

„Und wieso tut Ihr das?“, fragte ich verwirrt. „Wieso stellt Ihr Vermutungen über mich an?“

„Sagen wir, ich bin durch Zufall auf Euch gestoßen. Ich habe keinerlei Interesse an Euch. Aber ich habe durch unbeabsichtigte Umstände einiges über Euch erfahren.“

„Was für Umstände?“, hakte ich nach.

Nevar grinste leicht, als er merkte, wie groß mein Interesse war. Ich glaubte, er spielte mit dem Gedanken, mich zappeln zu lassen. „Ich habe Euer Gottesurteil gesehen. Ihr habt meinen Respekt. Ihr saht nicht so aus, als würdet Ihr an Eure Unschuld glauben. Dennoch seid Ihr durchgelaufen. Etwas nass geworden...aber immerhin.“, Nevar stieß sich vom Tisch ab, ging zum Fenster und schob den Vorhang beiseite. Er sah hinaus, als würde er etwas suchen. „Jedenfalls war es nur Zufall, dass ich so häufig auf Euch getroffen bin. Erst sah ich Eure Verhandlung, dann Euer Gottesurteil, dann hörte ich die Beschwerden von O’Hagan über Euch.“

Ich fuhr hoch. „Ihr seid ein Mann von O’Hagan…!“

„Bin ich nicht.“, leicht gelangweilt ließ er den Vorhang fallen und sah mich an. „Ich kann ihn genauso wenig leiden, wie wahrscheinlich jeder andere dieser Stadt.“

Etwas zögernd sank ich zurück. Es fiel mir schwer, ihm zu glauben. Andererseits, wenn er zum Gouverneur gehören würde, dann wäre ich wohl längst tot. „Für wen arbeitet Ihr dann?“

Nevar schwieg und sah zu Boden. Nach einigen Sekunden fragte er außergewöhnlich ernst:

„Wem folgt Ihr, Sullivan. Gott, oder Teufel?“

„Gott.“, antwortete ich sofort. Seine blauen Augen sahen mich an, als wäre ich ein verständnisloses Kind.

„Und woran erkennt Ihr, wer wer ist?“, Nevar ging zu dem kleinen Buch neben seinem Abendessen und betrachtete es nachdenklich. „Viele denken, O’Hagan sei der Teufel. Andere glauben fest daran, er sei der Vertreter Gottes.“, dann sah er mich an und ließ es achtlos auf sein Kopfkissen fallen. „Ich glaube, dass er beides ist. So wie ich oder Ihr. Zwei Teile sind nötig, um ein Ganzes zu sein. Nur die eine Seite geht nicht. Ich folge beiden Seiten. Ich nehme mir nicht das Recht heraus, zu entscheiden, wer gut und böse ist. Gut und Böse, das gibt es gar nicht. Und im Grunde ist es mir auch egal.“

Ich hatte ihn aufmerksam angesehen und zugehört, nun sah ich zu dem schwarzen Buch. Aus irgendeinem Grund musste ich es in die Hand nehmen. Grübelnd strich ich über die goldene Schrift, sie war in den Einband gestanzt und an manchen Ecken bereits kaputt. Dann flüsterte ich: „Ich verstehe, was Ihr meint. Und oft habe ich die gleichen Gedanken.“

„Wenn dem so ist…“, flüsterte Nevar mit Nachdruck und stellte den Kopf leicht schief. „…wem folgt Ihr dann wirklich, Sullivan O’Neil?“



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