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Shadows of the NewMoon

von
Koautor:  Caracola

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Prolog

Seine Muskeln waren gespannt wie die Sehne eines Bogens. Seine Nachtsicht war perfekt. Wodurch seine Augen zuverlässig sein Ziel anfokussieren konnten, obwohl kaum Licht durch das Blätterdach des Waldes drang. Noch dazu war der Mond nur noch eine schmale Sichel am sternenübersäten Nachthimmel. Die perfekte Tarnung für ihn.

Seine Ohren zuckten lautlos wie kleine Satellitenschüsseln hin und her, um jedes noch so unscheinbare Geräusch empfangen zu können. Eine kleine Maus flitzte einige Meter weiter in Sicherheit. Dazwischen waren das Rascheln von Blättern, das Knacken von kleinen Ästen und der Ruf einer Eule zu hören. Doch worauf er sich vor allem konzentrierte, war das Atmen eines großen Säugetiers direkt vor ihm im Unterholz.

Leises Schnauben. Vorsichtige Tritte auf weichem Waldboden, doch selbst das Knacken der kleinen getrockneten Nadeln blieb seinem Gehör nicht verborgen.

Würde er dicht genug herankommen, könnte er sogar das Pochen des Herzens seiner Beute hören.

Vorsichtig, lautlos und geübt schob er sich ein Stück näher, während er Witterung aufnahm und die Windrichtung prüfte.

Er konnte den Geruch des Waldes schmecken. Regen lag in der Luft, würde aber noch auf sich warten lassen. Doch am Intensivsten konnte er den scharfen, fast schon stechenden Geruch des Hirsches wittern. Das taufeuchte Fell und die warme Haut darunter verstärkten diese ganz spezielle Duftnote nur noch.

Seine Schwanzspitze zuckte vor Spannung und Vorfreude dicht am Boden leicht hin und her, während er seine Hinterpfoten noch etwas tiefer in die feuchte Walderde presste, um besseren Halt zu finden.

Sein eigenes Herz schlug wild in seiner Brust, doch sein Atem war vollkommen ruhig, als er lautlos wie ein Schatten zum Sprung ansetzte.

Vergessen waren die Gedanken, die ihn heute Nacht hier herausgetrieben hatten. Selbst die Sorgen fielen wie eine zweite Haut von ihm ab, als er geschmeidig aus dem Unterholz brach und die Jagd eröffnete.

Die Reflexe des Hirschs waren schnell und sein Instinkt ausgezeichnet, als er weit ausholend in die Dunkelheit flüchtete. Doch die Seinen waren besser.

Immer das Ziel vor Augen sprang er über umgestürzte Baumstämme, fegte durch Farn hindurch, holte zu immer größeren Sprüngen aus, während er sich pfeilschnell und zielsicher immer weiter seiner Beute näherte.

Als er nur noch eine Körperlänge von seinem panischen Ziel entfernt war, schienen seine Augen mit einem Mal zu explodieren, als ihn plötzlich ein grelles Licht von der Seite her beleuchtete. Wie glühend heiße Nadelstiche bohrte sich der Schmerz in seine Augäpfel und zwang ihn dazu, von seiner Beute abzulassen, als er seine Lider fest aufeinanderpresste. Ein ohrenbetäubendes Quietschen schien seinen Kopf endgültig spalten zu wollen, während sein Trommelfell regelrecht protestierte. Dann kam der Aufprall.

Sein Kopf schlug so heftig gegen eine Wand aus zersplitterndem Glas, dass sein ganzer Körper zur Seite geschleudert wurde und der Schmerz nun vollends in ihm explodierte, ehe er im feuchten Morast des aufgeweichten Straßenbanketts bewusstlos liegenblieb.

 

 

***
 

Bereits in dem Augenblick, als ihr klappriger, schlammgrüner Dodge vor dem Café zum Stehen gekommen war und Amanda ihre Beine aus dem Gefährt schwang, hatte sie die Blicke auf sich gespürt. Selbst der Straßenkehrer, der aus dem letzten Jahrhundert zu stammen schien, hatte seine Arbeit unterbrochen und machte keinen Hehl daraus, dass die Touristin interessanter war, als der Bürgersteig.

In diesem Kaff fiel jeder auf, der nicht hier geboren war.

Wahrscheinlich können sie die Stadt schon seit Kilometern an mir riechen, dachte Amanda zähneknirschend und steckte sich eine gelockte Haarsträhne hinters Ohr, die ihr aber fast augenblicklich wieder ins Gesicht fiel.

Sie hasste solche eingeschworenen Gemeinschaften, wo sich jeder kannte, man keinen Schritt tun konnte, ohne dass es sofort jeder wusste und auch noch ungefragt seinen Senf dazugab. Sie hatte es schon damals gehasst und jetzt machte es sie vor allem eines – aggressiv.

Clea hatte versucht ihr gut zuzureden und ihr gesagt, dass es in diesem Fall sogar von Vorteil sein konnte. Die Dörfler hatten Eric gekannt und würden sich bestimmt an sein Verschwinden erinnern. Irgendeiner musste was gesehen haben und Amanda würde rauskriegen, was mit ihrem kleinen Bruder passiert war. Wenn sie sich dafür mit diesen Waldschraten auseinandersetzen musste, dann würde sie das auch überstehen. Auf jeden Fall würde sie bekommen, weshalb sie diese Reise auf sich genommen hatte. So wie immer.

Inzwischen saß sie an einem Tisch direkt am Fenster, von welchem aus sie nicht nur die Straße, sondern auch die Eingangstür unauffällig beobachten konnte. Das junge Pärchen, das hier bediente, war mehr damit beschäftigt, kichernd hinter der Bar zu stehen und sich verliebte Blicke zuzuwerfen, als ihren Job zu tun.

Aber Amanda war sowieso nicht besonders hungrig. Der Kaffee vor ihr war mehr als genug. Wahrscheinlich das einzig Gute an dieser Inzestsiedlung, aber das mit dem Kaffee hatten sie drauf, das musste sie zugeben.

Auf dem PDA flackerte endlich die Karte der Umgebung ins Leben und zeigte nach einem kleinen Druck ihres Zeigefingers eine Liste der Gestaltwandler in dieser Gegend an.

Canidae und einmal Felidae, na prima.

In dieser Wildnis waren also tatsächlich nur hunde- und katzenartige Wandler unterwegs? Das war kaum zu glauben. Hatte die Registrierungsstelle etwa geschlampt?

Wieder schob sie sich die störrische Haarsträhne aus dem Gesicht und verglich das kleine Foto auf ihrem Bildschirm mit dem pickeligen Antlitz des Kochs. Als er einen Bestellzettel von dem Karussell über der Durchreiche nahm, konnte Amanda das Tattoo sehen. Es musste ein kleines C45 sein, auch wenn sie das auf die Distanz nicht erkennen konnte.

Ihr PDA zeigte seine Registrierungsnummer, die jeder Gestaltwandler trug, der bei der Organisation eingetragen war. Aber nicht nur die Beobachteten konnten ihre Natur nicht verbergen, auch die Mitglieder waren auf diese durchaus erniedrigende Art mit der Organisation verbunden. Immerhin hatten einige Sammler auch ein spezielles 'Talent', das sie für normale Menschen gefährlich machen konnte.

Eric war keiner von jenen. Er war nur ein Kerl, der sich nach dem Vorbild seiner großen Schwester der Kontrolle der Gestaltwandler verschrieben hatte. Sie beide wussten, dass mehr dahintersteckte, als die Menschheit vor etwas zu beschützen, von dem sie noch nicht einmal etwas wusste. Ein Eisenring schien sich um Amandas Herz zu legen und sich immer enger zu ziehen, als sie an Eric dachte.

Um sich von den Schmerzen abzulenken, die nicht nur direkt mit seinem Verschwinden zu tun hatten, sah sie wieder auf ihren PDA. Gerade brachte das Mädchen, das sich kurz von ihrem Freund gelöst hatte, Amanda ihren Salat mit den Putenstreifen.

Das Gericht besiegelte das Schicksal des Kochs. Sie würde ihn sich noch heute vornehmen. Und selbst wenn er nichts mit Erics Verschwinden zu tun hatte, würde er schon allein für das Leiden dieses armen, trockenen Geflügels zahlen müssen.

„Hey Jamie!“ Ein weiterer Teenager hatte das Café betreten und kündigte lautstark seine Anwesenheit an, bevor er zu dem Pärchen hinüberschlenderte.

„Ey, wisst ihr, was sie letzte Nacht auf der Straße beim Nationalpark angefahren haben?“ Er hatte wohl die Aufmerksamkeit seiner Klassenkameraden sowie der anderen beiden Gäste des Cafés. Amanda versuchte seine nervtötende Stimme so gut wie möglich auszublenden, was sich schwieriger gestaltete, als angenommen.

Als sie allerdings die Worte 'schwarzer Panther' hörte, horchte sie wieder auf, kaute aber unauffällig weiter an einem zähen Putenstreifen herum.

„Ja, der ist total geil. Richtig groß und mit riesigen Krallen und Zähnen. Bloß die blauen Augen sehen ein bisschen bescheuert aus“, sagte der Teenie mit einer coolen Geste und einem Grinsen, das seine Zahnspange blitzen ließ.

„Dr. Malone hat ihn zusammengeflickt.“

Blaue Augen an einer schwarzen Raubkatze?

„Oh, bitte nicht.“ Amanda stöhnte leise auf.

Auch ohne auf den PDA zu sehen, wusste sie, dass es sich bei der Raubkatze nur um denjenigen handeln konnte, den sie sich nach dem Koch hatte zur Brust nehmen wollen. Sie hatte es nicht nur mit einem Felidae zu tun, nein, sie musste auch noch an einen Vollidioten geraten, der sich mitten im Niemandsland von einem Auto anfahren ließ. Bald war er sicher die Hauptattraktion dieses gesamten Kaffs. Geschah ihm recht, wenn die Kinder ihn mit Stöcken stupsten, um ihn ein bisschen knurren zu sehen. Das wäre nichts gegen das, was Amanda mit ihm tun würde, wenn er auch nur das Geringste mit Erics Verschwinden zu tun hatte.

 

 

***
 

„Guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?“ Die Frau mit den schwarzen Haaren und dem weißen Kittel sah Amanda freundlich an und steckte eine Akte in einen der Metallschränke an der Wand.

„Tag.“ Amanda zwang sich zu einem ebenfalls freundlichen Lächeln. Wenn sie ihrer eigentlichen Stimmung nachgab, würde sie hier nicht weit kommen.

„Ich bin gerade erst angekommen und habe im Café gehört, dass Sie einen Panther gefunden haben.“

„Er ist eigentlich ein schwarzer Jaguar.“ Das Lächeln der Ärztin wurde breiter.

Am liebsten hätte Amanda es ihr aus dem Gesicht gewischt.

„Oh, natürlich. Ich weiß, es ist eine etwas seltsame Frage, aber …“ Amanda blickte interessiert und immer noch freundlich drein, als sie weitersprach. „Ich bin Journalistin und im Auftrag der Gesellschaft zur Erhaltung der Nationalparks unterwegs. Ich schreibe an einem Bericht über die Vielfalt der Flora und Fauna und warum sie uns erhalten bleiben müssen. Deshalb …“

Sie senkte sogar ein wenig die Wimpern, was ihr bei einer weiblichen Ärztin vielleicht nichts half, aber sie zumindest harmlos erscheinen ließ. „Dürfte ich ihn vielleicht sehen?“

1. Kapitel

Es roch nach einer scharfen, sterilen Flüssigkeit. Plastik, Metall, Tiere und auch Menschen. Kein Duft von feuchter Walderde, nassem Moos oder frischen Pilzen, die gerade aus der Erde geschossen waren.

Verwirrt wollte er die Augen aufschlagen, doch seine Lider waren so schwer, dass er eine Weile brauchte, bis er es schaffte. Selbst dann blieb es nur bei einem.

Etwas stimmte mit seinem anderen Auge nicht. Er konnte es nicht öffnen. Doch im Augenblick störte ihn das eher weniger.

Alles war verschwommen. Doch wenigstens war der Schmerz verschwunden.

Mühsam hob er den Kopf, woraufhin sich die Welt zu drehen begann. Dennoch kämpfte er sich hoch, aber seine Beine knickten sofort wieder unter ihm weg. Sein Körper fühlte sich taub und wattig an. Dafür herrschte in seinem Kopf Chaos.

Wo war er? Wieso fühlte er sich so seltsam?

Einen Moment lang blieb er liegen, um sich auszuruhen und zugleich seine Umgebung zu erkunden. Da waren Gitterstäbe. Seitlich und hinter ihm ragten solide Metallwände aus dem Boden und sperrte ihn ebenfalls ein, wie die niedrige Decke über ihm. Er war gefangen.

Nein, flüsterte er, konnte aber nur ein leises Fauchen hören.

Seltsam.

Nachdem sich die Welt wieder etwas beruhigt hatte, versuchte er erneut aufzustehen.

Da war Schmerz in seiner rechten Vorderpfote, weshalb er diese kaum belasten konnte, aber auch so schlingerte er in dem kleinen Gefängnis herum, bis er wieder hinfiel. Trotzdem er gab nicht auf. Immer wieder kämpfte er sich verbissen hoch und gab dabei leises Knurren und Fauchen von sich, da er trotz allem auch immer wieder stürzte.

Er musste betäubt worden sein. Das würde seinen Zustand erklären. Aber was für einen Zustand genau? Wie war er überhaupt hierhergekommen?

Verwirrt ließ er sich wieder gegen die kühle Wand sinken, um die Wirkung der Betäubung abzuwarten.

 

 

***
 

Nach gut einer gefühlten Stunde gelang es ihm, gerade stehenzubleiben. Zwar schwankte er noch unsicher und seine Pfote schmerzte nun noch mehr, als je zuvor, aber er war auch in der Lage, sich zu verteidigen, sollte jemand ihn angreifen.

Während des Wartens hatte er die Gelegenheit genutzt, seine Verletzungen zu betrachten. Das Tier in ihm – so seltsam dieser Gedanke auch war, immerhin war er doch ein Tier – hätte versucht, den Verband um seine Pfote loszuwerden. Oder den um seinen Kopf. Doch etwas riet ihm dazu, es nicht zu tun, da die Verbände durchaus einen Sinn haben könnten.

Die Bandage um seine verletzte Pfote war fest und stabil. Sie stützte ihn, sobald er einmal unabsichtlich sein Gewicht darauf verlagerte, was nur gut sein konnte. Immerhin wusste er nicht, wie es darunter aussah.

Wenn sie schon nicht gebrochen war, dann wohl wenigstens geprellt. Seine rechte Schulter fühlte sich auch furchtbar an, je mehr die Wirkung der Betäubung nachließ. Er nahm es schweigend hin. Genauso wie die entsetzlichen Kopfschmerzen und das heiße Pochen über seinem rechten Auge. Dem Auge selbst schien zum Glück nichts zu fehlen, doch das Gefühl darüber reichte ihm im Grunde auch schon.

Gerade wollte er herausfinden, wie er die Tür zu seinem 'Zwinger' aufbekommen könnte, ehe er auch schon eine andere Tür aufgehen hörte.

Da er nur Sicht auf eine geflieste Wand ihm gegenüber hatte, vermutete er, dass das nicht der einzige Käfig im Raum war. Dennoch könnten die Schritte ihm gelten, weshalb er sich in den letzten Winkel seines Käfigs zurückzog und mit zuckendem Schwanz abwartete.
 

“Du musst aber darauf gefasst sein, dass er keine besonders gute Laune hat. Immerhin hat ihn das Auto ganz schön erwischt und Tiere sind ziemlich sensibel, wenn sie verletzt und noch dazu eingesperrt sind.“

Die Ärztin hielt Amanda schon einen Vortrag, seit sie das Empfangszimmer verlassen hatten und durch ihre Untersuchungsräume gegangen waren. So groß konnte diese verflixte Praxis doch nicht sein. Wann waren sie denn endlich da?

Von wegen 'sensibles Tier'. Wenn diese Dame, die mit ihrem schwingenden Gang vor ihr herlief, wüsste, dass es sich hier gar nicht um ein Tier handelte. Zumindest nicht um eines, wie sie es kannte. Wahrscheinlich hätte sie sich umso ausgiebiger um diesen besonderen Kerl gekümmert.

Besonders. Das konnte man wohl sagen.

Die dunkelhaarige Ärztin, die sich als Teresa vorgestellt hatte, „Hier kennen wir uns doch alle, da brauchen wir uns doch nicht zu siezen“, öffnete schließlich die Tür zu einem gekachelten Gang, an dessen Längsseite Käfige angebracht waren. Und dabei redete sie unaufhörlich immer weiter.

Das hatte aber auch seine Vorteile. So konnte Amanda mit Leichtigkeit unbemerkt ihren PDA aus der Hosentasche ziehen, die Nummer der Arztpraxis über die Internetauskunft heraussuchen und schon einmal die Nummer eingeben. Den PDA schob sie in ihren Ärmel, als sich Teresa wieder umwandte und Amanda mit einem strahlenden Lächeln beschenkte. Wahrscheinlich hatte sie irgendetwas gesagt, auf das sie jetzt eine Antwort erwartete.

„Ähm …“

„Du kannst gern näherkommen. Er kann ja durch die Gitterstäbe nicht beißen.“

„Ja … Ja, natürlich.“ Um die Ärztin in ihrer irrigen Annahme zu lassen, dass Amanda Angst vor dem Panther hatte, ging sie etwas zögerlich auf den Käfig zu und sah durch die Gitterstäbe.

Wow, der Junge hatte nicht übertrieben. Verdammt großer Kater. Selbst für einen Gestaltwandler.

Und in noch etwas musste sie dem Halbstarken zustimmen. Beeindruckende Krallen und Zähne. Ob sie ihm allerdings bei der Einschätzung der Augen zustimmen sollte, konnte sie im Halbschatten, in den sich der Panther zurückgezogen hatte, nicht sehen.

Während Amanda in die Hocke ging, ließ sie ihren PDA aus dem Ärmel in ihre Hand gleiten und drückte den grünen Knopf für 'Wählen'.

„Nicht die Finger zwischen die Stäbe stecken. Er ist schwer einzuschätzen, wie ich schon sagte.“

„Wie Sie schon sagten.“

Endlich das erlösende Klingeln des Telefons im Nebenraum. Hoffentlich hatte Amanda mit ihrer Einschätzung recht, dass es hier keine Sprechstundenhilfe gab und sie die Ärztin zumindest für einen Augenblick loswurde.

„Oh, entschuldige mich kurz. Ich bin gleich wieder da.“

„Klar.“ Sie sah der Dunkelhaarigen nicht einmal nach, als diese den Raum verließ, sondern zog etwas aus der Innenseite ihres Gürtels. Mit dem Fingernagel drehte sie an einer kleinen Scheibe unterhalb des Teils, das aussah wie eine Metallmünze und warf sie dann an die hintere Wand des Käfigs.

Der Felidae fauchte auf, war aber vom Betäubungsmittel offensichtlich noch so geschwächt, dass er nicht nach der Kamera schlug, die nun an der Mauer über ihm haftete.

„Ich weiß, was du bist. Du brauchst dich also nicht zu verstellen. Sobald du hier rauskommst, meldest du dich bei mir, verstanden? Ich bin von der Organisation, also lass dir bloß nicht einfallen, abzuhauen.“

In diesem Moment kam Teresa zurück.

„Habt ihr euch bekannt gemacht? Hey, Hübscher. Geht’s dir besser? Komm doch mal aus der Ecke, damit ich dich ansehen kann. Na, komm schon.“

Amanda wurde von diesem lieblichen Gefasel beinahe übel. Aber sie hätte trotzdem nichts dagegen gehabt, wenn der Kerl sich in seinen ganzen Ausmaßen gezeigt hätte. Das hätte ihr geholfen, ihn einzuschätzen. Immerhin wusste sie gern, wen sie da unter Umständen als Gegner hatte.
 

Als er Stimmen näherkommen hörte, begann sein Herz heftiger zu schlagen. Adrenalin schoss ihm durch die Adern und ließ seine Muskeln anspannen, während seine Sinne sich so gut wie möglich schärften. Trotzdem war er immer noch ganz schön neben der Spur. Weshalb er sich noch enger in die Ecke drängte, als plötzlich zwei Frauen vor ihm auftauchten.

Die eine sah aus wie eine Ärztin mit ihrem weißen Kittel, kam ihm aber keine Spur bekannt vor. Genauso wenig wie die Blonde. Allerdings stimmte mit der etwas nicht. Er konnte nicht sagen, woher er das wusste. Vielleicht war es ihre ruhige Art, während die andere pausenlos zu quatschen schien.

Sein Blick zuckte zur Hand der Blonden, als etwas dort hineinglitt und sie einen Knopf drückte. Kurz darauf konnte er ein Telefon klingeln hören, weshalb sich die Ärztin wieder verzog. Dann wurde er nur noch mehr darin bestätigt, dass mit der Blondine etwas nicht stimmte. Misstrauisch beäugte er sie, während sie etwas von ihrem Gürtel zog und dann zu ihm hineinwarf.

Seine Nerven waren so angespannt, dass er zur Seite zuckte und ihm ein Fauchen entkam, bis er den Gegenstand betrachtete, der nun an der Wand hing. Verwirrt über dieses seltsame Verhalten und dann auch noch ihre Worte, starrte er sie wieder an.

Wovon redete die Frau? Wieso sollte er sich bei ihr melden? Was für eine Organisation? Etwa Green Peace?

Bevor er sich auch nur irgendetwas zusammenreimen konnte, was ihn nicht so schrecklich verwirrte, kam auch schon die Ärztin wieder zurück. Sie sprach mit ihm, als wäre er irgendein zahmes Hündchen und keine Raubkatze. Seltsamerweise wollte sich bei diesem Gedanken das Gefühl aufdrängen, dass selbst diese Bezeichnung nicht ganz auf ihn zutraf.

Etwas stimmte nicht mit ihm. Er war ein Tier oder etwa nicht? Wieso wusste er dann, was ein Telefon war? Oder dieses Ding da an der Decke. Es könnte aussehen wie eine Wanze oder sonst irgendein Überwachungsgerät. Dazu müsste er es sich näher anschauen. Aber warum sollte man ihn überwachen? Vielleicht, weil er vorhatte, bald hier auszubrechen, sobald er kräftig genug war? Was, wenn er es nicht schaffte? Würden sie ihn wieder dorthinbringen, wo er hergekommen war? Woher kam er eigentlich?

Mit einer allzu menschlichen Geste schüttelte er die Gedanken ab, ehe er wieder die blonde Frau fixierte. Sie wusste etwas. Sie hatte Antworten. Vielleicht sogar Antworten auf seine Fragen.

Das Tier in ihm – inzwischen kam er sich seltsam zwiegespalten vor – wollte sich nicht rühren, doch er zwang sich dazu, seinen Fluchtinstinkt weitestgehend zu unterdrücken und machte einen halb unbeholfenen Schritt nach vorne aus dem Schatten raus. Sein Bein tat nun bei der kleinsten Belastung entsetzlich weh. Der Schmerz brannte ihm dabei auch heiß die Schulter hinauf, was ihm ein grollendes Knurren entrang, während sein Schwanz weiter nervös hin und her zuckte. Seine Haltung war angespannt und ihm stellten sich die Nackenhaare auf. Er konnte förmlich riechen, dass mit dieser Frau etwas nicht stimmte. Sie sah freundlich aus, aber an ihr hing ein ganz anderer Geruch. Was versuchte sie, zu verbergen?

Verdammt, wenn sein Schädel nicht so geschmerzt hätte, er wäre vielleicht nicht so sehr gereizt gewesen. Doch so schabten seine Krallen über den Boden, während er die messerscharfen Zähne bleckte. Weshalb er auch hier war, oder diese seltsame Frau, er wollte hier raus. Er hasste es eingesperrt zu sein in diesem kalten, unnatürlichen Raum ohne Leben.

Unruhig humpelte er hin und her, kam dabei den beiden Frauen immer näher, bis er seine Instinkte nicht mehr beherrschen konnte und seine Wut explodierte. Je aufgebrachter er wurde, umso weniger machte ihm die Wirkung des Betäubungsmittels etwas aus, weshalb er nun auch auf drei Beinen relativ sicher stand.

Sein Brüllen war aggressiv und sein Knurren bedrohlich, während er die Gitterstäbe entlang strich, aus dessen Reichweite sich die beiden Frauen inzwischen gebracht hatten.

Lasst mich raus, schrie er, doch aus seiner Kehle ertönte nur ein weiteres Brüllen.

Schließlich stützte er sich sogar auf die Hinterbeine ab, um mit seiner gesunden Pranke gegen das Gitter zu schlagen. Doch das sollte nur der Anfang seines Gebarens sein, bis er sich so sehr verausgabt hatte, dass er wieder gegen die Wand sank und hechelte.

Sein offenes Auge schien getrübt, da der Schmerz durch sein eigenes Zutun ihm fast das Bewusstsein raubte. Wären da nicht noch immer diese Frauen, er hätte sich dem einfach gebeugt. Doch so zwang er sich dazu, wachsam zu bleiben, selbst wenn sein Wutanfall nichts gebracht hatte. Später würde er es mit logischem Denken versuchen.
 

Amanda war nicht gleich zurückgewichen, als sich der Felidae aus dem Schatten gelöst hatte. Sie kannte sich mit diesen Halbtieren besser aus als die Ärztin, die neben ihr hockte und einen ebenso prüfenden Blick auf die große Katze warf wie die angebliche Journalistin. Die Bezeichnung Großkatze war hier treffend, wie Teresa sogleich in einem Redeschwall feststellte.

„Ich hab noch nie einen schwarzen Jaguar von diesen Ausmaßen gesehen. Normalerweise sind sie in dieser Gegend so gut wie gar nicht anzutreffen, aber dann auch noch so groß ... Es wundert mich, dass er nicht schon viel früher jemandem aufgefallen ist.“

„Naja, wenn der Wald in so gutem Zustand ist, wie ich vermute, wird er viele Orte haben, an denen er sich bedeckt halten konnte.“

Während sie das sagte, schätze Amanda die Größe ihres Gegenübers ab. In ihrem PDA hatte sie eine Tabelle finden können, um von der Gestalt des Tieres auf den Menschen zu schließen. Aber für sie gingen Erfahrung und Intuition noch immer über Technik, auch wenn sie diese gern als Hilfsmittel benutzte.

Der Mann musste an die ein Meter neunzig sein, ein paar Zentimeter plus oder minus. In jedem Fall eine auffallende Gestalt, wenn man bedachte, dass ein paar Merkmale in beiden Gestalten immer übereinstimmten. Dunkle Haare, blaue Augen. Wieder ein Beweis für die Unzuverlässigkeit der Technik. In der Datenbank hatte bei näherer Überprüfung was von einem normalen Jaguar gestanden, keinem Schwarzen. Er sollte also helles Fell haben. Sogar mit ein wenig Grau darin, wenn man sein Alter bedachte. Der hier sah aber ganz und gar nicht aus wie über sechzig.

Kurz runzelte Amanda die Stirn. Sie würde der Zentrale auf die Finger klopfen müssen. Falsche Informationen wie diese konnten Leben gefährden. Es war ein Unterschied, ob man es mit einem alten Mann oder so was wie dem hier zu tun hatte.

Als der Panther an dem Gitter vorbeistrich und seiner Wut mit Brüllen und Grollen Luft machte, zogen sich die Frauen instinktiv zurück. Trotz oder gerade wegen seiner Verletzungen war er ganz schön angriffslustig. Das konnte für seine Wunden keinesfalls gut sein.

„Beruhig dich doch. So reißt du dir bloß die Nähte wieder auf.“ Teresa redete immer noch auf ihn ein, als wäre er ein kleines Miezekätzchen und schien dabei Amandas Gedanken gelesen zu haben.

„Ich will dich nicht wieder betäuben müssen, hörst du? Aber wenn du so weitermachst, wird mir nichts Anderes übrigbleiben.“

Teresas leicht wackeliger Schritt zurück, als sich der Kerl auf die Hinterbeine aufrichtete und gegen die Käfigstangen schlug, brachte Amanda beinahe zum Schmunzeln. Eindeutig kein liebes Kätzchen. Wenn es nach ihrem Willen ginge, hätte Amanda ihn da schon rausgeholt. Allerdings anders, als es ihm vielleicht recht gewesen wäre.

Aus ihren hellen Augen beobachtete sie ihn, um sich dann im Raum umzusehen. Nur elektrisches Licht. Es gab zwar die Eingangstür, die ein Glasfenster in der oberen Hälfte hatte, aber das verursachte nicht genügend natürliche Schatten, als dass Amanda sie hätte nutzen können. Keine Chance. Dann musste sie eben doch warten, bis diese Barbie-Tierärztin ihn für gesund erklärte und entließ.

„Was wollen Sie …“

„Du.“

„Bitte?“ Amandas Blick hätte nicht verwirrter sein können.

„Ich sagte doch, dass wir uns hier nicht siezen“, klärte die Dunkelhaarige lächelnd auf, was Amanda nur dazu brachte noch mehr mit den Zähnen zu knirschen, was ihrem Grinsen einen etwas verkniffenen Ausdruck verlieh.

„Also … Was willst DU mit ihm machen, wenn seine Verletzungen verheilt sind?“

„Das wird ja noch ein paar Tage dauern.“ Sie sah wieder mitleidig in den Käfig hinein, während Amanda gerade das vermied. Diese blauen Augen schienen sich an ihr festgeheftet zu haben mit dem Ziel, sie mit Blicken an die geflieste Wand hinter ihr zu nageln.

„Aber wenn er wieder einigermaßen fit ist, werden wir ihn zurückbringen. Allerdings weiter in den Wald hinein, damit er nicht wieder über diese unbefestigte Zufahrt rennen und angefahren werden kann.“

„Verstehe. Wie lange, glauben … glaubst du, wird er sich erholen müssen?“ Diesmal stellte Amanda sich dem Blick, um dem Felidae zu zeigen, dass sie ihre Worte vorhin ernstgemeint hatte. Sie würde auf ihn warten, egal wie lange es dauern würde.

„Kann ich noch nicht einschätzen. Das werden wir sehen müssen.“

Sie plapperte weiter, was Amanda aber nicht interessierte. Höflich und mit einem neuerlichen Blick auf den Panther verabschiedete sie sich und verließ die Praxis auf dem Weg, den sie gekommen war. Allerdings zog sich ein Lächeln über ihr Gesicht, als sie die großen Fenster im Behandlungszimmer sah.

Sie würde wiederkommen. Und zwar ohne diese nervige Ärztin an ihrer Seite dulden zu müssen.
 

Ein paar Tage? Er sollte hier noch ein paar Tage in diesem Metallkäfig verbringen?!

Beinahe wäre er wieder auf die Beine gesprungen, um seinen Unmut laut kundzutun, doch er war geschwächt, so ungern er es auch zugab. Weshalb er leise knurrend liegenblieb und die blonde Frau anstarrte, als wäre sie mehr als nur ein blutiges Stück Fleisch. Das alles machte ihn so verdammt wütend, und dass offenbar irgendetwas mit seinem Kopf nicht stimmte, erst recht.

Da war mehr, er ahnte es, aber er konnte sich nicht erinnern. Wenn er versuchte, darüber nachzudenken, war da nur ein weißer Lichtblitz, und wieder dieser Schmerz in seinem Kopf. Also vermied er es für den Moment, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.

Denn wenn es auch entsetzlich für ihn war, noch weitere Tage hier eingesperrt zu sein, so würde man ihn doch wieder freilassen. Zumindest hatte die Ärztin das gesagt.

Warum aber verspürte er ein Gefühl der Angst in seiner Magengegend, als er daran dachte?

Bilder von Frauen in Pelzmäntel drängten sich ihm unweigerlich auf und diese absolut eiskalte Wut und der Hass, als er sie sah und deren Echtheit nur zu schmerzlich fühlen konnte.

Brüder und Schwestern …

Gerade als er wieder aufspringen wollte, verabschiedete sich die blonde Frau mit einem Blick, der ihm wohl irgendetwas sagen sollte. Er starrte nur verdammt wütend zurück, mit dem Wissen, wenn er nicht eingesperrt wäre, würde sich Angst in ihren Zügen spiegeln. Dafür konnte er ohne weiteres sorgen!

Schließlich ließen die beiden Frauen ihn endlich alleine, weshalb er sich etwas beruhigte.

Eine Weile lag er einfach nur da und leckte sich mit seiner großen Zunge über den Verband. Er erreichte dabei zwar nicht wirklich etwas, aber die Bewegung beruhigte ihn, genauso wie sein leises Schnurren, das sofort erstarb, als ihm etwas einfiel.

Mühsam kämpfte er sich auf drei Beinen hoch und setzte sich dann vor diesem seltsamen Gegenstand, den die blonde Frau zu ihm hineingeworfen hatte. Er starrte ihn lange an, ohne auch nur einen Muskel zu rühren, oder zu wissen, was das eigentlich war.

2. Kapitel

Zurück auf der Straße hatte Amanda kurz die Kamera kontrolliert und sich dann in der näheren Umgebung nach einem Hotel oder etwas Ähnlichem umgesehen. Leider ohne Erfolg. Auch der PDA hatte nichts ausgespuckt. Was nicht überraschend war, wenn man bedachte, dass es sich um ein Tausend-Seelen-Dorf mitten in der Wildnis handelte.

Da sie hier sowieso von jedem auf der Straße misstrauisch beäugt wurde, konnte sie die Aufmerksamkeit auch sinnvoll nutzen, indem sie einen vorbeigehenden Mann anhielt.

Dem Guten sträubten sich die Barthaare und aus seinen Augen konnte Amanda lesen, dass es zu seiner Zeit nicht üblich gewesen war, dass eine Frau einfach so nach einer Unterkunft fragte. Wahrscheinlich hatte man in seinem Jahrhundert die Ehefrau noch am Herd festgekettet.

Nachdem sich Amanda strikt, aber mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen weigerte, ihm irgendetwas über ihren Aufenthalt hier zu erzählen, empfahl er ihr das Bed & Breakfast von Mrs. Cauley in der Hauptstraße.

Die Empfehlung war leicht getroffen, weil es sich um das einzige Bed & Breakfast in der Umgebung von zwanzig Kilometern handelte.

Amanda unterdrückte ein Seufzen und bedankte sich leicht frustriert. Eigentlich wäre es ihr lieber gewesen, sich nicht hier direkt im Ort eine Bleibe zu suchen, aber das war ja fast zu erwarten gewesen.

Etwa fünf Minuten später sanken ihre Wildlederstiefel in den geblümten Teppich von Mrs. Cauleys B&B, wo Amanda die kleine Klingel an der Rezeption betätigte und ihren Rucksack auf den Boden fallenließ.

Zuerst zeigte sich so lange niemand, dass sie schon befürchtete, diese Mrs. Cauley hätte schon vor langer Zeit das Weite gesucht und niemandem wäre es aufgefallen.

„Gut für sie“, murmelte Amanda gerade vor sich hin, als sich ein grauer Haarschopf durch die Tür neben den Schlüsselfächern schob.

„Sie wünschen?“

Es dauerte einen Moment, bis Amanda das Schaben von Stuhlbeinen auf Holzbohlen hörte und schließlich das Gesicht einer älteren Frau über der Theke erschien. Mrs. Cauley zog das Anmeldebuch zu sich heran, das in ihren kleinen Händen noch wuchtiger wirkte als normalerweise, und legte Amanda einen Stift hin.

„Ich nehme an, dass sie ein Zimmer möchten. Frühstück ist im Preis mit inbegriffen, das Badezimmer teilen Sie sich mit dem Nebenzimmer und Haustiere sind nicht erlaubt.“

An Amanda vorbei schien die Dame nach Kleintieren Ausschau zu halten, die ihrem neuen Gast eventuell durch die Tür gefolgt sein könnten, um den geblümten Teppich oder die ebenfalls geblümten Sessel zu beschmutzen.

 

 

***
 

Das Zimmer war in Ordnung. Ein großes Bett, ein Frisiertisch, eine Kommode und ein Sessel neben dem Fenster. Amanda wäre ein Schreibtisch noch ganz lieb gewesen, aber sie konnte darauf verzichten.

Nun saß sie im Lotussitz auf dem breiten Bett, hatte die Augen geschlossen und versuchte sich ins Hier und Jetzt zurückzurufen. In letzter Zeit hatte sie die Meditation kaum benötigt. Sie hatte nichts abzuschütteln gehabt, musste ihren Körper und ihren Geist nicht reinigen. Aber das konnte sich bald ändern. Nein, es würde sich bald ändern.

Einatmen ...

Hier und jetzt ...

Ausatmen …

Nach einer Stunde öffnete sie die Augen.

Es war immer exakt eine Stunde. Dafür brauchte sie keine Uhr. Keinen Wecker, der sie daran erinnerte, wie viel Zeit vergangen war. Diese Stunde hatte sie in ihrem Inneren verankert. Weil diese Stunde ihr das Leben rettete. Jedes Mal aufs Neue.

Das Bad war glücklicherweise frei und Amanda gönnte sich eine heiße Dusche, bevor sie sich in den Sessel am Fenster setzte und im Menü ihres PDAs auf die Direktübertragung der Kamera schaltete.

Der Felidae schlief bereits oder rührte sich zumindest nicht, weshalb sich Amanda die Aufzeichnung seiner Aktivitäten von vorher ansah.

Nichts Besonderes. Er hatte sich die Wanze angesehen, aber keine Anstalten gemacht, sie zu entfernen oder zu deaktivieren. Er hielt seine Tarnung so gut aufrecht, dass Amanda fast beeindruckt gewesen wäre. Aber was hätte es ihm auch gebracht, sich zurückzuverwandeln? Dann hätte er noch mehr Aufsehen erregt und wäre aus diesem Käfig vielleicht gar nicht mehr herausgekommen.

Sie war nicht sicher, ob sie bereits in dieser Nacht gehen sollte. Die Meditation hatte gut getan, aber ob es reichen würde? Immerhin war sie lang hierher unterwegs gewesen. Ihr Körper war müde.

Der Bildschirm des PDAs zeigte immer noch das Innere des Käfigs, in dem sich der große Kater bis auf das gleichmäßige Heben und Senken seines Brustkorbs nicht bewegte.

Also gut. Sie würde seinem Vorbild folgen. Immerhin saß er fest. Und selbst wenn er ausbrechen sollte … Amanda hatte ihre Drohung nicht umsonst ausgesprochen. Sie würde ihn finden, egal wohin er ging.

 

 

***
 

Einige Zeit nach Einbruch der Nacht öffnete er wieder sein unverletztes Auge, gähnte ausgiebig und streckte sich so gut er konnte. Seine Pfote tat inzwischen nur noch in halbwegs erträglichem Rahmen weh und seine Kopfschmerzen hatten auch nachgelassen. Warum auch immer, er schien sich rasch von seinen Verletzungen zu erholen.

Es war fast stockfinster im Raum, als er sich schließlich aufraffte und zu den Gitterstäben hinüber humpelte, um herauszufinden, wie genau die Tür zu seinem Käfig verriegelt war.

Leider war ihm schon nach dem ersten Versuch klar, dass ein Ausbruch zwecklos sein würde.

Man hatte die Tür mit einem soliden Schloss versehen, bei dem man einen Bolzenschneider gebraucht hätte, um es aufzuknacken. Oder natürlich den passenden Schlüssel.

Da er beides nicht hatte, versuchte er eine Weile völlig sinnlos mit den Krallen an dem Schloss herum zu kratzen, was lediglich seinem Frust etwas Abhilfe verschaffte, aber keinesfalls seinen Ärger milderte. Schließlich gab er es auf, an der Tür herumzunesteln und betrachtete wieder den Verband an seiner Pranke.

Er war versucht, ihn abzubekommen, egal wie, doch dann hätte das die Ärztin am nächsten Tag gesehen und ihn vermutlich wieder betäubt, um ihm einen Neuen anzulegen.

Darauf konnte er nun wirklich verzichten, also leckte er noch eine Weile daran herum, um den Juckreiz darunter zu dämpfen und rieb auch seine einbandagierte Gesichtshälfte an einem Gitterstab, was zwar etwas wehtat, aber zumindest teilweise das heilende Jucken milderte.

Der Drang sich mit einem Hinterlauf zu kratzen, war so enorm, dass es ihn halb wahnsinnig machte, es nicht zu tun.

Unruhig humpelte er hin und her, versuchte sich zu überlegen, wie er diese Tür aufbekam und wenn ihm das nicht gelang, wie er heil wieder hier herauskam. Keiner konnte ihm garantieren, dass er nicht doch noch als schöner Bettvorleger endete und freiwillig würde er das sicherlich nicht über sich ergehen lassen.

Außerdem hätte er gerne gewusst, was passiert war. Gewisse Grundkenntnisse konnte er in seinem Gehirn noch aufrufen, aber weder erinnerte er sich an den Unfall, oder was auch immer es gewesen sein mochte, das ihn so verletzt hatte, noch hatte er eine Ahnung von seiner Persönlichkeit.

Wer war er? Woher kam er? Weswegen hatte er das Gefühl, keine normale Raubkatze zu sein, obwohl er sich voll und ganz als solche fühlte?

Es war verwirrend und machte ihn noch wütender. Weshalb er eine Weile am Boden vor der Tür seine Krallen wetzte, was ein unangenehmes Kreischen verursachte, und irgendwo Hunde zum Bellen brachte.

Die Ärmsten. Saßen hier wohl auch genauso fest wie er, denn das Geräusch kam definitiv von innerhalb dieses Gebäudes.

Schließlich fiel sein Blick wieder auf den fremdartigen Gegenstand innerhalb seines Käfigs.

Er kam ganz dicht heran und beschnupperte es. Inzwischen hing nur noch ein Hauch von dem Geruch der Frau daran. Der Rest wurde bereits von seiner eigenen ganz speziellen Duftnote überdeckt.

Als er daran leckte, konnte er sie ganz leicht schmecken. Was nicht einmal so übel war. Ganz im Gegenteil. Er schleckte noch ein paar Mal darüber, bis nichts mehr davon übrig war.

Seufzend – was sich in einem Schnauben äußerte – ließ er kurz den Kopf hängen, während er nachdachte.

Das Ding – was auch immer es sein mochte – war für einen Moment lang spannend gewesen, half ihm aber auch nicht merklich weiter. Trotzdem entschloss er sich dazu, sich noch eine Weile damit zu beschäftigen, weshalb er schließlich seine Krallen ausfuhr und es von der Wand fischte.

Klimpernd fiel es zu Boden, wo er es in spielerischer Art mit der Tatze hin und her schob. Kaum zu glauben, dass er sich wieder wie ein kleines Baby aufführte, aber alles war besser, als an das Jucken seiner Verletzungen und seine miese Lage zu denken.

Als ihm dieses Spiel dann doch zu langweilig wurde, nahm er es in den Mund und biss mit seinen kräftigen Kiefern darauf herum, bis er nur noch kleine Metallteile im Mund hatte, die er angewidert ausspuckte und achtlos liegen ließ, ehe er sich wieder in seine Ecke zurückzog, um noch eine Runde zu schlafen.

Das war alles so wahnsinnig frustrierend!

 

 

***
 

Beim ersten leisen Piepsen des PDAs war sie wach und setzte sich schnell auf. Die Decke, die ihr dabei vom nackten Oberkörper glitt, beachtete sie gar nicht, sondern schnappte sich das kleine weiße Gerät und sah sich an, was passiert war.

In dem hellen Bildausschnitt war der Panther zu sehen, wie er sich immer weiter näherte. Dann füllte seine Nase das gesamte Bild aus und sein Atem ließ die Linse beschlagen.

„Was tust du da?“

Er führte sich tatsächlich auf wie ein zu groß geratener Stubenkater.

Als er die Wanze schließlich von der Wand pflückte, war Amanda bereits klar, was als Nächstes passieren würde. Auch wenn sie nicht mit seinem Spieltrieb gerechnet hatte. Wieder runzelte sie die Stirn.

„Was soll das denn?“

Eine Gänsehaut legte sich über ihren Körper, als ein Windhauch durchs Fenster hereinkam und die leichten Vorhänge aufbauschte. Draußen konnte sie außer dem Rauschen von Blättern nichts hören. Also stand sie auf, ging die paar Schritte zum Fenster hinüber und sah hinaus auf die Straße. Wie sie erwartet hatte, war um diese Uhrzeit keiner der Dörfler mehr unterwegs.

Zerknirscht warf sie noch einen Blick auf das Display, auf dem nun nur noch weißes Rauschen herrschte.

Dieser Kerl führte sich wirklich seltsam auf. Und langsam begann er, sie wirklich damit zu nerven.

Amanda fischte Unterwäsche aus ihrer Tasche, zog sich eine Jeans und einen dicken Wollpullover über und band ihre Haare zu einem Knoten zurück.

Zu früh gefreut.

Wie hätte es anders sein sollen? Ihre Augen schienen eine Nuance dunkler zu werden, als sie sich ihre Jacke und die Schlüssel schnappte und sich auf den Weg zur Tierarztpraxis machte.

 

 

***
 

Es war nicht kalt für diese Jahreszeit, aber Amanda legte die Jacke nicht ab. Sie würde sie noch brauchen.

Ihre Schritte knirschten auf dem Kies der Einfahrt, wurden aber durch den Rasen, der sich schließlich wie eine weiche Decke um das Haus zog, gedämpft.

Es dauerte nicht lange, bis sie die großen Fenster des Untersuchungszimmers gefunden hatte. Der Segen der Technik zeigte ihr, dass diese vertrauensselige Ärztin keine Alarmanlage in den hinteren Räumen angebracht hatte. Darüber wollte sich Amanda nun wirklich nicht beschweren, aber wie dumm konnte man sein? Oder kamen die Jugendlichen hier so leicht an Drogen, dass der Medizinschrank gar nicht als Vorrat in Erwägung gezogen wurde?

Amanda schüttelte kurz den Kopf, bevor sie sich am Fensterrahmen festhielt und sich hochzog, um in das Behandlungszimmer sehen zu können. Schränke, freie Fläche und der Behandlungstisch. Perfekt. Sie ließ sich wieder an der Mauer herab, lehnte sich an die Wand und überlegte.

Vom Fenster bis zum Tisch waren es ungefähr zwei Meter. Dann noch einen Halben dazu und ungefähr auf siebzig Zentimeter Höhe.

Bereits mit ihrem Mantra im Kopf ließ sie sich in die Hocke sinken, direkt neben der kalten weiß getünchten Wand des Gebäudes und schloss die Augen.

Hier und Jetzt.

Sie konnte das Mondlicht auf ihrem Gesicht spüren, wie es Schatten in dem kalten, sterilen Raum hinter der Mauer warf. Wie sich das Licht über die Gegenstände legte und andere Teile ausschnitt, um sie im Dunkeln zu lassen. Sie rief sich den Metalltisch vor Augen. Seine Form, seinen Schatten. Dann ließ sie sich fallen.

Der Schmerz war so intensiv wie immer. Als würde sie in Millionen winzige Stücke zerrissen und in alle Winde zerstreut, nur um dann immer weiter zerbrochen zu werden, bis sie in die Kälte hinein schreien wollte, die sie umgab. Doch nur ein leises Keuchen war zu hören, als sich ihr Geist in ihrem Körper an den kalten Metalltisch gelehnt wiederfand.

Amanda wusste, dass ihre Augen sich verändert hatten, wie jedes Mal, wenn sie durch die Schatten ging, aber das würde sich geben.

Langsam richtete sie sich auf und ging die paar Schritte bis zu der Tür, mit der kleinen Scheibe und stieß sie auf. Das leise Quietschen rief die Hunde auf den Plan, die aber nur einen Moment anschlugen, bis Amandas Gegenwart ihnen das Bellen im Halse steckenbleiben ließ.

Die Schatten hafteten noch an ihr. Sie konnte es spüren. Vielleicht sogar mehr als die Hunde, die in die hintersten Ecken ihrer Zwinger zurückgewichen waren und nicht einmal ein Winseln von sich gaben.

Als sie das Gitter erreicht hatte, das sie suchte, hockte sie sich hin. Sie sagte nichts, sondern blickte in den Käfig. Wie schwarze Perlen blinkten ihre Augen in dem wenigen fahlen Licht, das vom Nebenraum hereinfiel.

Der Felidae war wach.
 

Ein seltsames Geräusch, wie das Keuchen eines Menschen ließ seinen Kopf hochfahren und seine Ohren stellten sich auf die Richtung ein. Einen Moment lauschte er in die Dunkelheit hinein, doch das Geräusch wiederholte sich nicht und seine Augen konnten ihm auch nicht mehr zeigen, als den faden Blick auf die gegenüberliegende Wand.

Als auch noch einen Moment lang die Hunde zu bellen begannen, obwohl er überhaupt nichts getan hatte, war er sofort auf den Beinen. Sein Instinkt warnte ihn. Da war etwas. Er konnte nicht sagen, was es war, aber es ließ selbst die Hunde verstummen.

Seine Nackenhärchen standen ihm zu Berge, als er etwas näherkommen hörte. Ganz leise nur, aber trotzdem deutlich wahrnehmbar. Sofort spannte er jeden einzelnen Muskel in seinem Körper an und fuhr seine Krallen aus. Selbst die Haare auf seinem Rücken hatten sich aufgerichtet, was ihn noch größer erscheinen ließ und sein Schwanz zuckte nervös hin und her.

Als plötzlich die blonde Frau vor seinem Käfig auftauchte, mit einer Ausstrahlung, die sein Herz für einen Moment zum Stocken brachte, fauchte er nicht nur mit reiner Drohgebärde.

Sein Kopf neigte sich etwas und seine Zähne traten deutlich aus seinem Kiefer hervor, als er die Lefzen zurückzog. Seine Hinterbeine drückten sich gegen die Wand, jeden Moment bereit anzugreifen.

Zwar verspürte er Panik und auch Angst vor dieser seltsamen Frau, doch sie hatte ihn nicht im Griff. Er war bereit sich zu verteidigen, sollte sie ihm auch nur zu nahe kommen.

Sein Instinkt riet ihm dazu, sich laut zu gebärden. Zu brüllen und mit der krallenbesetzten Pranke nach ihr zu schlagen, doch außer einem tiefen Grollen und einem relativ leisen Fauchen kam nichts von ihm. Denn seltsamerweise hatte er das Gefühl, er dürfe die Anwesenheit der Frau nicht verraten, in dem er sich laut dazu äußerte.

Schließlich schaltete sich der nicht ganz tierische Teil in seinem Gehirn dazu, obwohl es schwer war, klar zu denken, wenn einem haufenweise Adrenalin durch die Adern gepumpt wurde.

Trotzdem stellte sich ihm schließlich die Frage, wie diese Frau überhaupt hier hereingekommen war und was sie verdammt noch mal von ihm wollte? Warum war sie heute überhaupt bei ihm gewesen? War sie etwa scharf auf einen neuen Pelzmantel?

Allein der Gedanke brachte ihn dazu, sein offenes Auge noch kälter aufblitzen zu lassen. Wenn sie ihn wollte, dann würde er es ihr so schwer wie möglich machen. Das garantierte er ihr!
 

In einer seltsam anmutenden Geste legte Amanda den Kopf schief und lächelte in den Käfig hinein.

Wenn ihre düsteren Augen nach einem Gang durch die Schatten etwas genau erfassen konnten, dann war es Angst.

Die Raubkatze hatte erst einmal instinktiv reagiert, als sie hier mit dieser Aura aufgetaucht war. Aber jetzt schien sich sein Verstand eingeschaltet zu haben.

Amanda hatte schon immer zu verstehen versucht, was in den Wandlern vorging, wenn sie sich in ihrer tierischen Gestalt aufhielten. Zumindest reagierten die meisten so, als hätten sie ihre menschliche Vernunft zusammen, auch wenn sie von den tierischen Instinkten sehr leicht überlagert werden konnte.

„Ich will mich mit dir unterhalten. Hier gibt es keine Überwachungskameras. Verwandle dich zurück.“

Es war keine Bitte, sondern ein kalt geäußerter Befehl. So wie Amanda die Lage und ihr Gegenüber einschätzte, würde er nichts dergleichen tun, aber vielleicht konnte sie mit Provokation herausfinden, warum er sich so seltsam verhielt.

Sein blaues Auge funkelte ihr aggressiv entgegen, aber da sie durch die Gitterstäbe voneinander getrennt waren, drohte Amanda keine Gefahr. Ihnen beiden nicht, denn selbst wenn sie gewollt hätte, könnte sie die Barriere nicht überwinden.
 

Als sie auch noch sprach, brachte das für ihn das Fass seiner Überlebensinstinkte fast zum Überlaufen. Beinahe wäre er einfach nach vorne gesprungen. Selbst wenn sie schnell reagiert hätte, hätte er sie vielleicht noch mit seiner Kralle erwischt, doch er hielt sich zurück.

Er wusste nicht, was das für eine seltsam beängstigende Ausstrahlung um sie herum war, die nur langsam nachließ und dann erst diese Augen!

Da er sich gerade noch hatte zurückhalten können, zuckten lediglich seine Flanken einen Moment, ehe er sich etwas zur Seite bewegte, damit sie mehr von seinem angriffsbereiten Körperbau sehen konnte.

Sein Instinkt riet ihm dazu, sich so gefährlich wie möglich zu gebärden, während sein Verstand sich fragte, was sie mit ihren Worten gemeint hatte.

Verwandeln … das sollte ihm etwas sagen.

Er hatte es im Gefühl, aber obwohl er sich deutlich bewusst war, dass es wohl sehr wichtig sein musste, konnte er sich einfach nicht daran erinnern. Als wäre es zum Greifen nahe und doch nicht nahe genug.

Gerade bei dem Versuch, sich daran zu erinnern, bekam er wieder pochende Kopfschmerzen, was ein noch aggressiveres Grollen in seinem Brustkorb hervorbrachte.

Seine linke Vorderpfote machte ein hohes Geräusch mit der Kralle, als er sie leicht zurückzog, als würde jemand mit den Fingernägeln über eine Tafel kratzen.

Es tat ihm selbst in den Ohren weh, doch er wollte nur noch deutlicher machen, dass sie sich bloß nicht mit ihm anlegen sollte. Er mochte vielleicht verletzt und geschwächt sein, aber mit einem Menschen konnte er es auf alle Fälle noch aufnehmen. Obwohl er sich nicht sicher war, dass sie überhaupt einer war. Im Augenblick wirkte sie alles andere als rein menschlich.

Was willst du von mir?!, stieß er schließlich frustriert hervor, was einem wütenden Fauchen glich. Zu blöd, dass sie ihn nicht verstehen und er es ihr auch nicht verständlich machen konnte.
 

Drohgebärden. Das hatte sie schon oft gesehen und war es im Umgang mit den Gestaltwandlern gewohnt. Allerdings schien es dieser hier unnötig lange aufrechtzuerhalten. Und sie konnte nicht umhin, erneut zuzugeben, dass seine Statur mehr als beeindruckend war.

Wenn diese Metallstäbe nicht zwischen ihnen stehen würden, hätte Amanda ohne Waffe wahrscheinlich wenig Chancen, außer die Flucht zu ergreifen.

Aber sie hatte ihn nicht bedroht, hatte sich ihm nicht einmal auffällig genähert. Warum führte er sich so auf?

Langsam hob sie ihre Hände und zeigte ihm die leeren Handflächen.

„Ich habe keine Waffe bei mir.“

Was er da spüren und an ihren Augen sehen konnte, würde sich bald verflüchtigt haben. Und außerdem war sie ihm sicher keine Erklärung über ihr Wesen schuldig.

Bei diesem Gedanken blitzten ihre schwarzen Augen noch einmal auf, was sie aber von ihm abzulenken versuchte, indem sie die Lider kurz senkte.

Es war nicht dieser Panther, der diesbezüglich ihre Wut verdiente. Das gehörte nicht hierher und es würde nicht ihre Chancen verringern Eric zu finden.

„Hör zu. Ich suche jemanden. Sein Name ist Eric. Er ist von der Organisation, wie ich. Er war hier, um eine Untersuchung durchzuführen. Bestimmt hast du ihn gesehen. Ich will wissen, wo er ist.“

Und wenn er es ihr nicht freiwillig sagte, würde sie ihm zeigen, wie angsteinflößend sie wirklich sein konnte.
 

Wenigstens war er in der Lage, sie ganz genau zu verstehen.

Dennoch traute er ihr keinen Moment lang über den Weg. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie gar keine Waffen in ihren Händen brauchen würde, um ihn fertigzumachen, wenn sie es wirklich wollte. Zumindest ahnte er da etwas.

Wie sich das wirklich äußern würde, wusste er nicht, aber er konnte nun einmal seine Vorsicht nicht so einfach beiseiteschieben.

Dennoch gab er wenigstens sein Fauchen und Knurren auf, als sie weitersprach. Natürlich half ihm selbst das kein Bisschen weiter, da er nicht wusste, um was es hier eigentlich ging.

Er kannte niemanden namens Eric, wusste nichts von einer Organisation und hatte keinerlei Erinnerungsvermögen daran, dass er diesem Mann vielleicht schon einmal begegnet sein könnte. Wie auch? Er war eine Raubkatze, verdammt nochmal!

Der Gedanke klang seltsam falsch in seinem Kopf. Dabei hätte er noch nicht einmal sagen können, was genau nicht damit stimmte, doch da die Frau offensichtlich eine Antwort von ihm erwartete und ihm ohnehin schon tausend Gedanken im Kopf herumschwirrten, inklusive seiner Unsicherheit über seine Existenz, ließ er sich schließlich zu einem mehr als frustriertem Schnauben herab und schüttelte dann einmal seinen großen Kopf.

Ein 'nein' würde sie wohl verstehen, selbst wenn es von einem Tier kam. Immerhin schien sie wohl zu glauben, mehr über ihn zu wissen, als er über sich selbst wusste.

Leider könnte genau das der Wahrheit entsprechen. Doch sie wollte etwas von ihm und er wollte hier raus. Vielleicht könnten sie sich einigen, auch wenn das nun ganz und gar nicht seinen Instinkten entsprach.

Das Tier wollte zubeißen, der unergründliche Rest gewann den innerlichen Kampf jedoch, ließ die geduckte Haltung fallen und kam humpelnd auf die Gitterstäbe zu.

Seine Haare standen ihm immer noch zu Berge und seine Muskeln waren auch weiterhin angespannt, aber sein Maul war geschlossen, um etwas von seiner Drohung abzumildern.

Danach starrte er ihr einen Moment lang so intensiv, wie er konnte in die Augen, ehe sein Blick zu dem Türschloss wanderte, das ihn von der Freiheit trennte.

Er gab einen seltsam gurrenden Laut von sich, während er das Schloss anstarrte und dann seinen massigen Kopf wieder zu der blonden Frau hinüber schwenkte.
 

Sie hatte ihn verstanden.

Das Kopfschütteln war eindeutig gewesen. Aber sie glaubte ihm nicht.

Eric war hier gewesen, das wusste sie mit Sicherheit. Und ihr Bruder war bestimmt nicht hierher gekommen, um Urlaub zu machen. Der Panther musste ihm begegnet sein.

Als er auf sie zukam, auch wenn es nicht in drohender Haltung passierte, spannten sich ihre Muskeln so weit an, dass sie augenblicklich aus seiner Reichweite entkommen konnte.

Sie ließ ihn nicht aus den Augen, als er sich ganz nah an den Stäben niederließ und ihr wieder seinen massigen Körper zeigte. Das gesträubte Fell war wohl hauptsächlich ein Zeichen von Aggressivität. Amanda konnte fühlen, wie sich die Schatten um sie herum verflüchtigten.

Zumindest waren sie für ihre Umgebung nicht mehr wahrzunehmen. Genauso, wie sich ihre Augen zurück ins Hellbraune färbten und dem Blick des Tieres begegneten, nachdem er sie unmissverständlich auf einen Deal aufmerksam gemacht hatte.

Amanda wägte ihre Optionen ab. Sie hatte eine Antwort von ihm bekommen, die sie ihm keinesfalls abkaufte. Und er wollte hier raus. Zu einem Deal wäre sie bereit, weil sie sowieso in der besseren Position war. Er konnte ihr nicht entkommen, selbst wenn sie ihn aus diesem Käfig ließ. Aber das würde sie nur unter einer Bedingung tun.

„Ich will mit dir als Mensch reden. Eric war hier und du musst ihm begegnet sein. Wenn du dich nicht zurückverwandelst, werde ich dich nicht hier rauslassen. Du wirst dich der Behandlung der Ärztin unterziehen, bis sie dich in den Wald zurückschafft. Wann immer das sein wird.“

In ihren Augen lag lange nicht mehr diese nachdrückliche Drohung, die von der Dunkelheit verstärkt worden war, aber ihm würde klar sein, dass sie es ernst meinte.

„Rede mit mir und ich lass dich hier raus.“
 

Langsam glaubte er, sie hätte nicht mehr alle, obwohl eigentlich sein Kopf es war, der unter irgendetwas gelitten hatte. Der Verband war doch wohl eindeutig, oder nicht?

Er und ein Mensch? Wäre schön zu glauben, dass das ginge, weil es sich richtig toll anhörte. Dann könnte er ihr wenigstens endlich die Meinung geigen und ihr mitteilen, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie da sprach.

Eric, Eric, immer dieser Eric! Verdammt noch mal, er wusste doch noch nicht einmal, wie sein eigener Name war, obwohl das gemeinhin bei Raubkatzen, besonders bei Einzelgängern ohnehin vollkommen egal war. Seine Beute fragte sicherlich nie nach seinem Namen. Also war das hinfällig.

Wie konnte die Frau auch nur so etwas Absurdes von ihm verlangen? Wenn er gekonnt hätte, würde er sofort die Situation aufklären, auch wenn er keine Lust hatte, sich mit der Blondine anzulegen. Weder kannte er sie noch diesen Eric oder die Organisation und es kümmerte ihn auch einen Dreck. Alles, was er wollte, war hier raus. Basta!

Knurrend schlug er wieder mit seiner Pranke nach dem Schloss, ehe er mehr als nur wütend und verärgert wieder in seiner kleinen Zelle auf und ab humpelte, dabei vor sich hinschnaubend, während sein Schwanz wild hin und her zuckte, als müsse dieser ebenfalls ordentlich Dampf ablassen.

In seiner Brust grollte es wieder, als gäbe es bald ein heftiges Gewitter. Am liebsten hätte er in diesem Augenblick irgendetwas zerlegt. Doch den soliden Wänden war er nicht gewachsen und selbst die Gitterstäbe erwiesen sich eindeutig als zu hart, als er versuchte seine Zähne darum zu legen. Allerdings passte nicht einmal seine Schnauze zwischen den Abstand dazwischen.

Schließlich hockte er sich wieder vor die Stäbe, hob dabei ganz leicht seine verletzte Pfote vom Boden an, damit er sie entlastete, und starrte ausdruckslos die Frau an.

Entweder sie ließ ihn jetzt raus, oder die Ärztin würde es vielleicht in einiger Zeit tun. So oder so. Er konnte warten, wenn es sein musste. Hoffte er zumindest. Die Portion an negativen Emotionen in ihm war so gewaltig, dass er gar nicht mehr wusste, wohin damit. Es wäre durchaus möglich, dass er nach mehreren Tagen hier, einfach in die Luft ging.

Als die Blonde sich kurz darauf einfach von ihm abwandte und verschwand, ohne ihm zu helfen, starrte er regungslos mehrere Minuten lang auf seine ausgefahrenen Krallen und begann zu zittern.

Erst nur ganz leicht, doch je länger er versuchte, die Enttäuschung hinunterzukämpfen, umso heftiger wurde das Beben, bis es ihn regelrecht schüttelte und er endgültig durchdrehte.

Er hatte tatsächlich das Gefühl, es würde ihn zerreißen, als seine Gefühle aus ihm herausbrachen. So laut, wie er konnte, schrie er seinen Hass diesem Ort und vor allem den Menschen gegenüber hinaus, schlug blind vor Wut um sich, dellte die Wände ein, zog deutliche Kratzspuren über das Metall und rammte immer wieder sein ganzes Gewicht gegen die Gitterstäbe, die trotz allem keinen Moment lang nachgaben.

Er veranstaltete einen unglaublichen Krach, was die Hunde schließlich auch noch zu lautstarkem Jaulen und Bellen animierte, während er sich wie wild gebärdete.

Sein Atem stockte ihm immer wieder dank des Ausmaßes seiner Aggressionen, bis ihm schließlich alles vollkommen egal war.

Zuerst kratzte er sich den Verband von der Pranke, während er fasziniert feststellte, dass der Schmerz vollkommen in seiner körperlichen Raserei unterging und er ihn nicht fühlte. Daher war er noch schneller dazu bereit, sich den Verband um seinen Kopf abzustreifen, egal was es ihn kostete.

Als er endlich wieder mit zwei Augen sehen konnte, bekam er einen Moment lang ein deutliches Déjà-vu.

Licht flammte in seinen Augen auf, was ihm die Sicht raubte, bis sich seine Pupillen den veränderten Lichtverhältnissen angepasst hatten. Doch da war das Gefühl, als hätte er diesen Moment schon einmal erlebt, auch schon vorbei und seine Ohren konnten hastige Schritte näherkommen hören.

Wieder warf er sich wild gegen die Gitterstäbe, brüllte und fauchte, als ginge es um sein Leben, was es auch tat. Den Stich in seine Seite spürte er noch nicht einmal, allerdings machte ihn die sich ausbreitende Taubheit noch rasender.

Er sah noch nicht einmal die Gesichter der Anwesenden. Es war, als wäre sein Sichtfeld rot verschleiert, bis er schließlich unfähig war, seine Hinterbeine zu bewegen und zusammenbrach. Danach erreichte ihn die Wirkung der Betäubung auch schnell im Kopf und endlich kehrte wieder Ruhe in seinem brodelnden Inneren ein.

3. Kapitel

Amanda wachte mit Kopfschmerzen und schlechter Laune auf, was sie beides mit gutem, starken Kaffee zu kurieren versuchte.

Das half zumindest ein wenig und ließ sie wieder klarer denken. Sie musste sich einen Plan für den Tag zurechtlegen. Den Panther würde sie heute erstmal außen vor lassen. Er hatte ihr gestern Nacht eindeutig zu verstehen gegeben, dass mit seiner Hilfe – jedenfalls freiwillig – nicht zu rechnen war.

Bis ihn Dr. Barbie wieder in die Freiheit entließ, war er gut und sicher aufgehoben.

Amanda grinste beim Gedanken, dass ihr sein Missgeschick mit dem Autounfall ein ganzes Stück Arbeit erspart hatte. Er hatte sich ihr mehr oder weniger freiwillig auf einem Silbertablett serviert und jetzt würde sie ihm an seinem pelzigen Arsch kleben, bis er ihr sagte, was sie wissen wollte. Bis dahin sollte er noch ruhig in seinem Käfig schmoren.

Da das also heute ihr Pantherfreier Tag werden würde, hatte Amanda Zeit sich dem zweiten Objekt ihres Interesses zuzuwenden – Mr. Trockenpute Canidae, der Koch des kleinen Cafés auf der Hauptstraße.

Sie hatte bereits gestern gesehen, dass die Küche erst gegen zwölf geöffnet wurde. Das hieß, dass sie noch ungefähr eine Stunde Zeit hatte, bis seine Schicht anfing.

Bis dahin sah sie sich ein wenig in der Stadt um. Lief die Hauptstraße einmal hinauf und einmal hinunter, sah in Schaufenster mit verstaubten Antiquitäten, genauso verstaubten Schuhen und Jagdausrüstungen.

In das letzte Geschäft hätte sie einen Fuß gesetzt, um sich neues Waffenöl zu kaufen, wenn sie dann nicht Gefahr gelaufen wäre, dass der Verkäufer gleichzeitig Pfarrer, Metzger und die Klatschtante der gesamten Siedlung war.

Verdammt, wie ihr dieses familiäre Flair auf die Nerven ging!

Noch dazu war sie Eric keinen Schritt nähergekommen. Sie hatte sogar Mrs. Cauley beim Frühstück gefragt, ob sie ihn gesehen hatte. Die Dame hatte ihr mit einer Grabesmiene einen Teller Rührei hingeschoben und nur kurz den Kopf geschüttelt. Sie habe niemanden gesehen, der auf Erics Beschreibung passte. Aber Amanda solle im Café nachfragen, denn dort kam jeder vorbei, selbst wenn er nur auf der Durchreise war. Heutzutage war doch jeder auf einen schnellen Kaffee to go aus, um die Autofahrt länger durchhalten zu können und nicht in kleinen B&Bs wie ihrem unterkommen zu müssen.

Amanda hatte sich zu einem mitleidigen Lächeln hinreißen lassen. Früher hatte die zwergenwüchsige Mrs. Cauley sicher allein durch ihre Erscheinung massenhaft Kunden in ihre kleine Unterkunft gezogen. Heute machte man sich nichts mehr aus Atmosphäre. Vielleicht sollte Amanda ihrer Gastgeberin erzählen, dass in ihrer Nachbarschaft zwei Männer lebten, die sich nach Lust und Laune in Tiere verwandeln konnten. Das könnte das Geschäft wieder zum Boomen bringen, wenn sie das mit der Werbung richtig anstellte.

 
 

***
 

Pünktlich um zwölf betrat Amanda das Café und konnte die Blicke der anwesenden Männer auf ihren nackten Beinen spüren, die wieder in ihren Wildlederstiefeln und dem dazu passenden Rock steckten. Als hätten sie hier noch nie eine Frau gesehen, die nicht unter zwanzig oder über vierzig war und noch dazu keine Latzhosen trug. Ob es einmal einen Mr. Cauley gegeben hatte?

Den ganzen Tag hing Amanda in dem Café herum, las ein Buch, spielte mit ihrem PDA und warf dem Koch Blicke zu, die nicht nur ihn verwirrten, sondern auch die anderen Herren, die immer wieder vorbeikamen, etwas tranken und dann wieder gingen.

Als der Mann seinen Posten verließ, um eine Zigarette in der Seitenstraße zu rauchen, folgte Amanda ihm.

Er lehnte an einer der großen Mülltonnen und schüttelte gerade sein Feuerzeug, um ihm eine Flamme zu entlocken.

„Hey.“ Mit einem strahlenden Lächeln kam Amanda auf ihn zu und schob ihn mit ihrem Körper an die Wand. Selbst wenn sie nun nicht direkt im Schatten des Hauses und des Müllcontainers gestanden hätten, brachte das metallische Klicken ihrer Waffe ihn bestimmt zum Reden.

„Was …?“ Seine Augen weiteten sich merklich, als er sich so in die Enge getrieben fühlte. Der Lauf der Waffe, der auf die empfindlichste Stelle des Mannes – ob Mensch oder Tier – gerichtet war, war sicher überzeugend.

„Was wollen Sie von mir?“, fragte er mit zitternder Stimme, während er versuchte, sich noch mehr an die massive Ziegelwand hinter sich zu drängen.

„Ich will wissen, ob du Eric gesehen hast. Wir sind beide von der Organisation.“

Bei diesen Worten verengten sich die Augen des Canidae wieder und neben Furcht flammte auch Wut in ihnen auf.

„Keine Sorge, du bekommst keinen Ärger. Ich will nur wissen, ob du Eric gesehen hast.“ Um ihrer Frage mehr Nachdruck zu verleihen, schob sie das kalte Metall ihrer Waffe noch ein bisschen näher an den Inhalt seiner Jeans heran. Das Winseln des Kochs ließ durchaus auf seine tierische Gestalt schließen.

„Ja, ich hab Eric getroffen. Einmal. Er hat mich nur gefragt, ob ich schon registriert bin. Bin ich.“ Zum Beweis wollte er seinen Arm hochhalten, um ihr das Tattoo zu zeigen.

„Weiß ich. Was noch?“, fragte Amanda schneidend und ließ kein Stück von ihm ab, obwohl sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten und sie seine Angst allmählich unangenehm riechen konnte.

„Sonst nichts, ehrlich. Er wollte sich in der Gegend umsehen, weil er dachte, es stimmt was nicht. Mehr hat er mir nicht erzählt. Er wollte noch nach anderen suchen … und …“

Amanda zog die Waffe weg und hielt sie ihm vors Gesicht.

„Wenn du gelogen hast, komm ich zurück. Und dann bin ich nicht so nett. Verstanden?“

Wieder ein Winseln und Amanda brauchte nicht viel Phantasie, um sich seinen eingeklemmten Schwanz vorzustellen, als er käsebleich ins Café zurückrannte.

„Verdammte Scheiße!“

Der Tritt gegen den Müllcontainer tat weh, aber sie ignorierte den pochenden Schmerz in ihrem Zeh. Also doch der Panther. Als hätte sie es geahnt.

 
 

***
 

„Was wollen Sie denn eigentlich genau hier? Sie veranstalten einen ganz schönen Trubel.“

Mrs. Cauley saß Amanda gegenüber an einem der kleinen Tische im Speisesaal des B&B und aß genüsslich ihre Zwiebelsuppe.

„Ich hab Ihnen doch gesagt, warum ich hier bin. Ich möchte meinen … Kollegen finden.“

Amanda kannte den Blick, den ihr die ältere Dame zuwarf. Reine Skepsis, aber es lag auch etwas Schelmisches in ihren Augen. Amanda mochte die Dame jetzt schon. Immerhin bestand sie als Einzige nicht darauf, dass sie sich mit Vornamen anredeten.

„Was meinen Sie mit 'Trubel'?“

Beim ersten Löffel hatte sich Amanda die Zungenspitze verbrannt, weswegen sie jetzt vorsichtig auf die Flüssigkeit blies, bevor sie sich die Suppe in den Mund löffelte.

Ohne aufzusehen und mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht antwortete ihr Mrs. Cauley fast lachend. „Sagen Sie bloß, dass man Sie normalerweise auch so anstarrt, wie die ganzen Männer hier.“

Wieder ein Lachen, das so herzlich klang, dass es Amanda ebenfalls ein Lächeln aufs Gesicht zauberte.

„Oh, das meinen Sie. Vielleicht hätte ich meine Latzhose einpacken und ein paar Röcke zu Hause lassen sollen.“

„Und diese Stiefel.“

„Und die Stiefel.“

Diesmal lachten sie beide, bevor die Miene der älteren Frau wieder ernster wurde.

„Haben Sie denn etwas herausfinden können? Ich habe mich selbst ein wenig umgehört, aber man redet nur davon, dass Sie diesen Eric suchen und niemand scheint etwas zu wissen.“

Amanda war mehr als erstaunt über die Hilfsbereitschaft der Dame. Sofort kam Misstrauen in ihr auf und sie ermahnte sich gerade wegen dieser freundlichen Art vor Mrs. Cauley, auf der Hut zu sein.

„Nein, nichts Hilfreiches. Aber ich werde weiter suchen. Ich weiß, dass er hier war.“

Ihre Gedanken wanderten zu dem Panther in dem Käfig. Wie ihr auffiel natürlich nicht zum ersten Mal an diesem Tag.

Heute würde sie nicht wieder hingehen. Das würde er wahrscheinlich als Triumph werten, wenn sie sofort wiederkam, um ihn erneut zu befragen. Sie würde eher etwas aus ihm herauskriegen, wenn er noch länger die Gefangenschaft in einem Käfig genoss.

Der PDA zeigte immer noch das Gesicht eines alten Mannes und ein paar seiner Daten.

Amanda starrte mit gerunzelter Stirn auf das Display und versuchte das alles mit dem Panther in dem Käfig übereinzubringen.

Da stimmte etwas nicht. Es konnte vorkommen, dass die Techniker sich irrten, aber so ein grober Schnitzer hätte doch schon vor Amanda jemandem auffallen müssen.

Gab es am Ende etwa zwei von der Sorte? Vielleicht war der Kerl im Käfig noch gar nicht registriert?

Die Furchen auf ihrer Stirn wurden noch tiefer.

Wenn es tatsächlich so war, dann musste sie den Alten finden. Vielleicht hatten die beiden miteinander zu tun. Wenn es hier gleich zwei Jaguare gab … Waren sie verwandt? Höchstwahrscheinlich. Was Amanda aber bloß wieder zu dem Endergebnis führte, dass sie mit dem Schwarzen reden musste.

Beinahe hätte sie das kleine Gerät frustriert gegen die Wand geworfen. Sie drehte sich im Kreis. Solange der Panther eingesperrt war, kam sie nicht an ihn ran. Und wenn er sich nicht freiwillig zurückverwandelte, konnte sie nicht mit ihm reden. Sobald er irgendwo draußen war, konnte sie ihn dazu zwingen, aber in seinem geschwächten Zustand wäre das wohl nicht ratsam gewesen. Wenn sie ihn versehentlich umbrachte, konnte er ihr auch keine Antworten mehr geben. Also hieß es wohl oder übel doch warten.

 
 

***
 

Die nächsten Tage waren die langweiligsten in seinem Leben. Sie mussten es einfach sein, auch wenn er sich immer noch nicht an etwas erinnerte.

Langsam machte er sich Sorgen, dass sein Gedächtnis dauerhaft gelöscht worden war. Aber er musste sich einfach noch Zeit geben. Seine Verletzungen schmerzten immer weniger, stattdessen begannen sie wieder, gewaltig zu jucken. Wie er es schaffte, sich nicht zu kratzen, war ihm ein Rätsel. Doch es gelang ihm vermutlich deshalb, da der Gedanke, hier umso schneller herauszukommen, je eher er heilte, ihn aufrecht hielt.

Die Blondine war auch nicht mehr aufgekreuzt, weshalb er sie schon halb vergessen hatte, als ihm die Tierärztin gut gelaunt wie immer mitteilte, dass er morgen schon hier herauskommen würde.

Zwar freute es ihn, endlich wieder in die Freiheit entlassen zu werden, aber dazu würde sie ihn wieder sedieren müssen. Zwar nur leicht, aber doch so viel, dass er k.o. ging.

Hätte sie gewusst, dass er freiwillig in die Kiste steigen würde, wenn er sich sicher sein könnte, dass sie ihn wirklich freiließ, wäre das alles nicht nötig gewesen. Doch die Tatsache war nun einmal die, dass er sich nicht sicher war und sich auf alle Fälle wehren würde.

Zwar war ihm inzwischen klar geworden, dass man den Handel mit Jaguarfellen verboten hatte, aber am Schwarzmarkt bekam man immer noch ordentliche Preise dafür.

Umso aufgeregter war er in dieser letzten Nacht, in der er kein Auge zutat und daher immer nervöser in seinem Käfig auf und ab lief. Der Verband war inzwischen nicht mehr ganz so steif, weshalb ihm das Gehen leichter fiel, dennoch störte es ihn immer noch enorm in seiner Bewegungsfreiheit. Vor allem, dass er nur mit einem Auge sehen konnte.

Doch das würde sich morgen wohl alles ändern. Das hatte ihm zumindest die Ärztin gesagt. Nachdem man ihn betäubt hätte, würde sie seine Verbände abnehmen und noch einmal sichergehen, wie weit seine Verletzungen verheilt waren. Wenn die Werte gut waren, durfte er ohne Verbände in die Freiheit zurück. Wenn nicht, musste er noch ein paar Tage länger in dieser winzigen Metallschachtel vor sich hinvegetieren.

So oder so, der Tag der Entscheidung rückte näher.

4. Kapitel

Wie konnte sie das denn schon vor dem Frühstück ertragen?

Die Ärztin hatte sie mit einem strahlenden Lächeln bereits vor dem gemütlichen Speisesaal abgefangen und in gewöhnlicher Manier auf sie eingeplappert. Um das Ganze nicht noch schmerzhaft in die Länge zu ziehen, hatte Amanda auf das Frühstück verzichtet, Mrs. Cauley einen genervten Seitenblick zugeworfen und Teresa auf den Parkplatz hinausgedrängt.

Eigentlich hätte man das Gespräch in drei Sätzen abhandeln können. Sie wollten heute den Panther freilassen. Sehr gut. Noch dazu sollte Amanda dabei sein, um ihrem Naturschutzartikel durch eine Reportage ein wenig mehr Glanz verleihen zu können.

„Oh, das ist wirklich eine tolle Idee. Vielen Dank für diese Chance, Teresa.“ Gott, wahrscheinlich würde sie demnächst auf ihrer eigenen Schleimspur ausrutschen, wenn sie nicht aufpasste.

Irgendwann war sie die Dunkelhaarige losgeworden und hatte sich aus Verzweiflung ein labbriges Sandwich im 24-Stunden-Shop gekauft, um wenigstens etwas in den Magen zu bekommen. Nach der Meditation heute Morgen und einer heißen Dusche hätte sie eigentlich gern noch einen Kaffee getrunken, aber auch der würde heute ausfallen, denn gegen Mittag hatte sie schon etwas Anderes vor.

 

 

***
 

Amanda lehnte bereits an der Tür des Hintereingangs, als der Koch in die Seitenstraße einbog. Er erstarrte mitten in der Bewegung und seine Augen zuckten hin und her auf der Suche nach einem Fluchtweg. Der Einzige war genau hinter ihm. Die Hauptstraße, von der er gerade gekommen war.

„Du glaubst doch nicht, dass ich dich nicht finden würde, wenn du jetzt davonläufst.“

Der Canidae sah so aus, als würde er sich gleich in die Hosen machen, als Amanda sich von der Tür abstieß und zwei Schritte auf ihn zukam. Das war der Vorteil, wenn man die Leute schon beim ersten Mal einschüchterte. Die folgenden Treffen gestalteten sich immer viel einfacher.

„Ich will nur wissen, ob du den hier kennst.“

Sie hielt ihm den PDA mit dem Bild des alten Jaguars entgegen, woraufhin der Koch leicht zusammenzuckte. Seine Augen fokussierten sich auf den kleinen Bildschirm und er sah sich das Gesicht lange an, bevor er mit zitternder Stimme antwortete.

„Ja, den kenn ich. Hab ihn aber schon lange nicht mehr gesehen. Der kam selten in die Stadt. Wohnt irgendwo weiter draußen, glaube ich.“

„Was heißt schon lange nicht mehr?“

Amanda versuchte ihn nicht zu aggressiv anzugehen, weil sie befürchtete, der Kerl könnte doch noch den Schwanz einziehen und winselnd davonlaufen.

„Ich … Ich weiß nicht. Ein paar Wochen? Vielleicht länger?“

„Und was ist mit dem Kerl, den sie angefahren haben? Was weißt du über den?“

Sein Gesicht zeigte ehrliches Unverständnis und seine Augen weiteten sich schon jetzt vor Schreck, da er eine ihrer Fragen nicht würde beantworten können.

„Was? Wen? Ich …“

Diesmal kam ihr die Wut hoch und sie zog doch noch die Waffe aus ihrem Gürtel und hielt sie ihm unter die Nase. Allerdings ohne sie zu entsichern, was ihm in seiner Panik sicher nicht aufgefallen war.

„Der schwarze Jaguar. Ich will wissen, was du über ihn weißt!“

Ihr Zischen war schneidend und brachte seine Augen dazu, sich nur noch mehr zu weiten. Er brachte nicht einmal ein Fiepsen hervor.

Mit einem erzürnten Laut stieß sie ihn zur Seite, was ihn lautstark gegen einen der Müllcontainer taumeln ließ und steckte ihre Waffe weg, bevor sie auf die Hauptstraße hinaustrat.

Dieser Felidae regte sie wirklich langsam auf. Warum war er nicht in der Datenbank? Wer hatte da geschlafen?

Ein heißer Schauer lief durch Amandas Körper, als ihr einfiel, welcher Sammler als Letztes hier gewesen war.

Ihre Miene wurde steinhart, während ihre hellen Augen funkelten. Wenn er Eric nur ein Haar gekrümmt hatte, würde er so sehr dafür büßen, dass nicht nur er dabei in die Hölle kam.

 

 

***
 

Der Geländewagen sank immer wieder tief in den Waldboden ein, als die Straßen immer unwegsamer wurden und sie bald nur noch einem Trampelpfad in den Wald folgten. Teresa warf immer wieder einen sorgenvollen Blick auf die Kiste, da sie Angst hatte, die Seile könnten sich lösen und der Panther auf der holprigen Fahrt doch noch verletzt werden.

Er hatte sich gut erholt und Amanda war sich sicher, dass dieses bisschen Hin- und Herschlingern ihm nicht schaden würde. An diesem Nachmittag waren sie nur zu zweit unterwegs, da Teresa keinen passenden Freiwilligen gefunden hatte, um bei der Auswilderung zu helfen.

Irgendwann kamen sie an einer Waldlichtung an und Amanda stellte den Motor ab. Zum ersten Mal vertraute sie Teresa, die von diesen Dingen mehr Ahnung hatte, als sie selbst.

„Was jetzt?“

Wie sollten sie den Kater aus der Kiste lassen, ohne sich selbst zu gefährden? Aber Teresa hatte eine Lösung in Form eines Stricks, an dem sie ziehen mussten, um die Klappe an seiner Kiste zu öffnen.

„Hier im Auto sind wir sicher und können ihn beobachten, bis er sich zurechtgefunden hat und im Wald verschwindet.“

Teresas Augen leuchteten fast romantisch verliebt.
 

Er hatte sich wirklich gewehrt, als der Betäubungspfeil ihn getroffen hatte. Aber wer hasste es nicht, ausgeknockt zu werden? Wer konnte schon wissen, wo er wieder aufwachen würde? Falls er wieder aufwachen würde?

Zum Glück für alle Beteiligten wurde er tatsächlich in einer Holzkiste wieder wach. Die Verbände waren ab und er konnte endlich wieder scharf sehen. Allerdings würde es noch eine Weile dauern, bis er sein Bein wieder vollkommen belasten konnte. Immerhin fühlte es sich schwach an, aber es würde ihn nicht im Stich lassen. Da war er sich sicher.

Da er erst während der Fahrt aufgewacht war, verlor er für eine Weile die Orientierung, befand schließlich aber, dass sie sich durch den Wald kämpften. Die unebene Straße, die Gerüche und zusammen mit den kleinen Löchern in der Holzkiste, aus denen er Bäume, Farn und allerhand anderes Grünzeug sehen konnte, beruhigten ihn etwas. Dennoch klopfte sein Herz rasend schnell in seiner Brust und er hatte Mühe, ruhig zu bleiben.

Als sie schließlich auf einer Waldlichtung ankamen, war er ein totales Nervenbündel. Unkontrolliert knurrte er vor sich hin, zuckte bei dem kleinsten Geräusch zusammen und bewegte sich in seiner winzigen Box hin und her so gut er konnte, bis jemand die Klappe hochschob und er regelrecht erstarrte.

Das Gefühl in ihm war nicht zu beschreiben. Er sah grünen Wald, witterte den vertrauten Geruch des Bodens und frischer Wind blies zu ihm herein.

Dennoch betrachtete er die Umgebung zuerst ganz genau. Lauschte auf auffällige Geräusche, schnupperte in die Luft und sah sich mit seinen Augen um. Doch da war nichts, das ihn hätte beunruhigen können. Bis auf die beiden Menschen im Wagen.

Ungläubig riss er die Augen weit auf, als er den Geruch der beiden Frauen erkannte. Der eine gehörte zu Teresa, aber das hatte er erwartet. Der andere war unverkennbar der Duft der Blondine.

Sie hatte also die Wahrheit gesagt.

Obwohl er nicht wusste, wie fit er im Augenblick war, sprang er mit einem Satz vom Wagen, kam ins Straucheln und wäre beinahe auf die Schnauze geknallt, als seine rechte Vorderpfote sein Gewicht nicht halten konnte und einknickte. Doch so schnell er konnte, raffte er sich wieder hoch und schoss ins Dickicht davon.

Er war unendlich lahm, zumindest kam es ihm so vor, auch wenn er gut vorankam. Doch umso länger er lief, umso mehr offenbarte sich seine Schwäche. Zum Glück hatte er noch genug Nahrung bekommen, da er in den nächsten Tagen wohl auf Diät stand, bis er wieder richtig laufen konnte. Trotzdem war das im Augenblick seine geringste Sorge.

Er wollte einfach nur noch weg. Weg von dem Wagen. Weg von den beiden Frauen und insbesondere weg von der Blondine. Sie war ihm nicht geheuer. Ganz und gar nicht.

Er lief, solange er konnte, bis ihm seine Kräfte vollkommen auszugehen drohten. Danach suchte er sich einen passenden Baum, der in seinem Zustand nicht zu schwer zu erklimmen war, ihn dennoch versteckt hielt und suchte sich einen gemütlichen Platz in den Ästen, ehe er leise hechelnd liegen blieb, und versuchte das Zittern seines Körpers in den Griff zu bekommen.

Erst einmal musste er sich beruhigen, danach konnte er die Lage einschätzen. Immerhin hatte er keine Ahnung, in wessen Revier sie ihn gebracht hatten, auch wenn ihm bei seiner Flucht keine auffällige Duftmarke aufgefallen war. Das musste noch nichts heißen.
 

Die Rückfahrt war eine echte Qual gewesen.

Nachdem sich Teresa erstmal von dem Schock erholt hatte, dass ihr Schützling sich einfach davon gemacht hatte, ohne auch nur einen dankbaren Blick zurückzuwerfen, quasselte sie ununterbrochen auf Amanda ein. Dass es ihr leidtat, dass die Journalistin keine guten Bilder hatte machen können, dass sie eigentlich gedacht hatte, der Kater würde sich eine Weile umsehen, bevor er ins Unterholz rannte. Aber sei es denn nicht ein überwältigendes Gefühl, ihn wieder in Freiheit zu wissen?

Da stimmte Amanda der Dunkelhaarigen zu, grinste aber etwas schief, denn ihre Gründe lagen ganz anders, als die Ärztin es sich bestimmt je erträumt hätte.

Teresa wollte die andere Frau noch zum Abendessen einladen, was Amanda allerdings dankbar ablehnte. Sie sei ziemlich müde und müsse die Eindrücke, die ihr dieser aufregende Nachmittag vermittelt hätte, sofort aufschreiben, um die Details nicht zu vergessen. Das konnte Teresa natürlich nur allzu gut nachvollziehen.

„Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben, nicht wahr?“, verabschiedete sie sich winkend und ließ Amanda vor dem B&B endlich allein.

Wieder musste sich Amanda in Geduld üben, denn es wäre zu sehr aufgefallen, wenn sie sofort in ihren Dodge gestiegen und den Weg zurückgefahren wäre, aus dem sie gerade mit der Ärztin gekommen war.

Aber das kam ihr eigentlich ganz gelegen. Immerhin musste sie sich auf die nächste Zusammenkunft mit dem Felidae noch ausreichend vorbereiten. Sie hatte da draußen zwar den Vorteil, dass sich ihre Kraft verstärkten und er sie noch dazu nicht einschätzen konnte. Aber dafür kannte er sich aus und seine Größe und Kraft war nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

 

 

***
 

Diesmal nahm sich Amanda zwei volle Stunden Zeit, ihren Körper auf das vorzubereiten, was sie heute Nacht vielleicht tun musste. Es würde einfacher sein als beim letzten Mal, aber trotzdem schmerzhaft wie immer und genauso lebensgefährlich. Nicht nur für ihren Gegner. Denn sie hatte sich vorgenommen, ihn zum Sprechen zu bringen. Egal, was es kostete.

Gewissenhaft schnürte sie ihre Wanderstiefel, zog sich eine dicke, dunkle Jacke über und steckte ihre Waffe in das Schulterhalfter, bevor sie den PDA in ihre Jeanstasche gleiten ließ. Es würde trotz technischer Hilfe eine Weile dauern, bis sie ihn gefunden hatte.

Amanda war sich nämlich inzwischen sicher, dass der Kerl nicht registriert war. Aber seine Bewegungen konnte sie trotzdem verfolgen. Wie schön, dass Teresa sofort Amandas Drang verstanden hatte, dem großen Tier durchs Fell streichen zu wollen.

Dieser verträumten Ärztin war nicht einmal aufgefallen, wie sie eine winzige Wanze unter dem Kinn des Katers angebracht hatte. An einer Stelle, wo er sie sicher nicht versehentlich und auch willentlich nur schwer selbst entfernen konnte. Allerdings hatte die Wanze keine besonders große Reichweite. Erst wenn sie auf der Lichtung war, an der sie ihn ausgesetzt hatten, würde das Signal den PDA in ausreichender Stärke erreichen.

So war es auch und ein erfreuliches gelbes Blinken ging von dem Gerät in ihrer Hand aus, als sie mit dem Finger das Gebiet heranzoomte, in dem sie sich befand. Er war ein ganz schönes Stück weit weg, aber Amanda war ebenfalls eine ausdauernde Läuferin. Sie konnte diesbezüglich mit seiner tierischen Gestalt nicht mithalten, aber sie würde ihn schon irgendwann erreichen. So stur wie er, war sie schon lange.
 

Als er sich sicher sein konnte, dass er sich genügend ausgeruht und ihn auch niemand verfolgt hatte, kam er wieder von dem Baum herunter und machte sich zuerst auf die Suche nach Wasser. Er war schrecklich durstig, was vermutlich an dem Betäubungsmittel lag.

Nach einer Weile fand er eine übergroße Pfütze. Nichts Besonderes, aber es würde seinen Durst stillen. Doch ehe er auch nur einen Schluck nahm, sah er sein Spiegelbild an. Zwei große blaue Augen blickten ihm entgegen, allerdings wurde sein Blick eher auf die längliche Fleischwunde gezogen, die sich von seiner rechten Augenbraue bis knapp ein Stück über sein unteres Augenlied hinauszog.

Deshalb also der Verband.

Im Moment sah die Narbe nicht gerade gut aus, aber sie war geschlossen, und wenn sie genug Zeit zum Heilen hatte, würde man nur noch eine Unebenheit im Fell feststellen können. Für ihn spielte das keine sehr große Rolle.

Seine Vorderpfote war da schon eher ein oder zwei Gedanken wert. Auch hier zeigte sich deutlich ein langer Schnitt, aber ihm ging es eher darum, wann er sie bald wieder richtig benutzen konnte. Er musste einsatzfähig sein, wenn er überleben wollte. Noch hatte er keine frischen Markierungen finden können, weshalb er vielleicht noch eine Weile Ruhe von etwaigen Besitzern dieses Gebiets hatte, aber so oder so, er würde unweigerlich schon bald auf Andere treffen.

Schon während er trank, spürte er jemanden auf sich zu kommen. Er konnte nicht genau sagen, was es war, da der Wind ungünstig stand, aber auf jeden Fall brachte es ihn dazu, sofort aufzubrechen.

Wieder lief er, solange er konnte, doch dieses Mal war die Strecke noch kürzer und die Erholungspause würde noch länger dauern. Etappenweise kämpfte er sich weiter, bis er wieder einen geeigneten Baum fand, um sich darauf völlig erschöpft niederzulassen. Was auch immer ihn da verfolgt hatte oder zumindest in seine Richtung gelaufen war, würde ihn hier oben hoffentlich nicht entdecken. Er war einfach nicht mehr in der Lage noch länger wegzulaufen.

Das wollte er auch gar nicht mehr.
 

Langsam aber kontinuierlich verfolgte sie ihn und merkte schon bald, dass er Schwierigkeiten hatte, seine Flucht fortzusetzen. Die Verletzung musste ihn doch sehr mitnehmen, denn immer wieder legte er Pausen ein, um sich dann langsamer von ihr zu entfernen als zuvor. Das konnte Amanda nur recht sein.

Irgendwann hielt der Punkt auf dem Display, an dem sie sich immer wieder orientierte, inne und blinkte wie ungeduldig wartend an einer Stelle. Sie würde ihn bald erreicht haben. Vielleicht noch zweihundert Meter.

Amanda wollte sich nichts vormachen. Er konnte sie bestimmt riechen oder sogar schon hören. Immerhin waren seine Sinne diesen Lichtverhältnissen sehr viel besser angepasst als ihre. Deshalb zog sie schon jetzt ihre Waffe und achtete kaum noch darauf, wie viel Lärm sie verursachte, als sie durchs Unterholz auf die Stelle zuging, an der er sich aufhalten musste.

In ihrem Kopf lief ein Leitfaden ab, den sie bereits in der Grundausbildung gelernt und der sie bis jetzt nicht im Stich gelassen hatte. Sie wusste, wie er aussah, wie groß er war und welche Verletzungen sie ausnutzen konnte, um seine überlege Körperkraft, zu kompensieren. Außerdem war er ein Jaguar. Wenn auch ein Schwarzer. Aber das machte im Grunde jetzt keinen Unterschied. Wichtig war, welches Verhalten diese Katzen an den Tag legten und damit, wo genau er auf sie warten würde. In einem Baum, von wo er sie sehen konnte und sich gleichzeitig vermeintlich in Sicherheit befand. Zumindest vor natürlichen Feinden. Davon konnte aber bei Amanda nicht die Rede sein. Sie hatte eine Waffe und sie war selbst für einen Menschen alles andere als 'natürlich'.

Ihre letzten Schritte setzte sie gewählt und vorsichtig, sah sich dabei in den Baumkronen um, durch die sich das Mondlicht nur beschwerlich einen Weg bis auf den Waldboden bahnen konnte.

Der PDA vibrierte in immer kürzer werdenden Abständen in ihrer Tasche wie ein Abstandssensor. Sie kam näher, hatte ihn gleich erreicht und konnte seine Augen bereits auf sich spüren.

Als sie die reflektierenden Punkte auf einem dicken Ast etwa fünf Meter vor sich erkennen konnte, blieb sie stehen. In dieser Dunkelheit hätte sie nie einschätzen können, wie groß er tatsächlich war. Information war wie immer das A und O. Amanda richtete den Lauf ihrer Waffe genau zwischen seine Augen.

„Na, hast du mich vermisst?“
 

So gut er konnte, versuchte er ruhig zu bleiben, als er nun deutlich etwas näherkommen hörte, aber es gelang ihm nicht. Denn was auch immer ihn da die ganze Zeit schon verfolgte, musste ebenso gute Sinne haben wie er. Menschen konnten unmöglich seine Spur bei dieser Finsternis verfolgen, selbst wenn es sich um einen gut ausgebildeten Fährtenleser handelte.

Adrenalin schoss ihm durch die Adern wie Feuer, als er die blonde Frau aus dem Dickicht kommen sah.

Das war unmöglich!

Sie konnte nicht wissen, dass er hier war. Sie war ein Mensch, ein verdammt seltsamer und mit viel Hartnäckigkeit ausgestattet, aber trotz allem wirkte sie auf ihn sehr menschlich. Wie also hatte sie ihn gefunden?

Als sie auch noch eine Waffe auf ihn richtete, war er endgültig ertappt und konnte ein bedrohliches Fauchen nicht unterdrücken.

Schieß doch, aber freiwillig bekommst du mich hier nicht runter!, zischte er wütend und zugleich bekam er Panik. Er saß auf diesem Ast wie auf einem Präsentierteller und war nicht in der Lage einfach hinunterzuspringen, um ihr den Rest zu geben, obwohl sie so nahe war. Trotzdem wollte er auch nicht einfach erschossen werden, jetzt, da er endlich wieder frische Luft atmen konnte. Das war einfach nicht fair!

Aber was verdammt noch mal war auf dieser Welt schon fair?

Da er nicht wirklich glaubte, dass sie sofort auf ihn schießen würde, da sie ja offensichtlich etwas von ihm wollte, tat er das Einzige, das ihm in dieser Lage einfiel. Er kletterte noch weiter den Baum hinauf und versuchte dabei aus der Schusslinie zu kommen.

Egal wie sie ihn hier gefunden hatte, Menschen waren unglaublich schlechte Kletterer, wenn sie nicht irgendwelche Hilfsmittel dazu hatten. Und da er sicherlich nicht runterkommen würde, würde sie ihn entweder umbringen oder zu ihm raufkommen müssen. Letzteres wäre ihr Todesurteil, denn auch wenn er nicht mehr weit laufen konnte, zubeißen und kratzen ging auf alle Fälle noch einwandfrei.
 

„Warum machst du es uns beiden eigentlich so schwer?“

Amanda versuchte ihn im Visier zu behalten, was allerdings ziemlich schwierig war, denn sein schwarzer Körper hob sich von den schwarzen Schatten des Baumes nicht ab. Er kletterte weiter nach oben, damit sie ihn aus den Augen verlor. Aber damit würde er ihr auch nicht entkommen. Das konnte sich bloß zu einem Geduldsspiel auswachsen, wo jeder der beiden darauf wartete, dass der Andere die Deckung fallenließ.

Allerdings fühlte sich Amanda zurecht im Vorteil. Sie war nicht angeschlagen und hatte eine Waffe. Der Panther konnte sie nicht einfach vom Baum anfallen, aber sie konnte durchaus hier auf ihn warten, bis die Sonne aufging und sie wieder freie Sicht hatte, um ihn auf die eine oder andere Art von dort runterzuholen.

„Hey! Panther! Glaubst du wirklich, dass dir das Klettern was nützt? Ich werde nicht einfach verschwinden, nur weil du dich da oben versteckst.“

Ihre Augen suchten verzweifelt die Äste ab, ohne ihn irgendwo zu entdecken.

„Du musst mir doch nur sagen, was du über Eric weißt. Inzwischen hab ich auch kapiert, dass du nicht registriert bist. Schön und gut. Da kann ich ein Auge zudrücken, wenn du mir hilfst.“

Sie hatte wirklich nicht vor ihn zu verpfeifen. Früher oder später würde er sowieso einem anderen Sammler über den Weg laufen und dann sein Tattoo bekommen. Darum brauchte sich Amanda also keine Sorgen zu machen. Warum stellte sich der Kerl bloß so an? Und wie konnte sie ihn nur aus der Reserve locken?

Das Bild des alten Mannes fiel ihr wieder ein und dass er wahrscheinlich eine Verbindung zu diesem Jaguar hier hatte. Es war einen Versuch wert.

„Du kennst William Hunter, oder? Seid ihr verwandt?“
 

Da er wirklich nicht vorhatte, die ganze Nacht hier zu hocken und zu warten, bis es einem von ihnen beiden zu blöd wurde, kletterte er fast lautlos die andere Seite des Baumstammes wieder hinunter.

Wenn schon Wildtiere immer wieder auf diese Jagdmethode hereinfielen, würde ein Mensch wohl erst recht nicht daraufkommen. Weshalb er zuversichtlich war, auch wenn er dazu beide Vorderpfoten voll belasten musste, was ihn sich ziemlich verausgaben ließ.

Kurz bevor er den letzten Ast unbemerkt erreicht hatte, horchte er auf.

„William Hunter“, hörte er sie sagen und ließ ihn damit vollkommen in der Bewegung verharren.

Seine Gedanken überschlugen sich regelrecht in seinem Kopf, denn diesen Namen kannte er.

Bilder wollten sich ihm aufdrängen. Da war ein anderer Gestaltwandler, der ... für gewöhnlich mit den Raben flog. Er hatte eine Botschaft für ihn von … von William Hunter ... seinem …

Die Muskeln seiner verletzten Pfote ließen nach und er verlor den Halt. Zwar schaffte er es irgendwie noch, nicht mit dem Rücken aufzuschlagen, trotzdem landete er lautstark und hart im Dickicht.

Benommen blieb er einen Moment liegen, während das Klingeln in seinen Ohren nachließ.

Gestaltwandler … Gestaltwandler? Was zum Teufel hatte das alles zu bedeuten?

Doch bevor er noch darüber nachdenken konnte, wurde er sich wieder der Gefahr bewusst, in der er nun schwebte. Also kam er wieder auf die Pfoten, sprang aus dem Gebüsch und stellte sich seiner Widersacherin. Sollte sie doch versuchen, ihn zu erschießen. Er würde sie auf alle Fälle mit in den Tod reißen. Seine Geduld war längst am Ende, als er bedrohlich knurrend auf sie zukam und sie keinen Moment lang aus den Augen ließ.

Seine Klauen gruben sich tief in die Erde, um sich für den Sprung bereitzumachen. Schluss mit den Spielchen, jetzt würde es hart auf hart kommen. Ein gezielter Biss in ihre Schädelbasis würde genügen und sie wäre tot. Falls er sie dort nicht erwischte, konnte er ihr auch das Genick durchbeißen. Stark genug waren seine Kiefer dafür. Es wäre also besser für sie, sie würde schießen, bevor er ihr zuvorkommen konnte.

Seine Hinterläufe spannten sich an, als er sich kurz vor dem Sprung befand.
 

Sie wäre wirklich auf ihn hereingefallen.

Wut brannte sich von ihrem Magen bis in ihren Kopf hinauf, als sie den Körper des Panthers hinter dem Baum aufschlagen hörte. Er hatte sie verarscht und wäre ihr ein Stück weit entkommen, wenn sie weiter so unaufmerksam gewesen wäre.

Reflexartig steckte sie die Waffe in das Schulterhalfter und schätzte die Entfernung bis hinter den Baum ab, wo er gelandet sein musste. Es würde ein Zufallsgang werden und sie umbringen, wenn sie sich verschätzte, aber wenn sie Glück im Unglück hatte, konnte sie ihn wenigstens mitnehmen.

Als sie bereits die Augen schließen wollte, kam er hinter dem Baum aus dem Dickicht hervor. Sein Gewicht grub seine Tatzen ein Stück in den weichen Waldboden und seine Krallen blitzten im Mondlicht auf. Amanda hatte die Waffe nicht mehr in der Hand, was Panik in ihr aufsteigen ließ. Wenn sie jetzt danach griff, wäre sie viel zu langsam, um seinem Angriff zu entkommen. Warum hatte sie so falsch reagiert?

Blieb also nur eine Möglichkeit. Dafür musste er aber noch ein Stück in den Schatten gehen. Bloß noch einen Schritt.

Mit ihrem Verstand versuchte sie ihn weiterzutreiben, indem sich ihre Augen in seine bohrten und sie sich von seinen weißen Reißzähnen kaum beeindrucken ließ.

Sollte der Schlagschatten des Baumes einen Teil seiner sehnigen Körpers treffen, war das alles, was Amanda brauchte. Er würde sie anspringen, wenn sie sich nicht sofort entschied. Der Schatten, der seine Flanke streichelte, war genug – musste genug sein.

Wie weit? Drei Meter.

Ihre Augen fixierten kurz die des Panthers, bevor sie sich fallenließ und keinen Sekundenbruchteil später neben ihm wieder auftauchte, die Hand auf seine Flanke gelegt. Ihre Finger hatten keine Form, sondern waren immer noch vom Schatten zerrissen, als Amanda sie durch sein Fell und bis auf seine Haut gleiten ließ. Die Elemente ihrer Hand – Knochen, Haut, Sehnen, Muskeln und vor allem der alles umhüllende und zerreißende Schatten schnitten sich durch jedes kleinste Teilchen seines Körpers.

Der Schmerz sollte ausreichen, um ihm klarzumachen, dass er sie nicht einfach mit einem Sprung und einem geübten Biss töten konnte. Trotzdem versuchte sie nicht zu tief zu greifen und weder Knochen noch Organe zu verletzen, sondern zog ihre vor Schmerz pochende Hand zurück und rettete sich ins Mondlicht, wo sich ihre Finger wieder vollständig zusammensetzten und langsam wieder Farbe bekamen, während sich Amandas Augen schwarz färbten, wie der Nachthimmel über ihnen.

Angestrengt sog sie die Luft ein und griff nun doch nach ihrer Waffe, die sie zittern wieder auf ihn richtete. Die Schatten ließen bereits wieder von ihr ab, es war ein einfacher Gang gewesen. Hoffentlich trotzdem beeindruckend.

„Rede endlich“, brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
 

Das, was als Nächstes passierte, ging so schnell, dass sein Geist nicht mitkam. Erst war die Blondine plötzlich verschwunden, als wäre sie nie da gewesen und dann spürte er sie auch schon ganz deutlich an seiner Flanke. Doch bevor er sich herumdrehen und nach ihrer Hand schnappen konnte, oder besser gesagt, nach dem, was ihn da berührte, überkam ihn ein Schmerz, der so intensiv und zugleich irgendwie so vertraut war, dass er sich nicht rühren konnte.

Es fühlte sich an wie … wie …

Der Schmerz ließ nach, doch er war nicht fähig sich zu bewegen. Stattdessen riss er ungläubig die Augen auf, als sein ganzer Körper heftig zu beben begann.

Es fühlte sich an wie … seine Wandlung …

Sein Schädel schien zu explodieren als haufenweise Erinnerungsfetzen auf ihn einhämmerten, bis er glaubte, wahnsinnig zu werden. Doch, noch ehe er es verhindern konnte, führte sein Körper diesen Sinnesreiz fort, dem ihn diese verdammte Frau verpasst hatte.

Er wandelte sich.

5. Kapitel

Es fühlte sich an, als würde jeder einzelne seiner Knochen in tausende Teile brechen.

Seine Haut schien zu zerreißen. Sein Abdomen zog sich zusammen, dehnte sich aus, veränderte sich, ehe er wieder vollkommen neu zusammengesetzt wurde.

Nataniel hockte nackt und am ganzen Körper zitternd auf dem weichen Waldboden. Der Kopf lag auf seiner heftig hebenden und senkenden Brust, während er den Schock zu überwinden versuchte.

Normalerweise war eine Wandlung für ihn so einfach wie Atmen. Doch er war schon zu lange in Tiergestalt und dazu noch vollkommen verwirrt gewesen, so dass sein Körper sich von alleine richtig hatte zusammensetzen müssen. Was wesentlich länger dauerte, als wenn sein Geist auch noch die richtigen Anweisungen gab.

Aber genau das war es, was ihn so richtig wütend machte. Nataniel wandelte sich, wann ER es wollte und nicht, wenn andere es von ihm verlangten!

Mit einer geschmeidigen Bewegung richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und drehte sich dabei zugleich zu der blonden Frau herum. Seine schwarzen Haare hingen ihm so tief ins Gesicht, dass sie seine wütenden Augen vermutlich nicht sehen konnte, doch das leise Grollen in seinem Brustkorb konnte ihr nicht entgehen. Genauso wenig wie die gespreizten Finger mit den Krallen daran, die er auch als Mensch zur Verfügung hatte, wenn ihm danach war. Und ihm war im Augenblick verdammt danach.

Noch immer ging sein Atem schnell. Doch dieses Mal nicht, weil er sich verausgabt hatte, sondern sich kaum noch zurückhalten konnte. Nataniel hatte Glück, dass es ihm in menschlicher Gestalt etwas leichter fiel, das Tier im Käfig zu halten, dennoch stand er gerade auf Messersschneide.

„Wenn du mich noch einmal ohne meine Erlaubnis anfasst, dann zieh ich dir persönlich das Fleisch von den Rippen!“ Seine Stimme war rau, da er sie so lange nicht mehr benutzt hatte, ansonsten klang sie dem tiefen Knurren seiner Tiergestalt sehr ähnlich und keinesfalls weniger bedrohlich.
 

Wenigstens gab ihr seine Wandlung Zeit sich zu sammeln.

Amandas Hand war wieder in Ordnung und der Schatten fiel völlig von ihr ab, während sie zuerst das Tier anstarrte, das sich auf ziemlich groteske Weise zu verformen begann, nur um dann als Mensch daraus hervorzugehen.

Ein Mensch von beachtlicher Statur, wie Amanda neidlos zugestand.

Seine Augen konnte sie unter den dunklen Haaren und im Dämmerlicht nicht sehen, aber trotzdem wusste sie, dass sie genauso eisblau waren wie die seiner Tiergestalt. Seine Krallen beeindruckten sie weniger als seine Stimme. Sie glich einem tiefen Grollen, das ihr Inneres bestimmt zum Schwingen hätte bringen können, wäre er ihr näher gewesen und hätten seine Worte einen anderen Inhalt als diese kalte Drohung gehabt.

Aber Amanda zeigte ihre leichte Furcht nicht. Und in seinem menschlichen Körper konnte er sie auch nicht mehr so deutlich riechen, wie es ihm sonst möglich gewesen wäre.

„Schön, dass du endlich mit mir sprichst.“ Der kalte Glanz ihrer Waffe hüpfte nicht mehr hin und her, da sie den Revolver inzwischen völlig ruhig auf seinen Kopf gerichtet hatte. Den Schritt zurück machte sie nur, um sich aus der Entfernung ein besseres Bild von ihm machen zu können, ohne das Ziel ihres Waffenlaufs aus den Augen zu verlieren.

Amanda hatte das Aussehen der Wandler schon immer bewundert. Ihre Haut spannte sich in den meisten Fällen nur über gut ausgebildete Muskeln. Zumindest wenn der Wandler noch jung war und seine Tiergestalt nicht verkommen ließ, in der er sich viel leichter trainieren konnte, als es ihm als Mensch möglich gewesen wäre.

Sie riss sich von seinem Anblick los, als ihr Blick unter seine Gürtellinie zu schweifen drohte, und konzentrierte sich wieder darauf, warum sie hier war.

„Wie ich dir schon tausendmal gesagt habe, will ich nur wissen, was mit Eric passiert ist. Sobald ich das weiß, bin ich verschwunden.“

Abwartend spannte sie ihre Muskeln an und suchte den nächstgelegenen Schatten, in den sie verschwinden konnte, falls sich der Kerl doch noch einfallen ließ, direkt auf sie loszugehen und die Kugel aus ihrer Waffe zu überleben.

Amanda musste schwer schlucken bei dem Gedanken, dass es auf den Tod von einem von ihnen hinauslaufen musste, wenn er sie wirklich angreifen sollte. Sie hatte noch nie einen von ihnen getötet …
 

Nachdem sie einen Schritt zurückgewichen war, aber dennoch die Waffe auf ihn richtete, wandte er den Blick von ihr ab und sah sich stattdessen genauer in der Gegend um. Seine Sinne mochten in dieser Form vielleicht nicht mehr so gut sein wie die der Raubkatze, aber dennoch besser als die ihren. Weshalb er noch deutlich alles um sich herum erkennen konnte.

Nataniel wusste, die Drohung war bei ihr angekommen, was sie jedoch nicht wissen konnte, war die Tatsache, dass sie ihm im Augenblick relativ gleichgültig war. Zumindest bis zu dem Punkt, an dem ihm wieder ihre Worte einfielen. Sie war also von der Organisation?

Kurz streifte er ihren Blick, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder seiner Umgebung widmete. Die Frau konnte froh sein, dass er sie nicht auf der Stelle fertigmachte, da er im Moment andere Probleme hatte. Wenn er sich recht erinnerte, standen sie hier gerade mitten in einem besetzten Revier und wer wusste schon, wie lange sie noch unbemerkt blieben.

Bevor er angefahren worden war, hatte er sich schlaugemacht. Die Stadt war sozusagen neutrales Gebiet, in dem jeder Gestaltwandler vorübergehend bleiben durfte, wenn er sich ruhig verhielt. Doch ein Großteil des Nationalparks gehörte den Raubkatzen und jeder, der nicht zu dieser Gattung gehörte oder sich nicht beim Alphatier angemeldet hatte, bekam verdammt großen Ärger, wenn er in diesem Gebiet erwischt wurde. Gestaltwandler fackelten bei Ihresgleichen für gewöhnlich nicht lange und bei diesem neuen Oberhaupt wohl erst recht nicht.

Sein Vater … er war also tot. Seltsam, dass es Nataniel berührte, obwohl er ihn nie persönlich gekannt hatte. Genauso wenig wie seine Mutter.

Er war bei einer Pflegefamilie aufgewachsen, die sich in Berglöwen verwandelten. Sie waren seine wahre Familie, die er über alles liebte und für die er ohne zu zögern sterben würde.

So gut er konnte, hatte Nataniel auf ihrer riesigen Rinderfarm geholfen und war nachts in den Wäldern herumgestreunt. Es waren gute sorglose Zeiten gewesen, bis dieser verdammte Rabe bei ihm aufgetaucht war und sich mit einem Mal alles verändert hatte.

Was ihn wieder auf diese Frau und die Organisation zurückbrachte, der sie angehörte. Diese verdammten Leute, die durch die Registrierung Schuld an so einigen Gestaltwandlerproblemen trugen. Es hatte auch schon viele Tote gegeben.

Nur mit Mühe verbiss Nataniel sich eine harsche Antwort auf die Worte der Blondine. Stattdessen zog er seine Krallen ein und nahm eine für ihn relativ entspannte Haltung an. Dennoch blieb er jederzeit auf einen Angriff vorbereitet.

„Hör zu. Ich weiß nichts von einem Eric oder einer Organisation. Ich bin selbst gerade erst hier angekommen, bevor man mich angefahren hat.“

Nataniel verschwieg absichtlich, dass er an Amnesie gelitten hatte, da er ihr diese Schwäche nicht eingestehen wollte. Ein Jäger wie er zeigte keine Schwächen.

„Aber wenn du dich noch weiter mit mir unterhalten willst, dann würde ich dafür eine etwas sicherere Umgebung vorziehen.“ Seine Worte waren kalt und schneidend und immer mit diesem speziellen Unterton, als würde er fast fauchen.

Sie hatte bestimmt keine Ahnung, dass es hier bald vor Raubkatzen nur so wimmeln könnte, wenn sie noch länger hier stehen blieben und er hatte wirklich nicht die Kraft und den Elan dazu, sich mit mehr als nur einer anzulegen. Dazu war er noch nicht bereit.
 

Er sah sie noch nicht einmal an.

Stellte sie nach ihrem Angriff wirklich eine so geringe Bedrohung für ihn dar, dass er sich mehr auf die Umgebung um sie herum konzentrieren wollte, als auf sie? Am liebsten hätte Amanda ihm ihre Finger noch einmal durch die Seite gejagt.

Erst als er ihr vorschlug, sich an einen anderen Ort zurückzuziehen und die Krallen einfuhr, brodelte Amandas Misstrauen auf. Sie stellte durchaus eine Gefahr dar, aber anscheinend nicht die größte Gefahr, die hier auf ihn lauerte. Was bedeutete, dass sie sich beide aus dem Staub machen sollten.

„Okay. Wohin?“

Im Gegensatz zu ihm zeigte Amanda keinerlei Wut nach außen. Ihre Sinne waren zu sehr gereizt, um etwaige Geräusche oder Bewegungen um sie herum zu erfassen, als dass sie sich einen Ausbruch hätte leisten können. Ihr Wagen stand immer noch auf der Lichtung, aber die war ein ganzes Stück entfernt von ihrer Position und vielleicht gab es eine nähere Zuflucht, die Amanda nur nicht kannte. Wie gern hätte sie ihren PDA aus der Tasche geholt, aber dann hätte sie ihre Augen von ihm abwenden müssen und sie traute ihm immer noch keinen Schritt über den Weg, auch wenn er jetzt mit ihr redete.

Zu allem Überfluss würde er sich bestimmt zurückverwandeln wollen, um von hier wegzukommen. Als Tier war er schneller, als in seiner menschlichen Gestalt, selbst wenn er nur drei Beine zur vollen Verfügung hatte. Das war besser als nur zwei.

Amandas hellblaue Augen streiften die winzige Wanze, die immer noch an seinem Hals klebte, nur wenige Millimeter über seinem Adamsapfel. Er würde ihr weder als Katze noch als Mensch noch einmal entkommen.
 

Egal wohin, hätte er beinahe gesagt, solange sie hier aus dem Wald heraus waren. Doch er rief sich noch einmal zur Ordnung und dachte nach. In seinem Kopf schwirrten so viele verschiedene Gedanken herum, dass er Mühe hatte, klar zu denken. Es half ihm etwas, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Alles andere konnte er im Augenblick auch auf später verschieben.

„In die Stadt“, meinte er schließlich und sah sie dabei wieder an.

„Du bist mit dem Auto hier.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Wir sollten also fahren.“

Zwar gab er es ungern zu, aber es war im Augenblick unmöglich für ihn, schnell genug aus dem Naturschutzgebiet hinaus und in die Stadt zu kommen. Seine lahme Pfote war eine verdammte Behinderung, die er als Mensch besser ausgleichen konnte, da er seine Hand nicht unbedingt benutzen musste.

„Ich bring dich hin.“ Mit diesen Worten drehte er ihr den Rücken zu, machte einen Satz nach vorne, und noch ehe er auf dem Boden aufkam, war er bereits wieder eine Raubkatze.

Wie viel schneller seine Wandlung ging, wenn er sich darauf wirklich konzentrierte, hatte man so eben sehen können. Dabei half auch noch, dass er unbedingt hier weg wollte. Immerhin wollte er nicht gut verdaut auf einem Leopardenschippchen enden.

Nataniel warf einen Blick nach hinten zu der Blondine und schnaubte ungeduldig. Danach machte er sich dank ihrer Fährte auf den Weg zurück zu ihrem Transportmittel.

Die Strecke war weit und zerrte ganz schön an seinen Kräften, doch er wurde nicht langsamer, achtete dabei aber darauf, dass sie ihm folgen konnte. Tot würde die Frau ihm nicht mehr viel nützen, deshalb wollte er sie zumindest für dieses Mal heil hier heraus wissen.

Schließlich kam er wieder auf der Lichtung an, auf der ihn Teresa abgesetzt hatte. Ein schlammgrüner Dodge stand dort, mit einem Kennzeichen, das nicht zu dieser Region gehörte. Ganz klar. Das war ihr Wagen. Neben der Beifahrertür verwandelte er sich wieder zurück.

„Hast du in der Stadt ein Zimmer, wo wir uns ungestört unterhalten können?“

Er selbst hatte sich bei seiner Ankunft gegen eine Bleibe entschieden. Kein Mensch sollte wissen, dass er hier war, weshalb er im Freien auf einem Baum geschlafen und sich seine Mahlzeit auch meistens selbst gefangen hatte.

Wohin das geführt hatte, spürte er noch zu deutlich. Sein Gesicht sah bestimmt nicht mehr sehr einladend aus, wenn er so an diese Verletzung dachte. Aber selbst jetzt war ihm das vollkommen egal. Hauptsache sie kamen endlich hier weg.
 

Als sie beim Dodge ankamen, war Amanda leicht außer Atem. Es war etwas Anderes, ihm zu folgen, wenn er nicht genau wusste, dass sie hinter ihm her war. Das hier war ein Langstreckensprint gewesen.

Neid sprühte für eine Sekunde aus ihren Augen, als sie ihn völlig frisch und ohne die geringsten Zeichen von Erschöpfung neben ihrem Wagen stehen saß. Verärgert biss sie die Zähne zusammen und versuchte ihre schwere Atmung so gut es ging zu verbergen, als sie um den Dodge herum ging und die Fahrertür aufschloss. Im Inneren lehnte sie sich zur Beifahrertür hinüber und zog den Knopf der Verriegelung nach oben.

Mit gezogener Waffe stieg sie wieder aus und kam um die Vorderseite des Autos herum erneut auf ihn zu. Sie betrachtete ihn kurz von oben bis unten und winkte dann mit ihrem Revolver zur Fahrerseite.

„Du fährst.“ Mit einem leisen Klimpern warf sie ihm die Schlüssel zu und wartete, dass er sich in Bewegung setzte. Wäre sie selbst gefahren, hätte sie ihn auf dem holprigen Weg mit der Waffe nicht in Schach halten können. Das Risiko war viel zu groß, dass er sie während der Fahrt anfiel und sie in Stücke riss, bevor sie überhaupt aus dem Wald heraus waren.

Bevor sie sich neben ihm auf den Beifahrersitz gleiten ließ, fischte sie auf der Ladefläche nach einer Decke, die sie ihm gegen die Brust warf.

„Wirf dir das wenigstens über.“

Es würde schon reichen, wenn sie aus den Wäldern mit einem Kerl zurückkam, um die Dorfbewohner in Aufruhr zu versetzen, falls es jemand mitbekommen sollte. Ganz zu schweigen, wenn der Kerl auch noch völlig nackt über den Parkplatz von Mrs. Cauleys B&B lief.

„Das Bed & Breakfast auf der Hauptstraße.“
 

Als sie ihm sagte, er solle fahren, hätte er ihr beinahe an den Kopf geknallt, dass er noch nicht einmal einen Führerschein hatte. Da Nataniel aber trotzdem ein Auto fahren konnte und keine Lust hatte, jetzt mit ihr zu diskutieren, nahm er sogar die Decke und wickelte sie sich um die Hüften, ehe er auf der Fahrerseite einstieg, mühsam seine langen Beine irgendwie ordnete, bis er den Hebel fand, mit dem er den Sitz ein gutes Stück zurückschieben konnte. Danach startete er den Motor und fuhr ohne Probleme los.

Da seine letzte Fahrt mit einem Auto schon eine Weile her war und er immer etwas Zeit brauchte, bis er sich an die schwächeren Sinne als Mensch gewöhnte, musste er sich stark aufs Fahren konzentrieren. Er hatte also weder die Zeit zum Nachdenken, noch um sich Gedanken wegen dieser Frau und dem Revolver in ihrer Hand zu machen, der dort wohl angewachsen war.
 

Als er den Motor schließlich abstellte und Amanda die Waffe unter ihre Jacke steckte, um auszusteigen, warf sie einen prüfenden Blick in die Runde.

Es war niemand zu sehen. Ein Vorteil, wenn hier schon um fünf die Gehsteige hochgeklappt wurden. Und trotzdem konnte es neugierige Augen hinter Fenstern und Gardinen geben, die der Besucherin und ihrem Begleiter folgten, der nur in eine Decke gehüllt in das dunkle Vorzimmer trat.

Amanda schob den Felidae mit der Waffe vor sich her in den ersten Stock und dann in ihr Zimmer, wo sie die Jacke auszog und die Tür hinter sich schloss.

Konzentriert und mit Erwartung im Blick sah sie dem Gestaltwandler in die Augen.
 

Da er bereits wusste, dass um diese Uhrzeit bestimmt niemand mehr auf den Straßen war, parkte er den Wagen auf dem Besucherparkplatz des B&Bs und stieg aus. Nataniel hasste es im Grunde, Auto zu fahren, weil er sich dabei wieder wie in einem Käfig vorkam.

Was war schon eine Autofahrt gegen das Gefühl als Raubkatze durch die Wälder zu laufen? Einfach lächerlich. Aber gut, er hatte es schweigend über sich ergehen lassen.

Wenn sie ihm allerdings noch länger die Mündung des Revolvers in den Rücken bohrte, täte sie gut daran, einfach abzudrücken, anstatt es auf seine Geduld ankommen zu lassen.

Ein Grund mehr, wieso er froh war, endlich in ihrem Zimmer zu sein, denn anstatt ihr Platz zu machen, als sich die Tür hinter ihr schloss, drehte er sich einfach um, so dass er dicht vor ihr stand und ihre Waffe auf seinen nackten Brustkorb zeigte.

„Damit eines einmal klar ist. Wenn du vorhast, dieses Ding auch wirklich zu benutzen, dann tu es bald oder lass es ganz bleiben“, warnte er sie, ehe er von ihr abrückte, um sich das Zimmer genauer anzusehen. Es war relativ klein und fade eingerichtet. Aber wer lange Zeit im Wald gelebt hatte, würde ihm da sicherlich zustimmen können.

Seinem Instinkt folgend, ging er das Zimmer auf und ab, berührte hier einen Gegenstand, sah sich dort etwas an, öffnete das Fenster einen Moment, um sich ein besseres Bild seiner Lage machen zu können, ehe er es wieder schloss und die Vorhänge vorzog. Dabei sah er die Blondine keinen Moment lang an, auch wenn all seine restlichen Sinne ganz alleine auf ihr ruhten.

Schließlich öffnete er den Kleiderschrank, aber nicht um sich ihre Sachen anzusehen, sondern damit er den Kleiderspiegel benutzen konnte.

Konzentriert legte er seinen Kopf etwas zur Seite und schob sich mit seiner gesunden Hand die Stirnfransen aus dem Gesicht, damit er es besser sehen konnte.

Der Schnitt hatte ihm seiner rechten Augenbraue durchtrennt, zog sich in einer feinen roten Linie über sein Augenlid bis zu einem Stück auf seine Wange, das wieder tiefer verlief. Er konnte wirklich von Glück reden, dass sein Auge dabei heilgeblieben war.

Verdammte Autofahrer!

Nataniel hatte auch ein paar Schrammen auf seiner Stirn, aber Nichts was einen bleibenden Eindruck hinterlassen würde. Ganz im Gegensatz zu seinem Arm. Der Schnitt zog sich an der Außenseite seines Handgelenks bis fast zu seiner Schulter hoch.

Mit einem Schulterzucken schloss er wieder die Tür. Auf zwei Narben mehr oder weniger kam es nun auch nicht mehr an. Er hatte schon so viele am ganzen Körper, dass es ihm egal war. Nur schade, dass diese hier von keinem Kampf oder anderen aufregenden oder besser gesagt, anregenden Dingen kamen, sondern von seiner eigenen Dummheit. Aber das musste ja nicht jeder wissen.

„Was genau ist diese Organisation, von der du die ganze Zeit gesprochen hast?“, fragte er schließlich mit ruhiger, tiefer Stimme, da seine Wut für den Moment halbwegs verraucht war und seine Neugierde hervorkam. Weshalb er sich auch auf das Bett setzte, einen Moment lang auf und ab wippte, um die Federung zu prüfen und sich dann mit ausgestreckten Armen zurückfallen ließ.

Wahnsinn! Er hatte ganz vergessen, wie es war, auf einer Matratze zu schlafen.

Etwas das er am Menschsein sehr mochte, waren mittelweiche, gut duftende und angemessen große Betten. Alle Kriterien trafen auf dieses Bett mehr als nur zu.
 

Mit geübter Geste steckte Amanda die Waffe in das Schulterhalfter und ließ ihre Hand unauffällig zum runden Türknauf gleiten, in dessen Mitte sie den Schlüssel leise drehte und damit den nächstgelegenen Fluchtweg verriegelte.

Natürlich gab es andere Möglichkeiten, wie sich ihr ungewöhnlicher Besucher aus dem Zimmer befreien konnte, aber da er im Moment seine menschliche Form angenommen hatte, würde er wohl auch zuerst wie ein Mensch reagieren.

„Keine Sorge, ich brauche das Spielzeug nicht.“ Das hatte sie ihm im Wald hoffentlich nachdrücklich klar gemacht, auch wenn er überhaupt nicht auf ihren Angriff reagiert hatte. Lediglich seine Rückverwandlung war auf die Berührung des Schattens gefolgt, aber das war es ja auch, was Amanda im Grunde hatte bezwecken wollen.

Sein Rundgang durch ihr Zimmer ließ ihn nicht nur offensiv, sondern schließlich auch unglaublich egozentrisch erscheinen, als er sich in ihrem Schrankspiegel betrachtete.

Nicht nur in der spiegelnden Fläche konnte Amanda nun das erste Mal seine menschlichen Augen richtig sehen. Eigentlich passten diese gleißend hellen Augen nicht zu seiner tiefen, grollenden Stimme, verliehen ihm aber einen jugendlicheren Eindruck.

Amanda schätzte ihn auf Anfang dreißig, wobei sein Verhalten eher darauf hinwies, dass er in seiner Entwicklung im Alter von sechzehn stehengeblieben war. Was sollte denn das Wippen auf ihrem Bett?

„Machs dir nur bequem. Möchtest du, dass ich uns Milch und Kekse kommen lasse und dir ein wenig den Nacken kraule, oder fühlst du dich wohl?“

Der sarkastische Unterton war nicht zu verkennen, selbst wenn er den giftigen Blick aus ihren hellen Augen sicher nicht bemerkt hatte.

Geschmeidig ließ sie sich in dem Sessel am Fenster nieder und starrte auf seinen immer noch halbnackten Körper, der vom Mondlicht durch einen Spalt in den Vorhängen sanft beleuchtet wurde. Seine Haut war von Narben übersät, aber erstaunlicher Weise wesentlich weniger behaart, als Amanda in einer logischen Schlussfolgerung angenommen hatte.

Bloß weil er mehr als die Hälfte seines Lebens einen Pelz trug, hieß das wohl nicht, dass er es auch in seiner menschlichen Gestalt hat. Schade. Denn wenn er sich noch anschmiegsamer in ihrem Bett räkelte, würde sie ihm nur zu gern das Fell über die Ohren ziehen und das nicht nur im übertragenen Sinne.

Es kostete viel Überwindung, einen weiteren gehässigen Kommentar hinunterzuschlucken. Wahrscheinlich hätte ihn das bloß dazu angestachelt, sich noch wohliger in ihre Kissen zu legen, nur um sie wahnsinnig zu machen.

„Du willst mir also wirklich weismachen, dass du noch nie von der Moonleague und uns Sammlern gehört hast? Genauso wenig, wie du Eric kennst, der Mitglied eben dieser Organisation ist und vor einer Woche in den Wäldern, in denen wir uns gerade so nett getroffen haben, verschwand.“
 

Wie Nackenkraulen bei ihr aussah, konnte er sich leibhaftig vorstellen.

Nein danke. Darauf konnte er verzichten, aber Milch und Kekse klang wirklich verlockend. Alleine um sie zu ärgern, hätte er darauf etwas sagen sollen, aber er war erwachsen. Weshalb er sich nicht darauf einließ, sondern sie lediglich kühl ansah. Sie konnte vielleicht die kleinen Freuden des Lebens nicht verstehen, er dafür umso mehr.

Ein Grund mehr, wieso er sich eines der weichen Kissen schnappte und sein Gesicht hineindrückte. Sollte sie ihn ruhig für bescheuert halten. Es konnte nur gut sein, wenn sie ihn unterschätzte. Nataniel hingegen sog tief die Luft ein. Ja, das roch ganz und gar nach ihr und leider musste er sich eingestehen, dass sie weitaus besser roch, als gut für sie war. Kaum zu glauben, dass der Geruch zu dieser knallharten Frau gehörte, denn nichts anderes dachte er von ihr. Ein Eisblock mit einer Waffe und einem finsteren Geheimnis.

Erst als sie mit ihren Worten fertig war, legte er das Kissen wieder beiseite und starrte an die Decke. Nataniel wusste tatsächlich nicht viel über die Organisation, nur dass er durchaus seine Gründe hatte, sie zu hassen. Die Registrierung, der er zum Glück bisher immer entkommen war, hatte schon einige seiner Freunde in Schwierigkeiten gebracht. Letztendlich war es eine Form der Kontrolle, die einfach nicht akzeptabel sein konnte. Immerhin versuchten die Gestaltwandler seit Anbeginn ihrer Existenz, geheim und unter dem Menschen unerkannt zu bleiben.

Umso mehr Informationen man über sie zusammensuchte, umso größer die Gefahr, entdeckt zu werden. Blondie konnte das vielleicht nicht verstehen, er hingegen nahm die Situation bitterernst.

„Ich will dir gar nichts weismachen. Entweder du glaubst mir, oder du glaubst mir nicht. Kann mir im Grunde egal sein. Woher willst du eigentlich wissen, dass er in diesen Wäldern verschwunden ist? Warst du dabei?“, fragte er leise, wusste aber sehr genau, dass es garantiert so passiert sein musste.

Vermutlich war dieser Eric bereits tot. Genauso wie viele andere, die das Pech hatten, dem neuen Alphatier in die Quere zu kommen. Nataniel fragte sich nicht zum ersten Mal, wer der Kerl war und wo er sich versteckte.

Der Rabe hatte ihm nur berichtet, dass sein Vater in Schwierigkeiten steckte und seinen Sohn zurück in sein Revier rief, um schon bald seine Nachfolge anzutreten, da er bis dahin vermutlich schon tot sein würde.

Das war wirklich nicht die erste und einzige Nachricht, die man von seinem leiblichen Vater nach so vielen Jahren der Abwesenheit hören wollte. Gut, dass seine Pflegefamilie ihn so liebevoll aufgezogen hatte und er sie wie echte Eltern liebte. Das hatte den Schmerz etwas gemildert und die Wut nicht zu sehr überhandnehmen lassen, als er seine wahre Bestimmung erfahren hatte.

Nataniel drehte sich auf den Bauch, schob sich ein Kissen unter das Kinn und sah Blondchen aus wachsamen Augen her an.

Er gab sich viel lockerer, als er sich im Augenblick fühlte und wenn er nicht wüsste, dass er innerhalb eines Augenblicks auf den Beinen sein könnte, würde er es sich nicht so bequem machen. Vor allem nicht in Gegenwart einer Sammlerin.

„Also, damit das klar ist. Ich bin hier, um mich über die Gestaltwandler in dieser Gegend zu erkundigen. Ich habe keine Ahnung, was hier los ist, wer du bist und mit Sicherheit habe ich nicht eingeplant, hier Wurzeln zu schlagen. Außerdem habe ich nicht vor, irgendeiner Organisation beizutreten, die mit Garantie so hartnäckig an meinem Arsch kleben bleiben wird, wie du es bisher getan hast.“

Unter anderen Umständen hätte er sich dabei sogar geschmeichelt gefühlt, aber in dieser Situation war es nur lästig, von jemandem verfolgt zu werden, der zum Feind gehörte. Allerdings würde er wohl in Zukunft eine Weile an ihrem Arsch klebenbleiben müssen, um mehr über die Moonleague herauszufinden. Wie oft würde er denn noch die Gelegenheit dazubekommen?

Nataniel stand vom Bett auf und hielt die Decke auf seiner Hüfte fest, die abzurutschen drohte. Danach ging er neben Blondchen ans Fenster, zog den Vorhang etwas zur Seite und sah hinaus. Alles war ruhig auf der Straße, doch irgendwo dort draußen war der Mörder seines Vaters und er würde ihn finden müssen, sobald er wieder fit genug für einen Kampf war.
 

„Das tut nichts zur Sache. Ich weiß, dass er hier verschwunden ist und ich werde ihn finden, selbst wenn ich jeden Baum in diesem Wald schütteln muss und aus jeder Baumkrone ein Wandler fällt.“

Aus ihren braunen Augen sprühte mehr Feuer, als sie beabsichtigt hatte, aber als sie an Eric dachte und was inzwischen alles mit ihm passiert sein könnte, war es mit ihrer Beherrschung fast vorbei.

Dieser Felidae hatte vielleicht Nerven sich derart auf ihrem Bett zu räkeln. Eigentlich hätte es ihr egal sein können. Sie konnte den Bezug einfach auf den Boden werfen, wenn sie sich schlafen legte, aber dennoch wäre sie am liebsten auf ihn losgegangen, als er sein Gesicht in ihrem Kissen vergrub und daran roch. Wandler konnten verdammt viel mit ihren Sinnen aufnehmen und Amanda fühlte sich durch seine Art mehr oder weniger durchleuchtet.

Ihre Finger mit den kurz geschnittenen Nägeln gruben sich in die Lehne des Sessels, und wenn sie noch mehr Aggressionen hinunterschlucken musste, würde sie in dieser Nacht auf jeden Fall noch explodieren, und zwar in einer Weise, die diesem Kater nicht gefallen dürfte.

„Dass du der Organisation nicht beitreten willst, ist mir klar. Dass du keine Wahl hast, steht aber auch außer Frage. Aber ich bin nicht hier, um dich zu registrieren.“

Vielleicht konnten sie sich gegenseitig helfen. Wenn er die Wahrheit sagte und auf der Suche nach den Gestaltwandlern der Gegend war, musste sie ihm eigentlich nur folgen, um Eric näher zu kommen. Vielleicht gab es in der Gruppe mehr Wandler der Sorte Dorfkoch, die sich allein von ein bisschen Metall erschrecken ließen, ohne dass Amanda ihre Fähigkeiten gebrauchen musste.

Als der Kerl sich schließlich doch bequemte, von ihrem Bett aufzustehen und auf sie zukam, spannte sich ihr Körper automatisch an. Amanda hätte sich nicht einmal großartig konzentrieren müssen, immerhin war das gesamte Zimmer in Schatten der unterschiedlichsten Dichte getaucht. Aber entgegen ihrer Vermutung blieb er friedlich und hielt nur den Vorhang zur Seite, um aus dem Fenster zu sehen.

„Ich werde auch noch länger an deinem Arsch kleben.“ Eine künstlerische Pause legte sich zwischen ihre Körper wie eine leichte Staubschicht, bevor sie weitersprach. „Außer, du nimmst mich freiwillig mit auf deine Suche.“

Den beißenden Blick aus seinen funkelnden Augen hatte sie erwartet und zuckte daher nicht einmal mit der Wimper, als er sie traf.

„Deine Wahl. Aber du wirst mich nicht so einfach loswerden.“ Das charmante Lächeln kam von Herzen, auch wenn es weniger freundlich als gehässig gemeint war.
 

Sie ließ so klar bei ihren Worten durchblicken, dass er sich früher oder später würde registrieren lassen müssen, so dass ihm fast ein Knurren entkommen war, welches er gerade noch so hinunterschlucken konnte. Wenn diese Frau auch nur wagen sollte, mit einer Nadel in seine Nähe zu kommen, dann würde es das Letzte sein, was sie tat. Keiner markierte ihn, ohne dafür zu bezahlen!

Da sie aber auch zu gab, dass sie ihn bei ihrer Suche brauchte, beruhigte ihn das etwas, auch wenn er ihr einen Blick schenkte, der ihr deutlich sagte, was er davon hielt. Dennoch klang es verlockend, sie an seinem Arsch kleben zu haben, jedoch in einem anderen Zusammenhang.

Nataniel musste sich ein Schmunzeln verkneifen, während er sich die Szene bildlich vorstellte. Bei dieser Beißzange könnte es ihm gefallen, immerhin war er alles andere als nur ein Schmusekater. Aber da er deutlich ihre Wut spürte, hob er sich diesen Gedanken für später auf, wenn er alleine war und ihm langweilig werden sollte.

„Wer sagt, dass ich dich loswerden will?“, raunte Nataniel in einem Tonfall, als würde er gleich losschnurren, während er ihr sein schönstes Lächeln schenkte.

Friss das, Blondie!

Er ließ den Vorhang los und ging ein paar Schritte im Raum auf und ab, als würde er nachdenken. Tatsache war jedoch, dass es ihm nur recht sein konnte, wenn sie ihn begleiten wollte. Allerdings würde er das nicht so vorbehaltlos tun. Wenn er es ihr zu leicht machte, wäre sie bestimmt misstrauisch, weshalb er schließlich stehenblieb und sie wieder ansah. Jedoch mit einem eiskalten Gesichtsausdruck.

„Ich werde es mir überlegen“, bot er ihr an, ehe er zur Tür ging. Auf dem Weg hierher hatte er auf einer Tür ein Schild mit der Aufschrift 'Bad‘ gesehen. Zwar hatte er keine Dusche nötig, aber er würde sonst was für Wasser geben. Außerdem wollte er endlich eine Weile alleine sein, um seine Gedanken zu ordnen. Als er den Türgriff jedoch herumdrehte, wurde ihm klar, dass Blondchen abgeschlossen hatte.

„Mach die Tür auf“, befahl er in trügerisch ruhigem Tonfall.
 

Dass er es sich überlegen wollte, sie als Begleitung zu akzeptieren, war mehr, als Amanda erwartet hatte. Für was er sich auch immer entschied, sie würde so oder so sein Schatten sein.

Wie immer bei diesem Vergleich hoben sich ihre Mundwinkel zu einem versonnenen Schmunzeln, das der Felidae aber sofort verbal aus ihrem Gesicht wischte, als er verlangte, sie solle die Tür öffnen.

„Mach dir nicht ins Hemd. Wo willst du denn überhaupt hin in diesem Aufzug?“

Gemächlich und mit aller Ruhe der Welt erhob sie sich aus dem geblümten Sessel und schlenderte zur Tür hinüber, wobei ihre Augen wachsam auf ihm klebten, um einen eventuellen Angriff kommen zu sehen. Allerdings fühlte sie sich in den Schatten mehr als sicher. Zur Not konnte sie ihn einfach durch ihren Körper hindurchfallen lassen, so stockfinster war es in der Nähe der Tür.

Als sie dicht neben ihm stand, weil er wegen des Bettes nicht ausweichen konnte, wurde Amanda erst bewusst, dass er sie um Einiges überragte. Aus der Nähe sah sein Körperbau noch beeindruckender aus und sein Blick prickelte unangenehm auf ihrem Gesicht, als sie den Schlüssel ins Schloss schob.

Sollten die Dorfbewohner doch mit ihm tun, was sie wollten. Vielleicht wurde er auch von irgendjemandem nett aufgenommen, sobald er mit der Decke um die Hüften auf die Straße trat. Viele der Latzhosen tragenden Damen der Gesellschaft hätten sicher nichts gegen einen derartigen Schmusekater für ihr Bett gehabt.

Vielleicht war Teresa noch wach. Die würde sich über einen Besuch ihres ehemaligen Schützlings sicher freuen und bei ihr würde er sicher auch ein paar Streicheleinheiten bekommen, nachdem sie gefühlt hatte, ob seine Nase auch schön feucht war.
 

Sie konnte von Glück reden, dass sie ihm tatsächlich die Tür aufmachte. Hätte sie das nicht getan, müsste sie morgen dem Besitzer dieses Ladens erklären, wer ihre Tür ruiniert hatte und dass er sich dann auf keinen Fall angesprochen fühlen würde, war wohl klar.

„Ins örtliche Bordell, wohin sonst?“ Nataniel verdrehte innerlich die Augen. Diese Frau konnte vielleicht aufdringlich sein. Aber wenigstens duftete sie gut, erst recht, da sie so dicht neben ihm stand und er keine Skrupel kannte, sich etwas vorzulehnen, um noch ein bisschen besser schnuppern zu können. Das Tier in ihm knurrte vergnügt.

Zum Glück steckte es sicher in seinem Käfig.

„Ich genehmige mir eine kleine Katzenwäsche, wenn’s recht ist. Oder willst du etwa mitkommen und mir den Rücken schrubben?“ Bevor sie darauf noch eine Antwort geben konnte, schob er sich an ihr vorbei in den Gang und ging ins Badezimmer.

Als die Tür endlich hinter ihm zu war, atmete er einmal tief durch. Diese Frau machte ihn noch wahnsinnig.

6. Kapitel

Erst jetzt, als er das Licht aufdrehte, konnte er seinen zerzausten Zustand erkennen. Allerdings war das nicht weiter tragisch. Jedes Mal, wenn er sich längerer Zeit nicht mehr in einen Menschen verwandelt hatte, sah er so aus. Dagegen konnte er problemlos angehen.

Nataniel ließ die Decke fallen und trat an den Badezimmerspiegel heran. Er öffnete den Schrank, um zu sehen, ob dort etwas Nützliches zu finden war.

Sein Fund beschränkte sich auf eine Kernseife und einen Kamm. Besser als nichts und mehr, als er sonst so zur Verfügung hatte, wenn er in tierischer Mission unterwegs war.

Als er den Badezimmerspiegel wieder schloss, fiel ihm zum ersten Mal etwas an seinem Hals auf. Zuerst hatte er keine Ahnung, was das sein konnte. Vielleicht ein Stück Schmutz, doch als er darüber rieb, blieb es haften und es fühlte sich fest an. Also nahm er es zwischen Daumen und Zeigefinger und zupfte es sich herunter, was nicht gerade schmerzfrei vonstattenging. Danach sah er sich das Teil genauer an.

Okay, Blondchen hatte soeben bewiesen, wie wenig er ihr trauen konnte. Das war doch sicher irgendein Teil zur Überwachung. Hatte sie ihn deshalb so leicht im Wald finden können? Dieses Weib ging ihm wirklich verdammt auf die Nerven!

Mit einem deutlichen Knurren ließ er die Wanze ins Klo fallen und betätigte die Spülung.

„Na dann, auf einen guten Rutsch.“

Er schloss den Deckel und stieg unter die Dusche. Kaum dass das Wasser auf seine Haut traf, drehte er es merklich kälter, da es sonst auf seinen Wunden brannte. Danach wusch er sich systematisch und ohne das Gefühl wirklich zu genießen, da er noch etwas vorhatte. Er trocknete sich rasch ab und kämmte sich kurz durch die Haare.

Bevor Nataniel ans Fenster trat, löschte er das Licht, damit ihn von draußen niemand sehen konnte.

Nachdem sich seine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, öffnete er es, prüfte kurz die Höhe und kletterte dann hinaus, da das Dach der Veranda direkt unter ihm lag.

Von dort aus war es nur noch ein Katzensprung bis zum Boden, ehe er ungesehen in der Nacht verschwand.
 

Amanda hatte sich nach seinem Abgang zunächst nur umgedreht und bewegungslos in ihrem Zimmer gestanden. Warum hatte sie ihn einfach gehen lassen? Gut, sie würde ihn schon wieder finden. Das war nicht das Problem.

Was sie wirklich wurmte und ihren Magen so schwer werden ließ, dass sie nach einer Weile zitternd gegen die Tür gelehnt zusammensank, war die Tatsache, dass sie Eric keinen Schritt näher gekommen war.

Die wievielte Nacht verbrachte sie denn schon in diesem Kaff, ohne ihrem Bruder auch nur ansatzweise geholfen zu haben? Die Fünfte oder schon die Sechste?

Mit einem unterdrückten Wutschrei warf sie sich aufs Bett, grub ihre Finger genauso wie ihr Gesicht in die Matratze und versuchte das schmerzhafte Pochen ihres Herzens unter Kontrolle zu bringen.

Erst als sie wieder einigermaßen gleichmäßig atmen konnte, stieg ihr der unbekannte Geruch in die Nase, den ihr Besucher auf dem Bett verteilt hatte. Leicht angewidert verzog sie das Gesicht, als ihr bewusst wurde, dass sie sich mehr oder weniger genau auf die Stelle geworfen hatte, die vorhin noch der Wandler in Beschlag genommen hatte.

Mit einer einzigen Bewegung sprang sie vom Bett und riss das oberste Laken herunter, um es in die hinterste Ecke des Zimmers zu werfen, wo es eine kleine Vase mit Papierblumen zu Boden riss.

In einer nicht weniger heftigen Geste rupfte sie sich die Kleider vom Leib und ließ sich dann wieder auf das Bett fallen, um durchzuatmen.

Nach einer Weile legte sie ihre rechte Hand, die sie im Wald als Waffe benutzt hatte, auf ihrem Bauch ab, damit sie im Mondlicht lag, und schloss die Augen. Vielleicht hatte sie gar keine Stunde Zeit, bevor er zurückkam. Vielleicht – und das hielt Amanda eigentlich für wahrscheinlicher – würde er gar nicht zurückkommen.

Egal was passierte, sie musste zumindest versuchen, ihren Geist und ihren Körper wieder vollkommen in Ordnung zu bringen. Denn so wie sie den Panther einschätzte, würde sie ihre Fähigkeit in nächster Zeit noch öfter brauchen, als ihr lieb war.

Wenn er wüsste, wie viel Schmerzen mit jedem Gang verbunden waren, hätte er sie wahrscheinlich liebend gern dazu gezwungen.

Einatmen. Hier und Jetzt. Ausatmen. … Einatmen.

 

 

***
 

Nataniel klopfte nur deshalb an Blondchens Tür, weil er nicht sicher war, ob sie abgeschlossen hatte und er sicherlich nicht die Geduld aufbrachte, nachher noch einmal zu klopfen. Eher würde er einfach das Schloss aufbrechen.

Warum er nicht einfach abgehauen war, konnte er selbst nicht so genau sagen, aber eigentlich hatte er nur seine versteckten Sachen holen wollen. Weshalb jetzt auch die Decke nicht mehr nötig war, da er seine eigene Jeans und ein Shirt anhatte.

Über seiner gesunden Schulter hing ein Seesack mit seinem Gepäck. Zwar hatte er nicht vor, sich hier einzuquartieren, aber bevor sie ihn wieder irgendwo aufspürte, kam er lieber zu ihr. So wusste Nataniel wenigstens, woran er war.
 

Natürlich verging keine ganze Stunde, bis es leise an der Tür klopfte und Amanda trotzdem unsanft aus ihrer Meditation riss.

Ihr Körper fühlte sich schwer an und sie schaffte es gerade so, sich im Bett aufzurichten und ein „Moment“ zu murmeln, bevor sie in ihrer Tasche kramte und ein langes T-Shirt und Shorts herauszog. Der Waffenholster lag auf dem Nachttisch und Amanda konnte ihn leicht erreichen, sollte hinter der Tür Gefahr drohen.

Sie öffnete einen Spalt und sah im ersten Augenblick nur weißen Stoff, bis ihr Blick ein wenig nach oben wanderte und ein ihr bekanntes Gesicht traf. Allerdings verriet ihre Reaktion durchaus, wie begeistert sie war, ihn gerade jetzt wiederzusehen.

„Wenn du jetzt schon aus dem Bordell zurück bist, hast du eindeutig zu wenig Stehvermögen oder sie haben dich für 'nen simplen Blowjob abgezockt.“

Gezwungenermaßen wich sie einen Schritt zur Seite, als er sich durch die Tür zwängte und seinen Seesack auf ihrem Boden abstellte.

„Moment mal. Was soll das denn bitte werden?“

Wo er die Sachen herhatte, wollte sie gar nicht wissen. Das war ihr ehrlich gesagt scheißegal. Aber er kam doch bitte nicht auf die Idee, die Nacht hier verbringen zu wollen?
 

Nataniel reagierte nicht auf ihren Spruch, da es ihn schon genug nervte, die Nacht in der Nähe seines Feindes zu verbringen und er noch immer nicht die Sache mit der Wanze vergessen hatte. Weshalb er sich auch mehr oder weniger selbst einlud, als er den Seesack zu Boden gleiten ließ und sich nach einer passenden Stelle zum Schlafen umsah. Da er allerdings nur das Bett fand, ging er schließlich zum Sessel hinüber und begann sich auszuziehen.

„Ich dachte mir, ich gönn dir einmal eine ruhige Nacht, in der du mir nicht hinterherspionieren musst“, gab er schnippisch zurück und zog sich das Shirt über den Kopf. Er würde heute eindeutig wieder mit einem Boden vorlieb nehmen müssen, und da sein menschlicher Körper garantiert nicht darauf erpicht war, blieb ihm nur sein Fell. Außerdem schlief er gerne in Form seiner Raubkatze, weil da seine Sinne viel wachsamer waren und er nicht so tief einschlief. Beim kleinsten Geräusch konnte er hochschrecken, als Mensch würde ihm das schwerer fallen.

Seine Schuhe trat er unter den Stuhl, denen kurz darauf auch die Socken folgten. Danach zog er sich die Jeanshose über den Hintern und machte dabei nur zu deutlich klar, was er von Unterwäsche hielt. Nämlich rein gar nichts.

Schließlich drehte er sich zu der Blondine herum.

„Also dann, gute Nacht.“

Schon während er sich auf die Knie begab, wandelte er sich, bis er nur noch als Jaguar vor ihr stand.

Nataniel entschied sich für den Platz direkt vor dem Fenster, falls er einen raschen Fluchtweg brauchte. Er gähnte noch einmal kräftig, ehe er eine Runde im Kreis ging und sich dann auf dem Boden zusammenrollte und die Augen schloss.
 

„Das musste ich auch nicht, als du in deinem Käfig gehockt hast.“

Beinahe hätte sie die Tür zugeknallt, besann sich aber doch eines Besseren und schloss sie bloß wieder ab, wobei sie diesmal den Schlüssel stecken ließ. Immerhin würde sie nichts dagegen haben, wenn sich dieser Kerl irgendwann nachts doch verkrümelte. Dass er sich hier aufführte, als gehörte das Zimmer ihm, ging Amanda schon wieder wahnsinnig auf den Geist.

Sie war auch nicht mit allzu großem Schamgefühl beladen, aber dass er sich einfach so vor ihr auszog und sich dann auch noch nackt zu ihr umdrehte, fand sie dann doch etwas zu offensiv.

Aber was sollte man von jemandem erwarten, der zu einem Teil Tier war? Anscheinend brach das nicht nur in Gestalt und Temperament immer wieder aus ihm hervor.

Immer noch wie angewurzelt stand sie neben der Tür, als der Dunkelhaarige sich bereits wieder in seine tierische Form gewandelt und sich unter dem Fenster zusammengerollt hatte.

Na toll.

Sie warf sich wieder aufs Bett und zog sich eins der dünnen Laken über den Körper, während sie auf ihren pelzigen Besucher hinunterfunkelte. Das konnte ja eine tolle Nacht werden. Bestimmt würde sie sich kein Stück erholen, während er gemütlich vor sich hin schnarchte.

 

 

***
 

Amanda hörte die Schreie ihrer Eltern so laut wie ihren eigenen, sich überschlagender Atem und das Weinen von Eric an ihrem Hals. Sie hielt ihn so fest, dass sie seine Rippen unter ihren Fingern durch sein dünnes Nachthemd fühlen konnte.

Es war heiß und gleißend hell. Vor den Kindern schlugen Flammen in die Höhe und Amanda konnte nur die Umrisse dessen erkennen, was sich vor ihr abspielte.

Es brachte sie dazu, ihre Hand auf den Kopf ihres Bruders zu legen und ihn davon abzuhalten, von ihr weg zu sehen und sich zum Haus umzudrehen. Der Tiger hatte sich aufgebäumt und ihrem Vater den Arm einfach aus dem Schultergelenk gerissen. Grausamerweise war er nicht sofort tot, sondern wehrte sich weiter mit Händen, Füßen und allem, was er sonst finden konnte, um seine Familie zu beschützen. Es nützte nichts.

Amanda warf sich im Schlaf hin und her. Schweiß zog sich über ihren Körper und sie strampelte sich noch das dünne Laken von den Beinen.

Sie sah die Augen ihrer Mutter. Wie sie ihre schlanken Arme um den mächtigen Leib des Wandlers legte, um ihn mit sich in die Schatten zu reißen.

Der Atem ihres Vaters war nur ein leises Röcheln zwischen seinen blutüberströmten Lippen, als er ihr das Versprechen abnahm, immer auf Eric aufzupassen.

Tränen brachen sich ihren Weg aus Amandas geschlossenen Augen und über ihre Wangen, obwohl sie es noch nicht einmal schaffte, sich aus dem Alptraum zu befreien, der Teil ihres Lebens war und sie fast jede Nacht wieder verfolgte.
 

Nataniel hatte eine Weile vor sich hingedöst, als seine Ohren plötzlich in Richtung Blondchen zuckten. Zwar hatte sie nichts gesagt oder sonst ein auffälliges Geräusch von sich gegeben, aber ihr Atem hatte sich merklich erhöht. Da er auch ihr Herz wie wild rasen hörte, da er relativ dicht neben dem Bett lag, hob er schließlich den Kopf und sah sie von der Seite her an.

Eine Weile beobachtete er ihre rollenden Augen unter den geschlossenen Lidern, stand dann aber auf, als sie sich wild hin und her zu werfen begann.

Der Geruch von Angst und Panik stieg ihm stechend scharf in die Nase, während er vorsichtig etwas näher kam.

Sie musste einen Alptraum haben, denn ihre Haut war von Schweiß bedeckt und sie hatte sogar das Laken von sich gestrampelt. Außerdem wimmerte sie ab und zu.

Nataniel wusste nicht, was er machen sollte. Sollte er sie wecken oder in Ruhe lassen?

Bestimmt machte sie ihm die Hölle heiß, wenn er zu erkennen gab, dass er ihre Schwäche gesehen hatte. Allerdings war er kein Freund von Alpträumen, die er durchaus schon in seinem Leben gehabt hatte. Nur hatte er dabei wohl nie zu weinen begonnen. Was sah sie bloß?

Nataniel beobachtete unschlüssig eine Zeit lang, wie immer mehr Tränen ihre Wangen benetzten und auch wenn diese Frau alles andere als ein Freund war, er konnte nicht länger zusehen. Also gab er ihr mit der Schnauze einen Stupser in die Seite, worauf sie jedoch überhaupt nicht reagierte. Weshalb er noch etwas fester stupste, aber auch darauf sprach sie nicht an.

Wieder überlegte er, ob er sie in Ruhe lassen sollte. Sie würde sich sicher bald beruhigen.

Nataniel versuchte sich einzureden, dass er deshalb keinen Frieden gab, da er sonst nicht schlafen konnte und nicht etwa, weil er ihre Tränen nicht länger mit ansehen konnte.

Also tat er das Einzige, was ihm in seiner tierischen Form einfiel. Er begann lautstark zu schnurren und leckte ihr dabei übers Gesicht, um die Tränen fortzuwischen.

Wenn sie das nicht aufweckte oder zumindest beruhigte, würde er sie wohl oder übel aus dem Bett werfen müssen.
 

Amanda schlug die Augen auf, als sich gerade der Kopf einer Raubkatze über sie beugte und mit der Zunge abermals über ihr Gesicht streichen wollte. Weiße Reißzähne blinkten im fahlen Licht über ihr auf.

Mit einem Schlag raste noch mehr Adrenalin durch ihren Körper und sie riss die Arme schützend vors Gesicht. Gerade noch streifte ihr Unterarm das Fell seiner Schnauze, bevor sie im Schatten versank und sich ihre Körper auflöste. So unerwartet hatte sie noch nie einen Gang gewagt. Sie war doch noch nicht einmal richtig wach, was sich schnell änderte, als der Schmerz einsetzte.

Amanda wehrte sich nicht gegen das Leiden, sondern badete regelrecht darin. Noch immer sah sie das Gesicht ihrer Mutter vor sich, wie sie mit angsterfüllten Augen in den Schatten gegangen war, um nie wieder zurückzukehren. Dann die blutüberströmten Lippen ihres Vaters, wie er vor ihren Füßen lag und qualvoll sterben musste.

Sie konnte ihnen nicht helfen. Sie konnte niemandem helfen. Warum sollte sie dem Schmerz ein Ende bereiten, wo sie doch so vollkommen unfähig war.

Vielleicht würde sie ihre Mutter hier wiederfinden. Wenn es sie in so viele Teile zerriss, dass sie in der Welt verstreut wurde, konnte sie ihrer Mutter vielleicht sogar näher sein, als sie es sonst je sein würde.

Und doch war da etwas. Sie hatte eine Aufgabe. Zwar mochte sie nutzlos sein, aber man hatte ihr eine Aufgabe gegeben. Etwas musste sie tun, um ihre Schuld abzubüßen, die sie damals auf sich geladen hatte.

Nichts hatte sie getan, um ihre Eltern zu retten. Doch sie konnte etwas tun, was sie damals versprochen hatte.

Eric. Sie musste Eric beschützen.

Unter größter Anstrengung versuchte Amanda, irgendwo Licht zu erkennen. Nur einen einzelnen Strahl, an den sie sich klammern und sich hier heraus retten konnte.

Noch mehr kalter Schweiß überzog ihre Haut, als sie Sekunden später neben dem Fenster auf dem Boden wieder auftauchte und sich vor Schmerzen krümmte, während sich ihr Körper nur langsam wieder vollständig zusammensetzte.

Sie konnte spüren, wie die Schatten an ihr klebten wie schmieriges Öl, und sogar um sich schlugen, um zumindest irgendetwas Lebendes mit sich zu reißen, wenn Amanda ihnen schon durch die Lappen gegangen war.
 

Kurz bevor sie einfach verschwand, stellten sich all seinen Nackenhärchen auf und auch der Rest von seinem Fell sträubte sich, als hätte man ihm eine Klapperschlange vor die Nase gesetzt.

Fauchend wich er vor dem zurück, was er nicht sehen, aber deutlich fühlen konnte.

Nataniel sah sich gehetzt im Raum um, während er sich immer weiter zurückzog und verwirrt nach der blonden Frau Ausschau hielt. Wohin war sie so plötzlich verschwunden?

Mit einem Gefühl, als hätte man ihm kaltes Wasser in den Nacken gegossen, fiel ihm wieder die Sache im Wald ein. Wo er sie fast angesprungen hätte, als sie ebenfalls so plötzlich verschwunden war und er dann einen Moment lang diesen altvertrauten Schmerz gespürt hatte.

Da er sich sehr schnell verwandeln konnte, machte ihm dieses Gefühl schon lange keine allzu großen Probleme mehr. Er hatte gelernt, damit zu leben. Allerdings war das jetzt überhaupt nicht wichtig.

Sein Körper zuckte noch lauter fauchend zurück, als plötzlich eine Gestalt vor dem Fenster auftauchte. Er konnte blonde Locken erkennen, aber teilweise etwas so absolut Fremdartiges und Finsteres, das ihm fast schon schlecht vor blinder Angst wurde. Das Tier in ihm fürchtete sich davor, doch der Mann in ihm konnte sehen, dass sie Schmerzen hatte und sich im schmalen Mondlichtstreifen krümmte.

Um seine Angst zu schwächen, verwandelte er sich gegen seinen Erhaltungstrieb in einen Menschen zurück, marschierte mit ausholenden Schritten zum Fenster und riss den Vorhang auf. Da das Licht ihr zu helfen schien.

Er wagte nicht, die Frau anzufassen, hockte sich aber vor sie hin, während ihr ganzer Körper im Mondlicht badete und die Schatten langsam wieder verschwanden.

Auch in dieser Form standen ihm dabei alle Haare zu Berge, aber er war in der Lage, seine Angst unter Verschluss zu halten.

Schweigend sah er ihr dabei zu, wie sie sich langsam wieder etwas beruhigte. Das hatte er wirklich nicht gewollt und es tat ihm ehrlich leid. Aber wie hätte er wissen können, dass sie ebenso absonderlich war, wie er?

Menschlich, aber nicht nur ein Mensch. Was für eine Ironie.
 

Konzentriert hörte sie ihrem Atem zu, als wäre er das Einzige, das sie zusammenhalten konnte.

Einatmen.

Ausatmen.

Ihre Muskeln zuckten unkontrolliert, bevor das Ganze in ein krampfhaftes Zittern überging, das sich nur langsam löste und sie völlig ermattet liegen ließ.

Sie wusste nicht einmal, wo sie sich genau befand, aber mit einem Mal wurde es leichter, die Schatten zu verscheuchen, auch wenn Amanda nicht wusste, warum es so war.

Erleichtert atmete sie weiter tief durch, als sie endlich das Mondlicht auf ihrer Haut und ihren Kleidern spüren konnte. Zuerst wurde ihr kalt und dann konnte sie den Teppich unter sich fühlen, als ihr Gefühl für die Welt um sie herum ebenfalls zurückkehrte.

Eine Weile blieb sie so liegen, da sie gar nicht in der Lage gewesen wäre, etwas Anderes zu tun.

Ihr war bewusst, dass sie nicht allein war. Aber in diesem Moment hätte jeder über sie herfallen können. Es wäre ihr egal gewesen. Schlimmer als die letzte halbe Minute – oder war es ein Jahr gewesen? – konnte der Tod auch nicht sein. Dann schlug sie aber doch die Augen auf und ihr Blick fiel direkt auf einen nackten Männerkörper vor ihr.

Völlig verwirrt, versuchte Amanda die viele nackte Haut vor ihren kohlenschwarzen Augen wegzublinzeln.

Langsam wich sie leicht zurück, konnte sich aber gar nicht wirklich von ihm entfernen, da sie mit dem Rücken gegen die Wand gedrückt dalag.

„Was?“

Ihre Stimme war leise und selbst dieses eine Wort brachte sie nur schleppend hervor, während sich ihre Lider schon wieder schlossen und sie kaum eine Sekunde später in einen traumlosen Schlaf sank.
 

„Das könnte ich dich fragen“, murmelte er leise, als sich ihre schwarzen Augen wieder schlossen und sie reglos liegenblieb.

Nataniel würde es ihr sicher niemals sagen, aber selbst jetzt noch, nachdem der Zauber langsam vorüber war, spürte er Angst in sich. Er wollte sie nicht einmal anfassen, so sehr widerstrebte es seinen Sinnen, doch wenn hier schon einer am Boden schlief, dann würde er das sein und nicht sie. Außerdem hatte sie ohnehin schon eine harte Nacht hinter sich.

Für den Moment beschloss er, einen Waffenstillstand auszuhandeln, solange er sie auffressen könnte, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte. Das wäre ziemlich langweilig und schon gar nicht sein Stil, weshalb er sie schließlich hochhob.

Selbst mit seiner verletzten Hand war sie keine Last für ihn, obwohl er sie völlig verkrampft hielt und zum Bett zurück trug.

Was auch immer sie da noch immer wie einen Hauch umgab, schnürte ihm regelrecht die Kehle zu.

Nein, er wollte es nicht anfassen, aber er hörte nicht auf das Tier in ihm. Also legte er die blond gelockte Frau ins Bett und deckte sie wieder zu.

Einen Moment lang betrachtete er sie.

„Mit Reißzähnen und Krallen gefällst du mir besser“, gab er zu, auch wenn er das nicht wortwörtlich meinte.

Schließlich verwandelte er sich wieder zurück in den schwarzen Jaguar und legte sich an die Tür, falls sie noch einmal auf die Idee kommen sollte, vor dem Fenster aufzutauchen.

7. Kapitel

Nataniel konnte den Rest der Nacht nicht schlafen, weshalb er die Zeit zum Nachdenken nutzte, bis die Sonne aufging. Danach zog er sich an, ging kurz ins Bad, und als er wider kam, rüttelte er eher unsanft an Blondchens Schulter.

Die gestrige Reaktion auf seine sanfte Art war ihm eine Lehre gewesen. Sie konnte es also auch durchaus auf die harte Tour haben.

„Hey, wach auf. Du willst doch diesen Eric finden, dann komm mal langsam in die Gänge.“

Außerdem hatte er einen gewaltigen Hunger und wollte dringend etwas frühstücken gehen. In der Nähe gab es einen Laden, wo es sicher halbwegs erträgliches Essen gab. Zudem wurde es Zeit, der Stadt anzukündigen, dass er hier war. Vielleicht lockte er damit auch den ein oder anderen Gestaltwandler an. So würde er nicht lange nach ihnen suchen müssen. Allerdings war er nicht sehr zuversichtlich, was diesen Plan anging.

Als sie endlich wach war, ließ er von ihr ab und ging zum Fenster hinüber, um hinauszusehen. Viele Menschen waren noch nicht auf der Straße. Aber sehr viel mehr würden es wohl auch nicht werden. Soweit er das mit bekommen hatte, war diese Stadt ein Kaff.

Jeder kannte jeden und Personen von außen wurden sofort durchleuchtet. Es behagte ihm daher nicht wirklich, sich der Öffentlichkeit preiszugeben, aber da die Menschen für gewöhnlich kein allzu großes Risiko darstellten, brauchte er sich nicht zu viele Sorgen deswegen zu machen. Viel eher zerbrach er sich den Kopf darüber, was er tun sollte, wenn er wirklich anderen Gestaltwandlern über den Weg lief.

Vielleicht sollte er erst Blondchen befragen, was sie bisher herausgefunden hatte, denn dass sie eindeutig die bessere Ausrüstung dabei hatte, war ihm schon längst klar.
 

Als jemand an ihrer Schulter rüttelte, so dass die gesamte Matratze unter ihr erzitterte, schlug Amanda sofort die Augen auf und zog genervt die Schulter unter seiner Hand weg.

Ohne ein Wort stand sie auf und schnappte sich ein paar Klamotten, bevor sie ins Bad ging, eine kurze, kalte Dusche nahm und sich die Zähne putzte. Sie hatte es zwar genauso eilig wie er, aber das hieß nicht, dass sie auf ihre Morgentoilette verzichten würde.

Ihre hellen Augen blickten sie über dunklen Rändern aus dem Spiegel heraus an und Amanda drückte ihre Fingerspitzen kurz gegen ihre blasse Haut. Irgendwelche Bilderfetzen versuchten sich in ihrem Kopf zu etwas zusammenzusetzen, woran sie sich erinnern sollte. Da war vor allem der Eindruck von seelischen Schmerzen.

Hatte sie wieder einen der Albträume gehabt? Wenn sie sich nicht daran erinnern konnte, durfte es nicht so schlimm gewesen sein, wie einige Male zuvor. Allerdings passten ein paar Bilder nicht zusammen. Der große schwarze Kopf des Panthers und viel von seiner nackten Haut ziemlich nah vor ihren Augen.

Gott, vielleicht hatte sie auch von ganz anderen Sachen geträumt.

Mit beiden Handflächen klopfte sie sich ein wenig Farbe auf die Wangen, zog sich ihren Rock, einen hellen Strickpullover und die Stiefel an, von denen Mrs. Cauley ihr so nett abgeraten hatte.

Heute würde sie neben ihrem hünenhaften Begleiter sicher keine Blicke ernten.

Als sie ins Zimmer zurückkam und sich Geldbörse, PDA und Schlüssel schnappte, hatte er wohl schon mehr als ungeduldig auf sie gewartet.

„Guten Morgen.“

Irgendwie hatte sie das seltsame Gefühl, als würde er sie anders ansehen als gestern. Unangenehm prickelte es in ihrem Gesicht, als wüsste er etwas, das ihr selbst nicht klar war, als sich seine eisig blauen Augen auf sie legten.

„Kaffee.“

Das war ein Befehl und keine Frage. Wenn sie ihren Kreislauf nicht in Schwung brachte, würden sie schneller in einen Kampf verwickelt werden, als ihnen lieb sein konnte.

Da Amanda Mrs. Cauleys forschem Blick nicht begegnen wollte und ihr noch weniger erklären, woher auf einmal der Mann in ihrem Einzelzimmer kam, beschloss Amanda ihm über die Straße in das Café zu folgen.
 

Als sie wieder ins Zimmer kam, musterte er sie unverhohlen von Kopf bis Fuß.

Für eine Menschenfrau war sie wirklich sehr reizvoll und auch der Panther schnurrte bei ihrem Anblick in seinem Kopf. Aber er hatte auch nicht vergessen, welches Grauen sie in ihm auslösen konnte. Weshalb er schon darauf wartete, dass sie das Thema von letzter Nacht ansprach. Denn er würde es nicht tun. Immerhin war nicht er es gewesen, der plötzlich verschwunden und wieder aufgetaucht war.

„Morgen“, knurrte er leicht übelgelaunt zurück. Hunger war für einen Mann wie ihn noch nie ein Mittel für gute Laune gewesen. Weshalb er schließlich auch einfach voran ins Café marschierte, um dem Abhilfe zu schaffen.

Schon während er den Laden betrat, spürte er sämtliche Blicke auf sich ruhen und eine Stille trat ein, die ihm das Gefühl gab, er müsste jetzt auf der Stelle eine Rede halten. Doch stattdessen ignorierte er die Menschen einfach mit der Gleichgültigkeit einer Katze, die es gewohnt war, Prioritäten zu setzen. Seine drehten sich im Augenblick einzig und allein um seinen knurrenden Magen.

Nataniel setzte sich an einen Platz direkt ans Fenster, damit er die Straße beobachten konnte, aber zu gleich auch die Tür im Blick hatte, für den unwahrscheinlichen Fall, dass es jemand wagte, sein Frühstück zu stören.

Kaum hatte sich auch Blondchen gesetzt, kam eine junge Kellnerin an den Tisch, die sich wohl schwer für den Kragen seines T-Shirts interessierte, weil sie ihm kein einziges Mal in die Augen blicken konnte, dabei sah er sie noch nicht einmal an, sondern hielt die Speisekarte in der Hand und überflog sie kurz.

„Guten Morgen, was kann ich Ihnen bringen?“, fragte sie mit deutlicher Nervosität in der Stimme.

Sah sein Gesicht mit der frischen Narbe denn wirklich so beängstigend aus? Nun, das wertete er als positiv. Nach dem Umgang mit Teresa hatte er schon befürchtet, er würde sich in ein Schmusekätzchen verwandeln.

Ohne den Gruß zu erwidern, kam er sofort auf den Punkt: „Ich nehme einmal die Pfannkuchen mit Schokoladensirup. Zwei Spiegeleier mit Speck. Gebratene Würstchen. Zwei Croissants. Eine heiße Schokolade mit Sahne. Dazu noch einen Blaubeermuffin und ein Steak – blutig. Sagen Sie dem Küchenchef, dass es noch schreiend in der Pfanne springen soll, wenn er es herausnimmt. Ich hasse es, wenn es zu Tode gebraten wurde. Außerdem hätte ich noch gerne einen frischgepressten Orangensaft, wenn das geht. Das wär’s dann für den Moment.“

Zufrieden stellte er fest, dass die Kellnerin kaum mit dem Schreiben mitgekommen war. Unschuldig lächelnd wandte Nataniel sich an sein Gegenüber.

„Und was bestellst du?“
 

Die junge Kellnerin war so froh die Bestellung des Mannes aufgenommen zu haben, dass sie beinahe weggelaufen wäre, ohne auf die Frau an seinem Tisch zu achten.

War ja auch sehr charmant als Erster zu bestellen. Auf Manieren konnte man bei ihm wohl nicht hoffen.

Was für eine Überraschung, dachte sie sarkastisch und presste die Lippen leicht aufeinander.

Aber immerhin hatte er mit seiner Frage unabsichtlich die Kellnerin darauf aufmerksam gemacht, dass außer ihm noch jemand am Tisch saß. Die sah nun starr auf ihren kleinen Block und schrieb eilig mit, als Amanda sich ein Müsli mit Joghurt und Früchten bestellte.

„Und Kaffee. Groß.“ Mit den Händen deutete sie in der Luft etwa die Größe einer Badewanne an.

Ihre Augen waren so wahnsinnig müde, als hätte sie heute Nacht irgendwelche Fitnessübungen gemacht, anstatt zu schlafen.

Beinahe hätte sie einen verstohlenen Blick zu dem Felidae hinüber geworfen, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Dafür lehnte sie sich zurück, sah kurz aus dem Fenster auf die Straße und in den grauen Himmel hinauf, bevor sie sich ihm zuwandte.

„Also, was hast du vor?“

Sie folgte seinem Blick zur Küche, in der ihr Freund der Canidae, heute anscheinend zur Frühschicht eingeteilt war, und schüttelte etwas amüsiert den Kopf.

„Da kannst du die Info genauso wie dein Steak vergessen. Er weiß nichts. Und ist noch dazu ein hundsmiserabler Koch. Keine Ahnung, wie man mit Fleisch umgeht. Da wundert man sich doch, oder?“

Diesmal konnte sie sich ein sarkastisches Lächeln nicht verkneifen.
 

„Hundsmiserabel trifft wohl voll und ganz ins Schwarze. Von einem Köter kann man aber auch nicht mehr erwarten.“

Immerhin jagten Wölfe meistens im Rudel und im Gegensatz zu ihm, waren sie wirklich nicht mehr als winselnde Hunde mit wildem Blut. Nataniel kannte zwar auch ein paar wirklich gefährliche Wölfe, die ihre Gestalt wechselten, aber mit dem hier hatten sie wirklich nichts gemeinsam.

Damit Nataniel aber nicht auf sein Steak verzichten musste, weil er das absolut nicht wollte, starrte er eine Weile zur Küche, bis der Koch wieder ein Menü herüberreichte, und schenkte diesem dann einen langen Blick.

Als auf der anderen Seite etwas zu Bruch ging, lehnte er sich zufrieden zurück. Der Köter hatte wohl verstanden, dass er keiner der Gäste war, der sein Fleisch durchhaben wollte.

Im nächsten Moment kam auch schon die Kellnerin an ihren Tisch geeilt, um Blondchen das Müsli und den Kaffee zu bringen und ihm den Orangensaft, die heiße Schokolade und die Pfannkuchen.

Wenn sein Gegenüber jetzt glaubte, er würde sich wie ein Tier über das Essen hermachen, hatte Blondchen sich aber gewaltig geschnitten. Nataniel nahm ordentlich das Besteck zur Hand und schnitt immer wieder ein mundgerechtes Stückchen ab, um es dann in die Schokolade zu tauchen. Dann schob er es sich in den Mund und schloss genießend die Augen. Das war einfach köstlich!

Als Raubkatze hatte er keinen Geschmackssinn für Süßes, dieses Privileg war ihm nur als Mensch vorbehalten und ja, er wusste es sehr zu schätzen.

Nachdem er ungefähr die Hälfte der Pfannkuchen verputzt hatte, konzentrierte er sich wieder auf ihr eigentliches Gespräch.

„Also, ich nehme an, du hast den Koch schon ausgequetscht. Hast du sonst noch irgendwelche Informationen über Gestaltwandler hier in der Gegend, von denen ich wissen sollte?“

Das fragte er nur, weil er verbergen wollte, dass er sich noch genau an den Namen William Hunter erinnerte. Garantiert würde er ihr nicht verraten, dass es sich hierbei um seinen ermordeten Vater handelte.

Ob sie ein Bild von ihm dabei hatte? Nataniel hatte ihn nie gesehen. Zumindest konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Er wusste noch nicht einmal, ob sein Vater genauso schwarz aussah wie er, oder ob dieses Merkmal nur bei ihm aufgetreten war. Da die schwarze Fellfärbung bei Jaguaren völlig willkürlich auftreten konnte, war seine Mutter vermutlich auch normalgemustert gewesen.
 

Amanda ignorierte ihr Müsli zuerst einmal für den wirklich riesigen Pott Kaffee und seufzte begeistert, als ihr das heiße Getränk den Mund, die Speiseröhre hinunter und dann noch den Magen wärmte. Das war wirklich ein himmlisches Gebräu und noch dazu stark genug, so dass es sie bestimmt in den nächsten Minuten auf Arbeitsmodus hochpuschen würde.

Nachdem sie die Tasse abgestellt hatte, sie aber trotzdem noch in Händen hielt, sah sie dem Panther beim Essen zu.

Er schien ein echtes Schleckermäulchen zu sein, wenn man davon ausging, wie er genüsslich die Pfannkuchen in sich hinein mampfte. Das bekam er wenigstens einigermaßen kultiviert hin, aber Amanda war jetzt schon gespannt, wie er sich bei dem Steak anstellen würde. Vielleicht sollte sie ihr Müsli vorher beenden, um das Risiko zu vermeiden es bei dem Anblick seiner Tischmanieren nicht mehr genießen zu können.

Auf seine Frage hin zog sie ihren PDA aus der Tasche und tippte eine Weile darauf herum, bis sie die Umgebungskarte und die Liste der Wandler gefunden hatte. Immer noch nur ein Felidae und ein Canidae wurden angezeigt. Und keiner von beiden war derjenige, der vor ihr saß und dem gerade etwas Schokosauce an der Unterlippe klebte.

„Er hat mir nur gesagt, dass William Hunter hier lebt.“

Sie wartete seine Reaktion ab, die sich allerdings nur darauf beschränkte, dass er sich ein großes Stück Pfannkuchen zwischen die Zähne schob. Dann musste sie wohl härtere Geschütze auffahren. Denn irgendwie glaubte sie nicht, dass sie mit ihrer Vermutung falsch lag.

„Dieser William Hunter ist auch ein Felidae. Ein Jaguar. Wie du.“

Sie sah sich das kleine Bild auf dem PDA an und hielt ihn hoch, wobei ihre Augen prüfend das Gesicht auf dem Bildschirm mit seinem verglichen. Als ob diese blauen Augen nicht Beweis genug wären.

„Weiß ich damit zumindest deinen Nachnamen oder hast du den auch abgelegt, als du von hier weggegangen bist?“

Eigentlich wollte sie ihn nicht wirklich provozieren. Sie brauchte ihn. Vor allem, wenn sie recht hatte und er mit diesem Hunter verwandt war. Dann war er wahrscheinlich tatsächlich ihr Schlüssel, um Eric zu finden.

Bevor er also ausflippen und ihr das Buttermesser in den Hals rammen konnte, streckte sie ihm die Hand entgegen.

„Amanda.“
 

Sie wollte ihn definitiv aus der Reserve locken. Zum Glück hatte er seinen Vater nie persönlich gekannt, sonst wäre es ihm vermutlich nicht so leichtgefallen, die Worte an sich abprallen zu lassen. Immerhin war er ein Familienmensch. Nataniel streifte zwar gerne einsam und alleine durch die Wälder, aber seine Familie bedeutete ihm alles. Wer es wagte, jemanden davon auch nur ein Haar zu krümmen, konnte sich auf Einiges gefasst machen. Gestaltwandler waren nicht nur leicht zu provozieren, wenn man die richtigen Stellen traf, sondern auch sehr leidenschaftlich. Egal, um was es ging.

Als Amanda ihm die Hand hinstreckte, zögert er einen Moment, während er sich etwas Schokosauce von der Lippe leckte und leicht den Kopf schief legte.

„Wenn das wieder ein Versuch ist, mir eine Wanze anzudrehen, würde ich besser auf deine Hand aufpassen.“

Sein Tonfall klang so, als würden sie über das Wetter reden, aber die Drohung meinte er bitterernst. Dennoch ergriff er schließlich einen Moment lang ihre Hand.

„Nataniel und wenn du mich auch nur einmal – Nate – nennst, hast du bald ein paar neue Ziernarben.“

Den Namen hasste er bis aufs Blut.

Es war eben nicht immer leicht der Jüngste von einer Gruppe jugendlicher Gestaltwandlern zu sein. Zum Glück hatte sich das mit seiner ausgewachsenen Größe total geändert.

Nataniel nahm einen Schluck von dem Orangensaft und putzte mit dem letzten Pfannkuchenstück sein Teller sauber auf, damit ihm kein Schokoklecks entging. Kaum hatte er sein Besteck auf den Teller gelegt, kam auch schon die Kellnerin mit den Eiern, dem Speck und den Würstchen vorbei.

Gutes Mädchen. Er schenkte ihr ein zufriedenes Lächeln, was sie aus dem Tritt brachte, als sie davoneilte.

„William Hunter ist tot“, meinte Nataniel schließlich gelassen, während er sich erneut genüsslich über seine Bestellung hermachte. Auf Amandas andere Worte reagierte er gar nicht. Es ging sie absolut nichts an und er hatte auch keine Lust, darüberzureden. Sollte sie glauben, was sie wollte. Er würde ihr sicherlich nichts bestätigen.

„Und glaub nicht diesem Spielzeug in deiner Hand. Hier in der Gegend gibt es unter Garantie einige mehr von meinesgleichen. Vielleicht nicht die gleiche Art, aber bestimmt genau solche, die deine Organisation doch sucht, nicht wahr? Ich möchte wetten, dass sie alle unregistriert sind, wenn sie nicht auf deinem Display erscheinen.“

Fast hätte er gehässig gelächelt, doch er vergaß nicht die Schwere der Situation, weshalb er es für sich behielt.
 

Als nicht 'Nate'.

Das würde sie sich merken, wenn sie auch sicher keine Angst hatte, dass er ihr deswegen den Kopf abbeißen würde. Dafür müsste sie ihn wahrscheinlich nicht mit seinem Kurznamen anreden. In seinen Augen reichte bestimmt ihre bloße Existenz aus, um eine solche Aktion zu rechtfertigen. Und natürlich, dass sie ihm die Wanze angeheftet hatte. Das schien er ebenfalls persönlich zu nehmen. So wie alles Andere um ihn herum.

Gott, wie konnte er mit diesem riesigen Ego eigentlich herumlaufen? Das musste doch Tonnen wiegen?

Diesmal war sie es, die sich etwas von ihrem Frühstück zwischen die Lippen schob, um auf seine Aussage nicht allzu überrascht zu reagieren.

William Hunter war tot? Aber dafür gab es noch andere in dieser Gegend?

Amandas Augenbrauen wanderten leicht nach oben und eine Locke fiel ihr ins Gesicht, die sie mit einer automatischen Handbewegung hinters Ohr strich.

„Von wie vielen sprechen wir hier?“

Seltsamerweise glaubte sie ihm aufs Wort. Wenn er der Organisation bis jetzt entwischt war, warum dann nicht auch andere? Immerhin führte er sich nicht gerade unauffällig auf, was bedeutete, wenn ein anderer Wandler auch nur ein Quäntchen mehr Vorsicht walten ließ, konnte er dem Tattoo durchaus entkommen. Die Sammler konnten nicht überall gleichzeitig sein und die Wandler vermehrten sich zeitweise wie die Karnickel.

Mit einem boshaften Blick strafte sie den PDA, der immer noch auf dem Tisch lag und gerade das Licht herunterdimmte. Vielleicht ein wenig zu hastig griff Amanda danach, um das Gerät wieder in ihrer Hosentasche zu verstauen, bevor sich das Foto von Eric und ihr aufbaute, das sie als Bildschirmschoner eingestellt hatte.

„Ich nehme an, dass Eric deswegen hier war. Um sie zu finden. Allerdings ist er normalerweise ein Mensch, der Verstärkung ruft, sobald das Risiko zu groß wird.“

Frustriert riss sie ihren Blick von seiner Narbe los, die sie gerade unverwandt betrachtet hatte, und ließ ihre Wut an ihrem Müsli aus. Dabei schmeckte bei dem Gedanken, dass Eric inzwischen in kleinen Teilchen in den Mägen von ein paar räudigen Felidae liegen könnte, sogar das Obst wie Pappmaché.
 

Er mochte diese goldenen Locken. Vor allem, wenn die Sonne als Glanzlichter damit spielte. Das reichte sogar dazu aus, ihn einen Moment lang vom Essen abzuhalten und das mochte bei ihm wirklich etwas bedeuten. Der Panther in ihm schmiegte sich schnurrend an die Gitterstäbe seines gedanklichen Käfigs. Er war offenbar ebenso begeistert von dieser Haarpracht.

„Um ehrlich zu sein: Ich weiß nicht, wie viele es sind.“

Wenn er den Informationen des Raben trauen konnte, dann mussten es fast fünfzig Familien sein, die sich rund um die Stadt verstreut angesiedelt und sich aufs Land zurückgezogen hatten. Gestaltwandler versuchten grundsätzlich als Menschen durchzugehen, weshalb sie in Häusern wohnten und meistens auch völlig normalen Jobs nachgingen. Da man aber nie genau wissen konnte, wer seine Nachbarn waren, versuchte man natürlich in eine Gegend zu ziehen, die der gleichen oder zumindest ähnlichen Art angehörte.

Was von diesen fünfzig Familien für die sein Vater gesorgt hatte, übrig geblieben war, konnte er nicht sagen. Darum wusste er auch nicht, wie viele noch von ihnen lebten und vor allem wo. Aber dass sie alle unregistriert sein mussten, war Nataniel deutlich bewusst. Immerhin war sein Vater es gewesen, der sich gegen die Organisation einsetzte. Er versuchte, ihre Art verborgen zu halten und vor den Sammlern zu schützen.

Irgendwie würde es Nataniel nicht wundern, wenn Eric dem alten Alphatier zum Opfer gefallen wäre.

Wie schon gesagt, wenn es um jene ging, die man beschützen wollte, kannten Gestaltwandler keine Gnade. Nicht einmal mit Menschen, obwohl es für gewöhnlich leichtere Wege gab, sie zu vertreiben. Aber bei hartnäckigen Sammlern konnte das durchaus etwas anderes sein.

Nachdem Nataniels Teller wieder leer war, dauerte es noch eine Weile, bis sein Steak aufkreuzte. Die Zeit nutzte er dazu, Amanda beim Essen zu beobachten und sich so seine Gedanken zu machen.

„Ist Eric dein Partner?“, wollte er schließlich wissen, während er absichtlich nicht in der Vergangenheitsform sprach. Immerhin schien der Typ ihr etwas zu bedeuten, sonst würde sie ihn nicht so verbissen suchen.

Da kam auch schon sein Steak angetanzt und das Raubtier erkannte mehr als zufrieden mit dem Koch, dass dieser das Fleisch wohl nur einmal in die lauwarme Pfanne geworfen, einmal gewendet und wieder heraus genommen hatte. Nicht einmal die Oberfläche konnte als durch bezeichnet werden, sah aber zumindest nicht eindeutig roh aus.
 

Amandas Hand hatte kurz gezuckt und sich hart um die Gabel geschlossen, als er sie nach Eric fragte.

Nur die Tatsache, dass sie sich nicht sofort entscheiden konnte, ob sie die spitzen Zinken in die Tischplatte oder eine seiner Hände versenken sollte, rettete ihm den Pelz. Und die verschreckte Kellnerin, die gerade wieder zu ihrem Tisch gehuscht kam, um zitternd das noch halbrohe Steak vor ihm abzustellen und dann so schnell wie möglich wieder zu verschwinden. Dieses Mädchen hätte eine gute Sammlerin abgegeben, wenn sie die Aura des Mannes so aufdringlich als gefährlich erkannte. Schnell und leise war sie auch. Vielleicht sollte Amanda ihr ein Eintrittsformular unter die Nase halten, bevor sie dieses Kaff wieder verließ. Immerhin konnte gerade hier eine Sammlerin mehr nicht schaden. Selbst wenn es nicht stimmte, was Nataniel ihr da erzählte.

Der Blick, den sie ihm zuschoss, hätte eigentlich Ähnliches vermögen müssen, wie die Gabel, um die sich ihre Hand immer noch krampfhaft schloss, aber er reagierte zumindest äußerlich nicht darauf. Sogar ihre Stimme zitterte leicht vor Widerwillen, als sie sich schließlich doch zu ein wenig Ruhe und einer Antwort durchrang.

„Nein, er ist nicht mein Partner. Er ist … mir nur wichtig.“

Vielleicht war das genauso dumm, wie ihm zu sagen, dass er ihr Bruder war. Damit hatte sie diesem Wandler wahrscheinlich eine Waffe gegen sie in die Hand gegeben. Aber sie hatte ihm nichts erzählt, was ihm nicht schon durch ihr Auftauchen und ihre verbissene Suche aufgefallen sein musste.

Plötzlich und völlig unvermittelt schob sich ein Bild in ihre Gedanken, wie sich der Kopf des Panthers mit gebleckten Zähnen über sie beugte. Und irgendwie hatte das auch mit Eric zu tun.

Das Bild machte ihr Angst, löste sogar fast Panik aus. Aber diese Panik hatte nicht unmittelbar etwas mit dem Tier zu tun. Zumindest nicht mit dem Tier, das über ihr Gesicht leckte.

Die blauen Augen des Tieres, wie auch des Menschen, der ihr nun gegenübersaß, mischten andere Gefühle auf, die sie zwar zuordnen konnte, sich aber nicht zugestand. Wütend über sich selbst sah sie aus dem Fenster und nahm noch einen großen Schluck Kaffee. Wahrscheinlich würde es nur so aussehen, als wäre sie davon genervt, dass er sie mit seinem ausgedehnten Frühstück vom Gehen abhielt.
 

Auch wenn er sich am Liebsten in alter Manier auf das Kilo Fleisch gestürzt hätte, nahm Nataniel wieder das Besteck zur Hand, zu welchem ein scharfes Messer gehörte und schnitt sich durch das rote Fleisch.

Oh ja, das war lecker. Zwar nichts im Vergleich zu Süßem, aber dafür beinhaltete es ordentlich Proteine. Die konnte er auch gut gebrauchen, um wieder zu Kräften zu kommen. Immerhin hatten sie in nächster Zeit viel vor. Auch wenn Amanda noch nicht wusste, dass er sie mitnehmen würde. Nataniel hatte ihr seine Entscheidung noch nicht mitgeteilt. Aber das kam schon noch.

„Also, wenn wir herausfinden wollen, wie viele es nach dem Alphatierwechsel noch gibt, müssen wir wohl jedes Grundstück auf dem Land abklappern. Ein Kurzbesuch würde schon reichen.“

Immerhin erkannte er seinesgleichen sehr schnell anhand des Geruchs oder der Art, wie ihre Umgebung aussah.
 

Sie hörte ihm aufmerksam zu, obwohl sie den Blick immer noch nicht an ihn wandte. Was sie sehen würde, wenn sich ihre Augen trafen, war ihr jetzt schon klar und der gedankliche Anblick hatte ihr heute Morgen unter der kalten Dusche schon gereicht.

„Dann sollten wir schon nach dem Essen aufbrechen. Ich hab mir den Umgebungsplan angesehen, und wenn wir wirklich alles abklappern müssen, werden wir eine ganze Weile unterwegs sein.“

Von wegen Technik war zu nichts nütze. Ohne die Satellitenbilder wären sie auf der Suche nach der Nadel im Heuhaufen, selbst wenn es um die Häuser und Farmen in der näheren Umgebung ging. Sein Geruchssinn mochte gut sein, aber auf ein paar Kilometer Entfernung konnte er sicher auch keine Häuser oder andere Unterkünfte ausmachen. Und sie hatten nicht viel Zeit. Je länger Eric da draußen war, umso höher war die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht mehr lebte.
 

Dass dieser Mann ihr sehr wichtig war, sah man ihr deutlich an. Wenn Blicke töten könnten, wäre er zumindest schon angebrutzelt. Aber es war schließlich nicht seine Schuld, das dieser Eric verschwunden war und genauso wie sie ihn immer wieder nach William Hunter gefragt hatte, sah er sich dazu berechtigt, auch sie darüber auszufragen, weshalb sie eigentlich hier war. Dass es hier nicht um Registrierungen handelte, hatte sie ihm schon letzte Nacht klar gemacht. Was ihn wieder auf den Gedanken brachte, wer oder was Amanda eigentlich war. Ein einfacher Mensch auf jeden Fall nicht.

„Es gibt da allerdings ein paar Dinge, die du wissen solltest, bevor wir uns auf die Suche machen.“

Okay, das war die offizielle Bestätigung, dass er es sich überlegt und ja gesagt hatte.

Innerlich zuckte er gelassen mit den Schultern und aß sein Steak in aller Ruhe auf, selbst wenn sie schon jetzt ziemlich genervt aus dem Fenster blickte. Was Essen anging, ließ er sich nicht hetzen und das traf auch auf andere Genussbereiche in seinem Leben zu.

„Die Gegend um die Stadt herum ist nicht sicher.“

Zwar glaubte er nicht, dass man sie schon anfallen würde, nur weil sie sich ein paar Grundstücke ansahen, aber dabei würde es stark auf den Besitzer ankommen. Die Gegenden gehörten zwar nicht zum Jagdrevier, weshalb man sie nicht gleich in der Luft zerreißen würde, aber es konnte dennoch hart auf hart kommen. Immerhin waren sie doch Eindringlinge, und wenn sie schon nicht Amanda anfielen, weil sie ein Mensch war, so würde Nataniel doch sicher für Unruhe sorgen.

Er sollte sich also schon einmal eine verdammt gute Ausrede einfallen lassen. Denn eigentlich müsste er erst einmal beim Rudelführer vorsprechen, um sich anzumelden. Da er aber ohnehin nicht wusste, wo dieser sich im Augenblick befand, könnte er so tun, als würde er ihn suchen. Was im Grunde sogar der Wahrheit entsprach, wenn auch aus vollkommen anderen Gründen.

Nataniel wollte Amanda nicht zu viele Informationen über das ehemalige Rudel seines Vaters geben, weshalb er sich sehr genau überlegte, was er zu ihr sagte. Sie war der Feind und das durfte er nicht vergessen. Erst recht nicht, da die Seite seiner Verbündeten gerade ziemlich leer war.

„Gerüchten zufolge gibt es hier in der Gegend ein neues Alphatier. Da es mit dem Alten nicht lange gefackelt hat, nehme ich an, dass man mit dem Kerl nicht gerade ein Kaffeepläuschchen halten kann. Du solltest dich also besser von ihm fernhalten. Menschen haben weniger zu befürchten als wir, aber wenn man dich am falschen Ort und zur falschen Zeit erwischt, kann das Folgen haben.“

Obwohl er sich nicht sicher war, ob sie sich nicht verteidigen könnte. Letzte Nacht hatte sie beeindruckende Fähigkeiten an den Tag gelegt, aber danach war sie vollkommen schutzlos gewesen. Er hätte sie töten können und sie hätte sich nicht gewehrt. Da war er sich sicher.

Der leere Teller mit dem Steak verschwand und ein Blaubeermuffin und die Croissants mit Butter erschienen. Als Dessert zu seiner halb ausgetrunkenen Schokolade war das einfach ein krönender Abschluss.

„Ich bin mir sicher, es ist auch in deinem Sinne, nicht gleich aufzufallen.“

Wenn sie erst einmal nähere Informationen hatten, würde Nataniel sich alleine auf die Suche nach dem neuen Rudelführer machen, damit er sich gegebenenfalls einschleichen konnte. Dabei war es aber verdammt wichtig, dass niemand seine wahre Identität kannte.
 

Nun warf sie ihm doch einen Blick und sogar ein Lächeln zu, das allerdings verriet, dass sie es nicht zu herzlich meinte. Sie hatte seine Entscheidung durchaus nicht überhört und war zufrieden, dass er sich so entschieden hatte. Das ersparte ihnen beiden eine Menge Arbeit und Energie. Er mochte zwar ein Einzelgänger sein, aber nicht so verbohrt, wie sie angenommen hatte.

Prima, für logisches Denken war sie immer offen.

„Ach, dann nimmst du mich also freiwillig mit?“ Sehr gute Nachrichten.

Nachdem er sich die Wanze am Hals entfernt hatte, wäre es sehr viel schwieriger geworden, ihm zu folgen. Die Informationen, die er ihr gab, waren auch nicht ohne, allerdings sollte er schon jetzt, da sie sich weniger als ein paar Tage kannten, davon ausgehen, dass sie sich nicht vor diesem Anführer verstecken würde.

Eine Felidae war im Grunde genauso gefährlich wie jeder Andere. Es mochten zwar ein paar dabei sein, die aggressiver waren als der Rest, aber Raubtiere waren sie alle. Und Amanda war durchaus klar, dass es nicht gesund war, sich unvorbereitet mit einem von ihnen anzulegen. So dumm würde sie nicht sein.

„Natürlich will ich nicht gleich auffallen. Aber ich kann durchaus auf mich aufpassen, danke.“

Sollte dieser Anführer oder auch ein ganzes Rudel Eric auch nur ein Haar gekrümmt haben, konnten sie was erleben. Sie konnte es durchaus mit ein paar Gegnern aufnehmen, wenn sie sich richtig konzentrierte und ausreichend Schatten nutzen konnte.

Beinahe wäre ihr die Tasse aus der Hand gefallen, als die Erinnerung mit einem Mal zurückkam. Das war kein Traum gewesen. Er hatte sich tatsächlich über sie gebeugt und an ihrem Gesicht geschleckt.

Klimpernd pfefferte sie die Tasse auf den Unterteller und sah ihn wütend an.

Dass die Wut eher gegen sie selbst gerichtet war, musste er ja nicht wissen.

„Was sollte das letzte Nacht?“

Da sich nun noch mehr Leute zu ihnen umsahen, dämpfte Amanda ihre Stimme etwas, behielt aber ihren Blick bei, der sich in Nataniels blaue Augen bohrte.

Er sah sie etwas überrascht an und kaute seelenruhig auf seinem Croissant herum, als wüsste er gar nicht, wovon sie da redete.

„Solltest du noch einmal versuchen, an mir rumzuschlecken, nagle ich dich mit dem Schwanz an die Wand, verstanden? Und zwar mit beiden!“
 

Als Amanda darauf hinwies, dass sie durchaus auf sich selbst aufpassen konnte, dachte er wieder an letzte Nacht und entschied, sich einen passenden Kommentar zu verkneifen. Es könnte eine Ausnahme gewesen sein, aber da war immer noch ihre Waffe. Trotzdem nahm er sich vor, sie im Augenblick noch nicht allzu ernstzunehmen. Sie würde sich in seinen Augen erst beweisen müssen, und zwar, wenn es wirklich ans Eingemachte ging.

Als Amanda auf einmal die Tasse auf den Unterteller pfefferte, glaubte er einen Moment, es würde irgendwo brennen, da sich ihre Wut aber auf ihn richtete, war es wohl falscher Alarm.

Weshalb er sich fragte, womit er das jetzt verdient hatte. Er hatte doch nichts Falsches gesagt und sich sogar relativ anständig benommen. Also völlig unbegründet.

Nachdem sie aber von letzter Nacht anfing, fragte er sich ernsthaft, wie sie jetzt darauf kam. Hätte sie ihm nicht schon am Morgen die Hölle heißmachen können? Obwohl, im Moment verspürte er nicht mehr, als ein warmes Lüftchen. Bei ihm brauchte es schon mehr als diese Drohungen, um ihn abzuschrecken. Weshalb er sich ebenfalls etwas über den Tisch beugte, damit nicht jeder ihr Gespräch hören konnte, und ihr dabei ungeniert in die Augen starrte.

Sie waren so hellbraun, wie seine eigentlich hätten sein sollen, wenn er nicht so sehr aus der Art schlagen würde.

„Tja, das kann ich dir leider nicht versprechen“, schnurrte er gelassen, als würde ihr wütender Blick ihn nicht regelrecht braten.

Immerhin wollte das Tier in ihm ganz andere Sachen mit ihr anstellen, als nur zu lecken und selbst das klang schon ziemlich gut.

Nataniel hätte diese Erkenntnis schockieren sollen, immerhin war sie der Feind, aber Amanda war wirklich ein Kaliber für sich. Er wusste so etwas zu schätzen, weshalb er gedanklich nur schmunzeln konnte.

Sollte sie doch versuchen, seine Schwänze an die Wand zu nageln. Das klang nach ziemlich viel Spaß, sofern sie das Endergebnis nicht erreichte.

„Außerdem würde ich gerne von dir hören, was das gestern Nacht war.“

Mit kühler Miene lehnte er sich wieder zurück und spielte mit seiner Serviette, während er auf die Straße starrte. Ihre nächtliche Ausstrahlung hatte er immer noch nicht vergessenen. Das fauchende Tier in ihm ebenfalls nicht.

„Werden solche wie du, auch registriert, oder kommt ihr euch besser vor, weil ihr menschlicher seid, als wir?“, fragte er mit einem leisen Knurren, empört darüber, dass jemand wie sie überhaupt für die Organisation arbeitete.
 

Es fühlte sich so an, als hätte er ihr einen Kübel Eiswürfel in den Magen geschüttet und damit ihre Wut sofort verrauchen lassen. Sein Seitenhieb mit der Registrierung traf sie nicht wirklich, denn was er nicht wusste, war, dass sie tatsächlich selbst ein Tattoo trug. Wenn auch nicht an einer so offensichtlichen Stelle wie die Wandler.

Genauso wie ihre Mutter eins gehabt hatte. Bloß die Nummern und Buchstaben hatten sich unterschieden, was Amanda schon als Kind lächerlich gefunden hatte. Immerhin war es die gleiche Fähigkeit, ob man nur Mond- oder Sonnenschatten besser nutzen konnte, war doch völlig gleichgültig.

Ein Stich in ihrer Brust ließ sie leicht zusammenfahren und das Eis in ihrer Magengrube legte eine Gänsehaut über ihre Arme. In dieser einen Nacht hatte es einen Unterschied gemacht. Amandas Mutter war nicht wieder aufgetaucht, weil ihre Fähigkeit im Mondlicht nicht so gut funktioniert hatte wie am Tage. Bei ihrer Tochter war es genau anders herum. Hätte sie damals den Tiger in die Schatten mitgenommen, wäre ihre Mutter bestimmt noch am Leben.

Langsam hob sie den Blick und sah Nataniel an, der immer noch aus dem Fenster schaute und an seiner Serviette herumfingerte.

„Das gestern Nacht war ein Unfall.“

Ihre Stimme klang leicht belegt, was sie aber durch ein kleines Räuspern behob.

„Da wir jetzt sozusagen Partner sind, solltest du wahrscheinlich tatsächlich wissen, was … ich bin.“

Mehr Mensch als er, das stimmte. Aber dennoch nicht Mensch genug, um diesen Makel, den man mit einem Tattoo für alle sichtbar gemacht hatte, jemals vergessen zu können.

„Irgendjemand hat sich einen albernen Namen für Menschen wie mich ausgedacht. Wahrscheinlich irgendein Freak, der normalerweise zu Hause sitzt und Fantasybrettspiele spielt.“

Es war so, als würde sie gegen eine Wand reden. Bloß ein kurzes Zucken seiner Augen in ihre Richtung brachte sie dazu, weiterzusprechen.

„Es ist eigentlich leicht zu erklären. Im Grunde ist es so, dass ich meinen Körper im Schatten auflösen kann, um im Licht wieder aufzutauchen und anders herum. Schatten und Schatten gehen auch, aber …“

Nein, das war genug. Was in den Fällen passierte, musste sie ihm wenn überhaupt erst erklären, wenn es einmal nicht anders ging.

„Sagen wir einfach, je mehr Schatten, desto größer die Wirkung.“

Aber nicht ihre Eigene. Als ihre Mutter sie damals ausgebildet hatte, war Amanda nur versehentlich dieses Missgeschick passiert. Es hatte ihr für einen Moment das Gefühl von Macht vermittelt, die grenzenlos, aber nur einen Hauch vom Wahnsinn entfernt war.

Heute, als erwachsene Frau würde sie selbst ein anderer, talentierter Schattengänger nicht mehr so leicht aus diesem Zustand herauszerren können. Aber Amanda würde sich auch nie zu diesem Experiment hinreißen lassen.
 

Ein Unfall also?

Ja, danach hatte es auch wirklich ausgesehen.

Er würde es eher eine Katastrophe nennen. Gut, er hätte sie vielleicht nicht wecken sollen und schon gar nicht in seiner Tiergestalt, aber so oder so. Egal was er getan hätte, es wäre ohnehin falsch gewesen. Immerhin hatte sie ihn noch nicht einmal in ihrem Zimmer haben wollen. Aber an gewisse Dinge musste man sich eben gewöhnen.

Nataniel war wirklich neugierig darauf, was sie ihm gleich sagen würde. Alleine die Vorstellung, dass er einen Partner, oder in diesem Fall eine Partnerin haben sollte, kam ihm ziemlich seltsam vor. Als eingefleischter Einzelgänger war das wohl auch kein Wunder. Dennoch, auch wenn er noch immer aus dem Fenster starrte, so hörte er ihr doch gespannt zu. Es war immerhin nur zu seinem Besten, wenn er den Feind näher kennenlernte. Somit war er nicht so sehr im Nachteil. Da Amanda bereits sehr viel über ihn zu wissen schien.

Als sie ihm ihre Fähigkeit erklärte, drehte er sich schließlich doch wieder zu ihr herum und lehnte sich lässig zurück, sah aber durchaus interessiert aus.

„Ist es dir in dem Fall egal, wie weit der Schatten weg ist? Ich meine, kannst du dich von hier in ein völlig anderes Land … ich weiß nicht, wie du das nennst … sagen wir einfach 'springen'? Oder nur kurze Distanzen?“

Vor allem würde ihn interessieren, was sie mit ihm gemacht hatte, als sie ihn regelrecht dazu gezwungen hatte, sich zu verwandeln. Zwar hatte er dank ihr sein Erinnerungsvermögen wieder, aber er würde sich sicherlich nicht dafür bei ihr bedanken. Wenn er daran dachte, war ihm eher das Gegenteil zu Mute.

„Und wie nennen die deine Fähigkeiten nun?“, wollte Nataniel weiter wissen, während er ihr in die Augen blickte.

„Außerdem hatte ich gestern das Gefühl, es würde sich nicht gerade angenehm anfühlen, wenn du in die Schatten gehst.“
 

Als er sich nun doch wieder zu ihr umdrehte und sich lässig gegen die Rückbank lehnte, zog Amanda automatisch ihre Füße zur Seite. Irgendwo musste er mit seinen langen Beinen schließlich hin, wenn er sich so ausstreckte.

„Ja, eigentlich ist die Distanz egal. Aber je weniger ich über den Ort weiß, an dem ich lande, desto gefährlicher ist es. Wenn ich beispielsweise von hier hinter die Theke da hinten in die Küche wechseln würde …“

Sie sah, wie sein Blick ihren Gedanken folgte und er ihn auf die Durchreiche zur Küche richtete.

„Dann muss ich abschätzen, wie groß die Entfernung ist. Außerdem könnte irgendetwas auf dem Boden stehen. Dann würde ich mich halb in irgendeinem Gegenstand wieder zusammensetzen.“

Auch dann konnte sie sich noch retten, wenn sie genug Zeit und Kraft zur Verfügung hatte. Aber ihre Ausbildung war nicht lang und ausreichend genug gewesen, um solche Dinge derart unter Kontrolle zu haben wie er seine Wandlung.

Ein wenig Neid stieg in Amanda auf, als ihr klar wurde, dass er sicher noch nicht einmal Schmerzen verspürte, wenn er sein Fell an- oder ablegte.

Wie schön für ihn.

„Du hast’s getroffen. Der Kerl mit der Zahnspange und den aufgeklebten Elfenohren war nicht unbedingt der Phantasievollste. Ich bin eine Schattengängerin.“

Als sie es aussprach, zeigten sich Lachfältchen um ihre Augen, die amüsiert aufblitzten.

„Nein, es fühlt sich nicht angenehm an. Aber das ist auch der Vorteil daran. Ich kann Anderen genau die gleichen Schmerzen bereiten, die ich durchlebe, sogar mehr, wenn es denn sein muss.“

Es war nicht einfach und sie tat sich dabei auch immer selbst weh. Aber es war eine Waffe, die ihr niemand nehmen konnte und das gab ihr ein einigermaßen sicheres Gefühl.
 

Beeindruckend, wenn sie sich wirklich von hier nach dort bewegen konnte. Das war sicher ziemlich nützlich, wenn man es gut beherrschte. So wie gestern, als sie sich einfach unter ihm weg verpufft hatte. Oder im Wald, wo sie plötzlich hinter ihm stand. Allerdings hätte er sie da erwischt, wenn sie ihn nicht so überrascht hätte. Nataniel war immerhin alles andere als langsam.

„Schattengängerin“, wiederholte er das Wort und ließ es sich auf der Zunge zergehen. Danach streckte er sich einen Moment, weil er nun wirklich angenehm satt war und eigentlich sehr viel Lust auf eine Stunde Schlaf hätte. Vielleicht auch mehr. Aber da das natürlich absolut nicht ging, stellte er sich schon einmal darauf ein. Es war immerhin nicht so, dass er es unbedingt nötig hätte.

„Ich finde den Namen passend.“

Das meinte er ernst. Daran war für ihn absolut nichts Verrücktes. Genauso wie Gestaltwandler. Im Grunde war es nur eine Bezeichnung für eben das, was es ist. Als Amanda allerdings mit den Schmerzen anfing, wurde er wieder ernst und er konnte gerade noch so ein Knurren unterdrücken.

„Wirklich sehr nett, diese Methode mit dem Schmerz. Leider nicht sehr wirkungsvoll bei Gestaltwandlern.“

Nataniel würde um nichts auf der Welt zugeben, dass sie ihn im Wald eiskalt erwischt hatte. Eine Verwandlung ohne Zutun eines Willens war kein Zuckerschlecken und zog sich nur unnötig in die Länge. Er konnte froh sein, dass wenigstens sein Körper genau wusste, wie er am Ende auszusehen hatte, sonst wäre ihm womöglich noch ein fünftes Bein aus dem Hintern gewachsen oder so etwas in der Art.

„Ich weiß nicht, ob es dir bewusst ist, aber wenn wir uns verwandeln, ist der Schmerz dem sehr ähnlich, den du mir im Wald zugefügt hast.“

Weshalb es jungen Gestaltwandlern schwerer fiel, sich oft zu verwandeln. Sie waren noch nicht so geübt darin und wollten dem Schmerz lieber entgehen. Doch in Nataniels Alter dauerte eine Wandlung nur wenige Sekunden und das war wirklich auszuhalten. Vor allem, da Erinnerungen an Schmerz sehr schnell verblassten. Es war, wie wenn man sich ein Pflaster mit einem Ruck von der Haut riss, als es langsam abzuziehen. Umso schneller, umso besser.
 

Amanda fühlte sich in die Defensive gedrängt von Nataniels Reaktion auf ihre Erklärung mit den Schmerzen. Sie war keine durchgeknallte Mörderin und ganz sicher genoss sie es nicht, anderen Schmerzen zuzufügen. Aber wenn sie sich verteidigen musste oder jemanden, der ihr etwas bedeutete, dann würde sie es tun, ohne zu zögern. Unter Garantie hatte er schon mehr Menschen wehgetan oder sogar getötet, als dass er sich ein Urteil über sie erlauben konnte.

Schon wieder hatte er es geschafft, sie nur mit ein paar Worten wütend zu machen. Sie würde mehr auf das achten müssen, was sie sagte, um diesem Kerl nicht noch mehr Angriffsfläche zu bieten.

Das mit den Wandlern war allerdings mehr als interessant, was sie auch die Ohren spitzen ließ. Waren sie sich vielleicht doch ähnlicher, als Amanda gedacht hatte?

Nein, was für ein Schwachsinn! Wie kam sie bloß auf so eine abwegige Idee? Bloß weil die Wandlung mit ähnlichen Schmerzen verbunden war wie ihre Gänge, verband sie das auf keine noch so kleine Weise. Ihre Körper lösten sich beide auf und setzten sich wieder zusammen. Auch wenn das Ergebnis vollkommen unterschiedlich ausfiel, war das Grundprinzip das Gleiche. Seltsam.
 

Nachdem er auch seinen Orangensaft ausgetrunken hatte und Amanda auch mit ihrem Kaffee fertig war, winkte er die Kellnerin zu sich, um zu bezahlen. Sie ratterte noch einmal seine ganze Bestellung hinunter, bis Nataniel ihr zwei Scheine in die Hand drückte und eine Summe nannte, die auch ordentlich Trinkgeld beinhaltete. Er fragte noch nicht einmal, ob er Amandas Rechnung begleichen durfte. Er tat es einfach. Immerhin hatte er in der Nacht auf ihre Kosten unter einem Dach schlafen können, und wenn es nach ihm ging, würde das auch so bleiben, bis sich ihre Wege wieder trennten oder sie sich gegenseitig zerfleischten.

„Hast du nähere Informationen über das nächstgelegene Grundstück hier? Besitzer, Eigentümer oder so etwas in der Art?“

Vielleicht konnten sie sich so schon einmal ein Bild machen, ehe sie persönlich hinfuhren. Aber eins war klar, er würde nicht mehr den Fahrer spielen.
 

Um sich von den Gedankengängen abzulenken und nicht weiter darüber zu grübeln, ob sie nun etwas gemeinsam hatten oder nicht, sah sie Nataniel dabei zu, wie er die Bedienung wieder zum Zittern brachte. Allerdings war sich Amanda inzwischen nicht mehr sicher, ob seine animalische Ausstrahlung die Bedienung ängstlich machte oder einfach nur erregte. Aber wäre Letzteres der Fall gewesen, hätte ihm das junge Ding sicher in die Augen gesehen und nicht nur auf den Kragen seines Shirts.

Das „Danke“ entkam ihr, ohne dass sie es hätte stoppen können, obwohl sie sich fast auf die Zunge biss, bei dem Versuch, es doch noch aufzuhalten, als es ihr schon über die Lippen war.

Sein süffisantes Lächeln machte sie beinahe wahnsinnig. Am liebsten hätte sie ihm unter dem Tisch gegen sein Schienbein getreten. Aber sie riss sich am Riemen. Immerhin waren sie hier in der Öffentlichkeit und so wie sie ihr Gegenüber einschätzte, würde er ihr noch genug Gründe bieten, um ihm ein paar blaue Flecken zu verpassen.

Ohne ihn anzusehen, schob sie ihre Hand in ihre Hosentasche und förderte den PDA zu Tage.

„Ach, jetzt ist dir mein kleines Gerät also gut genug?“

Sie tippte auf dem Display herum und überlegte, nach was sie suchen sollte.

Die Gestaltwandler waren nicht registriert, so viel wussten sie beide. Also würde eine direkte Suche über die Datei der Organisation nichts bringen. Aber ein Satellitenbild konnte ihr die Häuser im Umkreis der Stadt zeigen und wem das Grundstück gehörte.

„Die nächste Farm liegt nur zehn Minuten Fahrt von hier. Gehört einem Thomas Jeffreys mit seiner Frau. Keine Vorstrafen, keine Auffälligkeiten. Wie nah müssen wir ran, damit du erkennen kannst, ob er einer von … Ob er ein Gestaltwandler ist?“

Vielleicht konnte er es schneller erkennen, als es ihr möglich war. Immerhin musste es doch einen Vorteil haben, dass sie das zusammentaten.

Eine ihrer Augenbrauen kräuselte sich leicht, als sich ihr anscheinend zum ersten Mal die Frage aufdrängte, was Nataniel eigentlich davon hatte, sie mitzunehmen. Aus Gründen überschäumender Sympathie würde er es sicher nicht tun.
 

Nataniel kostete seinen kleinen Triumph über Amanda so richtig aus, auch wenn er sich äußerlich lediglich mit einem Lächeln zufriedengab. Er spürte genau, dass ihr das 'Danke' nur so herausgerutscht war.

Zum Glück war ihm das noch nicht passiert, sonst müsste er sich selbst in den Hintern treten. Als wenn er sich bei Amanda jemals bedanken würde. Die Frau war der Grund, wieso er überhaupt hier war. Auch wenn es wohl eher indirekt damit zusammenhing. Außerdem sollte sie sich nicht so für ihr Spielzeug einsetzen. Wenn er alleine wäre, hätte er sich eine Straßenkarte besorgt, die betreffenden Bereiche markiert und wäre einfach losgezogen.

Obwohl er zugeben musste, dass es leichter war, wenn man bereits wusste, wer auf den Grundstücken wohnte.

„Wir können es zuerst mit der einfachen Methode versuchen: Wir tun so, als hätten wir uns verfahren, wenden auf der Einfahrt, und während wir das tun, kann ich mich umsehen und Gerüche aufschnappen. Sollte das nicht genügen, steige ich ein Stück weiter entfernt aus und schaue mich unauffällig in der Gegend um, und zwar alleine. Einverstanden?“

Nicht, dass er viel auf ihre Meinung gab, aber bevor sie ihm wieder Probleme verursachte, und das im falschen Augenblick, wollte er lieber vorher die Sachlage klarstellen.

„Also, wenn du auch bereit bist, können wir dann los? Du fährst.“

Sein Tonfall duldete keine Widerrede, weshalb er seine Aussage auch noch einmal dadurch bekräftigte, dass er einfach aufstand und zur Tür ging, ohne auf Amanda zu warten.

8. Kapitel

Fünf Minuten später saß er mit heruntergelassenem Fenster auf der Beifahrerseite und ließ sich den Wind durch die Haare wehen, während Amanda das Steuer übernahm. Die Gegend, an der sie vorbeifuhren, bot wirklich etwas fürs Auge. Die Silhouetten von Bergen, grünen Wäldern und Wiesen und immer wieder ein kleines Bächlein.

Schließlich bogen sie auf einen gut gepflegten Schotterweg ein, der ein Stück durch den Wald führte, ehe sie wieder ins Freie kamen.

Nataniel streckte so unauffällig wie möglich noch ein bisschen weiter den Kopf aus dem Fenster und sah sich genau um. Es roch unauffällig nach Hund, vermutlich auch ein paar Katzen und das, was wohl am Wichtigsten war – Menschen.

Auch das Haus, vor dem Amanda den Wagen wendete, sah alt aber gepflegt aus. Also eine Niete. Nichts deutete auf Gestaltwandleraktivitäten hin. Weshalb sie schließlich das nächste Ziel ansteuerten.

Eine winzig kleine Farm, die einer Familie namens Cleary gehörte. Fünfzehn Minuten von der Stadt entfernt, in einer eher ruhiger gelegenen Gegend. Wenn das überhaupt noch möglich war.

Dieses Mal war die Straße von einigen Schlaglöchern versehen und das Gras an den Seiten stand bereits hüfthoch. Nataniel sagte nichts, auch wenn ihn Unruhe erfasste. Er roch nichts Unauffälliges, aber sein Instinkt warnte ihn.

„Dreh dieses Mal zügiger um“, befahl er tonlos, da er nichts riskieren wollte, in dem der Wagen extra langsamer fuhr, nur damit er besser die Gerüche aufnehmen konnte.

Kurze Zeit später wurde auch klar, wieso das gar nicht so wichtig war. Nataniel hätte 'Bingo' gesagt, wenn er sich nicht ein anderes Ergebnis gewünscht hätte.

Haus und Hof waren leicht heruntergekommen. Verstreut liefen Hühner durch die Gegend. Der Kuhstall war leer und die Tür mit Kratzspuren und rostbraunen Flecken übersät – getrocknetes Blut. Er war sich sicher, auch wenn er es durch den Fahrtwind nicht riechen konnte.

Nataniels Herz begann zu rasen und Adrenalin schoss ihm durch die Venen. Am liebsten hätte er sich sofort in ein Raubtier verwandelt, doch er musste ruhig bleiben.

„Okay, fahr wieder bis zur Hauptstraße“, flüsterte er Amanda so leise und unauffällig zu, als könne man sie hören.

„Lagebesprechung.“
 

Seit sie das Café verlassen hatten, war von Amandas Seite kein Wort zwischen ihnen gefallen. Der Dodge war aus der kleinen Stadt hinaus über die Landstraße gerollt und dann in einen der vielen Waldwege eingebogen.

Der Wald war Amanda nicht unheimlich, aber wenn sie bedachte, dass sich hier hordenweise Wandler herumtrieben, wurde ihr doch ein wenig mulmig in der Magengegend.

Allerdings würde sie den Teufel tun und das vor Nataniel zugeben. Also schwieg sie lieber ganz und konzentrierte sich auf die Fahrt und das, was vielleicht vor ihnen lag.

Sie wusste nicht, was sie erwarten sollte. Der Weg wurde zuerst unwegsamer, mit Schlaglöchern und abgeschwemmten Böschungen, um dann in eine Auffahrt überzugehen.

Amanda warf einen weitschweifenden Blick über das Gelände, das Farmhaus und schließlich zu dem Mann neben ihr. Er hatte die ganze Zeit das Fenster herunter gekurbelt gelassen und jetzt musste sich Amanda stark zusammenreißen, um ihm den Vergleich, der sich ihr aufdrängte, nicht an den Kopf zu werfen.

Es fühlte sich tatsächlich so an, als hätte sie einen Spürhund dabei, der seine Schnauze prüfend aus dem Fenster hielt und keinen erwachsenen Menschen. Aber anscheinend schlugen seine Katzensinne nicht an, weswegen er Amanda zur nächsten Farm weiterbeorderte.

Dort bot sich ihnen ein völlig anderes Bild. Alles hatte eine leicht verlassene Aura und das Blut und die Kratzer an der Holztür ließen Amandas Magen sich ein wenig zusammenziehen.

Gerade wollte sie ihren Fuß auf die Bremse setzen, als Nataniels tiefe Stimme ihre genau das Gegenteil auftrug.

Warum wollte er sich zurückziehen, anstatt sich umzusehen?

Wahrscheinlich hatte er wirklich vor Amanda an der Hauptstraße auszusetzen und sich allein auf den Rückweg zu machen. Bereits jetzt saß er so angespannt auf dem Beifahrersitz, dass sie befürchtete, er würde sich verwandeln, bevor der Wagen überhaupt zum Stillstand gekommen war und auf flinken Pfoten im Wald verschwinden. Das konnte er sich geschmeidig abschminken.

Selbst wenn sie ihn verlor, konnte sie allein zur Farm zurückfahren, um sich dort umzusehen. Amanda brauchte keine Sinne eines Raubtiers, um zu wissen, dass die anderen Felidae sie dort früher oder später finden würden, wenn sie nur lange genug wartete.

Selbst als sie den Dodge anhielt und den Motor abstellte, sagte sie nichts. Sollten sich dieser Kater und sein Ego doch so vorkommen, als wären sie die Leiter dieser Aktion. Immerhin machte das die Sache für Amanda sicher bloß einfacher. Wie lautete doch dieser alberne Spruch? Halt dir deine Freunde nah und deine Feinde noch viel näher.

„Also, Lagebesprechung. Hast du mehr gerochen, als ich sehen konnte?“

Noch wollte sie sich nicht umzingelt vorkommen oder verfolgt. Im Endeffekt waren sie doch hier die Verfolger. Die Anderen wussten nicht, dass sie nach ihnen suchten. Oder hatte sich dieser Vollidiot nicht nur anfahren lassen, sondern auch noch seiner ganzen Familie … seinem Rudel … wie immer man das nannte, mitgeteilt, dass er hier war?

Amanda war kurz davor nach ihrer Waffe zu greifen, als ihr auffiel, wie vertrauensselig sie gewesen war.

Dieser Kerl war ihr Feind. Der Feind der Organisation. Wie hatte sie so ihre Deckung fallenlassen können? Wann war das überhaupt passiert? In der letzten Nacht, die er neben ihr verbracht hatte?

Er hätte sie töten können, aber er hatte es nicht getan. Das hieß aber nicht, dass er es nicht noch tun würde. Vielleicht wollte er sie zu seinen Freunden führen, um seine Beute mit ihnen zu teilen.

Ein kleines Feuer schien langsam in ihrem Inneren zu schwellen, aber noch gab Amanda der Wut nicht nach. Der Kater konnte ihr nützlich sein. Sie musste nur den Schutzschild oben lassen.
 

Während Amanda den Wagen zurück auf die Hauptstraße fuhr, um dort auf einem Seitenstreifen zu parken, war Nataniel so wachsam, wie er es in dieser Gestalt nur sein konnte. Seine Sinne waren zwar besser als die von Menschen, aber perfekt waren sie nicht. Darum konzentrierte er sich auf alles, was er aufschnappen konnte. Die Schatten der Bäume. Irgendwelche auffälligen Geräusche. Fußspuren am Straßenrand, oder dergleichen.

All das galt lediglich, um sicherzugehen, dass man sie weder ertappt noch verfolgt hatte. Denn das dieses Haus alles andere als verlassen gewesen war, hatte er sofort auf den ersten Blick erkannt.

Vielleicht war der Gestaltwandler gerade nicht zuhause gewesen, oder hatte anderweitig zu tun. Auf jeden Fall wäre es ziemlich dumm, dort noch einmal so offensichtlich aufzukreuzen. Was auch immer dort im Haus nun wohnte, war alles andere, als die besagte Familie Cleary.

Als Amanda ihn ansprach, hob er die Hand, um ihr mitzuteilen, dass er einen Moment lang nachdenken musste. Dann schloss er die Augen, stützte seinen Kopf auf seinen Händen ab und versuchte sich noch einmal die Sinneseindrücke in die Gegenwart zu rufen.

Da waren nicht nur Kratzspuren auf der Stalltür gewesen, sondern auch an der Scheune, auf einigen Obstbäumen und auch an der Hausfassade. Allerdings waren diese Kratzspuren viel zu klein, um von einem ausgewachsenen Raubtier zu stammen. Eher wie die einer großen Hauskatze.

Das bedeutete höchstwahrscheinlich, dass die Familie kleine Kinder hatte. Gestaltwandlerkinder. Zumindest deuteten die herumliegenden Spielsachen daraufhin. Es waren nicht viele, aber ein paar hatte er sehen können. Bauklötze im hohen Gras. Ein kleiner Spielzeugtraktor auf dem Sandhaufen. Eine Puppe, die gegen das Fenster mit den Spitzenvorhängen gelehnt da lag. Window-Color-Motive an den Glasscheiben, viele davon stellten Luchse dar. Also mehr als genug Beweise.

Allerdings war die ganze Familie verschwunden. Und wenn die Clearys wie Nataniels Pflegeeltern auch Kühe gehabt hatten, dann würden sie diese definitiv nicht einfach so im Stall töten und auffressen. Denn danach hatte die blutige Tür schwer ausgesehen. Irgendwie fast so, als wäre der Stall geplündert worden und nur die restlichen Hühner waren übriggeblieben, weil sie entweder einfach zu klein oder noch nicht an die Reihe gekommen waren. Dann war da auch noch der flüchtige Geruch eines Leoparden gewesen. Nataniel glaubte aber, dass die Familie, die dort wohnte oder gewohnt hatte, zu den Luchsen gehörte.

Die Bilder an den Fenstern und die kleinen Kratzspuren könnten darauf schließen. Sicher war er sich allerdings nicht. Dennoch, es waren sicher keine Leoparden, ansonsten hätte er mehr als nur einen Geruch aufgeschnappt. Leider verblassten die Duftnoten schnell und in seiner menschlichen Form waren sie nicht hundertprozentig zuverlässig.

Nataniel seufzte einmal tief, ehe er sich wieder aufrichtete und aus dem Fenster sah, um die Umgebung weitestgehend zu überprüfen.

„Also, meine Vermutung ist folgende: Die Familie Cleary wohnt schon seit schätzungsweise einigen Wochen nicht mehr hier, wenn man den Verfall des Hofes bedenkt. Allerdings bin ich mir sicher, dass inzwischen jemand anderes dort unbefugt eingezogen ist. Ein Gestaltwandler. Vielleicht sogar ein Leopard. Er war es wohl auch, der das Vieh gerissen hat. Da er sich aber ansonsten nicht um den Hof gekümmert hat, nehme ich an, dass er nicht mit Erlaubnis dort wohnt. Vielleicht hatte er sogar etwas mit dem Verschwinden der Clearys zu tun.“

Wenn es wirklich Luchse gewesen waren, hätten sie gegen einen Leoparden keine Chance. Dafür waren diese Raubkatzen einfach zu klein. Doch sein Vater hätte niemals zugelassen, dass ein Gestaltwandler anderen ihr Heim wegnahm. Auf so etwas folgten normalerweise harte Strafen. Allerdings war auch sein Vater sicher schon seit einigen Wochen nicht mehr am Leben.

Vermutlich war die Familie Cleary sogar ein Opfer der Rudelübernahme und der neue Hausbesitzer hatte sich auf blutige Weise sein Wohnrecht verdient.

„Sicher kann ich mir bei alldem natürlich nicht hundertprozentig sein, ohne dass ich noch einmal gründlich nachgesehen habe. Allerdings ist es gefährlich.“

Damit meinte er nicht für sich, obwohl das auch zuträfe, weil er im Augenblick nicht seine ganzen Kräfte zur Verfügung hatte, sondern seine Aussage betraf Amanda.

Sie sah ihm wie ein ziemlich harter Brocken aus, der sich garantiert nicht damit zufriedengab, wie ein kleines Kind alleine im Auto sitzenzubleiben.

„Ich werde mir die Sache noch einmal genauer ansehen“, meinte er schließlich, während er sich schon das Hemd über den Kopf zog und auf die Rückbank schmiss.

„Du kannst hier warten oder sonst was tun, aber ich rate dir davon ab, mir zu folgen.“

Mit diesen Worten öffnete er die Tür, und noch ehe sie zugefallen war, war er auch schon im Wald verschwunden, wo er seine restlichen Kleider auszog, um sich zu verwandeln.
 

Glaubte er denn tatsächlich, dass sie hier warten würde? Da er nicht einmal auf ihre Reaktion wartete, war anzunehmen, dass es ihm ohnehin egal war, was sie tat.

Amanda war nicht dumm. Ihr war durchaus klar, dass es gefährlich sein würde, zu der Farm zurückzugehen. Immerhin hatte dieser Gestaltwandler es geschafft, eine ganze Familie zu vertreiben. Aber wenn er nur allein war, sollte er doch keine so große Gefahr darstellen, dass Amanda damit nicht fertig werden konnte. Sie war schon seit Jahren bei der Organisation und das war nicht das erste Haus, in das sie ging, ohne genau zu wissen, wie viele Raubtiere dort auf sie warten würden. Und von Nataniels falschem Heldentum würde sie sich bestimmt nicht aufhalten lassen.

Ganz im Gegenteil, denn sie musste immer noch davon ausgehen, dass er sie die ganze Zeit an der Nase herumgeführt hatte und eigentlich auf der anderen Seite stand. Die Seite, die etwas mit Erics Verschwinden zu tun hatte.

Natürlich war er schnell verschwunden und würde das Haus vor ihr erreichen, aber das machte nichts. In jedem Fall würde sie noch mitbekommen, wie er sich dem anderen Felidae gegenüber verhielt, wenn dieser denn überhaupt noch anzutreffen war. Immerhin war das Auto bestimmt gesehen worden, sollte jemand im Haus gewesen sein.

Amanda rechnete nach den Angaben ihres PDAs mit vier Wandlern. Der Panther hatte sie davon überzeugen wollen, dass es noch einen Leoparden gab, plus ihn selbst. Ergab also sechs Angreifer, mit denen sie möglicherweise allein fertig werden musste.

Amanda stieg aus und lief den Weg entlang, den sie gerade mit dem Auto von der Farm hergekommen waren. Ihre Waffe trug sie bereits in der Hand und erst auf den letzten Metern wurde sie langsamer, sah sich um und versuchte auf jedes kleine Geräusch zu achten, da aus den Bäumen um sie herum kam.

Wie lieb war ihr die Großstadt, in der sie normalerweise arbeitete und in der sie die Geräusche des Angreifers gut vom sonstigen Lärm unterscheiden konnte. Hier konnte jeder knackende Ast alles vom Angreifer bis zum harmlosen Eichkätzchen bedeuten.

Mit dem Rücken an einen großen Baum gedrückt sicherte sie, so gut es ging, die Umgebung ab und blieb im Schatten stehen, um anschließend einen prüfenden Blick auf das Haus zu werfen. Vielleicht konnte sie herausfinden, ob Nataniel schon drin war, ohne zu nah heran zu müssen.

Die Spuren auf dem Kies waren nur als die von Großkatzen zu erkennen, aber nicht näher zuzuordnen. Den PDA herauszuholen, um sie bestimmen zu lassen, war ihr zu gefährlich. Sechs Wandler. Und sie konnten aus allen Richtungen zuschlagen. Amanda schluckte und ihr wurde schlecht bei der Vorstellung, dass sie eventuell beobachtet wurde und eine Katze ihre Aufregung riechen konnte.
 

Nataniel lief so schnell, wie er mit seinem verletzten Bein kam, durch den Wald. Er ließ nur insofern Vorsicht walten, dass er immer wieder einmal kurz stehen blieb, um sich einen Moment lang umzusehen, ehe er weiter rannte. Immerhin hatte er nicht vor, direkt zum Gebäudekomplex zu laufen, sondern machte einen weiten Bogen, damit er auf der anderen Seite des Hauses wieder auftauchen konnte.

Wie er dabei bemerkte, lag der Wald dahinter knapp am Naturschutzgebiet und somit dem Ort, an dem er absolut nichts zu suchen hatte, wenn es nach anderen ging. Er wollte mit seinem Bein im Augenblick auch nicht dort sein, aber das konnte ihn nicht davon abhalten, hier auf dem Hof herumzuschnüffeln.

Zuerst wollte er am Waldrand hinter dem Haus entlang streichen, um es zu beobachten, doch kaum, dass er ein paar Meter weit gekommen war, blieb er stehen und untersuchte den Boden vor seinen Füßen. Das war nicht einfach nur ein Wildwechselpfad, sondern sah nach den Fußspuren zu urteilen so aus, als würde hier regelmäßiger Verkehr von Großkatzen herrschen. Hauptsächlich waren es immer wieder die gleichen Abdrücke, was auf einen einzigen Besitzer schließen ließ, doch ab und zu tauchte auch eine andere Spur auf. Ebenfalls von einem Leoparden, aber vermutlich von einem Weibchen.

Dazwischen sah man immer wieder menschliche Fußabdrücke aufblitzen, doch es war nur zu offensichtlich, dass dieser Weg hauptsächlich als Tier genutzt wurde und er führte direkt von der Hintertür des Hauses in das Naturschutzgebiet. Es handelte sich also eindeutig um ein Mitglied des Rudels.

Da Nataniel nicht wusste, ob jemand zuhause war, hielt er sich in den Schatten verborgen, während er die Gegend erkundete. Dort sah man ihn nicht gleich, sollte jemand zufälligerweise aus den Fenstern sehen.

Die Hintertür war nur angelehnt, also nicht verschlossen. Es lagen keine frischen Duftmarken in der Luft, aber überall waren Spuren von einem Menschen, wie auch die von einem Tier.

Umso länger er sich umsah, umso mehr bekam Nataniel den Eindruck, als wäre der Hausherr im Moment nicht anwesend. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis er hier wieder aufkreuzte. Dennoch, er musste es riskieren. Irgendetwas sagte ihm, dass er in dieses Haus reingehen musste.

Nach kurzem hin und her Überlegen stieß er schließlich mit der Pfote die Hintertür so weit auf, dass er hindurchschlüpfen konnte.

Das Haus war zwar alt, aber vor kurzem sicher noch ein gemütliches Plätzchen gewesen. Jetzt allerdings glich es einem Trümmerfeld und vor allem stank es penetrant nach männlicher Raubkatze, die dies als ihr Heim ansah. Menschen würde der Geruch vermutlich kaum auffallen, aber für Nataniels tierische Instinkte war das wie ein deutliches Warnsignal. Er befand sich gerade im Revier eines anderen und müsste eigentlich sofort die Kurve kratzen, wenn er nicht daran interessiert war, dieses Gebiet zu übernehmen.

Seltsamerweise war der Geruch im Haus stärker und draußen nur sehr schwach, so als kam sich der Besitzer hier sicherer vor, um uneingeschränkt seinen Besitz zu beanspruchen.

Das Haus selbst war mit unzähligen Kratzern in den Wänden, den Böden und sogar an der Decke übersät. Teilweise sahen die Isolierungen und elektrische Leitungen heraus. Die Möbel waren zu Kleinholz verarbeitet worden. Im offenen Kühlschrank gammelten Obst und Gemüse vor sich hin, die Milch war schon längst sauer. Geschirr lag zerschmettert auf dem Boden herum. Nataniel glaubte bei seinem Rundblick durch die Küche unter einem Scherbenhaufen auch ein Babyfläschchen gesehen zu haben, was ihm sämtliche Haare zu Berge stehen ließ.

Auch in den anderen Zimmern sah es ungefähr überall gleich aus, auch wenn einige von ihnen schon lange nicht mehr betreten worden waren. Das große Bett im Schlafzimmer war das Einzige, bei dem nicht überall das Innenleben der Matratzen herausgerissen und die Kissen restlos zerfetzt worden war.

Selbst die Babykrippe in der Ecke war nicht verschont geblieben, was Nataniel mit einem leisen Knurren zur Kenntnis nahm.

Wut begann sich in ihm breitzumachen, je mehr er von dem Haus und den Überresten seiner Bewohner sah. Zwei Kinder, zwei Erwachsene und ein Baby. Alle Familienmitglieder hatten honigfarbenes Haar und goldbraunen Augen. Zumindest war das auf einem der herumliegenden Fotos zu erkennen.

Als Nataniel eines der letzten Zimmer – auf der Tür stand in großen Lettern ‚Lisa‘ – betrat, bebte er förmlich vor rasendem Zorn. Hier musste der Kampf am härtesten getobt haben. Es war zwar nicht sehr viel, aber dennoch entging ihm das Blut auf dem Fußboden nicht.

Seine Krallen gruben sich in das Holz der Dielen, als er daran schnupperte – Luchs.

Mit einem Mal schienen die Wände viel zu beengend zu werden und das gleichmäßige Atmen fiel ihm schwer. So schnell und leise, wie er konnte, rannte Nataniel durch den Flur, die Treppe nach unten, bei der Hintertür raus und blieb wie angewurzelt stehen.

Gerade kam ein Mann Anfang vierzig, mit vernarbtem Gesicht und fettigen braunen Haaren den Trampelpfad durch den Wald entlang auf das Haus zu. Im gleichen Moment, als Nataniel zuerst die Nacktheit des anderen und dann eine seltsame Kette um den Hals des Mannes auffiel, blickte dieser hoch und erstarrte ebenfalls, als er den schwarzen Jaguar sah.

Es war, wie eine heiße Brise, als die Wut des anderen ihn direkt traf. Doch obwohl Nataniel mit seinem Zorn weitaus mehr entgegenzusetzen hatte als der Leopard, versuchte er ruhig zu bleiben.

Zwar mochte es riskant sein, doch er verwandelte sich so schnell wie möglich zurück und stand auf. Von dieser Geste des guten Willens offensichtlich angespornt kam der andere Mann rasch näher und musterte ihn mit geblähten Nasenflügeln, als würde er Nataniels Geruch in sich aufsaugen.

„Was zum Teufel machst du auf meinem Grundstück!?“, fauchte der andere deutlich aggressiv, doch auch wenn Nataniel ihm alleine für diese Behauptung am liebsten den Kopf abgerissen hätte, blieb er ruhig und so weit es sein eigener Stolz zuließ, etwas unterwürfig. Auch wenn er es kräftemäßig vermutlich mit dem anderen aufnehmen könnte, war seine Haltung leicht geduckt und er sah dem anderen nie zu lange in die Augen. Dafür fiel ihm umso deutlicher nun die Halskette des Leoparden auf. Es war ein Lederstreifen, an dem ein Stück verwesendes Fleisch mit Fell hing. Nataniel musste zweimal hinsehen, um es als Luchsschwanz zu erkennen. Zu klein, um von einem ausgewachsenen Tier zu stammen.

Mit eiskalter Wut im Bauch biss er die Zähne zusammen, um sich nicht sofort auf diese Bestie zu stürzen. Er konnte es gerade noch verhindern, dass sich seine Krallen verlängerten, aber das stärker werdende Beben seines Körpers war unmöglich zu verhindern. Zum Glück könnte man das auch als Zeichen der Schwäche oder Angst interpretieren, auch wenn ihm der Geruch dafür völlig fehlte.

„Ich suche das neue Alphatier“, begann er schließlich so ruhig und kühl wie möglich zu sprechen. Seine Stimme zitterte leicht vor unterdrückter Wut, doch der andere schien es nun eindeutig für Angst oder Unsicherheit zu halten. Denn dieser lockerte daraufhin seine steife Haltung etwas und fing sogar zu grinsen an, als wüsste er etwas, das Nataniel nicht wusste.

„Und du suchst das Alphatier bei mir? Ich sollte mich wohl geschmeichelt fühlen. Lass das allerdings bloß nicht Nicolai hören.“ Der Leopard kam näher, da aber dessen Krallen voll ausgefahren waren, soweit das in Menschengestalt eben ging, fühlte sich Nataniel keinen Moment lang sicher.

„Wie heißt du, Kleiner?“ Der Mann streifte ebenso geschmeidig wie dessen Tier in ihm um Nataniel herum. Nur mit größter Mühe konnte der Jaguar in seinem gedanklichen Käfig gehalten werden, obwohl er nur zu gerne angreifen wollte. Doch Nataniel blieb ruhig auf der Stelle stehen, auch wenn es ihm mehr als nur unangenehm war, wenn der andere sich in seinem Rücken befand.

„Josh“, log er ohne mit der Wimper zu zucken. Immerhin konnte er nicht sagen, wie viel und ob die anderen Gestaltwandler überhaupt vom Sohn des getöteten Alphatiers wussten.

„Nicolai ist also das Alphatier dieses Reviers? Wo kann ich ihn finden?“, fragte er weiter, weil er unbedingt so schnell wie möglich die Antworten wissen musste, um rasch abzuhauen. Denn wenn er noch länger auf diesen Luchsschwanz blicken musste, würde er sich nicht mehr zurückhalten können.

Diese verdammte Bestie! Wie konnte er nur Kinder töten? Ausgewachsene Männer, die einem nach dem eigenen Leben trachteten, das würde Nataniel noch verstehen, aber Frauen und Kinder?

Leise knirschend biss er die Zähne aufeinander, während er es nicht vermeiden konnte, den Blick des Leoparden schließlich länger als höflich war, zu erwidern.

„Kommt darauf an, was du von ihm willst.“ Der Tonfall des anderen wurde kälter und seine Haltung versteifte sich wieder. Erneut blähten sich seine Nasenflügel einen Moment lang, ehe Nataniel deutlich die Veränderung in dem Mann sehen konnte, auch wenn er sich nicht wesentlich bewegt hatte.

Die Luft schien sich knisternd aufzuladen, als der Grad ihrer beiden Emotionen den Siedepunkt erreichte. Nataniels Nackenhaare standen ihm zu Berge, seine Pupillen hatten sich so sehr geweitet, dass seine sonst so blauen Augen fast schwarz wirkten und seine Krallen verlängerten sich lautlos, aber deutlich sichtbar.

„Du willst ihn herausfordern.“ Keine Frage, sondern eine Feststellung. Der Leopard kaufte ihm keinen Moment länger die Unterwürfigkeit ab. Er hatte etwas in Nataniels Geruch feststellen können, das den Jaguar auffliegen ließ. Vermutlich der intensive Gestank des Leoparden, der an ihm haftete, seitdem er das Haus betreten hatte.

„Mag schon sein“, knurrte Nataniel leise und bedrohlich. Woraufhin der Leopard zu lachen anfing.

„Du armseliges Würstchen willst den Tiger herausfordern? Träum weiter!“

Gerade, als der andere zu einer neuen Lachsalve ansetzen wollte, donnerte Nataniel ihm die linke Faust ins Gesicht, was den Mann zwar nicht zu Fall brachte, ihn aber einige Schritte zurücktaumeln ließ und ihm das Grinsen aus dem hässlichen Gesicht wischte.

Das war einfach zu viel gewesen. Nataniel hatte vielleicht ein ungesund großes Ego, aber letztendlich waren es die Gedanken an das zerstörte Mobiliar im Haus und den Luchsschwanz um den dreckigen, ungewaschenen Hals dieses räudigen Katers, der ihn zum Angriff verleitet hatte.

Noch bevor der andere zum Gegenangriff übergehen konnte, sprang er auf ihn zu und verwandelte sich, noch während er in der Luft schwebte. Als er den Kerl zu Boden riss, gruben sich bereits seine Pranken in den Brustkorb des Leoparden.

Dieser war zwar von dem raschen Angriff etwas überrascht gewesen, hämmerte ihm dann jedoch mehrmals die Faust gegen Nataniels verletzte Gesichtshälfte und brachte ihn somit dazu, von ihm abzulassen. Kaum dass sich die Sicht des Jaguars wieder scharf gestellt hatte, sah er sich einem ausgewachsenen Leoparden gegenüber. Einen Moment lang umkreisten sie sich noch, doch dann griffen sie laut brüllend an.

Mit allen Waffen, die ihr Körper zu bieten hatte, attackierten sie sich gegenseitig. Prankenhiebe wurden ausgeteilt und eingesteckt. Neue Kratzspuren überzogen Nataniels Rücken und die Seite, doch auch er hatte ein paar Treffer landen können.

Anfangs behielt er die Oberhand, schaffte es sogar, dem Leoparden sein verwesendes Andenken vom Hals zu reißen, woraufhin der Luchsschwanz irgendwo im Gras landete. Doch je länger der Kampf dauerte, umso mehr begann sich die Schwäche in ihm, breitzumachen. Seine rechte Vorderpfote brannte entsetzlich und wurde immer steifer und unbeweglicher, bis er sie gar nicht mehr benutzen konnte und immer mehr Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten.

Noch immer flogen die Fetzen, doch inzwischen war Nataniel es, der haufenweise Haarbüschel und Hautfetzen verlor, während der Leopard ihn systematisch fertigmachte. Schließlich hatte Nataniel Mühe, die malmenden Kiefer des anderen von seinem Hals und Nacken fernzuhalten. Ein Biss würde genügen und er wäre tot. Doch so weit ließ er es nicht kommen. Zumindest nicht kampflos.

Mit letzter Kraft stieß er dem anderen mit ausgefahrenen Krallen die Hinterbeine in den Bauch, so dass der Leopard ihn endlich losließ. Woraufhin Nataniel sich mehr schlecht als recht versuchte in Sicherheit zu schleppen, aber natürlich würde er nicht entkommen.

9. Kapitel

Es hörte sich so an, als hätte der Panther jemanden gefunden. Allerdings beruhte die Abneigung wohl auf Gegenseitigkeit oder er hatte ein Weibchen gefunden und mochte es rauer, als Amanda ihm zugetraut hätte. Wer kannte sich da schon so genau aus?

Sie hatte noch eine Weile gewartet, um einigermaßen sicherzugehen, dass sie nicht verfolgt oder beobachtet wurde. Dann schob sie sich näher an das Haus heran und sah zuerst einmal durch die verdreckten Fenster in die leeren Räume. Es sah aus, als hätte nicht nur eine, sondern gleich mehrere Naturkatastrophen auf der kleinen Farm gewütet. Alle mit spitzen Krallen und Zähnen.

Bereits von dem Wenigen, was sie hatte sehen können, war sie angewidert. Was sich allerdings noch steigerte, als sie zur Tür kam.

Das Blut und die Kratzspuren hatte Amanda schon vom Auto aus gesehen, als sie kurz vorbei gefahren waren. Aber von Nahem konnte sie erkennen, dass sich das Blut auch über die Dielen der kleinen Terrasse zog und offensichtlich jemand weggezerrt worden war. Die Kratzer führten von der Tür weg und eine abgerissene Kralle steckte noch im Holz fest.

Bilder von einem Kampf drängten sich Amanda auf, in der allerdings die Mitglieder der Luchsfamilie mit denen ihrer eigenen Eltern verschwammen. Ihre Wut nahm ihr fast den Atem und ein Übelkeitsgefühl breitete sich in ihrem Magen aus.

Fast hätte sie die Tür mit einem Ruck aufgestoßen und wahrscheinlich blind auf alles geschossen, was sich bewegte, aber da waren die Kampfgeräusche hinter dem Haus beinahe explodiert.

Schon bei Hauskatzen war der Lärm beeindruckend, wenn sie sich stritten, aber das hier war damit noch nicht einmal mehr zu vergleichen. Das Brüllen und Fauchen musste bestimmt über einen Kilometer im Wald zu hören sein.

Wie schön, dass sie beschlossen hatten, unauffällig vorzugehen und sich dieser Kater so ausnehmend daran hielt.

„Vollidiot!“

Leise aber mit schnelleren Schritten huschte Amanda um die Hausecke herum. Das Grollen und die anderen Geräusche wurden immer lauter, bis sich vor Amandas Augen zwei Fellknäuel überschlagend in den nächsten Busch warfen.

Zu allem Überfluss lag der Panther auch noch unten und sah eindeutig abgerissener aus als sein Gegner. Er schaffte es gerade noch den Anderen von sich runter zu werfen und zog dann den Schwanz ein, um abzuhauen. Allerdings schaffte er das nur sehr angeschlagen und auf drei Beinen.

Blut troff aus seiner Wunde im Gesicht und nicht nur dort glitzerte sein Fell von der dunklen Flüssigkeit.

Mitgefühl machte sich in Amanda breit, wo sie schon gedacht hatte, es wäre nur Platz für die flammende Wut auf denjenigen, der die Familie umgebracht hatte, der die Farm gehörte.

Sie musste nicht einmal darüber nachdenken, auf welchen der beiden sie ihre Waffe richten sollte. Sie musste nur an die Spuren an der Tür und die zerstörten Zimmer des Farmhauses denken, damit sich ihre Waffe wie automatisch auf den Leoparden richtete.

Ihre Augen verengten sich ein wenig, als sie auf den Moment wartete. Es war doch immer das Gleiche und jede der Katzen war in diesem Fall gleich. Sie wollten ihren Feind nicht nur töten, sondern sie wollten eine Show daraus machen. Sich profilieren. Und wenn es nur vor sich selbst war, um ihr Ego noch mehr aufzublasen.

Weil sie wusste, dass sie Recht hatte, zielte sie ein wenig über Nataniels Körper und wartete ab.

Sie brauchte nicht lange zu warten. Die Muskeln des Leopards waren angespannt und das Tier katapultierte sich mit einem lauten Fauchen in Nataniels Richtung, um sich auf ihn zu stürzen und ihn zu erledigen. Zum Glück zog der schwarze Jaguar auch noch ein wenig den Kopf ein, um sich vor dem Angriff zu schützen, was Amanda die Sache erleichterte.

Der Schuss riss die Raubkatze direkt aus der Luft und Blätter und Dreck stob auf, als der massige Körper im Dickicht landete.

 

Als der Leopard erneut auf ihn zu sprang, dachte Nataniel nun wäre es vorbei. Natürlich hätte er sich noch so gut wie möglich gewehrt, aber letzten Endes würde er nicht mehr länger als wenige Minuten zu leben haben. Weshalb er sich schon in Erwartung des Schlimmsten zusammen duckte und den Angriff abwartete.

Dieser blieb aber überraschenderweise auf halbem Wege aus, als der Leopard mitten im Sprung aus der Luft gerissen und zur Seite geschleudert wurde.

Überrascht blickte Nataniel sich um, bis er Amanda mit gezogener Waffe sah.

Er musste nicht einmal sehen, dass es aus dem Lauf qualmte. Er konnte es auch so riechen. Also hatte sie doch den Mumm abzudrücken. Für die Zukunft würde er sich das wohl merken müssen. Doch im Augenblick hatte er wirklich andere Probleme.

Mühsam raffte er sich wieder hoch und unterdrückte jeglichen Schmerzenslaut, der ihm entkommen wollte. Vorhin, während des Kampfes hatte er die Schmerzen natürlich auch verspürt, doch erst jetzt, wo das Adrenalin langsam aus seinem Körper verschwand und nur noch die Nachwirkungen zu spüren waren, fühlte er jede einzelne Blessur.

Vor Amanda diese Schwäche zu zeigen, behagte ihm gar nicht. Doch er hätte dem Kampf nicht ausweichen können, außer er wäre gar nicht hierhergekommen. So aber war er wenigstens ein bisschen schlauer. Auch wenn es eher spärliche Informationen waren, so waren sie doch zumindest ein Anfang.

 

Amanda hatte das Gefühl, dass ihre Waffe weniger Krach gemacht hatte, als der Kampf der beiden Kater, aber trotz Schalldämpfer klingelten ihr die Ohren von der kleinen Explosion.

Sie brauchte nur wenige Schritte, um bei Nataniel anzukommen, der sie mit seinem Blick durchbohrte und ihr dann zum Körper seines Gegners folgte. Er humpelte auffällig und sah wirklich mitgenommen aus.

Amanda unterdrückte mit Mühe den Reflex, ihm durchs Fell zu streicheln. Gerade jetzt fragte sie sich unpassenderweise, ob er wohl weich war oder sich eher struppig anfühlte.

„Geht’s dir gut?“

Der Leopard atmete noch und bleckte die Zähne mit einem donnernden Knurren, als sie sich ihm näherten. Er hatte auch einige Wunden davongetragen, die allerdings alle weniger bluteten als das Loch in seiner Brust. In seiner jetzigen Form konnte er nichts verraten, auch wenn er es gewollt hätte, aber sie mussten nur warten.

Ein Beweis, dass der größere Teil der Wandler doch menschlich war, war die Tatsache, dass sie immer in menschliche Körper zurückkehrten, wenn sie starben. So war es auch bei dem Leopard, der sich bereits jetzt zu verformen begann, so wie Amanda es vor Kurzem auch an Nataniel gesehen hatte.

Er verwandelte sich nicht freiwillig, weswegen sich sein Fell schmerzhaft langsam in ihn zurückzog und sich seine Muskeln, Knochen und Proportionen angestrengt veränderten. Immerhin verließen ihn mit der Menge Blut, die er verlor, auch die Kräfte immer mehr.

Wenn man sich seine menschliche Form ansah, wäre es anders vielleicht sogar angenehmer gewesen. Nataniel hatte den Anderen ganz schön zugerichtet, auch wenn er am Ende der Unterlegene gewesen war.

 

Als Amanda vor ihm stand, versuchte er in ihrem Gesicht zu lesen, was sie wohl gerade dachte. Bestimmt war es eine ganz schöne Menge. Immerhin hatte sie gerade einen Gestaltwandler getötet. Oder besser gesagt, dieser würde gleich abtreten.

Weshalb Nataniel Amanda folgte, als sie zu dem schwer verwundeten Leopard hinüberging. Dabei fragte sie ihn nach seinem Wohlbefinden. Was Nataniel ziemlich absurd fand, immerhin sah er bestimmt so beschissen aus, wie er sich fühlte.

Zum Glück musste er ihr in dieser Form keine Antwort darauf geben, was er auch nicht tat. Im Augenblick war ihm alles andere, als nach diesen Spielchen zwischen ihnen beiden, zumute.

Er selbst konnte regelrecht nachvollziehen, wie schmerzhaft die Wandlung des Leoparden in diesem Zustand sein musste, da sie äußerst unfreiwillig geschah und noch dazu quälend langsam. Dennoch empfand er kein Mitleid. Diese Bestie hatte nichts anderes verdient.

 

Amanda warf dem Panther, der neben ihr stand und ihr bis zur Hüfte reichte, einen Seitenblick zu, der allerdings ihre Besorgnis nicht verriet. Er musste unter dem dunklen Fell auch ganz schon mitgenommen aussehen. Um nicht doch noch über seinen Kopf zu streicheln, was sie höchstwahrscheinlich ihre Hand gekostet hätte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den sterbenden Leoparden.

Allerdings blieb sie still und sah ihn nur an, denn sie war sich ziemlich sicher, dass er nichts verraten würde. Warum sollte er? Er würde an der Verletzung sterben.

Amanda war einigermaßen überrascht, als er doch den Mund öffnete und leise zu sprechen anfing – was sich allerdings mehr wie ein raues Krächzen anhörte. Mit einem Grinsen auf dem schmutzigen Gesicht und bereits leer werdenden Augen sprach er Nataniel direkt an.

„Wenn du ein Menschlein brauchst, um dich zu schützen, wirst du gar nicht bis zu ihm durchkommen.“

Das Lachen war gurgelnd und das Letzte, was er in seinem Leben von sich geben würde.

 

Auch wenn es Nataniel besser hätte wissen müssen, so trafen ihn die letzten Worte, dieses verdammten Mörders ganz tief in sich drin. Dort wo es so richtig wehtat und nicht nur wegen seines verletzten Stolzes.

Geknickt, angeschlagen und auf ungewöhnliche Weise auch sehr traurig, wandte Nataniel sich von dem Toten ab und schleppte sich davon. Erst um das Haus herum, dann auf die Straße. Amanda beachtete er gar nicht. Er sah ohnehin nicht mehr hoch, sondern ließ den Kopf hängen, da dieser sich viel zu schwer anfühlte.

Nataniel wusste nicht genau, wie er es schließlich schaffte, doch er fand nach einer ganzen Weile wieder die Stelle am Waldrand, wo er seine Klamotten fallengelassen hatte, um sich zu verwandeln. Amanda hatte er mit einem Knurren zu verstehen gegeben, dass sie ihm bloß nicht nachlaufen sollte. Ihm wäre es lieber, sie bliebe beim Auto, bis er es hinter sich hatte.

Schwer atmend legte er sich auf den bemoosten Waldboden und begann seine Wandlung zu vollziehen. Es war anstrengend und dauerte fast dreimal so lange wie sonst, doch schließlich lag er wieder in Menschengestalt da, von oben bis unten verdreckt und mit seinem eigenen Blut verschmiert.

Zwar war keine der Wunden tödlich oder sehr schwer, aber seine rechte Hand konnte er vor lauter Schwäche noch immer nicht bewegen und im Augenblick hatte er viel eher Lust, hier auf der Stelle einzuschlafen, als sich aufzuraffen. Was er dann doch schließlich tat.

Mühsam zog er sich seine Hose wieder an, was einem weiteren Wunder glich, dass es ihm gelang, sie auch noch korrekt zuzumachen. Danach taumelte er aus dem Wald, öffnete die hintere Tür des Wagens, um sein Hemd herauszuholen. Auch das zog er sich mühsam über, damit er Amandas Wagen nicht zu sehr versaute. Erst dann setzte er sich auf den Beifahrersitz und schloss erschöpft die Augen, während er seinen Kopf gegen das Fenster lehnte.

„Ich will … nichts … hören …“, flüsterte er leise, während er seinen verletzten Arm gegen seine Brust presste, um ihn etwas zu stützen. Hoffentlich kam Amanda von selbst darauf, dass er keine Lust hatte, jetzt über diesen Vorfall zu sprechen.

„Bitte … dein Zimmer …“, stieß er noch leiser hervor, ehe er sich regelrecht in den Beifahrersitz kuschelte und sich leicht zu einem Ball zusammenrollte. Ihm war ganz schön kalt.

 

Sie war nicht einmal auf die Idee gekommen, ihm zu folgen. Zwar kannte sie ihn noch nicht lange, aber so wie er sich ihr bis jetzt gezeigt hatte, wollte er garantiert keine Schwäche vor ihr zeigen und Amanda wollte ihm bei der leidvollen Verwandlung, die er zweifelsohne vor sich hatte, nicht zusehen. Stattdessen ließ sie ihn den Weg zur Straße zurücktrotten und blieb bei dem Leopard stehen, den sie vor wenigen Minuten erschossen hatte.

Eigentlich sollte sie ihn nicht hier liegenlassen.

Wenn das Gerücht stimmte und dieser Kerl zu dem Rudel gehört hatte – wovon auszugehen war – dann konnte es kein guter Schachzug sein, seine Leiche für alle sichtbar hier so nah am Naturschutzgebiet verrotten zu lassen.

Aber allein brachte sie ihn von hier nicht weg und sie wusste auch gar nicht wohin mit der Leiche. Also begnügte sie sich damit, Fotos von seinem Gesicht zu machen, die sie sofort an die Zentrale, allerdings zu Cleas Händen schickte mit dem Vermerk, dass es sich um einen nicht registrierten Felidae handelte. Dass er nicht der Einzige war und sich ein weiterer gerade auf dem Weg zu ihrem Auto schleppte, um mit ihr ins Hotelzimmer zurückzufahren, verschwieg sie ein wenig schuldbewusst.

Nachdem sie auch noch ein paar Aufnahmen der Umgebung gemacht hatte, lief sie zum Auto zurück, wo Nataniel hoffentlich nicht aufgefallen war, dass sie länger als nötig für den Weg gebraucht hatte.

 

Als er sich schließlich auf den Beifahrersitz fallenließ, war klar, dass es ihm nicht aufgefallen wäre, wenn Amanda auf einmal den Kopf eines Insekts auf den Schultern gehabt hätte.

Am liebsten wäre sie ihm für seinen Befehlston gleich über den Mund gefahren, aber das hätte in seinem Zustand auch nichts gebracht. Genauso wenig wie die kleine Bitte ihre Wut dämpfen konnte.

Klar, gern geschehen. Du musst dich nicht dafür bedanken, dass ich dir gerade das Leben gerettet habe. Mach ich gern. Und natürlich darfst du in mein Zimmer zurück. Ich schulde dir ja auch noch die Milch und die Kekse!

Im Geiste zickte sie weiter vor sich hin, während sie die ganze Fahrt über den Mund hielt. Nicht nur sein Verhalten ging ihr an die Nerven, sondern auch die Tatsache, dass sie gerade jemanden erschossen hatte. Amanda hatte immer damit gerechnet, dass es ihr nichts ausmachen würde, einen Wandler zu töten. Dass sie es für eine Art Racheaktion halten würde. Rache für ihre Eltern, die ihrem Bruder und ihr von einem dieser Wandler genommenworden waren. Aber es war nun einmal nicht dieser Wandler gewesen.

Und obwohl er den Tod verdient hatte, war da ein leeres Gefühl in Amandas Innerem, mit dem sie erst fertigwerden musste, bevor sie wieder mit irgendjemandem geschweige denn mit Nataniel wieder ruhig sprechen konnte. Er war auf der kurzen Fahrt zum B&B bereits eingeschlafen und Amanda parkte den Wagen vorsichtshalber hinten in der Auffahrt, wo sie den Nebeneingang zu den Zimmern benutzen konnten.

Auch jetzt sagte sie nicht mehr als: „Wir sind da“, und stieg aus dem Wagen aus. Als er durch die schwere Feuertür ging, die sie ihm aufhielt, drückte sie ihm den Zimmerschlüssel in die Hand, mied aber seinen Blick.

„Bin in zehn Minuten wieder da.“

Sie wartete keine Antwort ab, sondern schwang sich wieder in ihren Dodge und fuhr langsam auf die Hauptstraße zurück, wo sie nach dem Schild einer Apotheke Ausschau hielt.

 

Es waren keine zehn Minuten, aber auch nicht wesentlich länger, bis sie die Tür zu ihrem Zimmer leise aufstieß und Nataniel auf ihrem Bett vorfand.

Wieder ein Grund ihn eigentlich anzuschreien, aber so wie er zugerichtet war, brachte sie das nicht übers Herz. Lautstark, damit er sie nicht anfiel, wenn sie sich ihm näherte, ließ sie ihre Tasche zu Boden fallen und warf die Plastiktüte der Apotheke neben ihn aufs Bett.

Die Hände hatte sie sich schon gewaschen, weswegen sie sich einfach zu ihm setzte und das Jodfläschchen, ein paar Tupfer, Verbände und sogar Nadeln und medizinischen Zwirn auspackte.

Sein Ego räumte sie mit einem stählernen Blick zur Seite und schraubte wortlos das Fläschchen auf. Sie träufelte die gelbliche Flüssigkeit auf einen Wattebausch und suchte sich eine der vielen Wunden an seiner Seite aus, bei der sie anfing. Das würde wohl eine Weile dauern.

 

Nataniel bekam es nicht einmal wirklich mit, dass Amanda ihm nicht folgte. Dafür spürte er jedoch deutlich die Zimmerschlüssel in seiner Hand. Sein äußerst müde gewordener Verstand begriff den Zusammenhang, wodurch sich seine Beine in Bewegung setzten und er zum Glück, ohne gesehen zu werden, in ihr Zimmer kam. Weiter brauchte sein Verstand auch nicht mehr zu reichen. Denn schon beim bloßen Anblick des großen Bettes drohten seine Knie nachzugeben, weshalb er die paar Schritte noch taumelnd vorwärtsging und sich dann einfach fallenließ.

Seine Augen waren so schwer, dass er gar nicht erst versuchte, wach zu bleiben, sondern sie einfach schloss. Erst ein Geräusch neben ihm ließ ihn wieder aufblicken.

So mühsam wie noch nie kämpfte er sich wieder in eine halbwegs aufrechte Position und betrachtete kurz die Plastiktüte. Auch wenn es ihm total widerstrebte, so zog er sich doch das Hemd aus, damit Amanda ihn wieder zusammenflicken konnte.

Bei nächster Gelegenheit würde er sich noch in Grund und Boden schämen müssen, dass er sich selbst überhaupt in diese Lage gebracht hatte. Schuld an allem war doch im Grunde nur dieses verdammte Auto, das ihn angefahren hatte. Wäre er bei vollen Kräften gewesen, hätte er diesen Leoparden in der Luft zerrissen. Aber es half ohnehin nichts mehr. Was geschehen war, war geschehen und konnte nicht mehr rückgängiggemacht werden. Alles, was Nataniel nun tun konnte, war einfach das Beste daraus zu machen. Oder vielleicht auch erst später, wenn er wieder halbwegs gerade laufen konnte.

Obwohl das Jod in seinen Wunden brannte und Amanda höchst wahrscheinlich Gefallen daran fand, ihn mit dem Teufelszeug zu betupfen, zuckte Nataniel nicht ein einziges Mal während der Behandlung zusammen. Er gab auch keinen Laut von sich, sondern atmete einfach so ruhig und gleichmäßig, wie er konnte, während er auf einen imaginären Punkt an der Wand starrte und sich gegebenenfalls auch einmal so drehte, dass die Blondine besser an seine Wunden herankam.

Als sie jedoch die Verletzung über seinem Auge abtupfte, konnte er nicht anders, als sie dabei anzusehen. Fast gänzlich, ohne zu blinzeln. Wäre er jetzt in diesem Augenblick ein Kater, er hätte geschnurrt.

Erstens um sich selbst zu beruhigen und zweitens, um sein Wohlbefinden auszudrücken. Denn auch wenn Amanda ihm mit ihren Berührungen wehtat und zu gleich half, so mochte er es dennoch angefasst zu werden. In seiner Pflegefamilie waren Berührungen alltäglich und geschahen meistens ganz nebenbei.

Ein Streicheln über den Kopf, eine Hand, die sich einen Moment lang auf den Rücken legte, während man sich gemeinsam über irgendetwas beugte, um es besser sehen zu können. Ein Küsschen auf die Wange oder auf die Stirn und immer mal wieder herzliche Umarmungen, wenn man sich längere Zeit nicht mehr gesehen hatte.

Seit er von zuhause weg war, hatte es niemanden gegeben, der ihn berührt hätte. Der ihm das Gefühl gegeben hätte, er gehörte zu einer Familie. Natürlich war er es auch gewohnt, ein Einzelgänger zu sein und wochenlang alleine durch die Wälder zu streifen. Aber das hieß nicht, dass er es nicht zu schätzen wusste, was Amanda da für ihn tat. Auch wenn er das niemals vor ihr zugeben würde.

Schließlich, als er versorgt war, stand Nataniel langsam auf und ging vorsichtig zur Tür. Während er die Hand auf dem Türgriff legte, blieb er noch einen Moment stehen. Das wäre jetzt wohl der Moment, wo er danke sagen sollte. Aber da es ohnehin nicht einmal ansatzweise gereicht hätte, für die Tatsache, dass Amanda ihm heute das Leben gerettet hatte, behielt er es für sich. Stattdessen verkündete er mit kaum hörbarer Stimme, dass er ins Bad ging, um sich notdürftig zu reinigen. Amanda hatte seine Wunden versorgt, er würde sich um den Rest kümmern und danach konnte ihn nichts mehr davon abhalten, sich für mehrere Stunden schlafen zu legen. Sein Körper heilte schneller, als der von normalen Menschen, aber auch nur, wenn er die nötige Ruhe und vor allem ausreichend Nahrung zur Verfügung hatte.

Dass Nataniel letztendlich auf dem Badezimmerteppich einschlief, und zwar in seiner bepelzten Form, damit hätte wohl keiner von ihnen beiden gerechnet.

 

Amanda räumte die Sachen von dem Bett, warf die benutzten Wattepads in den Mülleimer und zog zum zweiten Mal das obere Laken ab.

Sie würde ein Neues besorgen, bevor Mrs. Cauley Morgen die Betten machte und fragen konnte, warum so viele Blut- und Jodflecken darauf waren. Es wunderte Amanda sowieso, dass es der aufmerksamen Lady bis jetzt entgangen war, dass ein Mann in ihrem B&B herumlief, der für kein Zimmer zahlte. Um es dabei vorerst zu belassen, leerte Amanda ihren Mülleimer in das Laken, packte das ganze in eine große Plastiktasche und verließ das B&B durch den Nebeneingang.

Erst als sie die Tüte in den Müllcontainer hinter dem Haus warf, hielt sie kurz inne. Ihre Hand ruhte auf dem kalten Griff des Metallcontainers, während Amanda ins Leere starrte.

Eigentlich hätte sie damit gerechnet, wütend zu werden, vielleicht sogar verletzt. Aber die Tatsache, dass sie Nataniel nicht einmal ein ‚Danke’ wert war, überraschte sie letztendlich nicht. Es erhöhte nur den bitteren Geschmack, der sich jedes Mal bildete, wenn sie an die Wandler dachte.

Amanda wusste gar nicht, warum sie beinahe geglaubt hatte, dass Nataniel anders war. Dass er ihr ein wenig mehr entgegenbringen würde als Verachtung, weil sie nicht so war wie er. Bestimmt war Nataniel auch einer von denen, die sich einredeten, dass die Menschen und die Organisation die Bösen waren. Aber wenn man es einmal objektiv betrachtete, verhielten sich die Wandler nicht weniger unfreundlich. Sie waren nun mal eine andere Art und wollten sich gar nicht mit den Menschen abgeben. Ob man es nun versuchte, oder nicht. Und für ihre Verhältnisse hatte Amanda es versucht.

Mit einem leichten Kopfschütteln kämpfte sie die Traurigkeit hinunter, die sich in ihr breitzumachen drohte, wandte sich schließlich ab und lief langsam die Auffahrt bis zur Hauptstraße hinunter. Ihre Hände vergrub sie in den Jackentaschen und ließ den Kopf etwas hängen. Noch immer schienen ihre Augen nicht wirklich scharf gestellt auf die Dinge und Menschen, die sie umgaben. So bekam sie gar nicht richtig mit, wie sie den Weg zum Café einschlug, hineinging, sich an irgendeinen der hinteren Tische setzte und das bestellte, was die Kellnerin ihr als Tagesangebot empfahl.

Amanda zog ihre Jacke aus, schlang aber dann sofort ihre Arme um ihren Körper und sah aus dem Fenster. Sie sollte das Bettlaken besorgen, sonst würden die Läden schließen, bevor sie dazu kam. Aber im Moment hatte sie das Bedürfnis sich ein wenig auszuruhen und nachzudenken.

Seit sie von Erics Verschwinden gehört hatte, war so wahnsinnig viel und doch nicht genug passiert.

Sie war hierhergekommen, um ihn zu suchen, hatte aber nichts anderes gefunden als einen Canidae, einen Felidae und das Gerücht einer Gruppe von Nicht-Registrierten, die sich hier irgendwo in den Wäldern herumtrieben.

Nachdem die Kellnerin ihr einen Erbseneintopf mit Weißbrot gebracht hatte, faltete Amanda eine der Servietten auseinander und holte einen Kugelschreiber heraus. In die rechte obere Ecke schrieb sie Erics Namen und ein großes Fragezeichen. Ein Stück daneben malte sie ein Kästchen mit Nataniels Namen und darunter eines mit den Buchstaben „William Hunter“. Ihn verband sie mit einem Pfeil und einem Strich mit den beiden anderen, während ein Pfeil zu einem noch größeren Fragezeichen darunter führte.

Soweit Amanda das bis jetzt verstanden hatte, war William Hunter der Anführer eines Rudels hier in der Gegend gewesen. Eric war hierhergekommen und hatte ihn suchen wollen. Aus welchen Gründen, war nicht klar.

Jetzt war William Hunter, der Einzige der Amanda etwas über Eric sagen könnte, tot.

Das kennzeichnete sie auf der Serviette mit einem kleinen Kreuz neben seinem Namen, das sie ebenfalls mit Nataniels Kästchen verband. Immer noch war sie sich sicher, dass William sein Vater gewesen war. Dann musste Nataniel hier sein, um seine Nachfolge anzutreten. So war das doch in den Familienbanden der Felidae. Bloß dass Nataniel zu spätgekommen war und ein Anderer seinen Platz eingenommen hatte.

Denjenigen wollten sie nun beide finden. Nataniel wollte seine Position einnehmen und das Rudel anführen, wie es sein Vater getan hatte. Amanda wollte ihn nur befragen, um ihren Bruder zu finden. In was war Eric denn da nur hineingeraten, dass er derart unter die Räder geraten konnte und einfach verschwand?

Mit einem kleinen Seufzer wandte sich Amanda dem Eintopf zu und versuchte gleichzeitig zu einer Lösung zu gelangen. Wie sollte sie weiter vorgehen?

Am liebsten wäre es ihr gewesen, Nataniel einfach außen vor zu lassen und allein loszuziehen. In seinem jetzigen Zustand war er sowieso, zu nichts nütze und wenn sie ganz ehrlich war, hatte er mit seiner Reaktion oder eben seiner Nichtreaktion dafür gesorgt, dass jede Sympathie für ihn bei Amanda verflogen war.

Eigentlich hatte sie darüber nicht nachdenken wollen, aber es drängte sich erneut in ihren Verstand, dass sie mit jemandem zusammenarbeiten musste, der sie verabscheute, weil sie keine Halbkatze war.

Und dennoch brauchte sie ihn. Ein paar – vielleicht sogar die meisten – Mitglieder des Rudels mussten an William Hunter gehangen haben. Vielleicht hatte sein Sohn tatsächlich die besten Chancen sie für sich zu gewinnen. Dann wäre es auch einfacher Eric zu finden.

Der Löffel schepperte auf die Tischplatte, als Amanda ihn fallenließ und ihr Gesicht in ihre Hände stützte. Verdammte Zwickmühle.

Mit ihren langen Fingern raufte sie sich ein wenig die hellen Locken, bis sie doch wieder aufsah und sich schließlich aufraffte, um das Laken kaufen zu gehen.

 

So wie Amanda Mrs. Cauley einschätzte, würde der Dame auffallen, dass das Laken keine blaue Naht hatte. Aber das war Amanda nun auch egal, nachdem der Verkäufer Mrs. Cauley sowieso jederzeit erzählen konnte, dass diese seltsame Frau aus der Stadt das Laken bei ihm erworben hatte.

Nataniel war nicht im Zimmer, weswegen Amanda vermutete, dass er es war, der das Bad blockierte. Glücklicherweise schien das Nachbarzimmer, dem das Bad teilweise zugeteilt war, nicht belegt. Sonst wären sie bei Mrs. Cauley schon längst aufgeflogen. Der Kerl hatte wirklich kein großes Talent darin, sich unauffällig zu verhalten.

Inzwischen auch müde schälte Amanda sich aus ihren Klamotten, meditierte exakt eine Stunde lang und ließ sich dann einfach nach hinten fallen, zog sich das Laken über und sah an die Decke hinauf. Eine kleine Spinne krabbelte auf den Lampenschirm zu und verschwand darunter.

„Verhalt dich bloß nachbarschaftlich ...“, sagte Amanda müde.

Ihr Blick wanderte zur Tür hinüber und kurz war sie versucht, noch einmal aufzustehen und abzuschließen. Der Schlüssel steckte von innen im Schlüsselloch. Es wäre also kein Problem gewesen, sich zumindest für diese Nacht garantierte Privatsphäre zu verschaffen. Dann hätte sie zumindest durchschlafen können. Aber der Panther würde sowieso im Bad schlafen, bis ihn der Hunger am nächsten Morgen weckte. Also rollte Amanda sich auf die Seite, kuschelte sich in ihr Kissen und schloss die Augen.

Wieder erschien die dunkle Katzenschnauze vor ihrem geistigen Auge und sie versuchte die Augen weiter offen zu halten, um das Bild zu verscheuchen. Es klappte zwar nicht, aber nach einer Weile merkte Amanda gar nicht, wie ihr die schweren Lider zufielen und sie doch einschlief.

 
 

***

 

Irgendwann, es musste mitten in der Nacht sein, weil es draußen bereits dunkel und sehr still war, wachte Nataniel auf.

Wenn er sich vorher schon so gefühlt hatte, als wäre er als Kratzbaum verwendet worden, so waren nun definitiv Elefanten über ihn hinweggetrampelt.

Er fühlte sich so dermaßen erschlagen, dass er nur mit gewaltiger Willenskraft hochkam. Immerhin war ihm erst jetzt aufgefallen, welchen Ort er sich zum Schlafen gesucht hatte.

Da es ihm zu anstrengend gewesen wäre, sich in einen Menschen zurückzuverwandeln, öffnete er mit seiner Pfote die Tür, lugte um die Ecke in den Flur, und als die Luft rein war, schlüpfte er lautlos in Amandas Zimmer.

Sie schlief bereits, weshalb er sie nicht weiter störte, sondern die Tür hinter sich wieder ins Schloss gleiten ließ und sich dann davor auf den Boden legte. Er konnte tatsächlich noch eine Mütze voll Schlaf gebrauchen.

Allerdings gelang es ihm nicht gleich, wieder ins Land der Träume zu gleiten. Stattdessen begann er langsam die Erlebnisse dieses Tages aufzuarbeiten, wozu er seit dem verlorenen Kampf nicht mehr gekommen war.

Die Informationen waren wirklich spärlich, aber vielleicht konnten sie ihm helfen. Und vielleicht wusste Amanda mehr darüber. Gleich morgen früh beim ausgiebigen Frühstück würde er ihr mitteilen, was er erfahren hatte.

Es war seltsam, aber seit dem sie ihm das Leben gerettet hatte, fiel es ihm schwerer, sie als den Feind anzusehen. Sie hätte ihn inzwischen registrieren können, doch dieser Eric war ihr wichtiger, was eigentlich viel über ihren Charakter aussagen müsste. Wenn ihr die Arbeit nicht so wichtig wie ein Menschenleben war, dann konnte sie einfach nicht so schlecht sein, wie er es von den Mitarbeitern der Moonleague bisher angenommen hatte.

Vielleicht verspürte er deshalb nur leichten Frust, weil er ihr nun eine Menge schuldete.

Ob es ein guter Ausgleich war, wenn er ihr stärker dabei half, Eric zu finden? Nataniels Leben gegen das dieses Menschen?

Nataniel hoffte es. Denn auch wenn er sich auf diesen Nicolai konzentrieren sollte, so würde er Amanda bei der Suche helfen. Er konnte nicht genau sagen, wieso, aber irgendwie schien das alles auf eine seltsame Weise zusammenzuhängen.

Sein Vater starb vor einigen Wochen, als Nicolai die Herrschaft über das Rudel übernahm. Dieser Eric war auch schon seit ein paar Wochen verschwunden und mit ihm vermutlich einige Gestaltwandlerfamilien wie die Luchse. Das konnten alles keine Zufälle sein. Immerhin gehörte dieser Mann zu Amanda. War er dann nicht auch ein Sammler? Und gab es hier an diesem Ort nicht haufenweise unregistrierte Gestaltwandler?

Seine Barthaare zitterten, als er auf Katzenart seufzte und unruhig mit dem Schwanz hin und her zuckte. Es war wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Obwohl sie wenigstens ein paar Anhaltspunkte hatten, erschien ihm das Rätsel so verdammt groß, dass er fast schon Hoffnungslosigkeit empfand.

Wie sollte er denn je gegen einen Tiger ankommen? Noch dazu mit seinen Verletzungen?

Gut, bestimmt hatte er noch einige Tage Zeit, um sich zu erholen, doch selbst wenn er fit wäre, würde es viel zu knapp werden.

Nicht umsonst war er die drittgrößte Raubkatze der Welt. Gleich nach Löwen und Tigern. Aber dafür hatte er das kräftigste Gebiss von allen. Zu irgendetwas musste das auch gut sein. Auch wenn er nicht wirklich scharf auf einen Kampf war und im Grunde überhaupt kein Anführer sein wollte.

Hatte sein Vater ihn jemals gefragt, ob er die Verantwortung für mehr als fünfzig Familien übernehmen wollte? Hatte er ihn gefragt, ob er sich überhaupt bereit genug dazu fühlte?

Nataniel hatte lange keine so große Angst zu kämpfen, als eine so große Verantwortung zu übernehmen. Er wollte es gar nicht, und wenn er sich nicht verpflichtet fühlen würde, würde er hier einfach verschwinden und die Sache vergessen. Doch seit der Sache mit der Luchsfamilie nagte ein gewaltiges Schuldgefühl an ihm, wenn er nur an Flucht dachte.

So viele waren schwächer als er und konnten sich nicht wehren. Wenigstens er musste für diese Wesen einstehen. So hatte man ihn erzogen.

Als Nataniels Gedanken zu seiner Pflegefamilie abdrifteten, fand er schließlich die Ruhe, die er brauchte, um wieder einzuschlafen. Dennoch war das nur ein weiterer kleiner Aufschub der Verantwortung und das wusste er.

10. Kapitel

Amanda wurde von dem Licht wach, das ins Zimmer flutete. Es kitzelte ihr regelrecht in der Nase und auf den geschlossenen Lidern, bis sie es nicht mehr aushielt und endlich ihre Augen aufschlug.

Es war bereits neun durch und Amanda streckte sich etwas aus, bevor sie ihre Beine aus dem Bett schwang und aufstand. Wie ein Stein hatte sie geschlafen und konnte sich an keine Traumfetzen oder daran erinnern, dass sie kurz aufgewacht wäre. Deshalb war sie umso überraschter den schwarzen Jaguar vor der Tür schlafen zu sehen. Er hatte eines seiner stechend blauen Augen geöffnet und sah sie an.

Sofort wurde Amandas Laune düsterer und sie bereute, dass sie den Schlüssel im Schloss letzte Nacht nicht doch gedreht hatte. Naja, darüber brauchte sie sich jetzt, da es zu spät war, auch nicht mehr zu ärgern. Wortlos schnappte sie sich eine Jeans, frische Unterwäsche und einen Pullover.

„Lass mich vorbei.“

Ihre Stimme klang nicht unfreundlich, nicht wütend. Sie hatte einen vollkommen neutralen Klang, der jedem Menschen, der sie gerade auf der Straße angerempelt hatte, hätte gelten können. Amanda hatte beschlossen, dass es das Beste war, Nataniel als Person einfach zu ignorieren.

Sie musste zwar mit ihm zusammenarbeiten, aber da hieß nicht, dass sie ihn kennenlernen musste. Er hatte mehr als klar gemacht, dass er das nicht wollte. Also, warum sollte sie sich anstrengen, wenn sie doch gegen eine Mauer rennen würde. Und sobald er bei seinem Rudel war, würde sie ihn sowieso nur noch von hinten sehen.

Er schob sich nur ein Stück zur Seite, um sie aus dem Zimmer zu lassen, was Amanda beinahe wieder wütend gemacht hätte. Aber selbst diese Reaktion wäre vergebene Energie gewesen, das wusste sie jetzt. Also ging sie nur ins Bad, nahm eine ausgedehnte Dusche, rubbelte sich ab und stellte sich in ein Handtuch gehüllt vor den Spiegel.

Sie hatte noch keine rechte Ahnung, was sie heute tun würde, daher steckte sie ihre frisch gewaschenen Haare an der Seite fest und zog sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. So würden sie ihr wenigstens nicht dauernd ins Gesicht fallen. Noch Zähne putzen, minimales Make-up und die Klamotten, dann war sie fertig. Um nicht weiter aufzufallen, hätte sie heute gern bei Mrs. Cauley das Frühstück eingenommen. Immerhin war es im Preis mit inbegriffen. Das erklärte sie Nataniel in mehr als ruhigem Tonfall, als sie kurz zurück ins Zimmer kam, um ihre Jacke und Tasche zu holen. Amanda sah Nataniel kaum an, während sie sprach. Auch nicht, als sie schon in der Tür stand und die Tasche etwas höher auf ihre Schulter schob. „Ich bring dir was, zu essen.“

In seinem Zustand sollte er nicht auf die Straße gehen. Sonst konnten sie wahrscheinlich gleich eine Leuchtreklame aufhängen, dass der neue Anführer ihn im B&B abholen oder bei Bedarf gleich an Ort und Stelle abschlachten konnte.

 

Als er hörte, wie Amanda aufstand, musste er gezwungenermaßen auch in die Gänge kommen. Doch es gelang ihm nur sehr langsam und natürlich nicht schmerzfrei, weshalb er auch nur so wenige Bewegungen wie möglich machte, um Amanda hinauszulassen.

Nataniel musste erst seine Glieder vorsichtig strecken, ehe er sich leicht den Schlaf abschüttelte und mit resigniertem Seufzer sich zu verwandeln begann. Da Blondchen ohnehin nicht im Raum war, hatte er die Zeit, sich langsam aber sicher anzuziehen.

Dennoch war er gerade einmal bis zu den Jeans gekommen, als sie wieder das Zimmer betrat, und ihm mitteilte, dass sie hier in der Unterkunft frühstücken werde und ihm etwas mitbrachte. Das war wirklich nett von ihr, nur würde sie vermutlich bei dem Besitzer dieses B&B in Ungnade fallen, wenn sie so viel zu essen mit nahm, wie er es heute brauchen würde.

Nataniel enthielt sich dennoch jeglichen Kommentars, weil Amanda heute sehr seltsam drauf war. Er kannte sie nicht wirklich, aber er hatte schon einige verschiedene Emotionen und Reaktionen von ihr gesehen. Diese Amanda hier war so glatt und auf diese ganz spezielle Weise kalt, wie man es bisweilen bei Marmor beobachten konnte.

Wenn er es recht bedachte, war sie schon sehr still gewesen, als sie ihn verarztet hatte.

Vermutlich war sie sauer, weil sie überhaupt dazu gezwungen worden war. Sicher, er hatte nicht darum gebeten, weshalb er es eigentlich nicht verstand, aber wie schon die Erkenntnis mit diesem Eric, und dass dieser ihr wichtiger als der Job war, wusste Nataniel insgeheim, dass sie es aus Mitgefühl getan haben musste. Sie war nicht die böse und gefühllose Sammlerin, für die er sie ganz zu Anfang gehalten hatte. Trotzdem. Bestimmt hatte sie sich überwinden müssen, so etwas wie ihn überhaupt anzufassen. Er war immerhin nichts weiter als ein Tier, das an die Leine genommen und mit einer Hunde- bzw. Jaguarmarke versehen werden musste, damit er bloß nicht auf die Idee kam, unerkannt durch die Welt zu streifen.

Frustriert grummelte Nataniel vor sich hin, während er sich im Schneckentempo ein Shirt über den Kopf zog und dabei die Zähne zusammenbiss, weil jede einzelne Bewegung seiner Muskeln die Kratzer brennen ließ. Ein paar Tage, dann hatte er es hinter sich. Das wusste er, auch wenn ihm der Gedanke im Augenblick nur wenig half.

Als er schließlich fertig war, rupfte er sich noch die Haare zurecht, stellte sich dann den Stuhl vors Fenster so hin, dass er sich mit den Armen auf der Lehne abstützen konnte, und starrte hinaus auf die Straße, um die wenigen Menschen zu beobachten.

Er war ein Jäger, weshalb ihm Warten, absolut nichts aus machte. Dennoch ärgerte es ihn, dass er nicht zusammen mit Amanda frühstücken konnte.

Natürlich hatte das diverse Gründe, aber die ließ er jetzt einmal außen vor. Ihm ging es rein um das Gesellschaftliche und um die Tatsache, dass er sich wie ein Hund weggesperrt fühlte. Als könnte er etwas dafür, dass dieser verdammte Leopard ihn so zugerichtet hatte und er deshalb besser nicht mit seiner Visage auf der Straße herumlaufen sollte, obwohl ihm die Meinung anderer Leute herzlich egal war. Nur fielen die Kratzspuren zu sehr auf und gerade in diesem Kaff würde sich die Frage wie ein Lauffeuer verbreiten, welches Tier ihn den so zugerichtet hatte. Also lieber artig sitzen bleiben, abwarten und im Geheimen Pläne schmieden.

 

„Ach, guten Morgen. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass Ihnen mein Frühstück nicht schmeckt.“

Amanda lächelte das erste Mal an diesem Tag, als Mrs. Cauley durch die Tür zur Küche auf sie zukam und etwas besorgt dreinschaute.

„Oder essen Sie etwa nur jeden zweiten Tag, Mädchen?“

„Na, das würden Sie mir aber ansehen, Mrs. Cauley, glauben Sie mir.“

Mit einem kleinen Lachen erklärte sie weiter, dass sie einen Bekannten getroffen habe und Mrs. Cauleys Gastfreundschaft nicht hatte ausnutzen wollen. Daher sei sie mit dem Bekannten in das Café zum Frühstücken gegangen.

„Das nächste Mal bringen Sie ihren Bekannten aber her. Ich koche sowieso viel zu viel für uns beide.“

Irgendetwas Schelmisches lag im Blick der älteren Dame, das Amanda nicht zuordnen konnte. Oder zumindest wollte sie es im Moment nicht dem zuordnen, was sich ihr als erster Gedanke aufdrängte.

„Ach, unterschätzen Sie meinen Hunger nicht", winkte Amanda ab und stürzte sich erst einmal auf die große Tasse Kaffee, die vor ihr auf dem Tisch aufgetaucht war. Anschließend genehmigte sie sich Toast mit Rührei und Speck, gebratenen Tomaten und zum Nachtisch einen Obstsalat.

„Das war einfach himmlisch", ließ sie Mrs. Cauley wissen, die ihr gegenüber an dem kleinen Tisch saß, wie an dem ersten Morgen, den sie im B&B verbracht hatte.

Um nicht doch noch Verdacht zu erregen, indem sie nach einer Portion zum Mitnehmen fragte, verabschiedete sich Amanda und ging in das Café, wo die junge Kellnerin sie erkennend anstrahlte.

„Guten Tag. Wie geht’s Ihnen?“

„Gut danke. Sag mal, kann ich auch Essen zum Mitnehmen bekommen?“

„Aber klar. Machen Sie heute einen Ausflug oder so etwas?“

Sie sollte wirklich dieses Bewerbungsformular ausdrucken und es der Kleinen unter die Nase halten. Die Frage war wirklich geschickt gestellt, auch wenn Amanda natürlich wusste, dass die junge Dame nur scharf darauf war zu erfahren, wo der etwas bedrohliche Herr heute abgeblieben war.

„Ja, vielleicht. Ich bin noch nicht ganz sicher. Vielleicht mache ich einen ausgedehnten Spaziergang und ein großes Picknick.“

Bei dem, was sie bestellte, würde sie mehr als zwei Tage in der Wildnis verbringen können. Aber die Kellnerin mit den großen braunen Rehaugen strahlte nur weiter und erzählte Amanda von einem schönen Platz nicht weit vom Dorf – gleich hinter dem kleinen Park – wo man sehr schön picknicken konnte.

Als die Pancakes mit Apfelmus, das englische Frühstück, der Geflügelsalat, die Muffins, die Sandwiches mit kaltem Braten und der Fisch auf Bratkartoffeln in viele kleine Styroporkistchen gebettet und anschließend in eine große Tüte verpackt waren, drückte Amanda der Kellnerin das Geld in die Hand, wünschte einen schönen Tag und verabschiedete sich bis bald, denn für den guten Kaffee würde sie auf jeden Fall wieder kommen. Zwar hatte sie zum Frühstück im B&B schon schwarzen Kaffee getrunken, aber beim Gedanken an das Gespräch mit demjenigen, der in ihrem Zimmer auf sie wartete, hatte sie der Versuchung eines Latte Macchiatos to go nicht widerstehen können.

Voll bepackt lief sie über die Straße und benutzte wieder den Nebeneingang, um sich in das obere Stockwerk und schließlich in ihr Zimmer zu schleichen.

Eigentlich war ihre Stimmung nach dem Gespräch mit Mrs. Cauley und dem kurzen Besuch im Café sehr gut gewesen. Das Wetter war schön und strafte der ganzen Angelegenheit, die hier vorging Lügen mit dem strahlenden Sonnenschein und den Schäfchenwolken am blauen Himmel. Es wäre wirklich ein idealer Tag zum Picknicken gewesen.

So stellte Amanda ihre Tasche nur auf dem Schminktisch ab und sah zu Nataniel hinüber, der am Fenster saß. Immerhin jetzt in der Form, die es ihm erlaubte mit ihr auf eine Weise zu kommunizieren, die sie auch verstand.

Um nicht schon wieder ein neues Laken kaufen zu müssen, warf Amanda die Tagesdecke auf das Bett, bevor sie die Tüte mit dem Essen vorsichtig darauf abstellte.

„Ich wusste nicht, was du wolltest", war ihr einziger Kommentar, bevor sie sich auf die andere Kante des Bettes setzte und den Plastikdeckel von ihrem Latte zog, um ein wenig von dem Schaum zu nippen.

 

Nataniel hatte Amanda in das Café gehen sehen und musste äußerst erstaunt zu geben, dass sie offensichtlich seinen gewaltigen Appetit nicht vergessen hatte. Denn als sie wieder herauskam, war sie voll bepackt mit Essen, das wohl für eine ganze Menschenfamilie gereicht hätte. Diese Frau steckte wirklich voller Überraschungen.

Obwohl sein Magen bereits zornig knurrte und der Hunger ihn in der Mangel hatte, stürzte Nataniel sich nicht auf das Essen. Das wäre ihm verdammt unhöflich vorgekommen, und auch wenn er wohl eher zu der rauen Sorte gehörte, hatte er doch nicht die Erziehung seiner Pflegemutter vergessen. Weshalb er sich seinen Stuhl ans Bett heranschob und sich wieder darauf niederließ.

Auf Amandas Worte hin, erwiderte er ein ‚Danke‘. Auch wenn das nicht einmal ansatzweise seine Gefühle ausdrückte.

Immerhin hatte sie ihm etwas zu essen gegeben. Wie viel ihm diese Geste bedeutete, würde sie niemals erfahren, denn er hütete sich davor, es ihr zu zeigen. Sie hatten mehr oder weniger geschäftlich miteinander zu tun. Alles andere ließ er weg. Deshalb machte es ihm auch absolut nichts aus, sich bei ihr zu bedanken. Wenn sie nicht die wäre, die sie nun einmal war, hätte er wesentlich mehr getan, um sich erkenntlich zu zeigen. Aber dann hätte sie ihn vermutlich ebenfalls erschossen. Da war er sich sicher.

Bevor Nataniel es auch nur wagte, etwas von den leckeren Sachen anzurühren, beobachtete er Amanda dabei, wie sie aus einem Plastikbecher etwas trank, dass wie Kaffe roch und doch ein bisschen anders. Erst als sie hinunter geschluckt hatte, begann er zu sprechen.

„Das neue Alphatier heißt Nicolai und läuft mit den Tigern.“

Er seufzte und starrte die Plastikbehälter an, aus denen es für seine Nase nur zu deutlich duftete.

Fast schon zögernd griff er schließlich nach einer Box, aus der es nach Hühnchen roch.

„Bevor die Situation eskaliert ist, konnte ich das noch von dem Leopard erfahren.“

Kein Wunder, dass dieser am Ende so höhnisch gelacht hatte. Ein Tiger … das war einfach ganz schön heftig.

Mit gespannter Erwartung, wie Amanda auf diese Informationen reagieren würde, begann er langsam den Geflügelsalat zu essen, auch wenn ihm eher total nach Schlingen gewesen wäre. Sein Hunger war einfach gewaltig. Doch das Essen lief bestimmt nicht weg. Zumindest hoffte er das.

 

Entweder hatte er eine seltsame Auffassung von Dankbarkeit oder Amanda hatte mit ihrer Einschätzung tatsächlich Recht gehabt. Nataniel hatte ihr das Wort hingeworfen, weil es höflich war, sich für etwas, das man bekam, zu bedanken. Das hatte nichts damit zu tun, dass er ihr wirklich irgendein Gefühl entgegen brachte. Zumindest kein Positives. Warum sie das einigermaßen wurmte, wusste Amanda selbst nicht genau.

„Das hilft uns weiter.“

Amandas Hirn arbeitete analytisch, wenn es mit Problemen belastet wurde. Was wusste sie über Tiger? Sie waren die zweitgrößten Raubkatzen der Welt, ein Männchen konnte zwischen 150 und 200 kg auf die Waage bringen. Bei Wandlern weniger, da sich ihre menschliche Statur auch in ihren Tierkörpern wieder fand. Aber von 150kg konnte man wahrscheinlich ausgehen. Und Krallen, die bis zu 10cm lang sein konnten. Einer Kugel konnte aber all das auch nichts entgegensetzen.

Nataniel musste sich vielleicht Sorgen über die Statur des Anderen machen, weil er ihm als Panther entgegen trat und körperlich wahrscheinlich unterlegen sein würde, aber Amanda griff nicht auf Krallen und Zähne zurück.

Ihr machte etwas anderes Kopfzerbrechen, das Nataniel aber anscheinend nicht in Erfahrung hatte bringen können.

„Hat er gesagt, wie viele wir zu erwarten haben?“

Oder wusste Nataniel das sowieso und hatte es ihr bis jetzt nur verschwiegen? Amanda wusste nicht, was sie tun würde, wenn die Zahl sie mehr oder weniger von Anfang an ins Aus schob. Sollte sie Verstärkung rufen? Aber dann würde die Situation wahrscheinlich in etwas ausarten, wofür Amanda sicher nicht die Verantwortung tragen wollte.

Eine Weile sah sie Nataniel beim Essen zu, bevor sie sich wieder ganz ihrem Kaffee widmete. Wie kam es nur, dass ihr ein warmes Getränk, ein Bett und die Gesellschaft von jemandem, der eigentlich ihr Feind war, ein wenig Trost spenden konnten?

Amanda mochte es unter Menschen zu sein. Deshalb war sie nach dem Tod ihrer Eltern mit Eric in die Stadt gezogen. Dort war das Risiko kleiner an Einsamkeit zu sterben. Oder sich zumindest zu sehr mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen. Es wurden einem doch ständig die Empfindungen und Überlegungen von Anderen aufgedrängt.

 

Inwiefern es ihnen weiterhelfen würde, sagte sie ihm nicht. Stattdessen stellte sie eine Frage, von der Nataniel gehofft hatte, dass sie es nicht tun würde. Denn darauf musste er lügen.

Er mochte vielleicht kein Anführer sein und es auch nie werden, aber sein Vater hatte diese Familien beschützt und sie vor der Registrierung bewahrt. Familien wie diese Luchse, die doch im Grunde nur in Frieden leben und in Ruhe ihre Jungen aufziehen wollten. Nein, Amanda mochte vielleicht nicht das herzlose Miststück sein, für das er sie am Anfang gehalten hatte, aber sie war immer noch ein Mitglied der Organisation. Daran würde sich nichts ändern.

„Nein, er hat nichts erwähnt. Aber ein paar dürften es schon sein. Niemand kann über ein Rudel herrschen, dem die Mitglieder fehlen.“

Nataniel fühlte sich nicht sehr wohl bei dieser Halbwahrheit, weshalb er sich auch intensiv um den Salat kümmerte, der übrigens wirklich fantastisch schmeckte. Jeden einzelnen Bissen genoss er. Weshalb die Dankbarkeit für diese Gaben nur noch mehr in ihm hochstieg.

Als er die Sandwiches mit dem kalten Braten anging, konnte er beim ersten Happen ein Schnurren nicht unterdrücken. Es war nur kurz und wohl nicht als solches zu erkennen gewesen, dennoch streckte er sich etwas gemütlicher auf dem Stuhl aus, um den Ausrutscher mit Gelassenheit zu überspielen.

„Wie heißt eigentlich der Eigentümer dieser Unterkunft?“, warf er kurz die Frage ein, da er heute Abend in einem eigenen Bett schlafen wollte. Sie würden noch länger zusammenarbeiten, weshalb es die einfachere Lösung wäre. Außerdem war er sich sicher, dass er Amanda mit seiner ständigen Anwesenheit auf die Nerven ging. Etwas, das ihn eigentlich nicht sehr beunruhigte, aber auch er mochte seine Privatsphäre. Vor allem nachts.

Der Panther knurrte in seinem Kopf, bei dem Gedanken, nicht bei ihr im Zimmer schlafen zu können. Das Tier in ihm wollte am Liebsten seine Krallen am Türpfosten wetzen, damit jeder sehen konnte, dass das hier sein Bereich war und kein anderer Mann auch nur in die Nähe dieser Frau kommen sollte, wenn er nicht vorhatte, sich mit ihm zu prügeln. Was das anging, konnte er verdammt besitzergreifend sein. Auch wenn Nataniel die Wünsche des Jaguars in ihm, nicht ganz nachvollziehen konnte.

Klar, Amanda war ein heißes Stück, mit einem Arsch, in den er gerne seine Krallen vergraben hätte, um sie an sich zu pressen. Mit Brüsten, die voll und weich in seinen Händen liegen würden, während er seine Zunge um ihre wickelte und sie voll und ganz auskostete.

Nataniel hätte sich fast an dem Brot verschluckt, als er sich bewusst wurde, in welche Richtung er gerade seine Gedanken lenkte, obwohl Amanda keine zwei Meter von ihm entfernt da saß und sie im Augenblick eigentlich ein ganz anderes Thema besprachen.

Trotzdem gab er dem Panther recht.

Eine Frau wie sie teilte man nicht, auch wenn er nicht vorhatte, seinen Anspruch auf sie zu erheben. Er kannte sie noch nicht einmal richtig.

 

Aus einem Grund, den sie nicht genau fassen konnte, glaubte sie ihm nicht, als er sagte, er wüsste nichts über die Zahl der Wandler in der Gegend. Aber davon würde sie sich nicht aus der Bahn bringen lassen. Wahrscheinlich musste sie davon ausgehen, dass die meisten der Familien, die um die Siedlung herum wohnten, zu dem Rudel gehörten. Amanda runzelte etwas die Stirn, als sich ihr unweigerlich die Frage aufdrängte, wie so eine große Zahl von Gestaltwandlern der Organisation hatte entgehen können. Später würde sie Clea anrufen und sie darauf ansetzen sich ein wenig durch die Aktenberge zu wühlen. Vielleicht waren noch mehr Sammler in diesem Gebiet verschwunden.

Um einen Fluch zu unterdrücken, nahm sie einen großen Schluck von ihrem Kaffee, an dem sie sich auch jetzt noch beinahe die Zunge verbrannte. Sie musste unbedingt mehr über dieses Gebiet und die Geschichte der Wandler hier herausfinden. Die Moonleague musste zumindest Aufzeichnungen über ihre Sammler haben, die in den Nationalpark geschickt worden waren.

Nataniels Bewegung, als er sich lässig in den Stuhl zurücklehnte, zog Amandas Blick doch wieder auf ihn, obwohl sie Augenkontakt eigentlich hatte vermeiden wollen. Aber für seine Frage war sie ihm einigermaßen dankbar. Immerhin lenkte es sie von den düsteren Gedanken über diejenigen, die dem Rudel der Canidae vielleicht schon zum Opfer gefallen waren, etwas ab.

„Mrs. Cauley. Ich glaube auch, dass sie schon weiß, dass du hier bist.“

Der Blick der älteren Dame hatte mehr bedeutet als reines Interesse. Und jetzt war Amanda auch klar, warum sie so angesehen worden war. Hatte sie denn wirklich gedacht, Mrs. Cauley wüsste nicht, was in ihren eigenen vier Wänden vor sich ging?

Mit einem Schmunzeln beschloss Amanda sich noch für den Verlust des Lakens zu entschuldigen, auch wenn sie bereits ein Neues besorgt hatte.

Ihre Augen ruhten immer noch auf Nataniels Gesicht. Sie sah sich seine Kratzer und die tiefere Wunde über seinem Auge an. Gestern hatte sie auch Jod darauf getupft und war erstaunt von der Leistung der Tierärztin gewesen. Er würde nur eine sehr dünne Narbe zurück behalten, auch wenn der Schnitt ziemlich tief gewesen war. Er konnte froh sein, dass er sein hübsches, eisblaues Auge behalten hatte.

Amanda wollte ihn fragen, wie es ihm ging. Er musste ganz schöne Schmerzen haben, beachtete man, wie der Leopard ihn zugerichtet hatte. Seine Wunden heilten sehr schnell, das konnte man sehen. Trotzdem hätte sie gern gewusst, wie er seine eigene Lage einschätzte. Wann würden sie mit ihren Nachforschungen weitermachen können? Entgegen ihres Bedürfnisses hielt sie die Klappe und ließ ihren Blick endlich von seinem Gesicht zum Fenster schweifen. Sie würde heute Nachmittag ein wenig ohne ihn herumschnüffeln. Solange man seinen Geruch, den er bestimmt am Kampfplatz hinterlassen hatte, nicht an ihr riechen konnte, war sie ohne ihn sicherer, als mit ihm.

„Übrigens ist das Frühstück hier auch ziemlich gut. Und man hat Gesellschaft.“

Warum redete sie schon wieder mit ihm? Vergebene Liebesmüh, wenn sie bedachte, dass er sie verabscheute. Immerhin hatte er sich fast an seinem Sandwich verschluckt, als er sie längere Zeit angesehen hatte.

 

„Zumindest werde ich morgen früh wenigstens nicht mehr artig im Zimmer bleiben müssen, damit Mrs. Cauley keinen falschen Eindruck von deinem nächtlichen Besuch bekommt.“

Nataniel lächelte amüsiert.

„Allerdings kann ich mich über den Zimmerservice absolut nicht beschweren.“

Immerhin hatte Amanda ihn vorzüglich versorgt, obwohl sie es gar nicht gemusst hätte. Vermutlich wollte sie bloß nicht riskieren, dass er draußen auf der Straße herumlief, um sich etwas zu Essen zu besorgen. Dass sie ihm gleich eine so ordentliche Menge mitgebracht hatte, war sehr hilfreich. Die vielen Kalorien würden seinem Körper ausgezeichnet als Kraftstoff dienen, um die Heilung schneller voranzutreiben. Vor allem diese Pancakes hatten es ganz schön in sich. Einfach zum dahin schmelzen.

Genussvoll schloss Nataniel die Augen, während er selig kaute. Oh ja, er schuldete Amanda eine ganze Menge. Den ersten Gefallen konnte er ihr nach dem Essen tun, in dem er sich bei Mrs. Cauley anmeldete und das Zimmer neben dem von Amanda nahm.

„Nach dem Essen bist du mich los. Aber gewöhn dich nicht zu sehr daran. Es wird kein Dauerzustand sein.“

Damit sie sich bloß keine falschen Hoffnungen machte, er würde sie in Frieden lassen. Sowohl das Tier als auch der Mann würden das nicht zulassen.

Die Muffins ließ Nataniel ihr übrig, weil er mehr als nur satt war. Genüsslich streckte er sich vorsichtig, als wäre er wieder in seiner Raubkatzenform und stand langsam auf. Im Sitzen war es nicht offensichtlich gewesen, aber beim Gehen fielen seine behutsamen Bewegungen auf.

Er ging zu seinem großen Seesack hinüber und hob ihn trotz der Schmerzen hoch, als würde er nur wenige Gramm wiegen, statt den gut zwanzig Kilo die er tatsächlich wog.

„Dann werde ich mich einmal offiziell bei Mrs. Cauley vorstellen. Wenn du was brauchst, ich bin nebenan.“

Nataniel zog einen Geldschein aus der Jeanshose und legte ihn Amanda auf den Nachttisch.

„Nicht, dass ich dir noch die goldenen Locken vom Kopf fresse", meinte er nur und verschwand, ehe sie darauf reagieren konnte.

Die alte Dame, der das Haus gehörte, war nicht überrascht ihn die Treppe runterkommen zu sehen, selbst zu seinem Aussehen sagte sie nichts, aber als er sie um das Zimmer neben das von Amanda bat, warf sie ihm einen Blick zu, der besagte: Wenn du der Kleinen Probleme machst, bekommst du es mit mir zu tun.

Die Frau war winzig, trotzdem nahm er diese unausgesprochene Drohung sehr ernst und schenkte ihr daher ein liebenswertes Lächeln.

„Ich denke, sie kann auf sich aufpassen.“

Mit diesen Worten schulterte er wieder sein Gepäck und humpelte in sein eigenes Zimmer. Dort stellte er seine Sachen neben das große Bett ab, kramte ein Handy daraus hervor und schaltete es ein, während er sich der Länge nach auf die weiche Matratze fallen ließ. Es wurde Zeit, sich bei seiner Pflegemutter zu melden.

 

Sie hatte nicht auf seine Ausführungen erwidert.

Amanda war es recht, dass er aus ihrem Zimmer verschwand und sie in der nächsten Nacht allein schlafen konnte. Was ihr allerdings ein Stirnrunzeln aufs Gesicht zauberte, war die Frage, was Mrs. Cauley wohl denken würde. Immerhin kam Nataniel schnurstracks aus Amandas Zimmer, um sich anzumelden und den Raum nebenan zu belegen.

Die wahrscheinlichste Vermutung war ein zerstrittenes Paar und dass Nataniel von Amanda vor die Tür gesetzt worden war. Das stimmte so nicht und allein das Bild von ihr mit ihm ließ sie ein wenig erschaudern, aber es war eine einfache und natürliche Erklärung. Außerdem musste Amanda den Felidae dann nicht allzu freundlich behandeln. Es würde eben nicht zu einer vermeintlichen Versöhnung kommen.

Im Großen und Ganzen war es auch völlig egal, was Mrs. Cauley denken mochte, solange ihnen niemand in die Quere kam. Die ältere Dame war noch nicht aufdringlich oder zu neugierig geworden und Amanda mochte sie. Es wäre ihr sehr schwer gefallen aus dieser gemütlichen Atmosphäre wegzuziehen und sich irgendwo eine Blockhütte im Nationalpark zu mieten, bloß weil Mrs. Cauley zu viele unangenehme Fragen stellte.

Amanda stand schließlich auf, fegte mit der Hand ein paar Brösel vom Bett und war zufrieden mit dem Pantherchen, dass er keinen zu großen Saustall veranstaltet hatte.

Eine neue Überdecke hätte sie in dem Haushaltswarengeschäft sicher nicht so leicht bekommen.

Die Muffins ließ sie mit der Papiertüte, in der sie eingewickelt waren in ihre Tasche fallen und horchte dann hinaus auf den Gang. Nach einer Weile konnte sie Nataniels Schritte auf der Treppe hören und dann den Schlüssel im Schloss, bevor er die Tür seines Zimmers hinter sich zufallen ließ. Die Luft war also einigermaßen rein. Amanda schnappte sich noch ihre Waffe, zog eine Jacke über und machte sich auf den Weg durch den Haupteingang zu ihrem Auto. Ihre Tasche warf sie auf den Beifahrersitz, fischte den PDA heraus und fuhr erstmal los, in Richtung Naturschutzgebiet, bevor sie auf einem kleinen Kiesbett neben der Straße anhielt, um sich zu orientieren.

Gestern waren sie nur dazu gekommen, zwei der umliegenden Farmen abzuklappern. Der Tatsache schuldtragend, dass nun bei einem der Häuser eine Leiche herumlag, entschied sich Amanda dazu in der anderen Richtung weiter zu suchen.

Sie zoomte sich trotzdem noch einmal die Farm der Luchse heran und tippte ein paar Informationen zu der Farm ein. Leider waren die alten Bewohner vermutlich genauso tot, wie derjenige, der dafür verantwortlich war. Aber das hieß zumindest, dass es einen weniger gab, der sie hinterrücks anfallen konnte. Sie musste unbedingt herausfinden, wie viele es noch gab.

Es hieß also wieder systematisch vorgehen. Die nächste kleine Farm lag nur zwanzig Minuten von Amandas Standpunkt. Also würde sie dort anfangen. Eigentlich wollte sie sich noch bei Clea melden, aber wenn man die Zeitverschiebung bedachte, war es besser die Nachforschungen vorher zu erledigen.

 

Das Haus sah wirklich unscheinbar aus. Eine helle Holzfassade mit einer Veranda, die um das gesamte Gebäude herum zu verlaufen schien. Vorn neben der Haustür gab es sogar eine Hollywoodschaukel, ebenfalls aus Holz, mit Blick auf einen kleinen Blumengarten.

Hier hätte es Amanda auch gefallen, wenn es nicht so furchtbar weit ab vom Schuss gewesen wäre. Leider hatte sie diesmal Nataniels Nase nicht zur Verfügung, weswegen sie den Standardweg beschreiten musste.

Das hieß, anhalten und fragen.

Langsam bog sie so in die Einfahrt ein, dass sie schnell wieder herauskommen konnte, wenn es nötig sein sollte, und stieg aus. Sobald sie auf das Haus zulief, kam ihr bereits ein kleiner Hund mit wedelndem Schwanz entgegen, der nur kurz kläffte und dann versuchte Amandas Bein hochzuspringen. Eindeutig Fehlanzeige. Es handelte sich bei den Wandlern, die sie suchte um Mitglieder der Katzenfamilie. Die würden sich keinen Hund als Haustier halten. Also zurück in den Dodge und weiter. Keine Neuigkeiten waren in diesem Fall gute Neuigkeiten. In ihrem PDA markierte Amanda die Farm mit einem hellgrünen Punkt. Bereits zwei in diesem Gebiet. Und nach drei Stunden Fahrt sollten noch einige dazukommen.

 

Am späten Nachmittag war sie bereits so weit, dass sie den zweiten Muffin gegessen hatte und bereit war es für heute gut sein zu lassen. Aber diese eine Farm wollte sie noch abklappern.

Der letzte Farmer, mit dem sie gesprochen hatte, war sich nicht sicher gewesen, ob dort noch jemand lebte. Er habe die Nachbarn auch früher nicht oft gesehen, aber seit ein paar Monaten, habe er überhaupt niemanden mehr zu Gesicht bekommen. Amanda solle ihm doch bitte mitteilen, ob noch jemand dort wohne, oder ob man das Stück Land vielleicht kaufen konnte, wenn niemand mehr Anspruch darauf erhob.

Glücklicherweise war sie sehr langsam in den Schotterweg eingebogen, der zu dem Haus führen musste. Ansonsten hätte sie die Frau sicher übersehen, die gerade mit einem Korb über dem Arm aus dem Unterholz kam und dicht am Rand des Weges stehen blieb.

Ihre Haare hatten die Farbe von Milchkaffee und ihre Haut war braun gebrannt. Sie sah sehr freundlich und sympathisch aus, fand Amanda, als sie das Fenster herunter kurbelte, den Motor aber nicht abstellte, um die Frau anzusprechen.

Es ging alles so blitzschnell, dass sie nicht einmal schreien konnte, geschweige denn ihre Waffe ziehen. Amanda hörte einen Knall und das Dach des Dodge bog sich unter dem Gewicht, als eine weitere Raubkatze auf dem Metall landete. Die Frau kam blitzschnell auf den Wagen zu, zog etwas aus dem Korb und Amanda fühlte nur einen stechenden Schmerz an ihrer Schläfe, bevor sie ohnmächtig zusammen sackte. Der Mann, der inzwischen nackt auf dem Dach ihres Wagens saß, ließ sich geschmeidig über die Motorhaube nach unten gleiten, machte die Tür auf und schob Amanda auf die Beifahrerseite.

„Wir treffen uns am Haus.“, gurrte er leise der Frau zu, die nur nickte und den Knüppel wieder in ihrem Korb verstaute. Sie blickte sich noch eine Weile nach weiteren unliebsamen Besuchern um, bevor sie dem Wagen zu ihrer Farm folgte.

11. Kapitel

„Ja, Mom. Ich esse genug. Zwar gibt es hier nichts im Vergleich zu deinem Essen, aber ich falle sicher nicht vom Fleisch.“

Nataniel versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. Er telefonierte jetzt schon seit einer halben Stunde mit seiner Mutter, die sich erst langsam von ihm beruhigen ließ. Immerhin hatte er sich seit Wochen nicht mehr bei ihr gemeldet, seit er von zuhause weggegangen war.

Das war im Grunde nichts Außergewöhnliches, wenn sie wusste, dass er durch die Wälder ihrer Familie streifte, wenn einmal eine arbeitsruhige Zeit auf der riesigen Farm war oder er Urlaub hatte. Aber das hier war etwas anderes. Er war weiter von seiner Heimat entfernt, als jemals zuvor in seinem Leben.

Bevor seine Mutter ihm weiter Löcher in den Bauch fragen konnte, die er so gut wie möglich umschiffte, damit er ihr nicht die Wahrheit erzählen musste und schon gar nicht, dass er verletzt war, unterbrach er sie einfach.

„Mom? Ist Dad wieder zuhause? Ich muss dringend mit ihm sprechen.“

Als er losgezogen war, war sein Vater gerade im Ausland gewesen, um sich über eine neue Rinderrasse zu erkundigen, die noch widerstandsfähiger sein sollte, als jene, die sie bereits züchteten.

„Ja, ist er. Hast du etwa Probleme? Brauchst du Geld? Ist etwas mit deiner Reisegruppe?“

Er liebte seine Mutter wirklich, aber sie war einfach überfürsorglich, dabei war er fast dreißig. Etwas, das sich nie ändern würde, egal wie selbstständig er im Leben war. Zum Glück hatte er ihr weder etwas von der Nachricht des Raben erzählt, noch wohin er in Wahrheit hingefahren war.

Sie glaubte, er befände sich auf einer Gruppenreise quer durch Kanada, wo sie sich alle möglichen Sehenswürdigkeiten ansahen.

„Nein, es ist alles bestens. Das sagte ich doch schon. Kann ich also bitte mit Dad reden? Das ist so ein Männerding. Du verstehst schon.“

Sie seufzte am anderen Ende der Leitung. Dieses Männerding kannte sie ganz genau. Es betraf alles, was sie nicht wissen sollte und in den meisten Fällen auch gar nicht wissen wollte. Sie vertraute ihrem Ehemann bedingungslos, wie es bei der Bindung zwischen Gestaltwandlern sehr oft vorkam. Weshalb sie ihn niemals darum bat, ihr die Geheimnisse zu verraten, die ihr Mann und ihr Sohn miteinander hatten. Immerhin gab es dafür wiederum Dinge, die Nataniel und seine Mutter vor seinem Dad verbargen. Alles nichts Außergewöhnliches, aber das war dann so ein Mutter-Sohn-Ding.

„Warte kurz, mein Schatz.“

Knistern und Rascheln waren zu hören, danach hörte er leises Flüstern, woraufhin die Stimme seines Vaters folgte.

„Na wie geht’s dir, Sohnemann? Was steht an?“

Die Stimme von Nataniels Vater war ruhig, und voller Wärme. Er hatte keine Ahnung, was wirklich los war. Wieso es ihm so schwer fiel, mit seinen Worten herauszurücken, doch er musste es wissen.

„Dad, ich will dich etwas fragen“, begann er langsam, während er nach den richtigen Worten suchte und nervös mit dem Zipfel seiner Tagesdecke zwischen den Fingern spielte.

„Um was geht es?“ Sein Vater klang nun ernster. Ihm war wohl Nataniels bedrückter Tonfall nicht entgangen.

„Bist du alleine? Hört Mom zu?

„Nein, sie wollte gerade Lucy stillen, als du angerufen hast. Das wird sie jetzt wohl nachholen. Deine kleine Schwester gleicht mit ihrem Hunger wie dem Rest unserer Familie. Beinahe könnte sie es sogar mit dir aufnehmen.“

Kurz lächelte Nataniel bei dem Bild seiner kleinen Schwester, das sich vor sein geistiges Auge schob. Noch war Lucy zu klein, um sich zu verwandeln. Aber sie gab bestimmt ein wunderschönes Berglöwenbaby ab, mit ihren goldfarbenen Augen und dem herzerweichenden Gesichtchen. Nataniel vermisste sie wie den Rest seiner Familie.

Er seufzte, dann rückte er mit der Wahrheit heraus.

„William Hunter ist tot. Ich bin nicht in Kanada, sondern an dem Ort, wo er ermordet wurde. Vermutlich ein Tiger namens Nicolai. Aber darum geht es jetzt nicht. Dad, welche Beziehung hattest du zu meinem Erzeuger?“

Schweigen.

Unbewusst zerriss Nataniel die Spitze der Tagesdecke, als das Gefühl der Bedrückung immer stärker wurde.

„Er war mein bester Freund“, begann sein Dad schließlich zu sprechen. Seine Stimme zitterte.

Das hatte Nataniel nicht gewusst. Zu hören, dass sein bester Freund nun tot war, musste wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein. Sofort setzte er sich auf dem Bett auf, als er sich der Tragweite seiner Worte bewusst wurde. Ihm bedeutete sein Erzeuger vielleicht nur sehr wenig, aber seinem Dad wohl sehr viel.

„War das der Grund, wieso du mich bei euch aufgenommen hast? Warum ...?“

Warum hatte er ihn weggeben? Warum hatte seine Mutter ihn kurz nach der Geburt weiter gereicht?

„Ich konnte ihm diese Bitte nicht abschlagen.“

Nataniel hörte, wie schwer es seinem Dad fiel, die nächsten Worte zu sprechen.

„Er hat unsere Familie vor der Registrierung bewahrt. Hat uns einen Ort überlassen, der so weit von allem abgelegen liegt, dass sie kein Interesse an uns hegten. Er wollte nicht, dass du das gleiche Schicksal erleidest, wie dein älterer Bruder. Sein Name war Ryan. Williams und Sarahs erstes Kind. Sein Verlust hätte deine Mutter fast umgebracht, wenn sie ihren Mann nicht gehabt hätte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es ihr fiel, dich herzugeben.“

Nataniels Kehle begann sich, schmerzhaft zuzuschnüren. Sein Dad meinte nicht Kyle, seinen jüngeren Stiefbruder, sondern jemand ganz anderes. Einen Bruder, den er niemals kennen gelernt hatte.

„W-wie …?“ Seine Stimme versagte. Er konnte nicht fassen, was er da hörte.

„Dein Vater ist … war ein geborenes Alphatier. Einige werden schon als solche geboren. Jeder Gestaltwandler erkennt das sofort, wenn er einem begegnet. Er war schon immer dazu bestimmt, seine Art zu vereinen und zu beschützen. Sogar mehr als das. Ihm war es gelungen unsere Clankriege zwischen den verschiedenen Rassen der Raubkatzen zu beenden und uns zu verbünden, wie es schon so lange die Werwölfe tun. Nur so konnten wir uns gegen unsere Feinde behaupten – die Moonleague. Aber genau das machte ihn zum Ziel.“

Inzwischen sank die Stimme seines Dads zu einem Flüstern herab.

„Einige Mitglieder der Organisation können Alphatiere ebenfalls erkennen. Anfangs gaben sie sich damit zufrieden, sie und alle Gestaltwandler, die sie finden konnten, zu registrieren und zu beschatten. Aber in jener Nacht, als dein Bruder noch ein Kleinkind war, begannen sie systematisch alle angehenden Alphatiere zu töten … Dein Vater hatte keine Ahnung von dem Plan. Bis dahin hatte er sich immer darauf konzentriert, für Frieden zu sorgen, damit unsere Art so normal wie möglich leben kann, selbst mit der Registrierung. Er konnte Ryan nicht retten, als man deinen Bruder seiner Bestimmung wegen tötete, und kam selbst nur ganz knapp mit dem Leben davon, bei dem Versuch, wenigstens deine Mutter in Sicherheit zu bringen.“

Nataniel konnte kaum noch atmen, so sehr entsetzte ihn diese neue Information. Beinahe hätte er das Handy zerbröselt, da sich seine Hand so fest darum ballte, dass das Gehäuse protestierend knackte.

„Ryan wäre ein Alphatier geworden, Nataniel. Du bist ebenfalls dazu bestimmt. Deshalb gaben deine Eltern dich weg. Damit man dich nicht ebenfalls umbringen konnte. Man sieht es dir nicht mehr an, aber das Potential zum Führer hat immer in dir geschlummert.“

„Nein.“

Nataniel schüttelte den Kopf, als weigere er sich, das zu hören.

„Ich bin kein Anführer. Ich kann niemanden beschützen.“

Der Leopard hatte Recht. Er war wirklich nur ein armseliges Würstchen. Zu schwach, um gegen eine schwächere Raubkatzenart anzukommen. Wie könnte er da jemals gegen einen Tiger ankommen, wenn es selbst seinem Vater nicht gelungen war?

„Wenn du es akzeptierst, wird sich dein Potential entfalten. Genau deshalb bist du doch dorthin gereist, oder etwa nicht? Ich kann dir nur raten, es nicht zu leugnen, sondern anzunehmen. Aber wie du dich auch entscheidest, vergiss nicht, du kannst immer nach Hause kommen. Deine Familie ist für dich da.“

Ja, seine Pflegefamilie würde ihn auch weiterhin beschützen, selbst wenn er den Schwanz einzog und sich winselnd unterm Bett verkroch.

Wie könnte er jemals der Sohn seines Vaters sein, wo er doch schon das Zittern bekam, wenn er nur daran dachte, Verantwortung für mehr als nur sein Leben zu übernehmen?

Lange schwiegen sie beide am Telefon, bis Nataniel wieder in der Lage war zu sprechen. Er dankte seinem Dad dafür, dass er ihm die Wahrheit erzählt hatte, teilte ihm jedoch mit, dass er noch eine Weile nicht nach Hause kommen würde und er bloß nichts seiner Mom erzählen sollte, damit sie sich nicht aufregte. Danach verabschiedeten sie sich und Nataniel vergrub den Kopf in sein Kissen, um das Brüllen zu dämpfen, das sich schließlich seinen Weg durch seine Kehle bahnte.

 
 

***

 

Amanda wachte mit Kopfschmerzen und verschwommenem Sichtfeld auf.

Zuerst war da der Eindruck von Licht, das nur durch einen kleinen Bereich auf ihre Füße fiel. Alles drehte sich ein wenig, als sie den Kopf anhob und sich bewegen wollte. Sie blinzelte hektisch, als ihr klar wurde, dass sie auf einem Stuhl festgebunden war. Ihr Puls schnellte in die Höhe und ihre Atmung schien sich einen Augenblick zu überschlagen, bevor sie sich wieder zur Ruhe rief. Als Erstes musste sie ihre Lage analysieren, dann konnte sie immer noch in Panik ausbrechen.

Sie befand sich in einer Art Schuppen oder Rumpelkammer. Überall an den Wänden hingen Werkzeuge und in den Regalen lagen Schrauben und Ersatzteile jeglicher Art herum.

Amanda hob den Kopf noch etwas weiter, was ihr wieder ein unangenehmes Klingeln in den Ohren verursachte und sah zu dem kleinen Fenster hinüber, durch das warmes Licht in den Raum fiel.

Es schien bereits zu dämmern, denn das Licht fiel in einem Winkel herein und war außerdem von einer Farbe, die vermuten ließ, dass die Sonne gerade unterging.

Neben dem Fenster öffnete sich jetzt die Holztür in den wackeligen Scharnieren, die nur quietschend nachgaben. In dem erleuchteten Rechteck zeichneten sich zwei dunkle Silhouetten ab, in denen Amanda zumindest die Frau von vorhin erkannte. Sie schwieg genauso wie ihr Begleiter, aber beide durchbohrten Amanda regelrecht mit ihren Blicken.

„Was wollen Sie von mir?“, fragte Amanda leise.

Sie wollte ihre Tarnung der etwas zu neugierigen Journalistin nicht sofort aufgeben. Vielleicht hatten sich diese Leute nur etwas zu enthusiastisch gegen einen Eindringling verteidigen wollen. Allerdings verriet ihre Stimme garantiert, dass Amanda nicht vor Angst schlotterte. Im Auge von unvermeidlicher Gefahr wurde sie immer seltsam ruhig.

„Dasselbe möchten wir dich fragen.“

Der Mann hatte sich direkt vor Amanda gestellt und blockierte das Licht, das gerade so ihre Schuhspitzen erreicht hatte.

„Ich war nur hier, um nach dem Weg zu fragen. Ich hab mich verfahren.“

Wäre er in seiner Tierform gewesen, hätten sich jetzt wohl seine Schnurrbarthaare verächtlich gehoben. Er kaufte ihr die Geschichte nicht ab.

„Natürlich. Und du hast dieses Ding zwar dabei, kannst aber nicht damit umgehen.“

Wie ein giftiges Insekt hielt er ihr den PDA vor die Nase, der nur einen dunklen Bildschirm zeigte.

„Sie wissen doch … Frauen und Technik.“

Ihr entkam so etwas wie der Ansatz eines Lachens, dessen Abbrechen man durchaus auf Angst oder Nervosität schieben konnte.

Amanda konnte nicht anders, als zurückzuzucken, als sich die große Hand des Mannes um ihren schlanken Hals legte und sie die Krallen auf ihrer Haut spüren konnte, die er ausfuhr.

„Du solltest mir die Wahrheit sagen.“

Sein Gesicht näherte sich dem von Amanda. Allerdings sah diese gerade ganz wo anders hin. Die Frau stand ein Stück von ihr entfernt und sah sich die Szene eindeutig mit Nervosität an. Sie fühlte sich absolut nicht wohl in ihrer Haut und rang in einer verzweifelten Geste die Hände. Der Kerl mochte ein guter Schauspieler sein. Seine Frau war es nicht und Amanda war sich sicher, dass das hier weniger gefährlich für sie war, als es den Anschein hatte.

Die Hand legte sich fester um ihren Hals und zwang Amanda schließlich doch dem Mann ins Gesicht zu sehen.

„Hören Sie“, krächzte sie angestrengt, während ihr langsam aber sicher die Luft wegblieb.

Wahrscheinlich war der Typ gerade deswegen gefährlich, weil er nicht mit seiner eigenen Kraft umgehen konnte.

„Ich suche nur jemanden.“

Mist, wenn er weiter so zudrückte, würde ihr bald wieder schwarz vor Augen werden. Bereits jetzt konnte Amanda fühlen, wie sich ihr Blut in ihrem Gesicht staute. Sie musste rot wie eine Tomate sein, während Tränen in ihre Augen stiegen.

„Frank …“

Die Stimme der Frau passte absolut zu ihrer Schönheit. Sie klang wie ein Glockenspiel und hatte auf Frank eine scheinbar einzigartig beruhigende Wirkung. Langsam drehte er sich zu der Frau um und ließ Amanda ein wenig los, die verzweifelt nach Luft schnappte.

Sie hustete und versuchte an der Hand vorbei zu schlucken, die der Mann immer noch auf ihrem Hals belassen hatte.

„Ich … Ich suche einen Mann. Sein Name ist Eric. Eric Johnson.“

Erstaunlicherweise ließ Frank ihren Hals los, als er Erics Namen hörte. Sofort machten sich Erleichterung und Hoffnung in Amanda breit. Die Frau, deren Namen Amanda noch nicht kannte, sah zwischen Frank und ihrer Gefangenen hin und her. Sie wusste offensichtlich nicht, was sie tun oder sagen sollte und versuchte Hilfe in Franks Gesicht zu finden. Der sah allerdings immer noch mit steinerner Miene auf Amanda hinab, die inzwischen trotz dieses kleinen Erfolgs versuchte, sich aus den Fesseln um ihre Handgelenke zu befreien.

„Warum willst du ihn finden?“

Sie kannten ihn. Am liebsten hätte Amanda ihrer Freude laut Ausdruck verliehen, aber das konnte immer noch ein großer Fehler sein. Immerhin hieß das nicht, dass sie Eric freundlich gesonnen waren. Sie konnten ihn getötet haben und seine Verbindung zu Amanda nur als weiteren Grund ansehen, mit ihr ebenfalls so zu verfahren.

„Ich bin seine Schwester. Er ist vor ein paar Monaten verschwunden und ich mache mir Sorgen. Ich will nur wissen, ob es ihm gut geht.“

Bei diesen Worten sah sie in die braunen Augen der Frau. Bei ihr hoffte sie auf mehr Mitgefühl und Verständnis zu treffen als bei Frank, dessen Krallen immer noch ausgefahren waren, obwohl seine Hand schlaff neben seinem Körper hing.

Amanda hätte nicht mit dem gerechnet, was als Nächstes passierte. Frank ging zu einem der Regale hinüber, zog eine Rolle Klebeband hervor und trat wieder auf Amanda zu. Ihre Augen weiteten sich und sie versuchte – natürlich zwecklos – seinen Händen zu entgehen.

„Nein, warten Sie doch, ich …“

Der Rest des Satzes ging in Gemurmel unter, als Frank ihr das Klebeband über den Mund legte und es neben ihrer Wange mit einer seiner Krallen von der Trommel trennte. Dabei ritzte er Amanda wohl unabsichtlich ein wenig die Haut auf, was sie zusammenzucken ließ. Sie versuchte weiter zu sprechen und die Frau mit ihren Blicken irgendwie dazu zu bringen, ihr zuzuhören.

Aber Frank legte das Klebeband wieder ins Regal und schob die Frau zur Tür hinaus, die er ordentlich hinter sich verschloss und einen dicken Riegel vorlegte. Amanda konnte Holz auf Holz hören, bevor sie anfing zu toben. Sie bäumte sich unter ihren Fesseln auf dem Stuhl auf und schaffte es sogar sich vorzubeugen und damit in Richtung Tür zu wanken. Mit dessen zusätzlichem Gewicht warf sie sich gegen das Holz, das zwar laut knarrte, aber keinen Zentimeter nachgab.

Noch dreimal versuchte es Amanda unter gedämpften Rufen und einem Wutausbruch, der sich gewaschen hatte. Beim vierten Versuch rutschte die Stuhllehne an einer der Holzbohlen ab und der Türgriff schlug hart gegen Amandas Schulter.

Scheiße!, schrie sie in den Klebebandstreifen und setzte die Beine des Stuhls wieder auf den staubigen Boden. Selbst im Sitzen trat sie noch nach einem der in der Nähe stehenden Regale.

Eigentlich musste sie nur warten, bis die Sonne vollkommen unterging. Dann konnte sie sich hier raus bringen, aber was, wenn Frank schneller zurückkam, als vermutet. Und was, wenn er diesmal die Frau nicht dabei hatte, um ihn davon abzuhalten, ihr die Haut vom Körper zu ziehen?

 
 

***

 

Es mussten Stunden vergangen sein, bevor Nataniel wieder in der Lage war, sich so weit zu beruhigen, dass er nicht alles zu Kleinholz verarbeiten wollte, was er erreichen konnte.

Er hatte es sogar geschafft, nichts in diesem Raum zu zerstören, wenn man mal von den blutigen Abdrücken von Fingernägeln in seiner Handfläche absah, die er sich zugefügt hatte, als er sie fest zu Fäusten ballte.

Schließlich konnte er sich sogar so weit durchringen, um zu Amandas Zimmer zu gehen.

Er hatte einige Fragen an sie, die garantiert alles andere als angenehm für sie sein würden. Im Augenblick hasste er die Organisation mehr denn je und sie war nun einmal ein Mitglied davon. Gewisse Dinge musste sie einfach wissen.

Inzwischen hatte Nataniel noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen, weil er sie angelogen hatte. Sie war nicht besser. Was verschwieg sie ihm denn alles, um diese Höllenbande zu schützen?

Das lautstarke Hämmern an ihre Tür brachte absolut nichts, da es weder stark genug war, um seine Wut abzubauen, noch irgendeine Reaktion in dem Zimmer dahinter hervor zu rufen schien.

Entweder sie ignorierte ihn, oder sie war gar nicht da.

Um sicherzugehen, eilte er ohne Rücksicht auf seine Schmerzen die Treppe hinunter, um sich auf dem leeren Kundenparkplatz wieder zu finden. Der Dodge war weg und er hatte noch nicht einmal bemerkt, wie sie alleine losgezogen war.

Eigentlich sollte es ihn nicht kümmern, was sie trieb, doch er war so verdammt stinksauer auf sie und alles, was mit dieser verfluchten Moonleague zu tun hatte, dass er sich dazu zwang, die Hauptstraße entlang zu joggen, um nach ihrem Wagen Ausschau zu halten.

Es würde bald dunkel werden und sie war noch immer nicht zurück. Eine Tatsache, die ihm nicht ganz behagte. Was wenn sie auf einen Gestaltwandler gestoßen war, wie er auf den Leoparden? War sie vielleicht schon tot?

Der Jaguar in seinem Kopf fauchte laut und lief unruhig hin und her. Er wollte sie wieder haben.

Nataniel wusste nicht genau, wo er sie suchen sollte, nahm aber an, dass sie ihren Plan wieder aufgenommen hatte, um die Farmen abzuklappern. Also war er so frei, sich bei der nächstbesten Gelegenheit einfach einen fahrbaren Untersatz zu 'borgen'. Es war ein altes Motorrad, das nur mit Müh und Not ansprang, als er es kurzschloss.

Woher er sein Wissen dazu nahm, würde er seinen Eltern auf ewig verschweigen, wie auch ein paar andere Sachen in seinem nicht ganz so tadellosen Leben.

Schließlich machte er sich endlich auf den Weg, um dorthin zu fahren, wo sie gestern die Suche vorerst hatten aufgeben müssen. Doch schon bei der nächsten Einfahrt nach dem Ort, wo sie den Leoparden erschossen hatte, war Nataniel klar, dass sie nicht hier gewesen war. Ihr Geruch fehlte vollkommen. Vielleicht hatte sie sich in der gegengesetzten Richtung auf die Suche gemacht.

 

Es war die mühsamste Suche seines bisherigen Lebens, da er bei weitem keinen so guten Geruchssinn hatte wie ein Hund oder gar ein Werwolf. Inzwischen war er so reizbar, dass er keine Rücksicht mehr auf seine körperliche Schwäche nahm, sondern ihn diese Tatsache eher nur noch wütender machte.

Das änderte sich für einen Moment, als Nataniel schließlich auf Amandas Geruch stieß.

Zwar hing er nur schwach in der Luft, aber er konnte ihm folgen. Dazu musste er viel langsamer fahren, was ihn verdammt wurmte, da die Sonne bereits den Horizont blutig färbte, aber wenigstens hatte er endlich ihre Spur gefunden.

Von der Wut über die Dinge, die er erfahren hatte, angestachelt, fuhr er unermüdlich der Spur nach, ließ dabei die Einfahrten aus, die sie zwar genommen, aber auch wieder verlassen hatte, bis er irgendwann auf den intensiven Geruch ihres Blutes stieß.

Nataniel bremste die Maschine auf einer unwegsamen Straßeneinbiegung schlitternd ab, ließ sie einfach in den nächsten Straßengraben kippen und warf seine Kleidung hinten nach. Dann verwandelte er sich, um der Spur besser folgen zu können.

Nur ein Stück weiter fand er einen einzelnen Blutstropfen auf dem Schotterweg. Es war wirklich nicht viel, aber es war noch nicht vollkommen getrocknet. Sie musste also hier sein.

Dabei fiel ihm aber nun auf, dass auch der Geruch von anderen Personen in der Luft hing.

Gestaltwandler.

Nataniel schlich sich in den Wald, dabei auf jede noch so kleine Information achtend, die ihm Auskunft über seine Umgebung gab. Einerseits half es ihm, sich nicht von der Tatsache ablenken zu lassen, dass Amanda vermutlich verletzt sein musste, auch wenn es wohl nicht schlimm war. Immerhin könnte sie sich auch nur geschnitten haben oder so etwas in der Art, aber bevor er es nicht mit Sicherheit wusste, würde er keine Ruhe geben.

Auf dem Waldboden fand er immer wieder Spuren von Raubkatzen und der Geruch hing intensiv in der Luft.

Er wurde immer nervöser, aber zugleich machte ihn das auch unglaublich wachsam.

Als er endlich wieder Licht zwischen den Bäumen sehen konnte, das nicht von der Straße her kam, wurde er immer langsamer und schlich sich nur noch in geduckter Haltung voran. Dabei achtete Nataniel peinlichst genau auf die Windrichtung. Er wollte nicht riskieren, dass man ihn noch einmal so überraschte, wie der Leopard es getan hatte.

Er traf auf eine Farm, wie sie hier in der Gegend wohl üblich waren. Allerdings interessierte ihn hierbei nicht das Haupthaus, sondern zuerst Amandas Dodge in der Einfahrt und der Schuppen in der Nähe, den gerade ein Mann und eine Frau verließen und danach die Tür verriegelten.

Nataniel knurrte leise, als er die zwei Gestaltwandler verschwinden sah, war zugleich aber auch erleichtert, als schon kurze Zeit später die alte Holztür von innen erschüttert wurde.

Amanda … sie musste da drin sein.

Da er die beiden Gestaltwandler nicht mehr sehen konnte, schlich er sich von hinten an den Schuppen heran und suchte eine Stelle, an der er rein kommen konnte.

Da war nur ein Fenster, direkt neben der Tür, aber das wäre einfach zu offensichtlich gewesen.

Die Sonne ging immer weiter unter. Er beeilte sich.

Nachdem er den Schuppen dreimal von jeder Seite gründlich gemustert hatte, ohne sich selbst blicken zu lassen, fand er schließlich ein kleines Schlupfloch. Dicht am Boden, waren bereits ein paar Holzlatten der Hütte herausgebrochen. Wenn er noch etwas grub, würde er dort hindurchpassen.

Gedacht, getan.

Der Boden war sandig und für seine Pranken kein Hindernis. Fast lautlos gelang es ihm, hindurchzuschlüpfen. Hier drin war es bereits sehr dunkel, weshalb er sich gut in den Schatten verbergen konnte. Als er jedoch Amanda an einen Sessel gebunden vorfand, wäre es fast mit seiner Ruhe vorbei gewesen.

Er wollte am liebsten knurren und brüllen, stattdessen verwandelte er sich zurück. Blieb aber so weit in Schatten, dass sie nur sein Gesicht sehen konnte, wenn sie sich umdrehte.

„Amanda …“, flüsterte er leise und mit rauer Stimme. Er war emotional einfach total hin und her gerissen, weshalb er nicht sicher war, was er als Nächstes tun sollte.

 

Amanda hatte bereits ein leichtes Schimmern seiner Augen im Schatten gesehen, bevor er sie angesprochen hatte.

Was machte er denn hier? Sie wäre sehr gut ohne ihn ausgekommen und … Als sie den Ausdruck auf seinem Gesicht sah, das halb im Dunkeln lag, schluckte sie hart und von einer Sekunde auf die andere schien sich ein Felsbrocken in ihrem Magen geformt zu haben.

Selbst damals, als sie zum ersten Mal im Wald mit seiner menschlichen Gestalt zusammengetroffen war, hatte ihr nicht so viel Hass entgegen geschlagen, wie sie ihn jetzt in seinen Augen lesen konnte.

Amandas Handflächen wurden feucht und sie versuchte sich, so unauffällig wie möglich von den Fesseln zu befreien. Nataniels eiskalte Augen machten ihr in diesem Moment mehr Angst, als es Franks Hand vorhin getan hatte, als er versuchte, ihr die Luft abzuschnüren.

Die Tatsache, dass er nicht auf sie zukam, sondern im Schatten stehen blieb und sie nur ansah, war es, die sie so nervös machte. Hätte er sie retten wollen, wäre er auf sie zugekommen und hätte ihr das Klebeband abgenommen. Da er sich keinen Zentimeter bewegte, wartete Amanda darauf, dass er sich verwandeln und ihr nach einem einzigen Sprung die Kehle aufreißen würde.

Dieser verdammte Spruch hatte also doch seine Tücken. Sie hatte sich den Feind so nah geholt, dass sie jetzt mit ihm in der Falle saß und ihm völlig ausgeliefert war.

Ihre Augen verengten sich ein wenig und sie schob den Stuhl so, dass sie Nataniel ins Gesicht sehen konnte. Wenn er sie schon umbringen wollte, dann sollte er ihr dabei in die Augen blicken.

Einen verzweifelten Moment lang hoffte Amanda, dass die Sonne schnell genug untergehen würde. Wäre sie stärker gewesen, hätte sie den Sonnenschatten ausgenutzt.

Sollte sie das selbst in dieser Situation nicht riskieren?

Sie hörte die Worte ihrer Mutter in ihrem Kopf und ließ es bleiben. Stattdessen ließ sie sich weiter von Nataniels blauen Augen aufspießen und atmete allmählich ruhig und gleichmäßig.


 


 


 


 

12. Kapitel

Weg. Sie mussten hier weg. Das war jetzt am Wichtigsten, oder etwa nicht?

Zum ersten Mal in seinem Leben war sich Nataniel nicht mit dem Jaguar in ihm einig. Denn die Raubkatze wollte so schnell wie möglich Amanda von den Fesseln befreien, ihr das Klebeband abnehmen und in Sicherheit bringen. Mehr nicht. Weder wollte er sie zerfleischen, noch Rache üben.

Nataniel selbst war sich nicht sicher, was er glauben sollte. Sie hatte ihm verdammt noch mal zu Essen gegeben!

Würde das eine eiskalte Mörderin tun? Aber sie hatte doch diesen Leoparden umgenietet. Einfach so. Andererseits hatte sie ihm damit den Pelz gerettet.

Frustriert, da er einfach nicht zu einer Entscheidung kam, ging er schließlich mit ausgefahrenen Krallen auf Amanda zu.

Wenn er wollte, konnte er später auch noch unglaublich sauer sein. Hier war wohl kaum der passende Ort dafür. Also durchtrennte er mit einem Hieb ihre Fesseln und trat wieder halbwegs in die Schatten zurück. Das Klebeband sollte sie sich bloß selbst abnehmen, da er nicht wusste, ob es ihm Genugtuung geben würde, es ihr von der Haut zu reißen, oder ob es ihm leidtäte, wenn sie durch ihn Schmerzen erlitt.

„Du warst weg.“

Vorwurf lag in seiner Stimme, der definitiv von der Raubkatze in ihm kam. Es sollte ihn immerhin nicht kümmern, was sie tat. Aber verdammt noch mal, das tat es.

 

Als er nun mit ausgefahrenen Krallen auf sie zukam, konnte Amanda nicht verhindern, dass noch mehr Angst durch ihren Körper schoss.

All ihre Muskeln spannten sich an, als Nataniel sich schließlich doch nur über sie lehnte und ihr mit einem Ruck die Fesseln entfernte. Amanda konnte es erst glauben, als er sich wieder hinstellte und sie ihre Hände frei bewegen konnte.

Kurz massierte sie ihre Handgelenke, an denen rote Striemen prangten, bevor sie an die Seite des Klebebands griff, wo ihre Wange blutete und es sich schnell herunterriss. Es trieb ihr ein paar Tränen in die Augen und sie presste die schmerzenden Lippen aufeinander, bevor das Brennen nachließ und sie Nataniel wieder ansah.

Konnte er sich nicht zurückverwandeln? Wie jedes Mal fand sie etwas unpassend, dass er so nah völlig nackt vor ihr stand. Noch dazu, da sie immer noch auf dem Stuhl saß.

Konzentriert darauf, ihm nur ins Gesicht zu sehen, hörte sie sich seinen eindeutigen Vorwurf an.

„Und du bist verletzt.“

Die Kratzer auf seinem Körper sahen noch nicht viel besser aus als gestern. Er sollte gar nicht hier sein. Sollten sich Frank und seine Frau doch noch als Mitglieder des Rudels herausstellen, wäre er leichte Beute.

Genauso leichte Beute wie ich, fügte sie etwas bitter in Gedanken hinzu und stand endlich auf.

„Sie wissen, wo Eric ist.“

Sie bewegte sich keinen Schritt, sondern blieb zwischen ihm und dem Stuhl stehen. Immer noch war da etwas zwischen ihnen, das sie beinahe auf die Knie zwang. Er schien irgendetwas von ihr zu wollen und Amanda konnte sich absolut nicht vorstellen, was es war. Aber Nataniel schaffte es allein mit seinem Blick, ein tonnenschweres Gewicht auf ihre Schultern zu legen. Als wäre sie für etwas verantwortlich, das schlimmer war, als einfach zu verschwinden, ohne ihm Bescheid zu sagen. Sehr viel schlimmer sogar.

Amanda war selbst nicht klar, was sie jetzt tun sollte. Wäre Nataniel hier nicht aufgetaucht, hätte sie wahrscheinlich abgewartet, was Frank ihr zu sagen hatte, wenn er wiederkam. Zur Not hätte sie durch die Schatten aus dem Schuppen gehen und im besten Falle mit dem Wagen fliehen können. Jetzt hatte sie vielleicht keine Chance mehr, etwas über Eric zu erfahren.

 

Als sich Amanda die wunden Handgelenke rieb und es ihr offensichtlich wehtat, als sie das Klebeband entfernte, fauchte der Panther in seinem Kopf wütend über ihre Misshandlung. Er selbst starrte lediglich mit stechendem Blick zurück.

Zu sehen, wie sie befreit war, half ihm kein Bisschen weiter, weil sich nun etwas anderes aus ihm hervor brechen wollte. Etwas, das ihr garantiert nicht gefallen würde.

Nataniel konnte die Worte seines Dads nicht vergessen. Sie fraßen sich durch sein Herz hindurch, direkt bis zu seiner Seele. Er wollte irgendetwas umbringen.

Weshalb er sich noch weiter in den Schatten zurückzog. Weg von Amanda.

In diesem Augenblick blendete ihn der letzte Sonnenstrahl, ehe es immer dunkler im Raum wurde, aber er sah sie trotzdem und der Geruch ihres Blutes, das an ihrer Schläfe vor sich hin trocknete und der kleinen Kratzspur an ihrer Wange hing zwischen ihnen.

„Dann wartest du also auf Informationen? Viel Glück.“

Seine Stimme war ein tiefes Knurren ohne jede Wärme. Ohne Vorwarnung verwandelte er sich, schenkte Amanda noch einen letzten Blick und verschmolz vollkommen mit den Schatten.

Es war unsinnig gewesen, hierher zu kommen. Sie hätte sich selbst befreien können. Hier waren genug Schatten. Aber der Jaguar hatte ihn dazu gedrängt, sich wenigstens zu vergewissern, dass sie noch lebte. Selbst jetzt wollte die Raubkatze bleiben, sich schnurrend an ihre Hüfte schmiegen und sie dann von diesem Ort weg bringen. Doch er ignorierte seinen Beschützerinstinkt und ließ nur Platz für die kalte Wut in sich.

Nataniel war schnell im Freien, ohne darauf zu warten, wie Amanda reagierte. Erst als er schon tief durch den Wald gelaufen war, fielen ihm wieder seine Sachen und das Motorrad ein. Also kehrte er in Richtung Straße zurück, und machte sich auf die herkömmliche Weise auf den Rückweg.

Der Besitzer schien noch nicht bemerkt zu haben, dass er bestohlen worden war, weshalb Nataniel das Motorrad an Ort und Stelle zurückstellte und dann in das B&B zurückkehrte.

Seine Wut war immer noch nicht verraucht, als er sich ausgiebig duschte und sich schließlich auf sein Bett warf, um darauf zu hoffen, dass Amanda bald zurückkehren würde, um ihm die Antworten zu geben, auf die seine Seele so sehr brannte.

 

Sie verstand ihn einfach nicht. Warum war er hierher gekommen?

Er hatte sie zuerst befreit, um dann ohne irgendeine Erklärung wieder abzuhauen. Amanda fühlte sich hundsmiserabel, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, was sie getan hatte, um ihn zu einer derartigen Aktion zu verleiten. Aber er hatte ihr eindeutig das Gefühl gegeben, dass sie an etwas Schuld war. Dass sie ihn verletzt hatte. Anders konnte sie sich seinen schneidenden Kommentar nicht erklären.

Natürlich wartete sie auf Informationen. Deswegen war sie doch hergekommen. Wegen nichts Anderem hatte sie sich den ganzen Nachmittag hier herumgetrieben und die Farmen abgeklappert.

Sie wollte Eric finden. Auf einmal war sie ihm so nah wie nie zuvor und Nataniel schmiss ihr diese Tatsache an den Kopf, als hätte sie ihm die ganze Zeit etwas vorgelogen. Was wollte er denn von ihr? Es konnte ihm doch nur recht sein, wenn sie Eric fand, um dann so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.

Vom Haus her hörte Amanda jemanden kommen und versteifte sich sofort in der Erwartung, dass der Riegel zu ihrem kleinen Gefängnis zurückgeschoben wurde.

Sie zog sogar den Stuhl ein wenig zur Seite, um der Frau, die sich in den Türrahmen schob, Platz zu machen. Ihre Augen weiteten sich ein wenig und sie erschrak, als sie die Gefangene mitten im Raum und von ihren Fesseln befreit stehen sah. Nur in allerletzter Sekunde schaffte es Amanda, ihren Arm gegen die Tür zu drücken und die Frau davon abzuhalten, sie wieder zuzuwerfen.

„Warten Sie! Bitte …“

Sie zog sich ein Stück zurück, um ihrem Gegenüber keine Angst zu machen. Die Waffe hatten sie ihr sowieso genommen. Jetzt war ihr die Felidae auf jeden Fall überlegen, sobald sie sich in ihre tierische Form wandelte. Aber die Frau ließ ihre Augen nur auf Amanda ruhen und hielt sich nervös im Türrahmen fest.

„Können Sie mir etwas über meinen Bruder sagen? Ich will Ihnen sicher nichts tun und werde verschwinden, sobald ich ihn gefunden habe.“

Amanda behielt ihre Hände dort, wo die Frau sie auch im schwachen Licht immer sehen konnte. Sie wollte ihr keine Angst machen und sie auf keinen Fall vertreiben.

„Wir haben ihn getroffen.“

Die glockenhelle Stimme beruhigte nicht nur Frank. Sie passte so perfekt zu dieser sanften Frau, dass Amanda fast neidisch wurde, als sie ihr zuhörte.

„Eric ist … Er ist ein netter Mann.“

Sie senkte den Blick, um Amanda nicht ansehen zu müssen, die es beinahe nicht mehr schaffte, ruhig stehenzubleiben.

„Ja, das ist er. Können Sie mir denn vielleicht sagen, wo ich ihn finden kann?“

„Nein, das tut mir leid.“

Gerade wollte Amanda ihr ins Wort fallen. Sie beinahe anflehen, als die Frau aber doch von allein weitersprach.

„Er hat uns angeboten, mit ihm zu kommen. Wie die Anderen. Aber Frank … Er wollte die Farm nicht allein lassen. Seit zwei Wochen haben wir Eric nicht mehr gesehen.“

Zwei Wochen. Das war sehr viel besser als ein paar Monate. Innerlich jubilierte Amanda beinahe.

„Hat er Ihnen denn nicht gesagt, wo er sie hinbringen wollte?“

Er musste noch leben. Er musste noch leben!

Die Frau schüttelte nur den Kopf und Amanda konnte gar nicht so schnell reagieren, wie sie die Tür wieder schloss. Draußen hörte sie, wie die Frau ein Tablett oder etwas Ähnliches auf dem Boden abstellte. Wahrscheinlich hatte sie Amanda nur etwas zu Essen bringen wollen. Eine Geste des guten Willens, die sich zu sehr viel mehr ausgeweitet hatte.

Amanda hoffte, dass die Frau keinen Ärger mit Frank bekommen würde. Noch dazu, wenn ihre Gefangene zehn Minuten später verschwunden sein würde.

Sie konnte den Schmerz fast völlig ignorieren, den sie verspürte, als sie durch die verschlossene Tür ging. Frank stürmte aus dem Haus, sobald sie den Motor des Dodge anließ und vom Hof fuhr. Bereits auf der Hauptstraße verfolgte er sie nicht mehr und Amanda wünschte ihnen beiden, dass sie sich nicht wieder sehen würden.

Frank und seine Frau sollten aus Amandas Sicht dort ruhig auf ihrer Farm leben bleiben. Ihr einziges Problem der Farmer vom Nachbargrundstück, der scharf darauf war, ihnen ihr Land abzukaufen.

Zwei Wochen. Amanda stob mehr oder weniger wie ein Wirbelwind in ihr Zimmer und warf ihre Tasche in die Ecke, bevor sie schwer atmend neben dem Bett stehenblieb. Eric war noch vor zwei Wochen gesehen worden. Wenn sie weiter suchten, bestanden wirklich gute Chancen …

Amandas Blick huschte zur Wand, die ihr Zimmer vom Nebenraum trennte.

Sofort bildete sich wieder der massive Stein in ihrem Magen, als sie an Nataniel dachte.

Ansonsten völlig empfindungslos ging sie über den Gang zu seiner Zimmertür und klopfte an. Sollte er ihr doch sagen, was ihm über die Leber gelaufen war, nachdem er sie erst so heldenhaft befreit hatte.

 

Er schaffte es, keine Minute lang still liegenzubleiben, da war er auch schon wieder auf den Beinen, um aufgewühlt im Zimmer hin und her zu streifen. Vom Bett zum Stuhl. Vom Stuhl zum Schrank. Vom Schrank zur Tür. Von der Tür zum Bett und dann wieder alles von vorne, bis auch die letzten Wassertropfen auf seiner leicht überdurchschnittlich erhitzten Haut verschwunden waren und er sich schließlich eine tiefsitzende Jeans bis zu den Hüften hochzog und ein eng anliegendes Shirt in Schwarz überstreifte.

Danach blieb er vor seinem Fenster stehen und starrte hinaus. Da er sein Licht nicht angemacht hatte, hüllte ihn die Dunkelheit ein und er konnte jeden einzelnen Umriss des Ausblicks vor ihm erkennen. So entging ihm auch nicht das Scheinwerferpaar, das mutterseelenallein die Straße entlang glitt und direkt vor dem B&B anhielt, ehe sie erloschen.

Bei Amandas Anblick versteifte sich sein ganzer Körper, während der Panther in seinem Käfig gurrte und mit der Tatze zwischen den Gitterstäben seines Verstandes hindurch stupste, als wolle er sie selbst auf diese Distanz hin berühren. Nataniel war schon wieder geteilter Meinung mit dem Jaguar. Was langsam zu einer beunruhigenden Gewohnheit zu werden drohte.

Sein Herz pumpte das Adrenalin rasend schnell durch seine Adern, als seine empfindlichen Ohren Amanda in der Eingangshalle hörten und dann ihren stürmischen Gang hinauf in ihr Zimmer folgten.

Er hatte sich im Augenblick noch nicht genug unter Kontrolle, um zu ihr hinüber zu gehen, um ein zivilisiertes Gespräch zwischen Erwachsenen zu führen. Selbst wenn das Tier in ihm, nicht auf seiner Seite spielte, was Amanda anging, so war es doch ebenso wütend über die Neuigkeiten, die er heute Nachmittag erfahren hatte. Sie beide zusammen ergaben in diesem Fall also eine hoch explosive Mischung.

Nataniel war es in seinem Leben nur wenige Male passiert, dass er absolut durchgedreht war und seine Gefühlsausbrüche nicht unter Kontrolle hatte.

So etwas passierte Gestaltwandlern in jüngeren Jahren häufiger, wenn sie noch zu unerfahren im Umgang mit ihrer impulsiven Lebensweise waren.

Sie waren leidenschaftliche und sinnliche Wesen, deren Beschützerinstinkt ihren Liebsten gegenüber nur zu oft gefährliche Ausmaße für die Bedrohung annahmen. Manchmal endete so ein Konflikt sogar tödlich. Denn auch wenn sie menschliche Gestalt annehmen konnten, waren sie dennoch auch Tiere.

Nataniels Krallen fuhren aus, als Amandas Klopfen ihn aus seinen Gedanken riss.

Gerade hatte er sich überlegt, welche erlernte Bewältigungstechnik ihm helfen könnte, die Aggression in jeder einzelnen Faser seiner Muskeln so weit zurückzuhalten, dass er ein halbwegs normales Gespräch führen konnte.

Da er ohnehin keine Zeit mehr hatte, mit der heißen Wut in sich fertigzuwerden, knurrte er ein deutliches 'Herein' und drehte sich wieder zum Fenster um. Sein ganzer Körper bebte vor Anspannung, doch solange er die Arme verschränkt und somit bei sich behielt, würde es schon nicht zu schlimm werden.

In diesem Fall war er ganz froh, dass der Panther Amanda niemals wehtun würde. Zumindest im Moment nicht. Nataniel wollte das auch nicht, aber er gab keine Garantie darauf. Er stand kurz vor einem Gefühlsausbruch, da die Zeit für eine Bewältigung einfach noch nicht gereicht hatte. Dafür saß das Rachegelüst viel zu tief und der Feind war viel zu nahe, als sie in sein Zimmer trat und die Tür hinter sich schloss.

Nataniel fragte nicht, wie es gelaufen war, nach dem er sich wieder aus der Scheune verzogen hatte. Er kam sich in diesem Augenblick ohnehin verdammt dämlich vor, weil er ihr gefolgt war, um sie zu befreien, obwohl sie ganz offensichtlich seine Hilfe nicht brauchte und wohl auch niemals brauchen würde.

Es war erniedrigend, sogar so schwach zu sein, dass sie IHN hatte retten müssen. Das ließ noch mehr Zweifel in ihm aufkommen, dass er das Potential eines Alphatiers in sich trug. Vermutlich irrte sich sein Ziehvater in diesem Punkt. In allen anderen konnte er die Wahrheit mit ganzem Herzen spüren.

„Ich will keine Lügen hören.“

Er schreckte selbst ein wenig von der eisernen Härte seines Tonfalls zurück. Das war nicht mehr er. Das war jemand völlig Fremdes.

„Du gehörst zur Organisation, meinem Feind und dem Feind aller anderen Gestaltwandler. Da ich dir jedoch mein Leben verdanke, werde ich versuchen, das in den nächsten Minuten zu berücksichtigen.“

Wie schon gesagt, es gab keine Garantie.

Zum Glück konnte sie seine Augen nicht sehen. Sie hätte in ihm, wie in einem offenen Buch lesen können. Denn auch wenn er regungslos da stand, so würde immer Leben in seinen Augen sein. Da war nicht nur Hass, sondern auch Verwirrung, Angst, Verzweiflung, Wut und die verzweifelte Hoffnung, es könnte sich alles als unwahr herausstellen.

„Wusstest du, dass die Moonleague … kleine Kinder ermordet?“

Nun bebte auch seine Stimme. Er vergrub seine Krallen in seinen Oberarmen und hielt sich dadurch noch stärker zurück.

„Oder, dass sie es dabei speziell auf angehende Alphatiere abgesehen hat, damit meine Rasse nicht die Chance hat, sich trotz unserer wilden Natur zu verbünden, anstatt sich immer wieder zu bekämpfen?“

Was würde denn mit den Menschen passieren, wenn es plötzlich keine Führungskräfte mehr gab? Ein paar konnten in einer Gemeinschaft sicher friedlich zusammenleben, aber wenn man eine ganze Gruppe unterschiedlicher Arten zusammenwarf und diese auch noch von außen bedroht wurde, dann galt nur noch das Gesetz der Stärkeren. Die Schwächeren gingen in diesem Durcheinander einfach zu Grunde. Selbst Nataniel – der beschütz und behütet aufgewachsen war – wusste, dass man so am effektivsten eine Zivilisation in den Untergang trieb. Das war es doch, was die Organisation plante, oder etwa nicht? Gestaltwandler waren schneller und stärker als Menschen. Wären sie in einer genauso großen Anzahl wie die Menschen, befänden sie sich mit Sicherheit an der Spitze der Nahrungskette und nicht der Mensch.

„Hast du denn überhaupt eine Ahnung, für was die Registrierung gut sein soll? Was bringt es euch denn, Wesen wie mich zu beobachten?“, fauchte er mit leiser Stimme.

 

Das Zimmer war stockdunkel, als Amanda es betrat und die Tür hinter sich schloss.

Nataniel stand ihr gegenüber am Fenster und drehte ihr gerade wieder den Rücken zu. Aber um seine Aggressivität zu spüren, musste sie sein Gesicht nicht sehen.

Völlig automatisch suchte Amanda nach einem Ausweg. Die Tür in ihrem Rücken ging nach innen auf. Das Fenster war ein paar Meter entfernt. Der Mond schien hell.

Vor allem seine Stimme und der schneidende Tonfall machten Amanda klar, dass es diesmal nicht die Frage war, ob, sondern wann er sie angreifen würde. Was war denn bloß passiert? Schon in diesem Schuppen hatte er sich für seine Verhältnisse seltsam aufgeführt.

Gerade wollte sie den Mund öffnen und ihn darauf hinweisen, dass sie ihn noch nie angelogen hatte, als er ihr nicht nur die Worte, sondern auch gleich noch sämtliche Luft zum Atmen nahm.

Er schien ihr gehauchtes 'Was' völlig zu überhören, denn er sprach weiter, ohne auf sie zu achten. Es schien ihm mehr darum zu gehen, ihr all seinen Hass um die Ohren zu hauen, als tatsächlich die Wahrheit auf seine Fragen zu hören. Der Sprung durch das Fenster vor ihm wurde immer verführerischer. Allerdings konnte sie jetzt auch immer noch die Tür öffnen und ihn einfach hierlassen. Anscheinend hatte er gerade einen Anfall und war nicht ganz bei Sinnen.

In diesem Moment hätte sie sich mit ihrer Waffe sicherer gefühlt.

Amanda blinzelte zweimal und ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Er stand reglos vor dem Fenster und atmete schwer. Wahrscheinlich musste er sich gerade ziemlich zurückhalten, um nicht durch den Raum auf sie zuzuspringen und ihr die Kehle aufzureißen.

Amanda fühlte sich bereits jetzt so weit bedroht, dass sie keine Angst mehr empfand. Sie verlagerte ihr Gewicht so, dass sie zumindest aus seiner Sprungbahn weichen konnte. Danach konnte sie immer noch durch das Fenster oder sonst wie verschwinden.

Um ihn nicht noch weiter zu reizen – auch Amanda wusste, wann das nicht angebracht war – ließ sie ihre Stimme einen ruhigen, aber keinesfalls überheblichen Ton annehmen.

„Ich weiß nicht, was du gehört hast. Aber eins kann ich dir sagen – und das ist keine Lüge – ich bin seit meinem zehnten Lebensjahr bei der Moonleague und habe vor gestern noch nie einen Gestaltwandler umgebracht.“

Wie kam er bloß auf die abwegige Idee, dass die Organisation Kinder umbrachte? Sie waren doch kein Schlächterverein, der die Wandler unterdrücken wollte. Darum war es doch nie gegangen.

„Um deine zweite Frage zu beantworten …“

Sie konnte sehen, dass seine Atmung noch ungehaltener wurde. Verdammt, warum redete sie weiter? Sie musste hier raus, und zwar so schnell wie möglich.

„Die Menschen fürchten euch. Ihr seid so viel stärker als sie.“

Am liebsten hätte sie ihren Kopf gesenkt, um weiter fortzufahren. Aber das wagte sie nicht. Ihre Finger verkrampften sie ein wenig, während sie versuchte, weiterzusprechen und gleichzeitig auf seinen Angriff gewappnet zu sein.

„Leider war es schon immer so, dass der anfängliche Gedanke besser war als die Durchführung, würde ich sagen. Aus der Angst, dass die Tiere in euch sich vielleicht schnell gegen die Menschen wenden könnten, ist die Idee entstanden, euch zu registrieren. Damit man jederzeit nachvollziehen kann, wo ihr euch aufhaltet. Es ist nun mal so, dass man es in den meisten Fällen auf einen Gestaltwandler zurückführen kann, wenn Menschen an einem bestimmten Ort verschwinden und nur als ein paar Fetzen Fleisch wieder auftauchen.“

Wie immer wurde ihr schlecht, als sich das Bild vor ihr inneres Auge schob, wie die riesige Raubkatze ihrem Vater den Arm aus dem Schultergelenk riss.

Sie schluckte hart.

„Ihr seid doch nicht die Einzigen, vor denen sie Angst haben.“

Dieser Satz war mehr ein Hauchen gewesen, aber sie war sicher, dass er sie gehört hatte. Ob er allerdings verstanden hatte, dass sie ebenfalls zu jenen gehörte, der man ein mörderischeres Gemüt zusprach als normalen Menschen und deshalb ein Registrierungstattoo auf ihrem Nacken prangte, konnte sie nicht sagen.

„Sie können euer Leben und euch selbst nicht verstehen und nicht nachvollziehen, wie es ist, so zu sein wie ihr. Aber das heißt doch nicht, dass sie euch systematisch abschlachten.“

Ihr selbst war aufgefallen, dass sie von der Moonleague nicht in der ersten Person Plural gesprochen hatte. Wenn es um die Registrierung ging, hatte sich Amanda noch nie zu ihnen gezählt. Und sollte das, was Nataniel sich zusammengereimt hatte, auch nur ansatzweise stimmen, dann hatte die Organisation auf der Stelle einen Feind mehr. Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er mit seinen Vorwürfen Recht hatte.

 

Nataniels Verstand speicherte jede noch so kleine Information über Amanda ab.

Allein die Tatsache, dass sie schon mit zehn Jahren in die Moonleague eingetreten war, würde ihm später zu denken aufgeben. Jetzt aber hatte er nicht die Zeit dazu, sich seine Gedanken darüber zu machen. Da er herauszufinden versuchte, ob sie die Wahrheit sagte oder log.

Ihm kam es außerdem ziemlich seltsam vor, dass er an ihr keinerlei Angst riechen konnte, wo er in diesem verwirrenden Zustand vor sich selbst Angst hatte. ER wusste wenigstens, wann er endgültig ausrasten würde, aber wie sollte sie das wissen?

Seine Zähne knirschten laut, als er sie aufeinander biss und sich seine Kiefernmuskeln wie der Rest seines Körpers so sehr anspannten, dass sogar seine Sehnen am Hals deutlich hervor traten.

Ihr Worte … sie klangen aus der Sicht eines Menschen logisch, aber in seinen Ohren so dermaßen falsch, dass sich aus den Tiefen seines Brustkorbs ein aggressives Knurren den Weg ins Freie bahnte. Nataniel war kaum noch dazu fähig, normal zu atmen. Trotzdem war seine fremdartige Stimme unnatürlich ruhig und zugleich arktisch kalt.

„Wir Raubkatzengestaltwandler sind sehr Familien bezogen. Es gibt nichts, was darüber steht. Selbst wenn wir in einem Rudel sind, stehen die Familie und unser Partner immer an erster Stelle. Wir verteidigen sie mit unserem Leben und würden jeden dafür töten, der unsere Liebsten bedroht.“

Er sprach es aus tiefstem Herzen, während er das Bild von Lucy und seiner Mom verdrängte. Oder von seinem Dad und Kyle.

Bestimmt wären ihm in diesem Moment auch seine wirklichen Eltern und sein toter Bruder erschienen, wenn er nur gewusst hätte, wie sie ausgesehen hatten. Doch vermutlich wäre das dann zu viel gewesen. Also schlang er seine Arme noch enger um seinen Brustkorb und nahm sich dadurch fast selbst die Luft zum Atmen.

„Aber wie bei den Menschen gibt es Ausnahmen. In jeder Rasse gibt es jene, die aus Vergnügen morden oder aus sonst irgendwelchen kranken Gründen und du kannst sicher nicht leugnen, dass die meisten Gewalttaten Menschen gegenüber von Menschen selbst verursacht werden.“

Mit einem Mal drehte er sich zu ihr herum, um ihr in die Augen sehen zu können. Denn er hatte sehr wohl den Unterton gehört, als sie sagte, dass die Menschen nicht nur vor Gestaltwandlern Angst hatten. Nein, sie waren so schwach, dass sie vor allem zurückschreckten, was sie nicht verstanden. Nataniel wusste das. Folglich müssten sie auch Amanda fürchten, die so besonders wie er selbst war. Kein Wunder, dass er das Gefühl hatte, sie würde die volle Wahrheit deshalb nicht zugeben, weil sie diese vermutlich gar nicht wusste.

Trotz dem er es wusste, konnte er den kurzen Kontrollverlust seiner Beherrschung bei ihren letzten Worten nicht verhindern. Der Impuls auf etwas einzuschlagen wurde in jenem Moment sprunghaft groß und brannte ihm wie Feuer in den Adern.

Mit einer kaum sichtbaren Geste zertrümmerte er die Nachttischlampe zu seiner Linken, ehe er seine Arme wieder fest vor die Brust verschloss und so weit zum Fenster zurück taumelte, dass er sich gegen das kühlende Glas lehnen konnte.

Dabei starrte er immer noch unverwandt Amanda an, da ihr Anblick das Einzige war, was ihn vor der Explosion rettete. Warum das so war, konnte er in diesem Moment nicht sagen, aber es war ihm auch scheißegal, solange er nicht das ganze Zimmer zerlegte.

Nataniel holte tief Luft, ehe er langsam und abwägend weitersprach: „In meinem Volk gibt es Geschichten, Mythen und Legenden, wie bei den Menschen auch. Es heißt, dass wir vor langer Zeit in vielen kleinen Rudeln gelebt haben und so mit unserem wilden Wesen zivilisiert zusammenlebten. Die Alphatiere haben sich stets zusammengesetzt, um Auseinandersetzungen zu besprechen, Streitigkeiten beizulegen und für Frieden zu sorgen. Warum glaubst du wohl, gibt es heute so viele einzelne Familiengruppen von uns, die sich immer wieder gegenseitig bekämpfen? Das liegt nicht nur daran, dass der Mensch die Umwelt zerstört und unsere Reviere dadurch systematisch verkleinert, sondern weil es kaum noch Alphatiere gibt. Damit meine ich nicht Typen wie diesen Tiger, der die Macht einfach an sich riss, da er der Stärkere war. Sondern jene, denen es im Blut liegt, andere zu führen, sie zu beschützen und für sie da zu sein. Körperliche Stärke macht noch lange keinen Führer aus, wenn er es zulässt, dass unter seiner Herrschaft eine ganze Familie ausgelöscht wird.“

Das hatte er inzwischen begriffen, auch wenn ihm das kein bisschen weiterhalf.

Nataniel drehte sich wieder zum Fenster und lehnte seine heiße Stirn gegen das kalte Glas. Es half nur etwas gegen sein kochendes Gemüt. Tonlos und mit entrückter Stimme, gab er nun den wahren Grund zu, weshalb sie dieses Gespräch hier führten.

„Ich habe heute von meinem Pflegevater erfahren, was William Hunter und seine Gefährtin Sarah dazu gebracht hat, ihren Sohn kurz nach der Geburt wegzugeben.“

Er schloss die Augen, während sich seine Hände in den Fensterrahmen krallten.

„Ich hatte einen älteren Bruder, der das Potential eines Alphatiers in sich trug. Vater war registriert, aber das weißt du ja. … Irgendwann muss die Moonleague in der Vergangenheit über diese jungen Alphatiere gekommen sein, wie eine der ägyptischen Plagen. Kein Wunder, dass es heute so anders ist als früher.“

Eine ganze Generation war ausgelöscht worden und hatte dadurch riesige Lücken hinterlassen. Aber wieso erzählte er das alles Amanda? Sie würde ihm ohnehin nicht glauben. Er war immerhin nur ein Tier und das konnte sie in diesem Moment deutlicher denn je sehen.

Der Drang, seinen Schädel durch das Glas zu knallen, war bittersüß und mächtig, also ging er zum Bett und setzte sich darauf. Wieder die Arme um seinen Oberkörper geschlungen. Unter dem Beben seines Körpers erzitterte das ganze Bett. Er wusste nicht, wie lange er sich noch zurückhalten konnte.

Der Panther in seinem Kopf warf sich gegen die Gitterstäbe, wollte zu Amanda, damit er um ihre Beine streifen konnte, um sie zu einer Streicheleinheit aufzufordern. Sanfte Berührungen waren in seiner Familie immer schon ein beruhigendes Mittel gegen Aggression gewesen.

Wie sehr wünschte er sich in diesem Augenblick, bei seiner Pflegefamilie zu sein. Alleine Lucys Lächeln hätte ihn wie heiße Butter dahinschmelzen lassen und ihm die Sorgen für eine Weile weggewischt. Aber hier war er alleine und hatte noch nicht einmal die Möglichkeit, seinem Frust und seiner Wut Platz zu schaffen, da er sich unauffällig verhalten musste.

 

Als er bei ihren Worten die Lampe zerschlug, zuckte Amanda unmerklich zusammen und endlich wurde doch Adrenalin in Mengen durch ihre Adern gepumpt, so dass ihr regelrecht heiß davon wurde.

Ihr Bein, auf dem sie die ganze Zeit ihr Gewicht sprungbereit gelagert hatte, fing an unter der Belastung zu zittern. Sie versuchte es zu unterbinden, hatte aber das Gefühl, sich nicht wirklich bewegen zu können.

Da er sie immer noch mit flackernden Augen ansah, konnte seine Aggression nur ihr gelten. In diesem Punkt machte sich Amanda nichts vor. Nataniel hatte offensichtlich beschlossen, Amanda als Stellvertreterin der Moonleague die Schuld an allem aufzuhalsen, was in der Welt zwischen den Menschen, der Organisation und den Wandlern schief lief oder gelaufen war. Sie spitzen Vorwürfe, die er ihr entgegen schleuderte, drohten sie wie Dolche an die Tür hinter ihr zu pinnen.

Hörte er sich denn selbst überhaupt zu?

Wie konnte er von einem Menschen verlangen, dass er keine Angst vor ihm hatte, wenn er selbst sagte, dass er jeden töten würde, der seiner Familie oder seiner Partnerin zu nahekam?

Genau solche Aussagen waren es doch, die den Menschen Angst machten und die dafür sorgten, dass sie die Wandler lieber nicht in den Städten und Siedlungen haben wollten!

Allmählich fühlte Amanda Wut in sich aufsteigen. Ihr war schon klar, dass es sich von Nataniels Position aus alles furchtbar unfair anhörte. Aber er machte sich nicht einmal die Mühe zu verstehen, welchen Eindruck das Wesen der Wandler auf die Menschen machen musste. Selbst sie hatte in diesem Moment Angst vor ihm.

Jeden Moment konnte er sich in ein Raubtier verwandeln oder einfach seine Krallen ausfahren und sie in Stücke reißen. Bloß ihre Fähigkeit, die sie von den schwachen Menschen unterschied, konnte sie dann noch retten. Oder vielleicht auch nicht.

Amanda schien die Antwort im Hals zu gefrieren und als Eisklumpen in ihren Magen zu rutschen, als Nataniel ihr von seinen Eltern und seinem Bruder erzählte. Auf einmal gab er zu, dass William Hunter sein Vater gewesen war und noch dazu gab es einen Bruder, der von der Moonleague umgebracht worden war. Oder zumindest hatte man das Nataniel weismachen wollen.

Als er sich aufs Bett warf, nutzte Amanda die Gelegenheit, um endlich ihr Gewicht auf das andere Bein zu verlagern. Das Andere zitterte auch jetzt leicht, da die Belastung nachließ, was Amanda aber einfach ignorierte. So sehr, wie Nataniel mit sich selbst beschäftigt war, würde ihm diese leichte Schwäche an ihr wahrscheinlich gar nicht auffallen.

Fieberhaft überlegte sie, was sie antworten konnte.

Wäre er ein Freund gewesen oder könnte sie auch nur ansatzweise davon ausgehen, dass er ihr wohlgesonnen war, hätte sie ihn gefragt, was er von ihr hören wollte. Sie hätte ihm erklärt, wie es sich für ihre Ohren anhörte und welchen Eindruck es machte, was er ihr da auf den Kopf zusagte.

Er wollte sie offensichtlich angreifen. Vielleicht nicht körperlich, aber er wollte sie verletzen. Wollte sich so fühlen, als könnte er der Moonleague über Amanda seine Meinung einhämmern. Nämlich, dass sie alle mörderische Schweine waren, die sich nicht einmischen sollten.

„Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich habe keine Ahnung, ob es stimmt, was man dir erzählt hat …“

Sie wollte es nicht glauben. Deshalb hatte sie der ruhige Ton von vorhin bei ihrem letzten Satz, ein wenig im Stich gelassen. Noch dazu machten sie seine Augen, die wieder auf ihr ruhten, ziemlich nervös.

„Sollte die Organisation diese Kinder und deinen Bruder umgebracht haben, kann ich das herausfinden. Es gibt zu allem Akten, die ich einsehen kann.“

Amanda straffte sich etwas, weil sie die Chance sah, aus diesem Zimmer herauszukommen. Sie machte bereits einen Schritt vom Bett weg und streckte ein wenig die Hand nach dem Türgriff aus.

 

Glaubte sie wirklich, es wäre so einfach, an solche Informationen heranzukommen, wenn sie bis jetzt noch nicht einmal etwas davon wusste? Sie glaubte ihm ja noch nicht einmal! Aber das verlangte Nataniel auch gar nicht. Er hatte nur hören wollen, ob sie etwas davon gewusst hatte. Dass das nicht der Fall war, war ihm nun deutlich klar. Sie log nicht, das spürte er.

Dafür drang ihm nun deutlich der Geruch ihrer Angst in seine Nase wie etwas Beißendes. Der Panther knurrte ihn vorwurfsvoll an und wollte nun mehr denn je zu Amanda. Schien dabei aber zu vergessen, dass sie ein und denselben Körper teilten, auch wenn Instinkt und Verstand nicht immer Hand in Hand gingen.

Im Moment war das auch vollkommen gleich. Nataniel brauchte dringend einen Katalysator für seine brodelnden Gefühle, sonst würde in wenigen Minuten alles in diesem Zimmer zu Hackschnitzel verarbeitet werden. Ob er nun wollte, oder nicht.

Letztendlich war es das Tier in ihm, das mit einem Satz hochsprang, als Amanda sich auf die Tür zu bewegte, während durch seine Bewegung das Bett ein gutes Stück zur Seite rutschte und mit einer Ecke an die Wand knallte.

Nataniel hörte es noch nicht einmal, als er nach Amanda griff und zeitgleich mit der Hand auf den Lichtschalter schlug, so dass die Lampe unter der Decke hell aufflammte.

Roh drückte er sie mit seinem Körper gegen die Wand und beugte sich zu ihr hinab, während sein Atem schnell gegen ihren Hals schlug. Noch immer zitterte er am ganzen Leib, doch er tat ihr nicht weh. Mann und Tier waren sich in diesem Augenblick mehr als nur einig. Berührung statt brutaler Gewalt.

Ihm fehlten die Worte, um sich zu erklären, damit endlich dieser beißende Geruch wieder von ihr verschwand, aber darauf durfte er nicht hoffen. Er war in diesem Zustand wirklich angsteinflößend. Aber es half. Seine großen Hände auf ihre schmalen Schultern, seine Wange, die über ihre glitt, während er den Duft ihrer Haare in seiner Nase spürte.

Trotz des beißenden Geruchs, war der ihrer nackten Haut unvergleichlich gut und der Drang, sanft zuzubeißen, war überwältigend groß. Doch Nataniel gab sich damit zufrieden, seine Lippen einen Moment gegen ihren Hals zu pressen. Es musste einfach reichen.

Er schaltete das Licht wieder aus, griff nach der Türklinge und war so schnell aus dem Zimmer, wie er konnte, damit die Versuchung nicht noch größer wurde, noch mehr von ihr zu berühren, um sich wieder zu beruhigen. Aber wenigstens hatte ihm der kurze Moment die Möglichkeit gegeben, es bis nach draußen und ein gutes Stück in den Wald hinein zu schaffen, ehe er sich samt Kleidung verwandelte, er sich danach die Fetzen abschüttelte und einfach loslief. Amanda war der Anfang gewesen. Nun würde er dafür sorgen, dass auch der Rest der brodelnden Aggressivität von ihm abließ, damit er wieder klar denken konnte.

 

Amanda hörte, wie der Rahmen des Bettes gegen die Wand schlug.

Keinen Sekundenbruchteil später schob sich Nataniels Körper vor ihren und er grub seine Finger mit den Krallen in ihre Schulter.

Gerade war sie im Begriff, sich einfach unter ihm aufzulösen, als das Licht ihr einen schmerzlichen Schauer über die Haut jagte. Ihr Herz wollte stehenbleiben, als er sie nicht nur mit der Lichtquelle, sondern mit seinem Körper an der Wand festnagelte. Seine andere Hand legte sich ebenfalls an ihre Schulter, doch Amanda fühlte die winzigen Kratzer gar nicht, die seine Krallen auf ihrer Haut verursachten. Der einzige Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss, als er sich zu ihrem Hals hinunter beugte, war, dass sie sterben würde, ohne Eric gefunden zu haben. Sie hatte versagt. Sie hatte ihr Versprechen nicht gehalten und Eric nicht beschützt. Und jetzt wurde sie von einem Wandler umgebracht, wie der Rest ihrer Familie.

 

Ihre Augen starrten in die Dunkelheit, die sie umgab und Amanda hörte ihrem Atem zu, der sich nur sehr langsam wieder beruhigt hatte.

Sie lag auf den Knien genau an der Stelle, wo sie an der Wand hinuntergerutscht war, nachdem er sie losgelassen hatte. Ihre Fingerkuppen hielten schon eine Weile die Stelle an ihrem Hals, wo er sie mit den Lippen berührt hatte.

Eigentlich hatte sie erwartet, dort Blut zu spüren, wenn nicht sogar gar nichts mehr, weil er ihr einfach den Hals aufgerissen hatte, um sie an Ort und Stelle verbluten zu lassen. Sie hatte schon damit abgeschlossen gehabt. Noch nicht einmal Wut über sein Verhalten hatte sich in ihr breitgemacht.

Und jetzt kniete sie hier und war immer noch am Leben.

Der Schock verließ langsam ihre Glieder und sie schaffte es sogar, aufzustehen und in ihr eigenes Zimmer hinüber zu gehen, wo sie das Licht nicht nur an der Decke, sondern auch auf dem Nachtkästchen anknipste, bevor sie sich auf den Sessel am Fenster sinken ließ.

Ihr Blick wurde hart und ihre Hand zitterte nicht, als sie nach ihrer Tasche griff und den PDA heraus kramte.

„Hallo?“

Die Stimme hörte sich topfit und fröhlich an. So wie Amanda Clea kannte, die schon ab 6 Uhr morgens in ihrem kleinen Büro saß, das vollgestopft war mit PCs und Monitoren.

„Clea, Zerstücklerleitung 2.“

Sie hörte das Geräusch, das entfernt an ein altes Faxgerät erinnerte und dann ein einzelnes Klicken, bevor sich Cleas Stimme leicht gedämpft wieder meldete.

„Amanda, was ist los?“

„Ich brauche Informationen. Und zwar so schnell wie möglich. Keiner darf davon erfahren, hörst du.“

„Was für Informationen?“

Deshalb mochte Amanda die Kollegin. Clea mochte so etwas wie eine große Schwester für sie sein, aber wenn es um die Arbeit ging, beschränkten sie sich beide auf das Wesentliche.

„Ich will wissen, ob die Organisation vor etwa 30 Jahren eine Säuberungsaktion durchgeführt hat.“

„Was? Wie meinst du …“

„Sieh dir die Akten dahingehend an, ob nicht registrierte Kinder aus dem Weg geräumt worden sind. Oder allgemein Kinder von Anführern der Wandlerrudel.“

Amanda wartete auf eine Reaktion, die erst nach einer halben Minute kam.

“Okay. Ich ruf dich wieder an.“

„Sobald du etwas weißt. Egal um welche Uhrzeit.“

Sie unterbrach die Leitung und warf den PDA aufs Bett, wo er sich in den Standby-Modus schaltete und Bilder von Eric und Amanda zeigte.

Mit einem schweren Seufzen vergrub Amanda ihr Gesicht in den Händen und massierte sich die Schläfen.

Was, wenn er Recht hatte? Das würde Amandas Weltbild über den Haufen werfen. Sie hatte die Organisation als ihre Heimat angesehen. Die Mitglieder waren neben Eric ihre einzige Familie. Sollte Nataniel die Wahrheit gesagt haben, war es eine Familie von Mördern.

Nachdem sie das große Licht wieder ausgeschaltet, sich vorsichtig neben den PDA aufs Bett gelegt hatte, starrte sie an die Decke und ihre Finger wanderten wieder an ihren Hals.

Eine Wunde hätte sie verstanden.

13. Kapitel

Als Nataniel so tief im Wald und so weit weg vom Naturschutzgebiet wie möglich war, ohne dass man ihn hören würde, ließ er seine Emotionen freien Lauf. Es fühlte sich tatsächlich so an, als würde es ihn fast zerreißen.

Mit lautem Brüllen fiel er über einen umgestürzten Baumstamm her, schlug seine scharfen Klauen hinein, riss die Rinde ab, biss ganze Stücke von Holz heraus und versuchte dabei an nichts als seine Wut zu denken, die er nun ungezügelt rauslassen konnte.

Nataniel stellte sich nicht vor, er würde auf diese Weise einen Menschen verletzen und töten, oder einen feindlichen Gestaltwandler. Er hatte noch nie jemanden umgebracht, bis auf die Tiere, die er gejagt und gefressen hatte. Das war ein Unterschied.

Wenn er tötete, dann zum Leben und nicht zum Spaß.

Alles, was er im Moment brauchte, war ein lebloser Gegenstand, dem sein Ausbruch nichts ausmachte. Der Baumstamm war dafür perfekt. Noch nicht morsch genug, um unter der kleinsten Berührung zu zerbrechen und auch nicht zu klein. Genau richtig, um zu Holzspänen verarbeitet zu werden.

 
 

***

 

Nataniel lehnte seinen Kopf gegen die warmen Fliesen, während der heiße Wasserstrahl ihm den Dreck vom Körper wusch. In zwei Stunden würde die Sonne aufgehen, doch das war nicht wichtig. Er war müde und angenehm erschöpft. Seine Wunden taten nicht einmal annähernd so sehr weh, wie sie es sollten. Es war, als hätten die vielen Bewegungen ihm gut getan. Als wäre seine ganze Haut und seine Muskeln geschmeidiger denn je, da er sich schon lange nicht mehr so gefahrlos hatte verausgaben können.

Erst als der Baumstamm nur noch im Umkreis von unzähligen Metern Fetzenweise herumgelegen hatte, war Nataniel zufrieden zurückgelaufen. Die Wut war verraucht, die Aggressivität verschwunden. Natürlich waren da noch der Schmerz und der Zorn, aber er hatte seine Gefühle im Griff und war wieder in der Lage, ohne roten Schleier zu denken.

Jetzt war es an der Zeit, dass es ihm leidtat, wie er Amanda behandelt hatte. Er war sich sicher, dass sie nichts von alledem gewusst hatte, genauso wenig, wie er eine Ahnung davon gehabt hatte. Sie konnte nichts dafür, denn das alles hätte schon vor seiner Geburt ein Ende haben können. Vielleicht war das Morden sogar nur einmal geschehen, da es so gründlich durchgeführt worden war.

Amanda musste noch jünger als er sein, wie hätte sie das alles also wissen können? Es passte auch nicht zu dem, was er von ihrem Charakter wusste. Ihr schien die Familie ebenfalls wichtiger zu sein, als die Organisation und der Panther wies ihn gründlich daraufhin, dass sie ihm schließlich ausreichend mit Essen versorgt hatte, ohne darum gebeten zu werden. Etwas, das er wohl nicht oft genug erwähnen konnte.

Außerdem hatte sie für ihn getötet, um ihn zu retten. Zum ersten Mal, wie sie ihm mitgeteilt hatte.

Mit einem lautlosen Seufzen drehte er das Wasser ab, stieg aus der Duschkabine und trocknete sich ab. Danach ging er in sein Zimmer, ließ das Handtuch fallen, schob leise das Bett wieder an den richtigen Platz zurück und sah sich noch einmal im dunklen Zimmer um. Dabei blieb sein Blick an der Stelle hängen, an der er Amanda erwischt hatte.

Den Geschmack ihrer Haut würde er nie wieder vergessen und wie weich sie sich unter seinen Lippen angefühlt hatte. Genauso wie ihre Wärme und das beruhigende Gefühl auf seiner Wange, als sie sich berührten.

Es war absurd, sich an eine Fremde zu richten, um das Defizit an Berührungen auszugleichen, dem er seit Wochen ausgesetzt war. Wenn er wüsste, dass er bald wieder in den Schoß seiner Familie zurückkehren würde, könnte er es durchaus noch länger ertragen. Aber die Sache hier war noch nicht zu Ende. Vielleicht würde er seine Familie nie wieder sehen.

Um dem Gedanken zu entgehen, dass er die kleine Lucy vielleicht niemals aufwachsen sehen würde, riss er die Tagesdecke vom Bett und schlüpfte nackt unter das Laken, das er sich bis zu den Hüften hochzog, ehe er mit beiden Armen das weiche Kissen umschlang und seinen Kopf darin vergrub.

Morgen oder besser gesagt in ein paar Stunden würden harte Zeiten auf ihn zu kommen. Noch immer sah er Amanda und sich als Partner an, während sie ihren Bruder suchte und er unbedingt wissen musste, was genau in diesem Kaff hier vor sich ging.

Also würde er versuchen müssen, den ohnehin schon breiten Graben zwischen ihnen irgendwie zu überwinden, damit sie weitermachen konnten. Nataniel glaubte immerhin nicht, dass Amanda die Sache so einfach vergessen würde. Wer könnte schon einen tobenden Gestaltwandler vergessen?

Wütend auf sich selbst, schloss er die Augen und versuchte noch etwas zu schlafen, bevor er sich der Begegnung stellte.

 

Amanda hatte noch voll bekleidet auf dem Bett gelegen und den PDA sogar nach einer Weile in die Hand genommen, um einen eventuellen Anruf von Clea nicht zu verpassen. Aber diesbezüglich rührte sich nichts. Nicht einmal eine SMS oder E-Mail ging bei ihr ein, was Amanda halb wahnsinnig machte.

Sie wollte unbedingt wissen, was passiert war, bevor sie Nataniel wieder unter die Augen trat. Wenn sie ihm je wieder unter die Augen treten sollte. Er war verschwunden und auch um drei Uhr morgens noch nicht wieder aufgetaucht.

Amanda hätte seine Schritte auf der Treppe nicht überhört, da war sie sich sicher. Vielleicht war er weggerannt, um nicht wiederzukommen. Sie hätte ihm durchaus zugetraut, dass er sich in seiner aufgestauten Wut aufgemacht hatte, um den Tiger zu suchen und allein gegen ihn anzutreten. Welche Chancen er auch immer dabei haben mochte. Auf eine gewisse Weise wäre es ihr lieber gewesen, wenn er nicht zurückgekommen wäre. Dann hätten sie den Vorfall nicht besprechen müssen.

Als sie aus einem milden Halbschlaf hochschreckte, weil die Dusche im Bad anging, schlug ihr Herz seltsam aufgeregt in ihrer Brust. Sie horchte auf die Geräusche mit offenen Augen und angehaltenem Atem, bis sie Nataniel ins Nebenzimmer gehen hörte. Ihr Blick traf den Schlüssel, der im Türknauf steckte und diesmal hielt sie nichts davon ab, noch einmal aufzustehen und ihn herumzudrehen, damit die Tür verriegelt war.

Ihre Augenlider waren so schwer wie ihr gesamter Körper, weswegen sie sich immer noch in allen Klamotten wieder aufs Bett fallen ließ, den PDA in ihre Hand schloss und einschlief.

 
 

***

 

Kaum dass er die frische Morgenluft riechen konnte, während der Tau von den Sonnenstrahlen verschlungen wurde, war er wieder wach. Es fiel ihm unglaublicherweise sehr leicht, aufzustehen, sich ohne Probleme anzuziehen und seine Frisur zu richten. Während Nataniel das tat, konnte er den sprunghaften Heilungsfortschritt seiner Verletzungen erkennen, den er sich nicht erklären konnte. Seine verunstaltete Gesichtshälfte sah wesentlich besser aus und statt der dunklen Augenringe strahlte seine Haut pures Leben aus. Dabei hatte er einen Hunger, der sich gewaschen hatte.

Vermutlich war er nur so sehr übermüdet, dass er sich das alles nur einbildete. Auch wenn er sich kein bisschen müde fühlte.

Verwirrt über sich selbst, verließ er sein Zimmer, um in den Speisesaal hinunterzugehen.

Mrs. Cauley war bereits wach und mitten in den Frühstücksvorbereitungen, als hätte sie gewusst, dass er gleich mit einem riesigen Hunger hinunterkommen würde.

Während er ihr half, den Tisch zu decken, entschuldigte er sich schon im Vorfeld dafür, dass er die Nachttischlampe zertrümmert hatte. Als Erklärung gab er an, dass er einen unruhigen Schlaf hatte und sie wohl irgendwie im Traum vom Nachttisch geschupst haben musste.

Die ältere Frau winkte lediglich ab, als wäre das nicht weiter schlimm, noch bevor er ihr mitteilte, dass er ihr den Schaden natürlich bezahlen würde. Sie war wirklich eine seltsame Dame.

 

Sie wachte auf, weil ihre Gürtelschnalle sie unangenehm in den Bauch drückte und sie sich ein wenig beengt fühlte. Normalerweise trug sie zum Schlafen gar nichts außer einem Slip und war das Gefühl von Jeans und anderem Stoff auf ihrer Haut, der sich förmlich um sie gewickelt zu haben schien, nicht gewohnt.

Leicht murrend kämpfte sie sich auf Hände und Knie und ihre Locken, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatten, fielen ihr um das Gesicht.

Um ungefähr zum hundertsten Mal seit ihrem Anruf bei Clea auf den PDA zu sehen, hockte sich Amanda auf ihre Fersen und hielt sich die freie Hand vor den Mund, als ein langes Gähnen aus ihr herausbrach. Immer noch nichts. Inzwischen war sie wirklich kurz davor noch einmal anzurufen, bloß um sich zu vergewissern, dass mit ihrem PDA alles in Ordnung war, und Clea die Akten nicht schon längst geschickt hatte und sie Amanda bloß nicht erreicht hatten. Aber das war natürlich Schwachsinn. Auf Clea konnte man sich verlassen. Sobald sie etwas herausfand, würde sie sich melden.

Wenn sie niemand davon abhält, dachte Amanda und ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. Vielleicht hätte sie ihre Freundin da nicht mit reinziehen sollen.

Um den Gedanken abzuschütteln, schälte sich Amanda aus ihren Klamotten, hüllte sich in ein großes Badetuch und ging erstmal duschen.

Das kalte Wasser weckte zwar ihre Lebensgeister, brachte aber auch die Erinnerungen an letzte Nacht in allen Details wieder zurück. Gänsehaut legte sich über ihren gesamten Körper und sie zitterte leicht vor Kälte, als sie das Wasser abstellte und einfach an die gekachelte Wand vor sich starrte, ohne sich wieder in das Badetuch zu wickeln.

Sie wollte ihn nicht sehen. Da waren diese ganzen Vorwürfe, die er ihr an den Kopf geworfen hatte. Sein Zorn diesbezüglich konnte noch nicht verraucht sein. Und Amanda war sein einziger diesbezüglicher Katalysator. Wenn sie Pech hatte, würde er wieder einen Ausbruch erleiden, wenn er sie auch nur sah.

Allmählich wurde ihr so kalt, dass sie zuerst ihre Arme um ihren Körper schlang und sich dann doch abrubbelte, während sie weiter über Nataniel nachdachte. Er hatte sie nicht angegriffen. Es hatte so ausgesehen, als wäre er im Begriff gewesen, es zu tun. Aber dann hatte er sich doch anders entschieden. Ganz anders.

Amanda beschloss, den kleinen Ausrutscher seiner Lippen auf ihrem Hals einfach zu ignorieren. Wahrscheinlich wusste er gar nichts mehr davon und selbst wenn …

 

Eine Viertelstunde später kam sie in den Frühstückssaal hinunter, in dem Mrs. Cauley und Nataniel zusammen an einem der Tische saßen. Am liebsten hätte Amanda die ältere Dame weggeschickt. Eine Unbeteiligte machte das Ganze nur noch komplizierter.

Ihre Augen verrieten keine ihrer Emotionen, als sie den Raum betrat und kurz Nataniels Blick auf sich spürte. Als Mrs. Cauley sich umdrehte und ihr ein strahlendes Lächeln zuwarf, änderte sich das allerdings sofort.

„Guten Morgen.“

„Ach, sind Sie auch schon wach? Wir dachten schon, Sie möchten uns gar keine Gesellschaft leisten.“

Wollte sie auch nicht. Tausend Dinge schienen ihr auf einmal einzufallen, die so viel besser gewesen wären, als in diesem Augenblick hier zu sein. Ein Haikäfig rangierte ganz oben in den Top Ten.

Amanda lächelte der älteren Dame nur zu und winkte ab, als diese aufstehen wollte, um zum Buffettisch hinüberzugehen und ihr etwas zu Essen zu geben.

„Ich kümmere mich selbst darum, danke. Bleiben Sie nur sitzen, Mrs. Cauley.“

Zu allererst schnappte sich Amanda die größte Tasse, die sie auf dem Tisch finden konnte, und füllte sie bis zum Rand mit schwarzem Kaffee und warf anschließend zwei Stück Zucker hinein. Die fast überschwappende Tasse stellte sie auf dem Tisch neben dem leeren Teller ab und vermied es, Nataniel in die Augen zu sehen. Dazu würde er sie noch früh genug zwingen.

Mehr zur Wahrung der Show als aus Hungergefühl lud sich Amanda zwei Rosinenbrötchen, Butter und Orangengelee auf ihren Teller und kehrte dann an den Tisch zurück, um sich zu setzen.

 

Gut, dass Nataniel schon den größten Teil seines Hungers gestillt hatte, ehe Amanda den Speisesaal betrat. Mrs. Cauley hatte es sogar mit einem zufriedenen Lächeln hingenommen, dass er so riesige Mengen verdrückte wie kein Anderer. Zumindest hatte sie ihm das so gesagt.

Jetzt aber verkrampfte sich sein ganzer Magen, als er sie sah und er musste sich total zusammenreißen, seinen ganzen Körper nicht zu verspannen. Das wäre sicher die vollkommen falsche Botschaft gewesen, denn eigentlich war er erleichtert, dass er sie sah.

Eine Weile hatte er sogar befürchtet, sie würde abhauen, während er nicht da war und er könnte sie nie wieder sehen.

Mehr denn je waren der Panther und er sich einig, dass DAS schlimmer gewesen wäre, als die Tatsache, dass Amanda zur Organisation gehörte. Trotzdem konnte er nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen. Weshalb er schwieg und auf den richtigen Zeitpunkt für ein Gespräch wartete.

Statt das restliche Spiegelei auf seinem Teller zu essen, hielt er sich an seinem Orangensaft fest, als wäre er sein Rettungsanker und nippte nur deshalb ab und zu daran, um den Schein von Normalität zu wahren.

„Schon satt Mr. Hunter?“, fragte Mrs. Cauley ihn freundlich, woraufhin er die ältere Dame anlächelte.

„Oh ja, vielen Dank. Ich kann doch nicht den ganzen Inhalt Ihrer Speisekammer aufessen.“

Die Besitzerin des B&B winkte ab.

„Machen Sie sich keine Gedanken darüber. Ich muss sowieso gleich einkaufen gehen. Irgendwelche speziellen Wünsche?“

Die Frage richtete sie nicht nur an Nataniel, sondern auch an Amanda.

Er antwortete nur deshalb ruhig und mit fast schnurrender Tonlage, damit den wachsamen Augen von Mrs. Cauley nicht sofort auffiel, das etwas nicht stimmte. Aber bestimmt hatte sie den Eindruck schon längst erhalten. Sie war viel zu scharfsinnig, als dass ihr die seltsam aufgeladene Atmosphäre entgangen sein könnte.

„Gibt es in dieser Stadt auch Schokoladenmousse?“

„Aber natürlich, Schätzchen. Sogar selbstgemacht.“

Sie zwinkerte ihm zu, nahm ihr Geschirr und verzog sich in die Küche.

Schweigen breitete sich aus, als Nataniel mit Amanda alleine war.

Er konnte sie nicht ansehen, weil er sich so sehr schämte, darum starrte er auf sein kaltes Spiegelei, als wäre es hochinteressant.

„Es tut mir leid, Amanda“, flüsterte er schließlich kaum hörbar und meinte es mit bitterem Ernst, während er sich dazu zwang, seine Finger vom Saftglas zu lösen, damit er es nicht zerbrach.

 

Amanda hatte den beiden gar nicht zugehört und deshalb nicht auf Mrs. Cauleys Frage geantwortet, ob sie einen speziellen Essenswunsch hatte. Ihr wäre auch nichts eingefallen. Sie hörte das leise Klappern des Geschirrs und das Geräusch der schwingenden Küchentür, als Mrs. Cauley verschwand und nippte an ihrem Kaffee.

Die Stille breitete sich über den Tisch aus wie zähe Flüssigkeit, die unaufhörlich in ihre Mitte tropfte und von der Tischdecke aufgesogen wurde. Amanda saß nur auf der Kante ihres Stuhls, die Füße fest auf dem Boden und jede Faser in ihrem Körper angespannt, damit ihr so etwas wie gestern Nacht nicht wieder passieren konnte.

Ihre rechte Hand lag so, dass ihre Fingerspitzen das Messer ihres Gedecks bereits berührten.

Beinahe hätte sie sein Flüstern nicht verstanden, da sie gar nicht damit rechnete, dass er irgendetwas sagen würde, das nicht in einem Tobsuchtsanfall endete. Daher überraschte es sie umso mehr, als er sich entschuldigte.

Ihre hellbraunen Augen flackerten zu seinem Gesicht hinüber und ihre Kaffeetasse verharrte unberührt von ihren Lippen in der Luft.

Ruhig stellte sie die Tasse auf dem Untersetzer auf der Tischplatte ab, nahm ihre Hand aber nicht vom Messergriff. Ihre Fingerkuppen rutschten sogar ein Stück an dem Metall hinauf, während sie ihm nun direkt ins Gesicht sah. Sollte er auch nur wagen, ihr ein Stück zu nahezukommen, würde auch dieses Buttermesser reichen, um ihm zumindest eins seiner blitzend blauen Augen zu nehmen, bevor er Amanda in Stücke riss.

„Was genau tut dir denn leid?“

Es interessierte sie wirklich.

Die Vorwürfe, der Hass, den er sie hatte spüren lassen? Oder die Tatsache, dass er sie an die Wand gepresst und wie ein Stück Beute anderer Art behandelt hatte, bevor er wieder zu Sinnen gekommen war. Bei dem letzten Gedanken bildete sich ein kleiner Kloß in Amandas Hals, den sie zwar hinunterschlucken konnte, der sich aber dafür wie eine Schraubzwinge um ihr Herz zu legen schien.

 

Nataniels Blick zuckte nur einmal ganz kurz zu ihrer Hand, die sich halb auf das Buttermesser gelegt hatte. Danach blickte er ihr in die Augen und sah auch nirgendwo anders mehr hin, ehe er seine Hände nun doch um das Orangensaftglas legte, damit Amanda sie sehen konnte und dass er nichts vorhatte. Immerhin entging seinen Instinkten absolut nicht, dass sie alles andere als hier mit ihm am Tisch sitzen wollte.

Wie gut er das doch verstehen konnte. Am liebsten wollte er weglaufen, um das hier nicht durchziehen zu müssen. Aber das war keine Lösung. Außerdem stand er für seine Taten gerade. Das tat er immer.

„Ich hätte gestern nicht so mit dir reden dürfen. Ich kenne dich nicht, aber ich … glaube, dass du nicht das Monster bist, für das ich die Organisation halte.“

Das war zwar nicht gerade die nette Art, es so auszudrücken, aber er war so nervös und angespannt, dass er froh war, überhaupt einen Ton herauszubekommen.

„Trotzdem wollte ich sichergehen, dass du nichts von dem weißt, was ich erfahren habe. Ich hätte nicht …“

Er zögerte einen Moment und zwang sich weiterhin dazu, in ihre hellbraunen Augen zu sehen.

„Ich hätte nicht weitermachen können, wenn du es gewusst hättest und trotzdem für solche Leute arbeitest. Immerhin wirft man uns vor, wild und zügellos zu sein, aber wir würden niemals die Kinder unserer Feinde töten. Kein geistig gesunder Gestaltwandler würde das tun. Die Jungen haben nichts mit der Fehde der Erwachsenen zu tun.“

Deshalb fand er es so entsetzlich, was alles passiert war.

„Außerdem tut es mir leid, dass ich dir Angst gemacht habe.“

Nun sah er doch weg. Das war der Teil, für den er sich am Meisten schämte. Seine Schwäche.

„Es war nicht absichtlich. Ich bin nun einmal, was ich bin und das lässt sich nicht immer hinter einer menschlichen Fassade verbergen. Aber ich habe mich beruhigt. Das schwöre ich.“

Das Einzige, für das er sich nicht entschuldigte, war die Berührung. Er hatte sie gebraucht. Dringend. Aber das konnte sie nicht wissen.

 

Obwohl er es eigentlich gegenteilig meinte, fühlte sich Amanda durch seine Worte doch angegriffen. Die Moonleague als Monster? So weit waren sie noch nicht. Noch konnte sich all das, was man ihm erzählt hatte, als Lüge rausstellen.

Ihre Kiefer pressten sich noch härter aufeinander, als er ihr sagte, dass er ihr nicht hätte helfen können, wenn sie von den Untaten der Organisation gewusst und trotzdem für sie gearbeitet hätte.

Gerade wollte sich eine Stimme in ihr einen Weg nach draußen bahnen, um ihm zu sagen, er solle sich hier nicht wie der große Wohltäter aufführen, als er ihr mit seinen Worten jeden Wind aus den Segeln nahm. Ja, sollte das mit den Kindern stimmen, war das wirklich unvorstellbar grausam. Amanda zweifelte immer noch aus tiefstem Herzen daran, aber sicher konnte sie sich erst sein, wenn Clea sich gemeldet und etwas herausgefunden hatte.

Sie war 26 Jahre alt, aber trotzdem hätte sie sich wie ein Kind gefühlt, das die ganze Zeit in einer Familie von Mördern gelebt hatte und dem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, sollte stimmen, was Nataniel erfahren hatte. Ihr Leben kam ihr bereits jetzt wie ein Luftschloss vor, das jemand mit einem einzigen Nadelstich zerstören konnte.

„Meine Nachforschungen laufen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis ich aus sicherer Quelle Bestätigung oder Widerlegung für das erhalte, was du gehört hast.“

Was immer auch die Nachrichten waren, Amanda würde sich einer wichtigen Entscheidung gegenübersehen. Sollte die Organisation keinem der Kinder ein Haar gekrümmt haben, würde sie Nataniel das vermutlich nicht beibringen können. Er würde ihr nicht glauben, weil sie nun mal der Feind war. Und der Feind log.

Auf der anderen Seite müsste sich Amanda gegen alles stellen, was Zugehörigkeit für sie bedeutete, wenn er Recht hatte. Noch wurde ihr davon nicht angst und bange, sich bald den Informationen stellen zu müssen. Amanda war gut darin mit Dingen direkt umzugehen, wenn sie sich ihr in den Weg stellten. Jetzt konnte sie sowieso nichts tun.

Gerade wollte sie Nataniel fragen, wie sie weiter vorgehen sollten. Immerhin hatte sie eine Spur von Eric gefunden, der sie unbedingt so bald wie möglich nachgehen wollte, bevor sie noch kälter wurde, als sie sowieso schon war.

Doch auf seine letzte Bemerkung hin schoss ihr Puls vor Wut in die Höhe. Sie zischte ihn an, während sich ihre Hand um den Messergriff verkrampfte.

„Sei nicht so verdammt überheblich.“

Das Schlimmste war, dass sie ihre Angst nicht leugnen konnte. Bestimmt hatte er es riechen können.

„Töte mich einfach das nächste Mal, wenn du das Bedürfnis hast.“

Anstatt mich zu behandeln, wie ein Spielzeug, an dem du deine Phasen ausleben kannst, fügte sie in Gedanken giftig hinzu.

„Entschuldige mich.“

Mit einem Ruck stand sie vom Tisch auf, ließ ihren immer noch vollen Teller stehen und ging zurück in ihr Zimmer, wo sie die Tür hinter sich verschloss und dagegen gelehnt stehen blieb.

Sie hob das Gesicht zur Decke und atmete tief durch, während sich alles in ihr so anfühlte, als bestünde sie aus Schmirgelpapier. Dass sich Tränen in ihren Augen zu sammeln drohten, machte sie nur noch wütender.

 

Ihre Wut war scharf und stechend in seiner Nase, noch bevor sie ihm ihre Worte entgegen fauchte.

Das hatte gesessen, aber das konnte sie noch nicht einmal sehen, da sie auch schon den Raum verließ, ehe Nataniel auch nur ein Gefühl herauslassen konnte.

Eine geschlagene Minute blieb er reglos sitzen, bis er schließlich aufstand und den Tisch abräumte. Danach packte er die restlichen Sachen vom Buffet in Plastikbehälter und stellte sie in den Kühlschrank.

Selbst während er die Treppe zu seinem Zimmer hochging, in aller Ruhe die Tür leise schloss und in seinem Seesack herum kramte, gestattete er sich keine Gedanken. Denn wenn er es täte, er müsste sich eingestehen, dass Amanda Recht hatte.

Er hätte sie gestern Nacht töten können, aber er hatte es nicht getan. Außerdem war der Panther noch immer der Meinung, dass er sie lieber beschützen als verletzen würde. Egal was es ihn kostete.

Nataniel selbst wusste überhaupt nicht mehr, was er denken sollte. Vielleicht hätte er ihr nachgehen sollen, vielleicht aber auch nicht, immerhin war sie gegangen. Darum ignorierte er den unruhigen Jaguar in seinem Kopf, stattdessen zog er sich eine Jogginghose an, schnallte sich sein Handy in einem extra dafür gemachten Gurt um den Oberarm und verließ wieder sein Zimmer.

Unten auf der Straße blickte er sich noch einmal zu der Fensterfront um, dort wo er Amandas Zimmer vermutete, danach begann er loszulaufen, und zwar in Richtung toter Leopard.

Nataniel wollte Amanda in Ruhe lassen. Er hatte nicht das Recht und sicher auch nicht das Feingefühl dafür, sie zu besänftigen, so wie er es mit einer Frau seiner eigenen Rasse getan hätte.

Sie war trotz ihrer Gabe ein Mensch und somit vollkommen neues Gebiet für ihn. Also würde er das tun, was sie gestern auch getan hatte. Weiter an den Nachforschungen arbeiten, weswegen sie beide hier waren.

14. Kapitel

Das Erste, was Nataniel auffiel, als er bei der heruntergekommenen Farm angekommen war, war die fehlende Leiche.

Sie war weg. Die Spuren deuteten daraufhin, dass sie um das Haus herum, zur Einfahrt getragen worden sein musste. Denn die menschlichen Fußabdrücke – barfuß – die zur Leiche hin führten, waren nicht so tief, wie jene die wieder weggingen.

Die Schuhgröße musste er raten, aber unter 50 kam der Fuß sicherlich nicht. Ein großer Mann mit großen Füßen. Keine Frage.

Da Nataniel jedoch keinen Geruch mehr wahrnehmen konnte, der darauf hinwies, dass die Leiche erst vor kurzem weggebracht worden war, ging er noch einmal ins Haus, um es dieses Mal einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen. Währenddessen zog er sein Handy aus dem Gurt und wählte eine Nummer.

Er ließ es läuten, während er sich auf den Boden begab, um die Spuren der Verwüstung zu analysieren, denn auch wenn immer wieder Blut zu finden war, so gab es auch jetzt noch keinen Hinweis auf die Leichen der Luchsfamilie.

„Nate? Sag träume ich, oder bist du es wirklich?“

Nataniel hielt inne und konzentrierte sich auf den Anruf. Sein leises Knurren war alles an Begrüßung, was er für seinen alten Kumpel übrig hatte.

„Svenilein, hack dich doch mal in den Computer und sieh dich mal um, ob du was über einen Tiger namens Nicolai herausfinden kannst. Davon kann es ja nicht so viele geben.“

„Ja klar, Nataniel. Wenn du mich nie wieder ‚Svenilein‘ nennst“, knurrte der andere zurück.

Nataniel lächelte.

„Dann sind wir uns ja einig. Ruf mich zurück, wenn du was hast.“

Mit diesen Worten legte er wieder auf, um der Neugier seines Freundes zu entgehen, die im Augenblick bestimmt schon auf Hochtouren lief, während er sich noch in Ruhe umsah.

Gerade als Nataniel sich das Wohnzimmer vorknöpfte, vibrierte sein Oberarm. Er nahm das Handy wieder in die Hand und blieb in gespannter Erwartung reglos stehen.

„Also?“

„Nope. In unserer Datenbank haben wir zwar ein paar Tiger, aber keiner der Nicolai oder Nick heißt. Hast du denn keine näheren Informationen für mich, dann könnte ich die Suche eingrenzen.“

Wenn er das hätte, dann hätte er es ihm schon längst gesagt. Immerhin war die Datenbank der Gestaltwandler ebenso unvollkommen wie die der Organisation. Was daran lag, dass es schon immer ein paar Leuten gelungen war, sich bei der Moonleague einzuhacken.

Ein Grund mehr, wieso Nataniel sich ebenfalls gegen die Registrierung einsetzte. Es waren vielleicht nur wenige Computerfreaks, denen es gelang, das Sicherheitssystem der Moonleague zu überbrücken, aber diese wenigen reichten schon. Wenn auch nur einer von ihnen finstere Zwecke verfolgte, waren die Folgen meistens tödlich.

Aber nicht alle Daten basierten auf denen der Moonleague.

Straftäter, welche von ihrer eigenen Rasse erwischt und in den Knast gebracht worden waren, waren ebenfalls in ihrer eigenen Datenbank registriert.

„Nein, habe ich nicht. Aber du kannst mir noch alle Daten über William Hunter zusammensuchen, die du finden kannst. Er war ein Jaguar.“

Schweigen am Ende der Leitung, nur das Klappern einer Tastatur war zu hören.

Nataniel war bis gerade eben gar nicht auf die Idee gekommen, dass er auf diese Weise mehr Informationen über seinen wirklichen Vater hätte finden können. Immerhin hatte er immer geglaubt, dieser wäre nicht registriert, da er anderen so erfolgreich geholfen hatte, genau das zu verhindern. Aber Amanda hatte ihm das Gegenteil bewiesen.

„Sag mal, bist du mit ihm verwandt oder so? Du weißt schon, der Nachname, die Rasse … oh und die Ähnlichkeit. Jetzt weiß ich, dass du deine Augen schon mal nicht von deiner Mutter hast.“

Nataniel schloss einen Moment lang die Augen und schluckte, ehe er ruhig fortfuhr: „Schick mir einfach die Daten, okay? Und danke. Ich melde mich bald mal wieder.“

„Kein Problem. Du weißt ja, wo du mich findest.“

Sven legte auf und kurze Zeit später bekam Nataniel die Daten auf sein Handy übermittelt.

Zum ersten Mal in seinem Leben blickte er in das Gesicht seines leiblichen Vaters und es war fast ein Schock, tatsächlich die gleichen Augen wieder zu erkennen.

Sven hatte ihm auch noch eine lange Nachricht angehängt, die den Lebenslauf seines Vaters umfasste. Ein Bild seiner Mutter und seines einjährigen Bruders war auch dabei.

Nataniel schaffte es gerade noch, sich auf die zerfetzte Couch fallen zu lassen, ehe seine Füße nachgaben. Es war nicht wie erwartet Wut, die in ihm aufwallte, als er das kleine Bild auf seinem Handy anstarrte, sondern Trauer.

Das war sie also, die Familie, die er nicht hatte haben dürfen.

 
 

***

 

Das Klopfen an der Tür war sehr leise.

Amanda war sofort klar, dass es nicht Nataniel sein konnte. Er klopfte normalerweise gar nicht an und wenn, dann nicht derart zurückhaltend.

Weil er es also nicht sein konnte, ging Amanda zur Tür und öffnete, anstatt den Besucher einfach hereinzubitten. Erst nach wenigen Sekunden Verblüffung sah sie weiter nach unten und traf auf Mrs. Cauleys grauen Haarschopf.

„Miss Johnson.“

Das Lächeln der älteren Dame ergriff wie immer auch ihre Augen, und es bildeten sich kleine Lachfältchen in ihrer Haut.

„Ich habe eine Nachricht für Sie.“

Sie hielt Amanda eine weiße Klappkarte entgegen und blieb weiterhin in der Tür stehen, während Amanda die bekannte Handschrift las und sich ihre Augen vor Erstaunen immer weiter weiteten.

Als sie die Worte dreimal durchgelesen hatte, sah sie wieder auf Mrs. Cauley hinunter und konnte sich ein tadelndes Lächeln nicht verkneifen.

„Von Ihnen hätte ich das als Letztes erwartet, Mrs. Cauley.“

Ohne ein weiteres Wort schnappte Amanda sich ihre Tasche und die Jacke, die über dem Stuhl hing und verließ mit ihrer Gastgeberin das B&B durch den Nebeneingang. Als sie draußen in der Sonne standen, dachte Amanda kurz an Nataniel. Unwillkürlich blickte sie zurück.

„Keine Sorge, ich werde Mr. Hunter sagen, wo sie sind.“

„Ich hab gar nicht …“

Ach, wem versuchte sie, etwas vorzumachen. Der wissende Blick der Dame hätte alles Lügen gestraft, was Amanda ihr aufgetischt hätte. Also nickte sie nur und folgte ihrer Gastgeberin über den Hof, ein Stück in den Wald hinein und dann immer weiter, bis sie die Orientierung darüber verlor, wo sie sich eigentlich befanden.

 
 

***

 

Palia hatte auf ihn gewartet. Schon seit über 36 Stunden schlich sie auf ihren Samtpfoten auf dem Gebiet der Farm herum, in der Hoffnung, dass er wiederkommen würde. Man hatte ihr zwar aufgetragen hier auf ihn zu warten, aber sie tat es auch freiwillig. Immerhin wollte sie ihn so gern kennen lernen. William hatte ihr so viel von ihm erzählt. Und das, obwohl er ihn selbst kaum gekannt hatte.

William war wohl so weit informiert gewesen, dass er Palia seinen Sohn gut beschreiben konnte. Aber diese Augen hätte sie auch so erkannt.

Sie legte ihren Kopf ein wenig schief und ihre karamellfarbenen Augen leuchteten in der Sonne, während sie seinen Bewegungen folgte. Schon seltsam, dass er hier in seiner schwachen Form auftauchte. Aber zumindest musste sie sich so keine Sorgen darüber machen, dass er sie zu früh entdeckte.

Im Moment war die Windrichtung sowieso auf ihrer Seite und sie bleckte leicht die Zähne, um seinen Geruch einzufangen. Mit ihrer weichen Zunge schleckte sie über ihre Nase und schloss genießerisch die Augen. Ein leckeres Bürschchen.

Eine Weile ließ sie ihn allein, bevor sie sich aus dem Unterholz wagte und auf die Tür der Farm zulief. Nachdem jemand von Nicolais Leuten den Leoparden geholt hatte, war niemand mehr hier gewesen. Palia machte sich also keine Sorgen, dass irgendjemand auf sie lauern könnte.

Der helle Puma landete mit einem eleganten Sprung auf der Terrasse und schnaubte verächtlich in Richtung Blutspuren, die sie schon so oft gesehen hatte. An den Anblick würde sie sich nie gewöhnen und auch die Tatsache, dass der Mörder bekommen hatte, was er verdiente, machte es nicht leichter.

Hier war der Geruch von Williams Sohn stärker und Palia schnurrte vor Aufregung, bevor sie sich zusammenriss und die Tür mit der Schnauze aufschob.

Fast geräuschlos glitt sie in den Raum und blieb im Zwielicht stehen. Nataniel hatte sie natürlich gesehen. Aber genau das war ja auch ihre Absicht.

„Hallo“, begrüßte sie ihn mit honigwarmer Stimme, als sie in ihrer menschlichen Form vor ihm stand.

„Du musst Nataniel sein. William hat mir viel von dir erzählt.“

 

Ein Geräusch auf der Terrasse ließ ihn zusammenzucken und sofort auf die Beine springen. Sein Handy verstaute er rasch im Armgurt, ehe er seine Krallen ausfuhr und Witterung aufzunehmen versuchte, aber da trat auch schon eine nackte Frau durch die Tür. Ihr Geruch sagte ihm alles, was er wissen musste. Eine Gestaltwandlerin.

Seine Nackenhaare stellten sich auf, genauso wie sein Körper von einer Gänsehaut überzogen wurde, als sie ihn bei seinem Namen ansprach und auch noch den Namen seines toten Vaters im selben Atemzug nannte.

Seine Haltung versteifte sich noch mehr und seine Muskeln spannten sich deutlich an, während sich seine Finger angriffsbereit krümmten.

Eine falsche Bewegung und er würde sie angreifen. Darauf konnte sie sich gefasst machen, während Nataniel keinen Hehl aus dieser Tatsache machte.

„Wer bist du und was willst du von mir? Woher kennst du überhaupt William?“, knurrte er kehlig und duckte sich noch mehr, während er seinen Stand festigte.

Hätte ihn diese Frau nicht gerade aus einer sehr persönlichen Situation gerissen, er hätte vielleicht weniger gereizt reagiert, aber dem war nun einmal nicht so, weshalb er gerade alles andere als gut gelaunt war.

Die Tatsache, dass diese Frau nackt vor ihm stand, kümmerte ihn dabei am Wenigsten.

Gestaltwandler waren Nacktheit gewohnt. Ein Grund, wieso er immer ohne Kleider schlief und auch so gut, wie keine Scham kannte, sollte er keine andere Wahl haben. Das war einfach natürlich.

„Ich schwöre dir, wenn du zu diesem Nicolai gehörst, kannst du dir alles Weitere sparen“, drohte er noch einmal deutlich, damit die Botschaft auch wirklich ankam. Er würde sie nicht umbringen, aber sie mit allem Mitteln dazu bringen, dass sie redete, falls sie eine von den Leuten des Tigers war. Darauf konnte sie Gift nehmen!

 

“Nein.”

Palia schüttelte mit einem warmen Lächeln den Kopf, so dass ihr sandfarbenes, glattes Haar, das bis zu ihrem Po hinunter reichte, sich in sanften Wellen bewegte.

„Ich gehöre nicht zu Nicolais Rudel.“

Sie sah auf seine Hände und die ausgefahrenen Krallen hinab, bevor sie immer noch lächelnd wieder den Blick hob.

„Mein Name ist Palia. Es ist schön, dich endlich kennenzulernen. Ich kannte deinen Vater gut.“

Ihr Lächeln wurde traurig, genauso wie ihr Herz schwer wurde, als sie an William dachte. Wäre er auf natürliche Weise zu Tode gekommen, hätte sie ebenfalls getrauert, aber so mischte sich immer noch der bittere Geschmack von Wut und Rachedurst in ihre Gefühle.

Ohne Furcht ging sie einen Schritt auf seinen Sohn zu.

„Wir sind nur ein paar, aber wir haben uns vor Nicolai und den anderen retten und verstecken können. Der Rabe kam von uns. Wir haben auf dich gewartet.“

Sie hatte sich ihm so weit genähert, dass sie mit ihrer Hand über seinen Unterarm streicheln und seine Hand nehmen konnte.

Palia bemerkte durchaus, dass er die Krallen immer noch nicht einfuhr. Aber vielleicht würde sich das bald ändern. Wenn er William auch nur ein wenig ähnlich war, vertraute Palia darauf, dass er sie nicht aus Grausamkeit töten würde.

„Würdest du mit mir kommen? Die Anderen würden dich sicher auch gern sehen.“

Sie drehte sich schon wieder um und zog ein wenig an seiner Hand, bevor sie sich verwandelte und ihm mit ihren hellen Katzenaugen einen warmen Blick zuwarf.

 

Es waren nicht wirklich Palias Worte, die ihn daran hinderten, nach ihr zu schnappen, als sie sich ihm näherte. Da war etwas anderes. Etwas, das er bisher noch nie gespürt hatte und ihn, wie ein elektrisierender Impuls durchfuhr, als ihre Hand seinen Arm berührte.

Da war Erkennen. Vertrautheit und der unbeschreibliche Drang zu ihr zu gehören. Ihre Berührung hatte nichts, was ihn im Normalfall beunruhigt hätte, außer, dass er sich nicht gerne von Fremden anfassen ließ. Dennoch löste sie in ihm totale Gefühlsverwirrung aus.

Nataniel konnte sich nicht erklären, wieso er diese Frau beschützen wollte, anstatt ihr an die Kehle zu gehen, weil sie ihn ungefragt berührte. Noch dazu fühlte es sich unglaublich gut und beruhigend an. Als würde ein Familienmitglied ihm Trost spenden, ganz ohne Worte.

Kein Wunder, dass diese seltsamen Empfindungen ihn dazu brachten, sich zu entkleiden. Die Jeans und das Shirt knüllte er zu einem Bündel zusammen. Die Schuhe ließ er zurück. Der Gurt mit dem Handy um seinen Oberarm hatte ein elastisches Band, weshalb er ihn anbehielt.

In der Form des Jaguars verstärkte sich das absolut absurde Gefühl der Vertrautheit noch mehr. Doch ohne weiter nachzufragen, nahm er seine Kleider ins Maul und folgte dem Puma nach draußen. Palia war nicht nur deshalb um ein gutes Stück kleiner als er, weil sie ein Weibchen war, sondern weil sie einer wesentlich schwächeren Raubkatzenart angehörte. Dennoch war sie auch als Tier wirklich eine Augenweide.

Dennoch konnte ihr Aussehen nicht die Wirkung auf ihn erklären. Es reizte ihn überhaupt nicht. Nicht so, wie Amandas goldene Locken ihn anzogen oder der Duft ihrer Haut.

Mit dem verwirrenden Gefühlsknoten im Bauch folgte er ihr schließlich auf Samtpfoten in den Wald hinein, ohne auch nur einmal nachgefragt zu haben, wo sie ihn hinführte.

Sie war schwächer als er und daher sicher kein Gegner für ihn, aber das war es nicht, wieso er ihr so blind folgte, sondern der Instinkt in ihm, der nun ausgeprägter war. Er sagte ihm, dass sie auf eine für ihn nicht nachvollziehbare Weise zu ihm gehörte. Nicht als Gefährtin, sondern … ja, als was eigentlich?

Die ganze Strecke über grübelte er darüber nach, während er wachsam die Gegend beäugte und sich von Palia führen ließ. Aber er kam einfach zu keinem Ergebnis.

 
 

***

 

Amanda hatte das Gefühl schon stundenlang unterwegs zu sein. Mrs. Cauley führte sie durch unwegsames Gelände. Wurzelüberwachsene Pfade hinauf und wieder hinunter. Es war zu vermuten, dass sie sich immer ziemlich nah an der Grenze des Nationalparks bewegten, um nicht in das Revier dieses Tigers und seiner Gruppe einzudringen.

Wäre da nicht der Brief in ihrer Hosentasche, Amanda hätte selbst Mrs. Cauley nicht so weit über den Weg getraut, ihr unvorbereitet einfach in die Höhle des Löwen zu folgen.

Der Vergleich entlockte ihr ein kleines Murren und sie blickte gerade rechtzeitig wieder auf den Boden, um nicht über einen kleinen Farn mitten auf dem Trampelpfad zu stolpern.

Wie die alte Dame so schnell vorankam, ohne auch nur Ermüdungserscheinungen zu zeigen, fand Amanda mehr als bewundernswert. Aber zumindest war sie immer noch die alte Dame und nicht das Tier, das in ihr wohnte. Denn dem Insekt hätte Amanda unter Garantie nicht folgen können, ohne Mrs. Cauley irgendwo auf dem Weg aus den Augen zu verlieren.

Sie war immer noch leicht überrascht über diese Offenbarung.

15. Kapitel

Sie kamen schnell voran, was Palia sehr freute.

Der Puma konnte die Freunde kaum zurückhalten, die sich in ihr breitmachte, weil sie ihn gefunden hatte. Die Anderen würden sich bestimmt genauso freuen und Palia konnte es kaum erwarten, dass sie ankamen. Aber noch würde es eine Weile dauern.

Immer wieder drehte sie sich zu Nataniel um, damit er ihr nicht doch noch verloren ging. Natürlich würde er ihr problemlos folgen können, wenn er wollte, aber dass er tatsächlich hier war, fühlte sich so unwirklich an, als könnte er sich jeden Moment in Luft auflösen.

Als sie an einen kleinen Flusslauf kamen, den sie überqueren mussten, hielt Palia an. Die Reise war bis jetzt noch nicht sonderlich anstrengend gewesen, aber es konnte nicht schaden hier etwas zu trinken, bevor sie den Fluss durchschwammen. Jedes Mal wieder war sie froh, hier ihre Duftspur verwischen zu können. Jedem einigermaßen schlauen Gestaltwandler war klar, wo sie weiterging, wenn sie am Fluss endete, aber es war trotzdem schwieriger ihr zu folgen. Noch dazu, weil sie nie den gleichen Übergang zweimal benutzten. Palia sah den schwarzen Jaguar an und blinzelte ihm mit beiden Augen zu. Er rührte sich zwar nicht, aber zumindest war seine Anspannung von ihm gewichen und er nahm keine Drohhaltung mehr an, was Palia ermutigte.

Dennoch sehr vorsichtig und schüchtern trat sie vor ihn und roch an seinem Gesicht. Ihre Schnurrhaare berührten sich leicht, was Palia ein freudiges Schnauben entlockte. Sie schnurrte bereits, bevor sie ihm über die Stirn und zum linken Ohr hinauf schleckte. Eigentlich sollte sie das nicht tun. Hier waren nicht die Zeit und nicht der Ort. Aber sie freute sich so und außerdem schmeckte er einfach so verdammt gut, dass sie sogar einmal ganz um ihn herum strich, bevor sie ihm in die schönen blauen Augen sah und ihm dann bedeutete, ihr durchs Wasser zu folgen.

Dahinter mussten sie nur etwa einen Kilometer einem Pfad durch steiniges Gelände folgen, bis sie beim Lager ankamen.

Heute würde es garantiert nicht nur einen Hirsch zum Abendessen geben, wenn sie Nataniels Ankunft gebührend feiern wollten.

 

Als sie an einem Flusslauf ankamen und Palia stehen blieb, legte er die Kleidung vor sich auf den Boden und sah sie abwartend an. Sie konnten unmöglich am Zielort angekommen sein, denn hier war niemand.

Nataniel zuckte daher nur ganz leicht zurück, als sie plötzlich auf ihm zu kam und ihm die Chance gab, sie ebenfalls zu beschnuppern. Ihr Schnurren erwiderte er schon alleine aus Trotz nicht, weil er keine Ahnung hatte, was sie mit ihm anstellte, dass er immer mehr das Gefühl bekam, sie schon ewig zu kennen und zu gleich blieb sie trotz allem eine Fremde.

Als sie ihm auch noch über eine Gesichtshälfte leckte, konnte er dem plötzlich aufflammenden Drang, spielerisch nach ihrem Ohr zu schnappen, nicht verhindern. Was sie ihm keinesfalls übel nahm, denn sie strich auch weiterhin schnurrend seinen Körper entlang, so dass er nicht nur leicht ihren Geruch annahm, sondern sie auch definitiv nach ihm roch. Ein Gefühl, das er mochte, denn das machte nun auch für andere Gestaltwandler deutlich, dass sie zu IHM gehörte.

Zu seiner … Familie? Nein, das war nicht das richtige Wort.

Auf jeden Fall war klar, dass er sie verteidigen würde, sollte jemand wagen, ihr etwas zu tun. Ein instinktiver Drang, den er nicht leugnen und schon gar nicht unterdrücken konnte.

Langsam drehte er wohl wirklich durch.

Gut, dass Palia ihm nicht die Chance gab, noch weiter an seinem Verstand zu zweifeln, sondern ihn dazu aufforderte, ihr durch das Wasser zu folgen.

Besorgt blickte er einen Moment auf das Handy im Gurt, ehe er es mit den Zähnen herausfischte und zwischen seine Kleider steckte, die er wieder in sein großes Maul nahm. Hoffentlich würde es nicht nass werden. Gerade jetzt, wo er endlich Bilder von seiner leiblichen Familie hatte, wollte er sein Handy nicht kaputtmachen müssen.

Danach ging er, ohne zu zögern ins Wasser und schwamm mit sichtlichem Vergnügen Palia nach. Er liebte das Wasser. Das war schon immer so gewesen.

Auf der anderen Seite schüttelte er sich kurz, ehe es auch schon weiter ging.

Felsiges Gelände säumte ihren Weg, doch seine angeschlagene Pranke machte trotz allem keinerlei Probleme. Die frische Narbe war immer noch deutlich zu sehen, aber schien überhaupt keine Auswirkung mehr auf seine Kräfte zu haben. Seltsam.

Nach einiger Zeit schnappte Nataniel den Geruch von einigen Gestaltwandlern auf, die er nicht kannte. Sofort fuhr er die Krallen aus, sträubte sein Nackenfell und begann zu knurren.

Mit einem gewaltigen Satz war er vor Palia, die gerade die Gestaltwandler erreichte.

Nataniel ließ das Kleiderbündel achtlos fallen und baute sich beschützend vor dem Pumaweibchen auf, während er fauchend die Zähne fletschte, seinen Schwanz drohend hin und her zucken ließ und die Ohren anlegte. Seine Pupillen hatten sich dabei so sehr geweitet, dass seine Augen schwarz wirkten, mit einem dünnen Streifen hellem Blau rund herum.

Ein faszinierendes und zugleich absolut erschreckendes Gefühl breitete sich in seiner Brust aus. Er fühlte sich stark und mächtig. Absolut kampfbereit, wenn es denn dazu kommen sollte. Und mit einem Mal war sie einfach da …

Die absolute Gewissheit, dass sich sein Dad nicht geirrt hatte. In keinem Punkt seiner Worte. Nataniel war ein Alphatier!

Eine Tatsache, die ihn über die Maßen erschreckte und trotzdem wich er keinen Millimeter von der Stelle. Stattdessen gab er ein Brüllen von sich, das klar machte, er würde hier jeden zerfleischen, der es auch nur wagte, Palia ein Haar zu krümmen, auch wenn er sich nicht sicher war, dass ihm das gelingen würde, aber das konnten die anderen ohnehin nicht wissen.

 

Palias Schwanz zuckte aufgeregt hin und her, als Nataniel sich vor ihr aufbaute. Keiner der Gruppe hätte ihn je angegriffen. Sie wichen sogar ein wenig vor ihm zurück und duckten sich in unterwürfiger Haltung, um bloß keinen falschen Eindruck bei ihm aufkommen zu lassen.

Um die Situation zu entschärfen, ging Palia langsam um Nataniel herum, sodass er sie sehen konnte, und beugte ebenfalls ihren Kopf vor ihm, bevor sie sich zu den Anderen gesellte. Sie alle sahen ihm interessiert entgegen, wobei Palia auffiel, dass einige doch ziemlich eingeschüchtert wirkten. Er hatte auch einen verdammt guten Auftritt hingelegt.

Sie war die Erste, die auf ihn zuging und sich wieder an seine Seite schmiegte, wobei sie schnurrte, um ihn zu beruhigen. Zwei andere Weibchen – Palias Schwester und ein Gepard – folgten ihrem Beispiel. Sie kamen in geduckter Haltung auf Nataniel zu, gaben ihm das Gefühl keine Bedrohung zu sein und ließen zuerst ihn ihren Geruch aufnehmen, bevor sie ihn ausgiebig beschnupperten. Die Männchen hielten sich derweil im Hintergrund und warteten ab. Einer nach dem Anderen verwandelte sich in seine menschliche Form zurück, um Nataniel zu begrüßen. Denn in dieser unterlegenen Form musste er nicht damit rechnen, dass sie ihn angreifen würden.

Aus der hintersten Reihe trat ein Mann, der nur leicht den Geruch der Raubkatzen an sich haften hatte. Von ihm selbst ging nur die Duftnote eines ganz normalen Menschen aus. Seine hellbraunen Augen ruhten auf dem schwarzen Jaguar, den die Gruppe so ausgiebig und freudig begrüßte.

Eric war ebenfalls gespannt, Williams Sohn kennenzulernen.

 
 

***

 

Amanda saß auf einer großen Wurzel und Schweißperlen liefen ihr an den Schläfen herunter. Sie atmete schwer, während sie Mrs. Cauleys kleine Gestalt mit einem ungläubigen Blick bedachte.

„Sie sind ziemlich fit, Miss Johnson", versuchte die alte Dame ihr ein Kompliment zu machen, was sich in Amandas Ohren allerdings wie das genaue Gegenteil anhörte.

„Oh danke, wenn Sie das sagen, komme ich mir gleich noch mehr wie eine Lusche vor", antwortete sie mit einem kleinen Lachen, das Mrs. Cauley erwiderte.

„Ach, kommen Sie. Heuschrecken sind nun mal die Lebewesen, die die größten Entfernungen ohne Anstrengung zurücklegen können. Sie dürfen sich nicht mit mir vergleichen.“

Wieder kam ihr Lachen von Herzen, aber Amanda dämpfte es herunter. Immerhin war sie sich darüber im Klaren, dass sie hier nicht auf einem Picknickausflug waren. Jeden Moment konnten sie doch entdeckt und von einer Horde Raubkatzen angegriffen werden.

Es beruhigte Amanda ungemein, dass Mrs. Cauley sich in jedem Fall in Sicherheit bringen konnte. Wie es um sie selbst stand, sagte ihr die Sonne, die ihren höchsten Stand erreicht hatte und fast, wie um Amanda persönlich zu ärgern, winzige Schatten unter die Bäume um sie herum warfen.

„Und noch etwas, Miss Johnson.“

Amanda sah überrascht auf die kleine Hand mit den kurzen Fingern, die ihr entgegen gestreckt wurde.

„Ich bin Fiona. Mrs. Cauley ist meine Mutter.“

Wie schaffte es diese Dame nur, Amanda sogar in der Wildnis das Gefühl zu geben, dass sie irgendwo in einer gemütlichen Unterkunft wäre, wo nichts und niemand ihr etwas antun konnte.

„Ich bin Amanda.“

Natürlich wusste Fiona das. Bestimmt hatte sie sich den Namen schon gemerkt, als sie Johnson auf der Anmeldung im Buch gelesen hatte.

„Na, dann lass uns weitergehen, Amanda. Immerhin erwartet man uns zum Abendessen.“

Das Zwinkern ließ Amandas Herz höher schlagen in Erwartung dessen, wer dort auf sie warten würde. Also sprang sie beinahe von der Wurzel auf und ging wieder hinter Mrs. Cauley her, obwohl ihre Füße brannten wie Feuer, und ihre gesamte Haut nach einer Dusche schrie.

 
 

***

 

Langsam begriff Nataniel, dass das hier der Rest vom Rudel seines Vaters sein musste. Sein Geruch haftete zwar nicht mehr an ihnen, aber es würde die seltsame Verbundenheit erklären, die er langsam aber stetig in der Gruppe fühlen konnte, als er sie eine nach der anderen beschnupperte und sich beschnuppern ließ.

Er gab es zwar nicht zu, aber für Nataniel war es ein bewegendes Gefühl so viele unterschiedliche Raubkatzen auf einem Haufen zu sehen und dennoch waren sie alle so friedlich und ruhig. Die einzige Aggression, die hier geherrscht hatte, war die seine, aber auch die war inzwischen nicht mehr vorhanden. Da waren nur noch Neugier und die Freude darüber wieder komplett zu sein. Auch wenn er nicht genau wusste, was das nun wieder heißen sollte.

Als die Männer sich in Menschen zurück verwandelten und Nataniel schließlich einen unter ihnen mit den Augen, wie die von Amanda erblickte, war ihm alles klar.

Ohne zu zögern, verwandelte er sich zurück, und da er seine Kleider schon an Ort und Stelle hatte, streifte er sie rasch über, ehe er an Eric – den einzigen Menschen an diesem Ort – herantrat.

„Ich hätte wissen müssen, dass du ihr Bruder bist", begrüßte er den Mann mit den hellbraunen Augen.

„Amanda wird sich sehr freuen, dich wieder zu sehen. Sie hat sich wahnsinnige Sorgen um dich gemacht.“

Das war nicht zu übersehen gewesen.

Um dem Rudel seines Vaters nicht das Gefühl zu geben, Nataniel hätte sie vergessen und sie wären nicht so wichtig wie dieser Mensch, sah er sich in der Runde um, während er jedem Einzelnen einen Moment lang in die Augen blickte. Zwar hatte er keine Ahnung, was er sagen oder tun sollte, ihm wurde dennoch das Herz schwer. Es waren so wenige.

Entweder gab es viele Tote unter ihnen, oder der Rest hatte sich dem Tiger angeschlossen. So oder so, ihm kam beides nicht richtig vor.

Nataniels Instinkt riet ihm dazu, keine Schwäche zu zeigen, zumindest keine, die seine Position als Anwärter für ein Alphatier in Frage stellen könnte. Man sollte das Gefühl haben, sich auf ihn verlassen zu können, auch wenn ihn das abermals mehr als ängstigte. Trotz des wachsenden Gefühls der Gewissheit in ihm war er unsicher. Was er allerdings nicht zeigte.

„Seid ihr hier in Sicherheit?“, fragte er an Palia gewandt, die Einzige, die ihm inzwischen nicht vollkommen wie eine Fremde vorkam.

Auf keinen Fall wollte er sie zu einem Treffen zwingen, das gefährlich für alle Beteiligten war. Das war er einfach nicht wert, auch wenn er darauf brannte, endlich mehr über seinen Vater zu erfahren, aber vorher hätte er gerne Amanda die Sorge über Eric abgenommen. Jede weitere Minute, die sie darunter litt, wollte er ihr ersparen.

 

„Ja, wir sind sicher. Unser Hauptlager liegt noch ein paar hundert Meter weiter hinter den Felsen und über einen weiteren Flusslauf.“

Palia streichelte noch in ihrer menschlichen Form über Nataniels Arm, bevor sie Eric zuzwinkerte und sich in einen Puma verwandelte.

Der einzige Mensch in der Gruppe lächelte, als alle Raubkatzen sich gemeinsam auf den Weg zum Unterschlupf machten. Sie wirkten glücklich, Williams Sohn zu sehen. Endlich hatten sie ihren Anführer gefunden.

Eben jener stand scheinbar noch etwas unschlüssig herum, bis auch das letzte Weibchen sich noch kurz an seinen Beinen geschmiegt hatte, bevor sie den anderen Wandlern zum Lager folgte.

Eric lächelte den Anderen an.

„Sie haben wirklich lange auf dich gewartet.“

Er wollte Nataniel die ganze Geschichte nicht hier – so zu sagen zwischen Tür und Angel – erzählen, weswegen er eine einladende Geste in der Richtung machte, in der die Anderen verschwunden waren.

Obwohl sich die anderen zurückverwandelten und sich in Richtung Lager aufmachten, blieb Nataniel in seiner menschlichen Gestalt neben Eric stehen und war sich nicht sicher, was er sagen sollte. Sie hatten alle auf ihn gewartet? Scheiße, hoffentlich enttäuschte er sie nicht. Das war fast seine schlimmste Befürchtung und kam gleich nach absolutem Versagen.

Um sich nicht wieder ausziehen zu müssen, folgte er Amandas Bruder auf zwei Beinen zum Lager. Zwar hatte er schiss, war aber auch total gespannt, denn dieses neue Gefühl in ihm, begann sich langsam aber sicher zu festigen, je mehr er mit den anderen Gestaltwandlern zu tun hatte. Als wäre es die natürlichste Sache der Welt.

Während er mit Palia und Keave – einem männlichen Geparden – die Gegend rund um das Lager auskundschaftete und die beiden ihm alles zeigten, konnte Nataniel nicht umhin, beeindruckt zu sein. Sie waren hier zwar mitten im Wald, aber es gab auch kleine gut getarnte Bungalows zum Wohnen. Sowohl am Boden als auch in den Bäumen. Vermutlich kam es darauf an, welcher Art man abstammte, weil einige von ihnen nicht klettern konnten. Zumindest nicht diese steil aufragenden Baumstämme hoch.

Hier tollten auch die verschiedensten Gestaltwandlerjungen herum. Es machte absolut keinen Unterschied ob Jaguar, Puma, Luchs oder Löwe. Die Vielfalt war so groß, wie der Frieden, der in der Luft hing. Nataniels Vater hatte offenbar gute Arbeit geleistet.

 
 

***

 

Schon seit ungefähr einer Stunde war Amanda sich sicher, dass sie auf diesem Weg nirgendwo ankommen würde. Es kam ihr so vor, als wären sie schon mindestens dreimal im Kreis gelaufen und Fiona würde sich immer wieder diese steilen Steigungen aussuchen, um Amanda völlig zu ermüden. Aber sie wollte nicht wie ein kleines Kind klingen, das quengelnd fragte, wann sie denn endlich da waren.

Nicht zum ersten Mal hatte Amanda die kleine Frau zwischen den hohen Büschen aus den Augen verloren, weswegen es sie auch zunächst nicht weiter beunruhigte, dass sie die ältere Dame nicht entdecken konnte, als sie endlich auf der Spitze des Hügels ankam.

Bestimmt hatte sie endgültig die Geduld verloren und war ein wenig vorausgelaufen. In Amanda keimte die Hoffnung auf, dass sie bald da waren und Fiona den Anderen schon Bescheid sagen wollte, damit sie das Abendessen aufs Feuer warfen.

Sie beugte sich ein wenig vor und stützte sich mit den Händen auf ihren Knien ab, um die Pause zum Durchatmen zu nutzen. Was hätte sie alles für eine Flasche Wasser getan. Sie war wirklich ziemlich fertig und freute sich nur auf einen warmen Platz am Feuer, etwas zu Essen und zu Trinken und darauf Eric endlich zu sehen.

 
 

***

 

Die beiden Männer saßen schweigend nebeneinander, während Eric auffiel, dass Nataniel wohl versuchte, sich die Umgebung genauestens einzuprägen. Er hatte sich schon auf dem Weg hierher genauestens umgesehen und auch am späten Nachmittag eine Runde in Form des schwarzen Jaguars gedreht und sich von Palia und einem der Männer die Umgebung zeigen lassen.

Kein Wunder, immerhin war das die Heimat seines Rudels. Er sollte sich hier auskennen, wenn er sie beschützen wollte.

Nun saßen sie an einem kleinen Feuer beisammen, als die Sonne unterging und für Eric und einige Andere wurde sogar Fleisch gebraten. Jeder konnte es haben, wie er wollte, entweder roh oder gut durch. Wie es beliebte. Aber zumindest gab es für alle im Überfluss.

Nach einer Weile konnte Eric nicht anders, als doch zu fragen, was ihm auf dem Herzen brannte: „Du hast Amanda gesehen? Geht’s ihr gut? Ich hab mir ein wenig Sorgen gemacht, dass sie bei dieser Heuschrecke im B&B landen könnte. Bei der bin ich mir nicht sicher, auf welcher Seite sie steht.“

Eric wollte fragen, warum sich Nataniels Blick auf einmal so veränderte, als eine der Wachen im Lager ankam und sich sofort in seine menschliche Form verwandelte. Im ersten Moment schien der Mann nicht zu wissen, an wen er sich wenden sollte. Er hatte Nataniels Ankunft nicht mitbekommen, erkannte aber die blauen Augen von William Hunter bei ihm wieder, weswegen er kurz den Kopf neigte, bevor er anfing zu sprechen.

„Die Cauley wurde gesehen. Mit einer Frau. Ich hab keine Ahnung, was sie vorhat, aber sie laufen auf die Grenze vom Nationalpark zu. Wenn die so weitermachen, müssen sie Nicolais Leuten früher oder später in die Hände fallen.“

16. Kapitel

Gegen Abend hin, wurde Nataniel immer unruhiger. Er sprach es zwar nicht aus, aber er hatte nicht vorgehabt, Amanda so lange alleine zu lassen. Egal was sie von ihm hielt. Die Stadt war lange nicht so sicher, wie dieser Ort hier und lag nur einige Kilometer vom Naturschutzgebiet entfernt. Für seinen Geschmack war das einfach zu nahe. Erst recht, da er inzwischen mehr über Nicolai und sein gewalttätiges Rudel hatte in Erfahrung bringen können. Wer nicht freiwillig mitmachte, wurde für gewöhnlich getötet. Erst recht wenn man ein herumschnüffelnder Mensch und noch dazu von der Organisation war.

Zwar konnte Amanda auf sich aufpassen, aber das dämpfte seine Sorge nicht im Geringsten.

Nataniel war abgelenkt, weshalb er Erics Worte nicht gleich im vollen Umfang begriff, als sie jedoch bei ihm ankamen, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. Gerade als er alarmiert aufspringen wollte, kam ein fremder Mann auf ihn zu, da er aber deutlich den Geruch des Rudels anhaften hatte, sah Nataniel in ihm keine Gefahr.

„Was?“, fauchte Nataniel fassungslos, während seine Krallen sich auf Anschlag ausfuhren und sich sein ganzer Körper vollkommen verspannte.

Er wurde ganz blass und begann heftig zu beben.

Panik drohte sich in ihm wie ein Gift auszubreiten, ehe die Essenz des urtümlichen und geborenen Alphatiers sich in ihm mit voller Gewalt durchbrach und sich somit seine Ausstrahlung so deutlich veränderte, als hätte er plötzlich eine vollkommen andere Haut- und Haarfarbe.

Der Geruch des Alphatiers stieg ihm aus jeder Pore, was den Mann vor ihm deutlich einen Schritt zurückmachen ließ und die anderen Gestaltwandler auf Nataniel aufmerksam machte.

Er hatte noch immer Angst um Amanda. Gewaltig große Angst, aber seine Gedanken blieben seltsam klar und zielgerichtet.

Rasch wandte er sich an ihren Bruder.

„Eric, das ist Amanda, die bei Mrs. Cauley ist. Wir haben bei ihr im B&B übernachtet. Ich hatte keine Ahnung, dass sie ein Gestaltwandler ist.“

Sie roch auch nicht wie eine Raubkatze. Aber immerhin hatte Eric ihm gesagt, sie sei eine Heuschrecke, das würde seine Blindheit erklären.

„Wenn sie wirklich eine von den Anderen ist, dürfen wir keine Zeit verlieren!“

Noch während er sich das Shirt über den Kopf streifte, ließ er nach den stärksten Raubkatzen in seinem Rudel rufen. Es war ein deutlicher Befehl, in einem Tonfall, der keine Widerrede duldete. So hatte Nataniel noch nie gesprochen.

Ohne zu sehen, ob man seinen Worten nachkam, zog er sich die Jeans aus und schenkte Eric noch einen letzten Blick.

„Ich bring sie dir wieder. Das schwöre ich.“

Danach verwandelte er sich.

 

Während Nataniel wie der Blitz durch die Wälder lief, mit zwei Löwinnen, einem anderen Jaguar, einem Leopard und drei Pumas im Schlepptau, versuchte er nicht an das zu denken, was er am Meisten fürchtete. Nämlich, was passierte, wenn sie zu spät kamen.

Gerne hätte er noch mehr Kämpfer dabei gehabt, die ihm zur Seite standen, da er sich zwar stärker denn je fühlte, aber noch nicht seine vollen Kräfte zur Verfügung hatte. Ob Alphatier oder nicht, er war immer noch verletzt.

Aber die schwächeren Arten wollte er auf keinen Fall mit hineinziehen und vor allem, mussten immer noch welche übrig bleiben, um das Lager zu beschützen. Außerdem hatten manche von ihnen Familie und keinen anderen Angehörigen mehr, der sich um sie kümmerte, falls sie nicht mehr zurückkehrten, weshalb Nataniel sie gar nicht erst in Gefahr bringen wollte.

 
 

***

 

Amanda hatte eine Weile gewartet und sich immer wieder auf dem Hügel umgesehen. Von hier oben konnte man die Umgebung überblicken, da sich die Kuppe in einer Lichtung über den Wald erhob. Wind bauschte das hohe Gras auf und ließ die Blätter der Bäume laut rauschen.

Amanda war so verschwitzt, dass ihr eiskalt wurde, als die Brise an ihr rupfte und unter ihre Jacke fuhr. Sollte sie etwa hier warten? Aber dann hätte Fiona doch etwas sagen können, anstatt sie einfach allein zu lassen.

Direkt vor Amanda stand ein relativ großer, einzelner Baum, der wie ein Denkmal auf dem Hügel aussah. Sie ging langsam darauf zu, um an seinem breiten Stamm zumindest ein wenig Schutz vor dem Wind zu finden und sich ein wenig auszuruhen.

Das Zittern schien ihr noch mehr ihrer körperlichen Kräfte zu nehmen, obwohl ihr das fast nicht mehr möglich schien. Sie war einfach unglaublich müde, was sich in einem Gähnen zeigte, das ihr sogar die Augen tränen ließ.

Auf dem Weg zu der dicken Eiche sah sich Amanda immer wieder um.

„Fiona?“

Der Wind schluckte das Wort sofort, weswegen Amanda den Versuch auch gleich wieder aufgab. Zumal sie nicht wusste, ob Fiona nicht doch in ihrer Insektengestalt unterwegs war und somit überhaupt Ohren besaß, um ihren Ruf zu hören.

Besonders viel Windschatten bot der Baumstamm nicht, weil hier auf dem Hügel sonst nichts war, um der Naturgewalt Einhalt zu bieten, aber es war besser als nichts. Es kam Amanda aber schon verdammt komisch vor, dass ihre Führerin schon so lange nicht mehr aufgetaucht war und auch sonst niemand vorbei kam, um sie zu holen.

Im Mondlicht klappte Amanda die Karte auseinander, die Fiona ihr gegeben hatte und die mit Erics Handschrift bekritzelt war. Er sagte nur, dass es ihm gut ging und dass er bei dem Rudel von William Hunter sei, wohin sie auch kommen solle. Er bräuchte ihre Unterstützung und sie sollte bloß niemanden von der Organisation unterrichten.

Erst jetzt fiel Amanda auf, dass am unteren Rand der Karte ein Stück fehlte. Dort, wo Eric eigenbrötlerischerweise immer das Datum unter seine Karten setzte.

Amanda runzelte die Stirn und sah sich noch einmal um. Es war dunkel, aber im Mondlicht konnte sie Bewegungen am Rande der Lichtung sehen. Drei relativ große Schatten bewegten sich durch das hohe Gras geräuschlos auf sie zu.

Sofort war Amanda durch den Adrenalinstoß, der durch ihren Körper ging hellwach. Sie stopfte die Karte wieder in die Jackentasche und verengte ihre Augen zu Schlitze, um erkennen zu können, was da genau auf sie zukam. Aber selbst ohne die Nachtsicht einer Raubkatze konnte sie sehen, dass keine kleinwüchsige Frau und auch nicht ihr Bruder unter denjenigen waren, die sich da auf leisen Pfoten anschlichen. Und auch keiner von ihnen hatte ein vollkommen schwarzes Fell. Amanda sah sich nach Schatten um. Der Baum bot ihr die Möglichkeit wegzukommen, aber der Rand der Lichtung würde eventuell nicht ausreichen, um zu entkommen. Sie konnte nur so weit, wie der Mondschein reichte. Oder sie musste den Schatten des Baumes verlassen und konnte bis in den Wald hinein gehen. Aber dort gab es so viele Möglichkeiten mit einem Ast im Magen oder irgendwo anders im Körper wieder aufzutauchen, dass ihr das zu gefährlich erschien.

Gehetzt sah sie sich nach weiteren Möglichkeiten um, während sich einer der Schatten vor ihr von der Dreiergruppe löste und zielstrebig auf sie zukam. An der Fellzeichnung konnte sie einen Gepard erkennen. Weglaufen fiel also aus.

Das Gras teilte sich vor dem Körper der Raubkatze schon so weit, dass Amanda den Kopf mit den zurückgezogenen Lefzen sehen konnte. Natürlich konnte er ihre Angst riechen, das hätte sogar ein Mensch gekonnt. Und dann kam wieder das Gefühl der Leere. Sie sah die Augen des Raubtiers vor sich und wie sich seine Muskeln spannten, um zum Sprung anzusetzen. Amanda trat einen Schritt zurück in den Schatten des Baumes. Wenn sie schon starb, dann würde sie es nicht kampflos tun.

Der Gepard sprang und spürte Amandas Hand, die durch seine Eingeweide fuhr erst, als es schon zu spät war. Es war ihr völlig egal, welches Organ sie in seinem Inneren zu fassen bekam, ihre aufgelöste Hand riss einfach an allem, was sie berührte und die Katze schlug mit blutüberströmtem Bauch schon tot auf neben dem Baum auf.

Amanda lag auf einem Knie im Gras und hielt ihren Arm oberhalb des Handgelenks, wo sich ihre Hand unter stechenden Schmerzen wieder zusammensetzte. Es klebte nicht einmal Blut daran, aber den anderen beiden Wandlern war nicht entgangen, dass sie den Angreifer getötet hatte. Unter Mühen kämpfte sich Amanda auf die Füße und der Wind trug ihr das Knurren der beiden Katzen zu. Vor dem nächsten wohl gezielten Sprung des Leopards konnte sich Amanda in den Schatten des Baumes in Sicherheit bringen, aber so müde, wie sie war, scheiterte sogar ihr Versuch sich an einen der unteren Äste zu klammern und ihren schmerzenden Körper auf den Füßen zu halten.

 
 

***

 

Als Nataniel endlich auf die Spur von Amanda stieß, die in der Richtung lag, die der Überbringer der schlechten Nachrichten ihm beschrieben hatte, zog er ganz schön das Tempo an. Er schonte keinen von ihnen, schon gar nicht sich selbst, denn jede Minute, die verstrich, war eine zu viel.

Während er immer weiter lief, roch er Amandas Schweiß, der sich mit dem Geruch von Erschöpfung verband. Sie waren tief im Wald, weshalb er glaubte, dass sie nach einem so langen Weg zu Fuß ganz schön müde sein musste, immerhin machte ihm selbst die Strecke langsam zu schaffen, die er in so kurzer Zeit hinter sich brachte.

Wer wusste schon, in welcher Verfassung er sie vorfinden würde. Konnte sie sich überhaupt verteidigen, wenn sie körperlich erschöpft war? Schatten gab es hier zwar genug, aber er hatte das Bild von ihr, wie sie vor dem Fenster im Mondlicht kauerte und sich unter Schmerzen wand, nicht vergessen.

Ein verzweifeltes Knurren entkam seiner Kehle, bevor er seine Schritte noch einmal beschleunigte, obwohl es langsam bergauf ging.

Je weiter sie voran kamen, umso frischer wurden die Spuren und umso deutlicher Amandas Geruch. Allerdings lag auch noch etwas anderes in der Luft.

Raubkatzen. Keine von seinem Rudel, denn ihnen fehlte der ganz spezielle Duft dafür.

Ein kurzer Blick nach hinten machte ihm klar, dass er dabei war, seine Gefährten langsam aber sicher abzuhängen.

Hin und her gerissen zwischen dem, was er wollte und dem, was richtig war, drosselte er schließlich etwas sein Tempo. Jedoch nur, weil er seine Kräfte sparen musste, da er nicht wissen konnte, was sie alle erwarten würde.

Amanda halte durch, ich komme!, schrie er laut in seinem Kopf und der Panter fauchte.

 

Das Knurren drang als erstes an sein feines Gehör, als sie sich nun langsam aber zielstrebig einen Hügel hinauf schlichen. Nataniel musste sich stark zurückhalten, um nicht einfach loszusprinten. Aber er durfte nicht vergessen, dass er hier nicht mehr alleine war. Also gab er den anderen mit einem fast lautlosen Knurren zu verstehen, dass sie sich aufteilen und den Hügel einkreisen sollten, bevor sie die Falle enger zogen.

Seine Gefährten gehorchten aufs Wort.

Nataniel hielt sich verzweifelt im Zaum, als er Amandas erschöpfte Atmung hörte und ihre Angst beißender denn je riechen konnte.

Er schaffte es einfach nicht mehr, sich zurückzuhalten.

Doch anstatt blind anzugreifen, kam er sich deutlich erkennbar zeigend, das letzte Stück den Hügel hoch und trat direkt auf die vom Mondlicht beschienene Lichtung. Zwei Raubkatzen standen zwischen ihm und Amanda.

Sein Knurren war tief, bedrohlich und kam direkt aus seiner heftig atmenden Brust, während er sein Fell so sehr sträubte, dass er noch größer wirkte, als er ohnehin schon war.

Sein Geruch als Alphatier begann sich deutlich über der Lichtung auszubreiten, auch wenn Menschen es nicht riechen konnten, die Raubkatzen witterten es auf alle Fälle.

Nataniel müsste nur ein einziges Zeichen geben und seine Gefährten würden angreifen. Doch das hier war seine erste Prüfung. Das wusste er.

Zwar war Stärke nicht alles, aber wenn er nicht deutlich markierte, wer hier der Boss war, würde man ihn niemals vollkommen ernst nehmen. Also griff er mit wütendem Fauchen und seinen weit ausgefahrenen scharfen Krallen den Leoparden an.

Erst vor wenigen Tagen hatte er gegen so eine Raubkatze verloren und nur Amanda hatte ihn noch retten können. Dieses Mal hatte er jedoch nicht vor, sich noch einmal unterkriegen zu lassen. Amandas Sicherheit und die Gefahr, in der sie schwebte, waren das Benzin, das sein inneres Feuer stichflammenartig hochschießen ließ. Kein Erbarmen. Kein Aufgeben. Er würde bis aufs Blut kämpfen.

Es war nicht blinde Wut, die ihn dieses Mal leitete, sondern gezielt eingesetzte Stärke. Seine Hiebe waren zwar selten, im Gegensatz zu denen des Leopards, doch dafür saßen sie dann richtig und anstatt sich gnadenlos den Kratzern und Bissen auszusetzen, wich er lieber ein paar Mal mehr aus, um die Schwäche seiner Verletzungen dadurch auszugleichen, dass er sich zu schonen versuchte.

Trotzdem war es ein wilder und gnadenloser Kampf, der viel von Nataniel abverlangte, aber schließlich erkannte er seine Chance zum Sieg.

Sein Gegner versuchte ihm den Bauch aufzuschlitzen, in dem er sich unter ihm wegduckte, als Nataniel einen Satz von oben andeutete, doch anstatt ihm ungeschützt seine Unterseite preiszugeben, sprang er nicht nach vor, sondern ein Stück zurück, weshalb der Angriff des Leopards ins Leere ging. Was er erwartet hatte und ihn nun keinen Moment länger zögern ließ. Eine Bewegung nach vor und seine Krallen schlugen sich in den Rücken des Leopards, während er sein Maul weit aufsperrte, ihn fest im Genick packte und mit aller Kraft zu biss.

Es knirschte lautstark, als die Wirbel brachen und sein Gegner vollkommen unter ihm erschlaffte. Er war tot.

 

Amanda hatte aufgeatmet, als sie einen vollkommen schwarzen Schatten im Gras erkannt hatte. Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber sie hoffte zumindest inständig, dass sie sich nicht irrte und es Nataniel war, der da auf sie und die beiden Raubkatzen zukam.

Ihre Hand krampfte sich immer wieder um den Ast, an dem sie sich festhielt, während sie den Kampf zwischen ihm und dem Leopard beobachtete.

Ein paar Mal musste der Panther einstecken und Amandas Herz schlug vor Schreck schneller.

„Lass dich nicht für mich töten“, zischte sie leise und sah erst jetzt einen weiteren Schatten auf der linken Seite in ihr Sichtfeld huschen. Der zweite Gepard. Amanda hatte so sehr auf Nataniel geachtet, dass sie den dritten Angreifer völlig vergessen hatte. Und anscheinend ging es nicht nur ihr so. Das wendige, schlanke Männchen war um die Kampfszene, die einen weiten Kreis vor dem Baum in Anspruch nahm, herumgeschlichen und hatte die Verwirrung ausgenutzt. Amanda hatte gesehen, dass Nataniel nicht allein hier war, aber die Anderen schienen auf irgendetwas zu warten.

Warum rührten sie sich nicht? Wahrscheinlich konnten sie von ihrer Position aus sowieso nicht schnell genug hier sein, um den Geparden außer Gefecht zu setzen. Außerdem konnte Amanda in den Augen des Gepards genau ablesen, dass er es auf den Panther abgesehen hatte. Wenn ihm andere folgten, musste Nataniel eine Führungsposition innehaben. Der Gepard wollte das einzig Logische tun und denjenigen aus dem Weg schaffen, der die Gruppe zusammenhielt.

Das ließ noch mehr Verzweiflung und Panik in ihr aufsteigen.

Amandas Blick huschte zwischen den sich bis aufs Blut bekämpfenden Katern vor ihr und dem dritten Raubtier hin und her. Der schlanke Körper des Gepards fiel in dem hohen Gras überhaupt nicht auf und Amanda verlor ihn immer wieder aus den Augen. Sie konnte nur an den Bewegungen der Vegetation erraten, wo er sich gerade aufhielt.

Ein lautes Knacken zerriss das monotone Rauschen der Blätter und bracht das Knurren und Brüllen der Kontrahenten ab. Genau in diesem Moment sah Amanda, wie der Gepard zum Sprung ansetzte. „Nein!“

Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm. Der Ast, an den sie sich gerade noch gekrallt hatte, brach fein säuberlich an der Stelle ab, wo ihre verschwindenden Finger sich befunden hatten. Amanda wurde nur kurz in die Schatten gerissen, aber es reichte, um sie aufschreien zu lassen, was sie mit sich überschlagender Stimme sogar noch tat, als sie den Bruchteil einer Sekunde später vor dem Gepard wieder auftauchte. Sie konnte ihn nicht derart verletzten wie sie es, vorgehabt hatte. Dafür war sie einfach zu geschwächt. Aber sie schaffte es zumindest, sich mit ihrem immer noch in Auflösung begriffenen Körper, gegen seinen zu werfen.

Das Tier jaulte auf, als Amandas Schulter durch seinen Vorderlauf glitt und ihm die Knochen brach. Sie kam direkt neben der Raubkatze bäuchlings auf dem Boden auf und konnte durch den Nebel ihres schmerzenden und sich gerade wieder zusammensetzenden Körpers spüren, wie sich zwei Zahnreihen in ihren Bauch und ihre Seite gruben.

Für einen Schmerzensschrei fehlte ihr der Atem. Amanda musste sich viel zu sehr darauf konzentrieren, die Schatten loszuwerden, die um sie schlugen, als dass sie auf das Blut hätte achten können, das sich über ihren Pullover ausbreitete. Sie hörte nur ein Winseln über das Rauschen der Blätter und des Grases hinweg und schloss dann ihre müden schwarzen Augen.

 

Heftig atmend wollte sich Nataniel gerade nach dem letzten Gegner umsehen, als er Amandas Schrei von Richtung Baum hörte. Doch als er aufblickte, war sie schon verschwunden und nur einen Herzschlag später tauchte sie samt Gepard wieder vor ihm auf, den er bis dahin nicht gesehen hatte.

Mit eiskaltem Entsetzen hörte Nataniel Amandas Schmerzensschrei, und obwohl er sofort auf sie zueilte, hatte der Gepard noch die Gelegenheit sich für seine offensichtlich gebrochene Pfote erkenntlich zu zeigen, in dem er ihr direkt in die Seite und somit in den Bauch biss.

Mit menschlichem Wutgeheul, weil Nataniel sich noch während des Sprungs zurückverwandelt hatte, packte er den Geparden mit bloßen Händen am Ober- und Unterkiefer, die sich in Amandas Fleisch gegraben hatten, und riss sie mit aller Kraft, die er in dieser Form aufbringen konnte, auseinander, um ihre Verletzungen so gering wie möglich zu halten.

Das Ergebnis hätte ihn zufrieden stellen müssen, wenn die Situation ihn nicht so sehr entsetzt hätte, immerhin hatte er dem Gepard nicht nur den Unterkiefer ausgerenkt, sondern ihm auch garantiert was dabei gebrochen.

Kaum, dass die Raubkatze von Amandas Körper abgelassen hatte, rammte Nataniel ihm die Faust mitten in die deformierte Schnauze und brach dem Tier somit auch noch die Nase.

Er war viel zu wütend, um sich noch einmal zurück zu verwandeln, also warf er sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Geparden, der ohnehin nicht viel größer als eine Dogge war, und drückte ihm seine Krallen direkt in die Kehle, während er seine Beine so eng um die schmale Mitte des Raubtiers schlang, dass diese keine Luft mehr bekam.

In diesem Klammergriff hielt er ihn so lange fest, bis der Gepard sich nicht mehr rührte.

Erst als er sich endgültig in einen Mann mit leer vor sich hinstarrenden Augen verwandelt hatte, ließ sich Nataniel neben Amanda im Gras fallen und schob vorsichtig ihren Pullover hoch, um die Bisswunde zu untersuchen.

Sie blutete heftig und die Wunden sahen nicht sehr gut aus, aber wenigstens war es dem Raubtier nicht gelungen, ihr einen ganzen Fleischfetzen aus dem Leib zu reißen. Weshalb Nataniel ihr den Pullover vom Körper riss, um damit die Blutung zu stillen.

Danach hob er sie vorsichtig hoch und drückte sie sanft an seine nackte Brust.

Hoffentlich hielt sie durch, bis er im Lager angekommen war.

Noch während er wie der Teufel lief und dabei versuchte seine Bewegungen so gut wie möglich abzufedern, zog er Amandas PDA aus ihrer Hosentasche und rief auf seinem eigenen Handy an, das er im Lager bei Eric gelassen hatte.

Seine Gefährten folgten ihm in einer Schutzformation, während er durch den finsteren Wald jagte. Was anderes konnte er nicht tun.

Verzweifelt hoffte er, dass das nicht zu wenig war.

17. Kapitel

Eric war schon die ganze Zeit wie auf Kohlen gesessen und hatte nur auf Nachrichten von Nataniel und den Anderen gewartet. Noch waren sie nicht gesichtet worden. Das dauerte alles viel zu lange. Das kleine Klapphandy fing in der Halterung an zu vibrieren und blinkte auf. Überrascht zog Eric es aus der Tasche und erkannte Amandas Nummer. Sofort klappte er das Telefon auf.

„Amanda?“

Was ihm gesagt wurde, ließ beinahe Erics Blut in seinen Venen gefrieren, aber er versuchte sich, zusammenzureißen. Das war nicht das erste Mal, dass Amanda verletzt war. Aber es war das erste Mal, dass er nicht die Kollegen von der Organisation rufen konnte, die sie mit einem Rettungshubschrauber ins nächste Krankenhaus bringen würden.

„Ja, bring sie her. Wir warten auf euch.“

Voller Verzweiflung sah Eric zu Palia hinüber, die neben ihm gesessen hatte und bei dem Anruf genauso aufgeschreckt war, wie er.

„Amanda ist verletzt. Sie ist gebissen worden. Ich weiß nicht, wie schlimm es ist …“

Palia legte ihm eine Hand auf den Nacken und sah ihm tief in die Augen. „Wir werden uns um sie kümmern, keine Sorge.“

Sie verwandelte sich in den Puma, um schneller zu der Hütte der Luchsdame zu kommen, die in ihrer menschlichen Existenz Schwester in einem Krankenhaus gewesen war. Sie würde ihnen zumindest sagen können, ob sie Erics Schwester in die Stadt bringen mussten. Oder ob sie den Transport dorthin überhaupt überleben würde.

 
 

***

 

Der Weg zurück kam ihm unendlich weiter vor, als der Weg zu ihr.

Amandas kühler Körper erschreckte ihn, dabei lag der Temperaturunterschied wohl hauptsächlich daran, dass er ohnehin wärmer als Menschen war und das war sie nun einmal. Trotz ihrer beeindruckenden Fähigkeiten hielt ihr Körper auch nicht mehr aus, als alle anderen Menschen. Umso größer war Nataniels Sorge, ob sie diese Nacht überhaupt überleben würde.

Seine Beine brannten wie die Hölle, während er immer schneller lief und trotzdem darauf achtete, sie nicht zu sehr durchzuschütteln. Aber weder seine eigenen Verletzungen, noch die entsetzliche Ausstrahlung der Schatten um Amanda herum, konnten ihn davon abbringen, sie weiter festzuhalten, um so schnell wie möglich ins Lager zurückzukehren.

Wenigstens hatte er Eric auf seinem eigenen Handy erreichen können, damit die anderen schon einmal vorgewarnt waren. Mit viel Glück war irgendjemand in seinem Rudel, der sich mit so etwas aus kannte. Er betete darum.

 
 

***

 

Palia beeilte sich und kam in dem Moment zum Feuer zurück, als die Löwin, die Nataniels Gruppe begleitet hatte, im Lager ankam.

„Sie sind gleich hier. Sie lebt noch.“

Eric war wortlos aufgesprungen, als er sie sah, blieb aber beim Feuer stehen und wartete. Wie weit konnten sie noch sein? Nataniel hatte Amanda in seiner menschlichen Form hierher bringen müssen. Sonst wäre es ihm gar nicht möglich gewesen.

In Erics Inneren kam keine Erleichterung auf, als er den neuen Anführer in den Lichtkegel des Feuers treten sah. Er hatte Amandas Körper die ganze Zeit in den Armen gehalten und legte sie nun vorsichtig hin. Eric war einen Herzschlag später bei ihm, um ihm zu helfen.

„Nataniel.“

Er hielt den Anderen, der sich gerade über Amanda beugen wollte, am Oberarm fest. Als Reaktion bekam er ein aggressives Knurren, bis sich die eisblauen Augen auf die Stelle richteten, die Eric ihm zeigen wollte.

„Bleib im Licht, sonst kleben sie an dir und lösen dir die Haut auf.“

Nachdem Nataniels Schulter von einer dunklen Substanz umwabbert wurde, musste Eric seiner Schwester noch nicht einmal die Augen öffnen, um zu wissen, dass sie pechschwarz waren. Die Aura, die sie umgab, ließ nicht nur Palia ein wenig zurückweichen. Ehrlich gesagt wunderte es Eric, dass Nataniel so ruhig neben ihr kniete. Für das Tier in ihm mussten die Schatten beinahe unerträglich sein.

Genauso unerträglich, wie es für Eric war, in Amandas immer blasser werdendes Gesicht zu sehen.

Sie verlor nicht so viel Blut, wie die Wunde vermuten ließ und doch war sie aschfahl im Mondlicht, das sich mit dem warmen Licht des Feuers mischte. Endlich kämpfte die Krankenschwester sich doch gegen ihren Instinkt zu ihnen durch und sah sich die Bisswunde an Amandas Seite und ihrem Bauch an. Sie konnte nichts weiter sagen, als dass sie erstmal gereinigt werden sollte. Sonst würde die Entzündung Amanda eher umbringen als der Blutverlust. Sie konnte die Wunde nähen, aber den Transport in die Stadt hielt sie für zu gefährlich. Es war einfach zu weit.

Eric streichelte Amandas Wange und wusste nicht, was er sagen sollte. Sie war immer diejenige gewesen, die alles unter Kontrolle hatte. Amanda hatte die Lösung für Probleme und kümmerte sich um die Leute, die verletzt waren.

Wut stieg in Eric auf, von der er nicht wusste, woher sie genau kam und gegen wen sie gerichtet war.

„Du wirst nicht sterben, hörst du. Du hast es Dad versprochen.“

 

Als er endlich das Lager erreichte, war der Panther schon halb aus seinem Käfig raus, obwohl Nataniel noch immer in menschlicher Form war. Aber seine Instinkte waren so wachsam, als wäre er ein Tier.

Vorsichtig legte er Amandas Körper neben das wärmende Feuer ab und wollte sehen, ob sie noch so kräftig atmete, wie in dem Moment, wo er sie hochgehoben hatte. Doch etwas hielt ihn zurück, woraufhin er fast zugebissen hätte, daran änderte selbst die Tatsache nichts, dass er im Augenblick keine Schnauze hatte.

Gerade noch rechtzeitig erkannte er Eric und auf was dieser deutete.

Nataniel sah sich die wabbernden Schatten einen Moment lang an, ehe er seine volle Aufmerksamkeit wieder auf Amanda richtete. Den Mann sowie das Tier konnte selbst diese Tatsache nicht mehr von der blond gelockten Frau fernhalten. Sollte ihm doch die Haut weggefressen werden. Ihm war das egal, dennoch hielt er sich im Licht, während er mit wachsamen Augen jede Bewegung der Luchsfrau scharf beobachtete.

Als sie die Wunden zu säubern begann, ging Nataniel unruhig auf und ab, weil er einfach nichts für diese Frau tun konnte, die nicht nur dem Panther so wichtig geworden war. Verdammt, sie hätte ihn nicht warnen sollen, dann wäre das alles nicht passiert!

„Tu für sie, was du kannst“, knurrte Nataniel ungehalten der Luchsfrau zu, nachdem diese begonnen hatte, nun die Wunden zu nähen. Wenigstens gab es hier im Lager auch so etwas wie Erste-Hilfe-Kästen, weil es nicht das erste Mal war, dass es hier Verletzte gegeben hatte. Aber wenn Amandas Verletzungen zu schlimm waren, würde es ohnehin nicht ausreichen.

Gott, er wollte sie nicht verlieren!

 

Lediglich in der Obhut ihres Bruders ließ Nataniel Amanda wenige Minuten lang alleine, um sich den ganzen Dreck und das Blut im nahegelegenen Fluss abzuwaschen. Doch weder ließ er es zu, dass man seine Wunden versorgte, noch nahm er stärkende Nahrung zu sich, die er im Moment dringend hätte brauchen können. Aber er wusste, dass er ohnehin nichts runter bringen würde.

Inzwischen hatte man Amanda in ein Bett in einen der Bungalows gebracht, wo die Verhältnisse wesentlich sauberer waren, als auf dem bloßen Waldboden. Man hatte sie gewaschen und ihr die Wunden verbunden. Ansonsten war sie nackt unter dem weißen Bettlaken, das ihr bis zum Hals hochgezogen worden war.

Schweigend saßen Eric und Nataniel nebeneinander an ihrem Bett und warteten. Auf den Tod, auf Verbesserung oder sonst irgendein Zeichen.

Zum ersten Mal in seinem Leben hasste Nataniel das Warten und konnte es einfach nicht ertragen. Aber was blieb ihm anderes übrig?

 

Eric bemerkte, dass immer wieder eine der Raubkatzen an den Bungalow kam, um nach ihnen zu sehen. Sie drängten sich nicht auf, zeigten sich meistens noch nicht einmal in dem niedrigen Gebäude, aber Eric wusste, was los war.

Er sah zu Nataniel hinüber, der auf irgendeinen Punkt auf dem Boden starrte und sich scheinbar seit Stunden nicht gerührt hatte. Eric hatte keine Lust, sich wieder einen dieser tödlichen Blicke einzufangen, die er dafür geerntet hatte, dass er seinen Arm festgehalten hatte. Deshalb lehnte er sich zum wiederholten Male zu Amanda vor und fühlte ihre Stirn. Dann ihren Hals und horchte auf ihre Atmung, die zwar etwas angestrengt, aber gleichmäßig war.

Die Schatten waren auch wieder verschwunden, was Eric sehr beruhigte. Jetzt konnte Amanda sich darauf konzentrieren, mit ihrer Verletzung fertig zu werden. Das würde ihr sehr viel leichter fallen, wenn sie diese klebrige Finsternis nicht zusätzlich von sich abzuschütteln hatte.

Eine junge Leopardin hatte sich gerade neben dem Eingang des Bungalows in einen Menschen verwandelt und sah zu ihnen hinein. Ihr Gesicht war neugierig und besorgt und wie bei allen anderen zuvor, ruhte ihr Blick nur kurz auf Amanda und wanderte dann für sehr viel längere Zeit zu Nataniel hinüber. Eric nickte ihr beruhigend zu und sie wandelte sich, um wieder zu verschwinden.

Langsam wurde es hell.

„Ich weiß, dass ich dir keine Vorschriften machen kann“, versuchte Eric das erste Mal, seit sie hier zusammensaßen, mit ruhiger Stimme ein Gespräch anzufangen. Er wartete einen Moment ab, ob Nataniel ihm überhaupt zuhörte. Der Panther schien verdammt weit weg zu sein, mit seinen Gedanken und außerdem sah er wirklich abgekämpft und müde aus.

„Aber ich nehme an, dass du unsere Besucher auch bemerkt hast.“

Jetzt hob Nataniel tatsächlich den Kopf und nickte fast unmerklich.

„Sie machen sich Sorgen um dich. Du bist gerade erst angekommen, hast deinen ersten Kampf für das Rudel hinter dir und bist dabei verletzt worden.“

Eric legte eine Pause ein und versuchte angestrengt nicht zu Amanda hinüber zu sehen, die immer noch beinahe so blass war wie das Laken, das über ihrem Körper lag.

Er wusste nicht, warum Nataniel immer noch hier war und ihm beim Warten Gesellschaft leistete.

Jemand hatte ihm erzählt, dass Amanda dem neuen Anführer geholfen hatte, einem Geparden auszuweichen. Hatte Amanda ihm das Leben gerettet? Das würde zu ihr passen. Schon seit sechzehn Jahren bei der Organisation und immer noch stellte sie sich auf die Seite der Wandler, wenn es richtig war. Blieb nur zu hoffen, dass das ein gutes Zeichen war und sie die schlechten Nachrichten über die Moonleague einigermaßen gefasst aufnehmen würde.

Wieder sah er in die blauen Augen seines Gegenübers, die ihn so sehr an die des alten Anführers erinnerten. Nataniels Dankbarkeit gefiel Eric, aber im Moment gab es Wichtigeres für ihn zu tun.

„Dein Rudel würde sich gern um dich kümmern. Das wird vermutlich nicht der letzte Kampf bleiben, den du mit ihnen auszufechten hast und wenn du sie weiter beschützen willst, wirst du deine Verletzungen ziemlich schnell auskurieren müssen.“

Als sich der Andere immer noch nicht rührte, sprach Eric mit etwas mehr Nachdruck weiter.

„Du solltest zumindest was essen und dich ein wenig ausruhen.“

Dass es Amanda schon schaffen würde, fügte Eric nicht an, denn das konnte er vor sich selbst noch nicht wirklich sagen. Sie hielt sich ganz gut, hatte noch nicht einmal hohes Fieber, aber das war kein kleiner Kratzer, der ihr da zugefügt worden war. Eric würde bei ihr bleiben, und wenn sich ihr Zustand verschlechtern sollte, würde es irgendjemand Nataniel schon zutragen.

 

Nataniel dachte über diesen mehr oder weniger offenen Streit mit Amanda und ihm nach, den sie noch gehabt hatten, ehe das alles hier eskaliert war. Sie hatte deutlich Angst vor ihm gehabt, was er wirklich nicht gewollt hatte und dann noch die Worte, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte. War er denn wirklich überheblich? Diese Eigenschaft an ihm wäre ihm noch nie aufgefallen, aber wenn sie es sagte, musste es wohl stimmen.

Würde das hier vielleicht tatsächlich so enden? Im Streit?

Natürlich war die Situation auf der Waldlichtung etwas anderes gewesen. Aber sie hatte nicht die Zeit gehabt, sich noch einmal gründlich auszusprechen. Vielleicht würden sie nie mehr die Gelegenheit dazu haben.

Nataniel hörte Amandas Bruder nur mit halbem Ohr zu, als dieser zu sprechen begann, da es ihn eigentlich wenig interessierte. Eric konnte seiner Schwester auch nicht helfen, alles andere war also unwichtig.

Als er ihn jedoch auf die unzähligen Besucher hinwies, die immer wieder einmal den Kopf bei der Tür herein gestreckt hatten, sah Nataniel ihn an.

Am Anfang hatte der Panther in ihm gebrüllt und getobt, weil er niemanden in Amandas Nähe wissen wollte, außer sich selbst und höchstens noch ihren Bruder. Doch nach und nach war es fast schon zur Gewohnheit geworden, und da niemand es wagte, ganz hereinzukommen, beruhigte sich der Jaguar auch langsam wieder. Davon bekam Eric natürlich alles nichts mit. Nach außen hin war Nataniel schweigsam, in sich gekehrt und regungslos gewesen.

Sie machten sich also Sorgen um ihn? Wen kümmerte das schon? Er war hier nicht derjenige, der leichenblass auf einem Bett lag und keinen Ton von sich gab. Warum also fing Eric überhaupt damit an?

Nataniel gab zu, dass er verletzt und total ausgepowert war, aber es würde ihn nicht umbringen. Dennoch hatten die nächsten Worte des Mannes eine gewisse Logik, der er als frischgebackenes Alphatier nicht entkommen konnte.

Amanda war ihm wichtig, das Rudel aber auch. Gerade jetzt, wo seine Position noch nicht hundertprozentig gefestigt war, sollte er alles tun, um den Clan zufrieden zu stellen. Sie standen vielleicht im Augenblick loyal hinter ihm, aber das lag bestimmt nur daran, weil er der Sohn seines Vaters und das einzige andere Alphatier hier war, der nicht auf Gruppenzwang bestand.

Schließlich seufzte er geschlagen. Es half nichts. So gerne er hier weiter sitzen und auf Amandas Besserung warten wollte, trotzdem hatte er Verpflichtungen. Genau das, was er nie hatte haben wollen und jetzt trug er die Verantwortung für ein ganzes Rudel voller unterschiedlicher Raubkatzen.

Sein Dad würde große Augen bekommen, wenn er seinen Wildfang von Sohn in einer Führerposition vorfand. Bestimmt würde dieser es erst glauben, wenn er es mit eigenen Augen sah.

„Du hast recht. Das Rudel steht an erster Stelle.“

Nataniel stand langsam auf und legte Eric seine große Hand auf die Schulter.

„Aber vergiss nicht. Meiner Ansicht nach gehört ihr beide zu der bunt zusammengewürfelten Großfamilie dazu.“

Mit diesen Worten umarmte er den anderen Mann freundschaftlich. Eine Geste, die bei Gestaltwandlern absolut nicht selten vorkam. Das festigte die Familienbande und zugleich würde jeder wissen, dass Eric zum Clan gehörte, da er nach diesem roch. Bei Nataniel zuhause ging es grundsätzlich nicht ohne Berührungen. Jeden Tag aufs Neue, ob Kind, Mann oder Frau. Körperkontakt war verdammt wichtig.

Deshalb drehte sich Nataniel auch zu Amanda um und beugte sich nun zum ersten Mal seit Stunden über sie. Seine Hand strich ihr vom Stirnansatz über ihre seidig weichen Locken, ehe er sich noch tiefer über sie beugte und mit geschlossenen Augen seinen Nasenrücken über ihre Wange gleiten ließ.

Da er sich dabei auf das Minimalste beschränkte, das er in Gegenwart ihres Bruders tun konnte, würde dieser hoffentlich nicht mitbekommen, wie anders für Nataniel diese Art des Körperkontakts war. Oder besser gesagt, mit welchem anderen Sinn es verbunden war. Er wollte damit nicht nur klar machen, dass sie zum Rudel gehörte.

Doch bevor er sich noch weiter in irgendetwas hineinsteigern konnte, was ohnehin nicht vorhanden war, straffte er sich und verließ den Bungalow.

Sofort kamen einige seiner Leute herbei. Kinder wollten sich an seine Beine hängen, die er allerdings lächelnd von sich zupfte und ihnen ein gutmütiges Knurren schenkte, ehe er sich zu den Lagerfeuern begab, um endlich etwas zu essen. Auch wenn er vermutlich absolut nichts schmecken würde.

 

Satt, aber keinesfalls zufrieden, führte man ihn zu seiner eigenen Unterkunft. Es war ein Versteck in den Bäumen und lag in der Mitte des Lagers, damit er alles überblicken konnte. Im Augenblick war ihm aber nicht danach, dennoch hatte er Befehl dazu gegeben, ein paar Freiwillige zusammenzusuchen, die sich als Wachen aufstellten. Sie mochten hier sicher sein, aber ein Risiko würde er nicht eingehen.

Gerade deshalb würde er nur gerade so viel Zeit mit Schlaf vergeuden, damit seine Leute etwas beruhigt waren. Allerdings immer mit der Option, dass man ihn sofort weckte, falls etwas sein sollte und erst recht, wenn sich etwas bei Amanda tat. Mochte es auch noch so unbedeutend sein.

 
 

***

 

Dass ihr kalt war, spürte sie als Erstes, denn es brachte sie dazu, sich zu bewegen, um ein wenig mehr Decke um sich zu wickeln. Der Schmerz in ihrer Seite, den sie dabei selbst verursachte, weckte sie schließlich auf.

„Autsch.“

Im nächsten Moment sah sie erstmal verwundert drein, als sie Eric sah, der unbequem auf zwei Stühlen eingeschlafen war und zur Seite überkippte, als er bei ihrem Schmerzenslaut am ganzen Körper zusammenzuckte.

Das Lachen, das sich in ihrem Inneren sammelte und unbedingt nach draußen wollte, konnte sie nur mit Mühe und Not unterdrücken. Aber ihr schmerzender Bauch hätte ihr den Gefühlsausbruch sicher nicht gedankt.

Eric rappelte sich nur halb vom Boden hoch und kniete sich neben ihr Bett. Die Geschwister sahen sich zuerst fast eine halbe Minute in die Augen, bevor Amandas Blick düster wurde.

„Wie konntest du einfach verschwinden? Ich hab mir Sorgen gemacht!“

Sie holte schon dazu aus, ihm eine Kopfnuss zu verpassen, als sie die Hand zurückziehen musste. Aus ihren Lungen presste sich ein Keuchen und Amanda schob eine Hand unter dem Laken an die Stelle, an der es wehtat.

Da war ein Verband und ansonsten fühlte es sich alles andere als gut an. Erst jetzt fiel ihr ein, was geschehen war. Nataniel war gekommen, um sie zu retten. Und dann war der Gepard losgesprungen. Ein grässliches Gefühl machte sich in ihr breit, das nichts mit ihrer eigenen Verletzung zu tun hatte.

„Eric, weißt du, wo Nataniel ist? Geht’s ihm gut?“

Die hellbraunen Augen ihres Bruders lächelten mit seinem Mund um die Wette.

„Jepp, mit ihm ist alles okay. Mehr als das, würde ich sagen.“

Amandas Augenbrauen arbeiteten sich fragend nach oben.

„Er ist Rudelanführer. Hier haben alle nur darauf gewartet, dass er herkommen und die Nachfolge seines Vaters antreten würde.“

„Oh, verstehe.“

Warum fühlte sich das nicht gut an? Amanda hätte es nicht zugegeben, weder vor Eric, noch vor Nataniel, aber vor allem nicht vor sich selbst. Aber wäre sie ehrlich gewesen, hätte sie das Gefühl, das sich in ihr breitmachte, nur als Enttäuschung beschreiben können.

Er hatte sie gerettet, bestimmt hatte er sie hierher gebracht, damit man sich um sie kümmerte. Damit sie schnell gesund wurde und ihn endlich in Frieden lassen konnte.

„Gut für ihn. Dann hat er sicher eine Menge zu tun.“

Bloß nicht schnippisch werden. Eric hatte ihre schlechte Laune bestimmt nicht verdient und ignorierte sie auch vollkommen.

Amanda wehrte sich nicht, als ihr kleiner Bruder sie ein wenig an den Schultern hochzog und sie in die Arme nahm. Es war so schön, ihn wiederzuhaben.

„Gott sei Dank ist dir nichts passiert.“

„Was man ja von dir nicht gerade behaupten kann“, sagte er mit vorwurfsvollem Unterton in der Stimme und sah sie ein wenig strafend an, bis sie beide doch in leises Gelächter ausbrachen.

Amanda versuchte, Erics Ausführung einigermaßen zu folgen. Er erzählte ihr, wie er hierher gekommen war und wie er die Rudelmitglieder kennen gelernt hatte. Dass es ihm falsch vorgekommen war, sie an die Organisation zu verraten. Immerhin hatten sie doch das gleiche Recht auf Freiheit wie jeder Andere …

Bereits mit geschlossenen Lidern nickte Amanda noch leicht, fiel aber trotz aller Mühen wach zu bleiben in tiefen Schlaf zurück.

Eric lächelte milde und warf ihr noch eine Decke über, bevor er sich wieder auf den Stuhl neben sie setzte. Es würde ihr schon bald wieder gut gehen.

 

Erst etwa zwei Stunden später kam Palia zum Bungalow, um Eric etwas zu essen zu bringen und auch für Amanda hatte sie etwas Suppe dabei, falls sie aufgewacht sein sollte. Die blonde Frau schlief immer noch und sah inzwischen wieder etwas rosiger und entspannter aus, als in der letzten Nacht. Eric bat Palia Nataniel bescheid geben zu lassen, dass Amanda wach geworden war.

Mit einem freundlichen Schnurren nickte die Frau, konnte es sich aber nicht verkneifen Eric zu sagen, dass er selbst ein wenig Ruhe gebrauchen könnte.

Der blonde Mann stand auf und lächelte sie an.

„Okay“, sagte er leise.

„Ich geh schlafen. Aber bloß, wenn du dich mit der Nachricht an Nataniel beeilst.“

Der Puma, der in der nächsten Sekunde vor ihm stand, schmiegte sich kurz an seine Beine, bevor er lossprintete.

Eric wollte nur noch warten, ob Nataniel ihm eine Ablösung schickte oder selbst noch mal vorbei kam, um nach Amanda zu sehen. Wobei ihn das verwundert hätte. Obwohl …

Er warf einen prüfenden Blick auf seine schlafende Schwester, als hätte ihr Gesicht ihm sagen können, warum dieser Panther sich so ungern von ihrem Krankenbett entfernt hatte.

18. Kapitel

Nataniel hatte noch nicht einmal ein Auge zu getan, als er Palia hörte, die wohl gerade dabei war, seinen Hochsitz zu erklimmen. Um ihr den Weg zu ersparen, kam er von selbst runter, um sich anzuhören, was sie zu sagen hatte.

Die Neuigkeiten vertrieben sofort seine immer größer werdende Müdigkeit, trotz der er noch immer nicht hatte schlafen können, weil er sich so große Sorgen um Amanda machte. Dass sie jedoch aufgewacht war und sogar mit ihren Bruder gesprochen hatte, beruhigte ihn etwas-

Allerdings würde er erst Frieden geben, wenn er sich selbst über ihren verbesserten Zustand ein Bild hatte machen können. Also gab er Palia bescheid, dass er selbst für Eric die Ablöse übernehmen würde und er nur gestört werden wollte, falls es ernsthafte Probleme geben sollte. Danach verabschiedete er sich und machte sich auf den Weg zu Amanda.

 

Ihre Wangen hatten etwas Farbe bekommen. Das war ihm sofort aufgefallen, als Nataniel die kleine Hütte betrat und Eric ablöste.

Dieser sah zwar nicht einmal annähernd so aus, wie er sich fühlte, aber bestimmt war auch er erschöpft, weshalb er ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte und ihm dann befahl ins Bett zu gehen.

„Ich werde solange hier bleiben, bis du wieder kommst. Also ruh dich aus und komm bloß nicht auf den Gedanken, dich innerhalb einer Stunde wieder blicken zu lassen. Bis Sonnenaufgang will ich dich hier nicht mehr sehen, es sei denn, es brennt irgendwo, klar?“

Mit diesen Worten schob er den anderen zur Tür hinaus und machte sie hinter ihm wieder zu.

Wenn er ein 'Bitte nicht stören'–Schild gehabt hätte, würde er es vor die Tür hängen.

Verdammt, eine Leuchtreklametafel hätte es auch getan.

Zwar hatte Amanda bisher wohl nicht die ganzen Besucher mitbekommen, die immer wieder ihre Köpfe herein gesteckt hatten, aber für ihn selbst war es lästig, ständig im Mittelpunkt zu stehen. Das war er einfach nicht gewohnt und auch wenn es nett von seinen Rudelnmitgliedern war, so bestand er doch nicht aus Zucker. Nataniel hielt einiges aus und die paar Kratzer würden auch bald wieder verheilt sein. Jetzt, wo sich offenbar sein Stoffwechsel um einiges beschläunigt zu haben schien und somit seine Wundheilung deutlich effizienter von statten ging.

Woran das lag, konnte er allerdings wirklich nicht sagen und seine Vermutungen waren alles andere als glaubwürdig.

Da er sich aber sicherlich nicht beschweren würde, trat er leise an Amandas Bett heran und nahm ihre Hand. Sie hatte immer noch etwas kühlere Finger als er, aber normalerweise war das noch deutlicher zu spüren. Wenigstens schien das Fieber zurückgegangen zu sein.

Als er seine Hand kurz prüfend auf ihre Stirn legte, kam er zum gleichen Urteil, wie bei ihren Fingern. Einerseits war das Fieber gut, da es die Bakterien abtöten würde, andererseits war es auch ein Zeichen für eine Entzündung im Körper gewesen. Vielleicht aber auch einfach nur eine durch Stressreaktion bedingte Temperaturschwankung. Und dass Amanda Stress gehabt hatte, stand außer Frage.

Seufzend zog sich Nataniel einen Stuhl so nahe ans Bett, dass er immer noch ihre Hand halten konnte.

Er mochte ihre weiche Haut sehr. Aber nichts im Vergleich zu ihrem verführerischen Duft.

In dem Bewusstsein, dass sie tief und fest schlief, hob Nataniel Amandas Hand an sein Gesicht und sog erst an dem Geruch von ihrem Handrücken, ehe er seine Nase gegen ihre Handfläche drückte und so tief Luft holte, dass ihm leicht schwindelig wurde.

Oh ja, auf gewisse körperliche Art duftete sie wirklich zum Reinbeißen gut.

Der Panther schnurrte in seinem Kopf, während er sich wieder an die Gitterstäbe schmiegte und leise gurrte.

Er wollte spielen.

Nataniel hätte das in einer anderen Ausgangssituation ebenfalls in Betracht gezogen, aber im Augenblick war er einfach nur froh, dass es ihr schon etwas besser ging und sie dem Tod von der Schippe gesprungen war.

Am liebsten würde er sie ausschimpfen, weil sie sich in den Kampf eingemischt hatte.

Klar hätte ihn der Gepard überrascht, aber um einen tödlichen Hieb auszuführen, hätte dieser ihm schon an die Gurgel springen und sofort zubeißen müssen. Allerdings war Nataniel in diesem Augenblick nicht in der dafür optimalen Position gewesen. So wäre er vermutlich mit ein paar blutigen Spuren an seinem Körper mehr davon gekommen. Aber selbst wenn es tödlich geendet hätte, Amanda sollte sich nicht noch einmal für Nataniel auf diese Weise einsetzen.

Er schuldete ihr bereits ein Leben und jetzt sogar zwei. Es gab einfach keine Gründe dafür, dass sie sich immer wieder für ihn gegen den Tod stellte und sich dabei selbst in Lebensgefahr brachte. Schon gar nicht, wenn er eigentlich sie beschützen müsste.

Aber auf dem Gebiet hatte er auch gründlich versagt, nicht wahr? Immerhin war er zu ihrer Rettung gekommen und ließ dabei zu, dass man sie verletzte. Noch einmal durfte das nicht passieren.

Da Amanda aber im Augenblick ohnehin ans Bett gefesselt war und sie hier im Lager vermutlich auch in Sicherheit sein dürften, legte Nataniel seinen Kopf neben ihrer Hand aufs Bett und schmiegte seine Wange hinein. Einerseits da sie so immer wieder mit seinem Geruch an das Rudel gebunden wurde und andererseits da er nur jetzt die Möglichkeit besaß, sie anzufassen, ohne dass sie gleich wieder eine Wahnsinnsangst vor ihm bekam.

Die Chance musste er nützen, solange er konnte. Danach würden sie sich vermutlich wieder gegenseitig angiften.

Aber irgendwie freute er sich auch darauf. Sie war eine würdige Gegnerin, die er gerne neckte, um von ihr geneckt zu werden, auch wenn es sich wohl eher wie verbale Arschtritte anhören musste. Er fand es auf jeden Fall amüsant.

Wenn er aber an das Frühstück im B&B dachte, sank seine Stimmung ins Bodenlose. Das würde sie nicht vergessen haben und er garantiert auch nicht.

Nataniel war klar, dass sie vor allem gegen seine unkontrollierte Wut solch eine Abneigung gezeigt hatte, weil er sie damit nicht nur in Gefahr gebracht, sondern auch in Angst und Schrecken versetzt hatte.

Aber trotz allem, es lag in seiner Natur und es würde immer einmal wieder vorkommen, auch wenn er nächstes Mal noch besser darauf achten würde, dann alleine zu sein.

Nataniel konnte die Wut und die Aggressionen dennoch genauso wenig abstellen, wie er seine neuen Gefühle als Alphatier ignorieren konnte. Er wollte kein Anführer sein und trotzdem hatte ihn das Schicksal genau in diese Rolle hinein getreten. Jetzt musste er selbst sehen, wie er damit klar kam und zwar möglichst ohne weitere Verletzte.

Schwermütig seufzend schloss Nataniel die Augen und versuchte einfach an gar nichts mehr zu denken, außer an die weiche kühle Hand an seiner deutlich wärmeren Wange.

Mit einem Gefühl, als würden Tonnen auf seinen Schultern lasten, setzte sich endlich die Müdigkeit gegen seine Sorgen um Amanda und das ganze Rudel durch, woraufhin er auf der Stelle in tiefen Schlaf versank.

 
 

***

 

Ein gequältes Murren entkam ihr, als sie sich wieder auf die falsche Seite umdrehen wollte. Es war so wie damals, als sie sich den Arm gebrochen hatte und sich die Nacht, in der sie nur auf dem Rücken schlafen konnte, angefühlt hatte, als hätte man sie am Bett festgezurrt. Gerade dann, wenn sie sich nicht bewegen sollte, hatte sie das größte Bedürfnis es zu tun. Aber es tat im ersten Moment höllisch weh und bewirkte keinerlei Erleichterung vom Bewegungsdrang. Allerdings war sie jetzt wieder wach.

Amanda schlug die Augen auf und sah an ihrer Seite hinunter, wo Nataniel mit dem Gesicht auf ihrer Hand lag. Er berührte sie zwar nur an dieser Stelle, aber Amanda hatte das Gefühl, dass seine Körpertemperatur den ganzen Raum hätte heizen können. Ihre Augen suchten den Bungalow nach Anderen ab, aber sogar Eric schien gegangen zu sein und sie war mit Nataniel allein.

So gut sie eben konnte und vor allem so leise wie möglich, um ihn nicht zu wecken, drehte sie sich ein wenig und rückte von ihm weg. Allerdings eher, um ihn beim Schlafen betrachten zu können, als aus dem Grund, nicht so nah bei ihm sein zu wollen.

Man sah ihm den Kampf, den er hinter sich hatte, kaum an. Vielleicht täuschte sein entspanntes Gesicht, aber er sah noch nicht einmal wirklich mitgenommen aus. Die Narbe über seinem Auge war inzwischen auch nicht mehr als ein hellrosa Streifen und die Kratzer auf seinen Armen waren ebenfalls schon am verheilen.

„Deine neue Rolle scheint dir gut zutun“, raunte sie mehr sich selbst als Nataniel zu, brachte dabei aber kein Lächeln zustande.

Amanda ärgerte sich ein wenig über sich selbst, dass der Gedanke, dass Nataniel die Nachfolge seines leiblichen Vaters angetreten hatte, sie bitter machte. Sie erinnerte sich noch zu gut an seine Wut über die Organisation, über Amanda selbst, weil sie zur Moonleague gehörte…

Amanda war sich nicht sicher, ob er dafür bereit war diese Rolle zu übernehmen. Er war impulsiv, leicht zu reizen und wahnsinnig von sich selbst eingenommen. Das konnte eine verdammt explosive Mischung sein, die nicht gerade dazu geeignet war Frieden zu stiften. Aber was ging sie das eigentlich an? Sie hatte sich in sein Vorhaben oder sein Leben nicht einzumischen.

Vorsichtig zog sie ihre Hand unter seiner Wange heraus, was ihn dazu brachte kurz scheinbar unzufrieden die Stirn zu runzeln. Aber die Erschöpfung war wohl zu tief, weswegen er weiter schlief, ohne die Augen geöffnet zu haben.

Amanda konnte ihren Blick nicht von Nataniel abwenden, während sie darüber nachdachte, dass sie sich tatsächlich einmischen musste. Zumindest wenn er mit seiner Meinung über die Moonleague unrecht hatte. Dann müsste sie diesem internen Krieg der Wandler ein Ende bereiten. Um sie alle zu registrieren und unter die Kontrolle der Organisation zu bringen.

Dieser Gedanke, der sich wie ein dunkler Schatten über ihr Gemüt legte, ließ sie nun doch wegsehen und ihre Augen Richtung Decke wenden.

Sie hatte die Hände über ihrem Bauch gefaltet und strich unwissentlich mit den Fingern über ihren immer noch warmen Handrücken.

Was sollte sie nur tun? Nataniel hatte ihr das Leben gerettet. Aber wenn sich alles aufklären sollte, dann würden sie an unterschiedlichen Fronten stehen. So, wie es gewesen war, als sie ihn in diesem Käfig gefunden hatte.

Die Vorstellung widerstrebte ihr zutiefst, aber es war nicht besser, wenn sich die Organisation als Lügengebilde herausstellen sollte. Dann stand sie vor einem Trümmerhaufen, hatte nichts und niemanden und war noch dazu selbst auf der Flucht.

Denn falls Nataniel Recht haben sollte, würde das bedeuten, dass Amanda nie wieder zur Organisation zurückkehren würde. Ganz im Gegenteil, sie würde sich sofort zu deren Feind erklären. Und dann wäre sie noch mehr eine Gejagte als Nataniel und sein Rudel, denn anders als er, war sie registriert.

Am liebsten hätte sie Nataniel in diesem Moment aufgeweckt, um mit ihm darüber zu reden.

Wieder sah sie ihn an, wie er völlig ruhig auf ihrem Bett lag. Er sah wirklich so aus, als könnte er kein Wässerchen trüben. Vielleicht stieg ihr die Verletzung zu Kopf, weil sie doch Fieber hatte, aber Amanda fand es in diesem Augenblick schade, dass sie zu zwei verschiedenen Arten gehörten.

Zurückhaltend streckte sie ihre Hand aus, auf der zuvor seine Wange gelegen hatte. Sie konnte sogar noch einen Zentimeter von seinem Gesicht entfernt spüren, wie viel Wärme er ausstrahlte. Millimeter über seiner Haut schwebte ihre Hand von seiner Augenbraue zu seinem Mundwinkel hinunter.

Amanda wagte kaum zu atmen, um ihn nicht aufzuwecken. Schließlich lächelte sie ihn an und zog ihre Hand unter das Leintuch und die Decke und schloss wieder die Augen, ohne tatsächlich einzuschlafen. Sie würde sich nur weiter ausruhen, bis er aufwachte. Vielleicht hatte er ein wenig Zeit zum Reden, bevor die Pflicht ihn wieder rief.

 

Im Schlaf bemerkte er, wie sich die samtene Weichheit seiner Wange entzog, was er nur unwillig hin nahm. Aber er war so müde, er hätte auch auf einem Nagelbrett schlafen können, ohne sich zu beschweren. Es war ohnehin ein tiefer traumloser Schlaf. Tiefer als gewöhnlich, aber dafür umso erholsamer.

Dennoch entging ihm dieses sanfte Prickeln auf seiner Haut nicht, als sich etwas über seinem Gesicht bewegte. Woher er das wusste oder spüren konnte, war ihm schleierhaft. Er wusste nur, dass er das Gefühl mochte und sich wie immer nach mehr sehnte. Aber er durfte es nicht haben. Es wurde ihm wieder entzogen. Eine weitere Enttäuschung und doch so viel mehr, als er eigentlich erhoffte.

Der Panther schnurrte selig im Schlaf und auch er streckte sich etwas aus. Vergrub sogar sein Gesicht tiefer in das weiße Laken, um noch intensiver den herrlichen Duft wahrzunehmen, der ihm immer wieder die verlockendsten Tagträume bescherte, wenn er nicht aufpasste.

Samtene Haut, seidiges Haar, Augen so goldbraun wie köstliches Karamell und ein Körper der sein Männerherz höher schlagen ließ ... in den ein Gepard seine Zähne versenkte.

Nataniel fuhr mit weit aufgerissenen Augen hoch und wäre mit dem Stuhl beinahe hinten über gekippt, als sich die Vorderbeine bereits bedrohlich in der Luft befanden.

Doch er bekam noch einmal sein Gleichgewicht wieder, was die Stuhlbeine lautstark zurück auf den Boden krachen ließ.

Wenn das Amanda nicht geweckt hatte, musste sie wirklich tot sein.

Völlig erschrocken hielt er sich seine Hand aufs Herz, ehe er sich mit der anderen in einer Geste der Frustration, Sorge und Hoffnungslosigkeit über das Gesicht fuhr. Da war wieder die tonnenschwere Last und drückte ihn nieder, kaum, dass er die Augen geöffnet hatte.

 

Amanda fuhr bei dem Krach erschrocken zusammen und keuchte, als ihr der Schmerz ihrer Wunde in die Seite stach. Mit etwas wässrigen Augen sah sie zu Nataniel, der sich mit der Hand übers Gesicht fuhr.

„Nicht nötig Tote aufzuwecken. Ich bin nur verletzt.“

So wie er aussah, hatte er sich fast mehr erschrocken als sie selbst. Wahrscheinlich hatte ihr, was auch immer gerade passiert war, direkt aus dem Tiefschlaf geholt. Zumindest sah er so aus, als wäre er ein bisschen neben der Spur.

Das erste Mal versuchte Amanda sich zum Kopfende des Bettes hochzuziehen und sich ein wenig aufzusetzen. Wieder keine gute Idee, was ihre Seite anging, aber sie wollte einfach nicht mehr liegen. Schon gar nicht vor Nataniels Augen. Ihm gegenüber kam sie sich sowieso schwach vor, da musste sie den Eindruck nicht noch unterstützen.

Seine blauen Augen blinkten zu ihr herüber und er versuchte ihr dabei zu helfen, sich aufzusetzen. Allerdings waren sie dabei beide etwas ungeschickt. Amanda wurde erst jetzt, da er sie berührte, richtig bewusst, dass sie nur dieses dünne Leintuch und die Decke darüber am Leibe trug. Natürlich interessierte Nataniel das nicht. So wie er mit Nacktheit umging, würde er es nicht einmal bemerken, wenn sie ohne das Leinen vor ihm läge. Trotzdem war es ihr unangenehm und sie ließ sich zwar helfen, hielt dabei aber einigermaßen verkrampft die Decke an ihre Brust gepresst.

Als sie endlich saß, ohne den Biss in ihrem Bauch zu belasten, sah sie ihm in die Augen.

Es kam ihr so vor, als hätte sie das schon lange nicht mehr getan. Dabei war es erst… Sie hatte ehrlich keine Ahnung, wie lange es her war. Amanda konnte nicht einmal sagen, ob sie nur eine oder mehrere Nächte hier in diesem Bett verbracht hatte.

„Du bist Anführer, hab ich gehört.“

Was für ein plumper Anfang für ein Gespräch, aber ihr fiel beim besten Willen nichts Besseres ein. „Glückwunsch.

 

Als Amanda ihn ansprach, blieb ihm einen Moment sogar das Herz stehen, ehe es schnell weiter raste, da ihm noch immer der Schreck in den Knochen saß. Allerdings war er auch verdammt froh, dass sie wieder aufgewacht war und noch dazu Witze reißen konnte. Auch wenn das wohl eher unter schwarzen Humor fiel. Er fand es auf jeden Fall kein Bisschen komisch. Erst recht nicht, als sie versuchte sich aufzusetzen.

Da er nicht einfach zusehen konnte, wie sie sich abmühte, weil er dann vermutlich noch überheblicher auf sie wirken würde, half Nataniel Amanda, sich vorsichtig aufzusetzen. Er tat es nicht, wegen seinem Image, sondern weil er nicht wollte, dass sie unnötig Schmerzen erlitt. Aber das musste sie ja nicht unbedingt wissen.

Wieso sonst klammerte sie sich an ihr Laken, als könne er sie jeden Moment auffressen?

Als würde er ihre Schwäche ausnützen!

Aber anstatt eines bissigen Kommentars darüber, dass er im Moment andere Sorgen hatte, verkniff er sich jedes einzelne Wort und setzte sich wieder. Dabei achtete er sogar darauf, so unscheinbar wie möglich auf dem Stuhl zu sitzen, was nicht wirklich möglich war. Das Möbelstück wirkte unter ihm regelrecht filigran.

„Danke“, antwortete Nataniel schließlich auf ihre Glückwünsche und versuchte dabei keinen Tonfall zu treffen, der ganz ehrlich zeigte, wie wenig glücklich er über diesen Umstand war.

„Möchtest du etwas essen? Die Suppe ist bestimmt schon kalt geworden, aber ich kann dir etwas Warmes bringen“, fragte er ruhig, um sein inneres Zittern zu verbergen.

Sie wieder wach zu sehen, erleichterte ihn mehr, als vermutet und nahm ihm im Augenblick sogar den Rest der Sorgen. Natürlich hatte er Verpflichtungen, aber momentan brauchte ihn niemand und sollte sich das ändern, würde man ihm Bescheid geben. Er war sicher der Erste, der es erfuhr und etwas unternehmen musste.

Fast wäre ihm erneut ein schwerer Seufzer entkommen, doch er riss sich zusammen. Weshalb er sich auch dazu zwang, Amanda anzusehen.

„Ich habe gehört, du hast mit deinem Bruder geredet? Möchtest du ihn sprechen? Ihr habt euch sicher viel zu erzählen.“

Er war ja nicht so sehr wichtig. Eben nichts weiter als ein wildes Tier. Amanda gehörte zu dem Menschen, der ihr etwas bedeutete – zu Eric.

Wie gut, dass sich die Geschwister wieder hatten. Das musste Amanda sicher sehr freuen. Immerhin war Eric doch der Grund gewesen, weshalb sie überhaupt hierher gefahren war.

Sofort legte sich eine bleierne Schwere in seinen Magen und ein Gefühl, als würde man ihm Eiswasser in den Nacken gießen, überkam ihn.

Wenn Amanda ihren Bruder wieder hatte, würden die beiden doch sicher wieder gehen, oder nicht? Immerhin war Eric nun in Sicherheit und vor allem wohlbehalten. Mehr wollte Amanda doch gar nicht, oder? Es sei denn … nein, sie hatte gesagt, sie war nicht wegen der Registrierung hier. Zumindest nicht wegen seiner, aber was war mit dem Rest seines Rudels?

Sofort schlug das Alphatier in ihm zu und ein Knurren wollte ihm entkommen, doch zugleich fühlte es sich verdammt falsch an, Amanda anzuknurren. Das war nicht das, was er wollte. Ganz im Gegenteil.

Der Gedanke, sie würde wieder weggehen, behagte ihm gar nicht. Er wollte sie nicht gehenlassen. Sie gehörte zu ihm! Wie Eric war sie nun Teil dieses Rudels. Sein Duft hing unverkennbar an ihr. Jeder andere Gestaltwandler außerhalb seines Clans würde das wissen, genauso wie die Tatsache, dass man verdammt großen Ärger bekam, sollte man ihr oder ihrem Bruder etwas antun. Sie waren alle eine große bunte Familie. Und die wurde beschützt!

 

Sein 'Danke' passte hervorragend zu ihren Glückwünschen, denn es bedeutete rein gar nichts. Diesen Teil der Unterhaltung hätten sie sich schon mal sparen können.

Als er allerdings die Suppe erwähnte, die Amanda überhaupt nicht neben ihrem Bett hatte stehen sehen, überlegte sie kurz.

Ein kleines Hungergefühl hatte sie schon, aber sie wollte nicht, dass er sie allein ließ. Aus irgendeinem Grund, der vielleicht in seinem Blick oder auch in seinen nächsten Worten lag, hatte Amanda Angst, er würde nicht wiederkommen, sobald er den Raum verlassen hatte. Deshalb winkte sie auch ab und antwortete leichthin auf seine Frage nach Eric.

Geh nicht weg!, schrie sie ihn irgendwo unhörbar in ihrem Hirn an, was sich äußerlich nur dadurch zeigte, dass sie ihn unentwegt ansah.

„Nein, ist schon gut. Wir haben ein wenig geredet. Er muss sich auch ausruhen.“

Es sah so aus, als hätte ihr Nataniel gar nicht zugehört. Seine Miene war verschlossen und frustriert, wechselte zu verwirrt und schließlich wurde er wütend. Was hatte sie denn jetzt schon wieder getan, um ihn aggressiv zu stimmen?

Amanda hatte es schon bei manchen Menschen geschafft, sie durch ihre bloße Anwesenheit auf die Palme zu bringen. Aber dann war das ihre Entscheidung gewesen. Bei Nataniel hatte sie keine Ahnung, was ihn aufregte. Sie hatten über nichts gesprochen. War es der bloße Gedanke, wen sie verkörperte, der ihn wütend machte?

„Darf ich dich um einen Gefallen bitten?“

Sein Gesichtsausdruck war offen und fragend. Ganz anders, als seine versteinerte Miene, die er eben noch aufgehabt hatte, während er tief in Gedanken versunken gewesen war.

„Ich weiß, dass es dir wahrscheinlich nicht recht ist. Aber so schnell kann ich hier nicht weg.“

Sie sah ihm weiter in die blauen Augen, während sie unwillkürlich in sich hineinfühlte, ob sie vielleicht sagen konnte, wann sie Nataniels Wunsch nachgeben und verschwinden konnte.

„Bald sollte ich Nachrichten bezüglich meiner Nachforschungen bekommen … Egal wie die Antwort ausfällt, ich hab dir versprochen, dass ich dich nicht verrate. Ich werde kein Kommando anfordern, um euch alle zu registrieren.“

Weiter sah sie ihm stur in die Augen, die ihren Blick festhielten.

„Aber ich kann nichts tun, damit sie euch nicht irgendwann doch finden. Zumindest nicht, wenn du Unrecht hast.“

Nun sah sie doch auf ihre Hand, die immer noch verkrampft die Decke festhielt. Aber für die Frage brauchte sie sich weder zu schämen, noch sich unterlegen zu fühlen. Das tat sie ohnehin. Also sah sie wieder hoch und versuchte nicht zu flehentlich zu klingen.

„Können Eric und ich unbehelligt hierbleiben, bis ich so fit bin, dass ich es zurück schaffe? Ich verspreche dir, dass du mich danach nie wieder sehen wirst.“

Warum versetzte es ihr einen Stich, das zu sagen? Es war doch die Wahrheit. Wenn er sie wegschickte, gab es keinen Grund wiederzukommen. Und er betrachtete sie als Feind. Nichts Anderes würde sie je sein.

 

Die völlig unerwartete Tatsache, dass Amanda ihn um einen Gefallen bitten wollte, riss ihn effizient wieder ins Hier und Jetzt zurück, wo sie ihn immer noch ansah, als könne sie ihn mit Blicken an sich fest pinnen. Zumindest war es fast unmöglich, wegzuschauen.

Schweigend hörte er ihr zu, versuchte ihre nur dürftigen Gesichtszüge und Regungen zu interpretieren, während er selbst von Gefühlen hin und her gerissen wurde. Zuerst war da einmal Verblüffung, weil sie ihn um einen Gefallen bat.

So wie er sie kannte, musste ihr das schwer fallen, andererseits war es anhand der Tatsache, dass sie nur wegen ihm hier war, völlig blödsinnig, ihn um etwas zu bitten. Er würde für sie alles tun, was nötig war, um seine Schuld bei ihr zu begleichen und noch einiges darüber hinaus. Immerhin schuldete er ihr sein Leben.

Dann kam auch schon der nächste Schlenker in seine Magengrube. Glaubte sie wirklich, ihm wäre es nicht recht, dass sie hier blieb, bis sie von selbst gehen wollte? Für was für ein herzloses Arschloch hielt sie ihn eigentlich? War er echt so? Oder hatte nur sie den Eindruck gewonnen?

Gut, er war nicht gerade ein Gentleman und ihr gegenüber hatte er auch schon ganz andere Seiten gezeigt, aber ein gefühlskalter Bastard war er auch nicht. Trotzdem war es mehr die Tatsache, dass sie es wohl bedauerte, nicht so schnell von hier weg zu können, die ihn eiskalt erwischte. Also hatte er recht gehabt. Sie würde so schnell wie möglich von hier verschwinden.

Wenigstens würde er sie nicht aufhalten müssen, weil sie die Sache mit der Registrierung einfach beiseite schob. Nataniel bezweifelte, dass sie etwas tun könnte, selbst wenn sich herausstellte, dass all das, was er von der Moonleague gehört hatte, sich als falsch herausstellte. Man würde sie immer jagen. Deshalb war er hier.

Seine schwere Pflicht würde es sein, von nun an Anstelle seines Vaters den Clan vor der Registrierung und anderen Feinden wie diesen Nicolai zu beschützen. Er würde dafür sorgen müssen, dass die Jungen in Frieden aufwachsen konnten und es nicht noch mehr blutige Opfer gab. Vielleicht würden sie eines Tages auch einen sicheren Ort finden, wo sie in Ruhe gelassen wurden. So wie seine Pflegefamilie.

Da er ohnehin schon wusste, dass Amanda nur hier blieb, da sie durch ihre Verletzungen ans Bett gefesselt war, konnten ihre letzten Worte ihn kaum noch treffen. Er würde sie gehen lassen … ja, das würde er. Aber der Gedanke alleine war so schwer, wie ein Sack voll Steine. Noch dazu, weil sie auch noch versprach, ihn nie wieder zu sehen.

Sein Gesicht war seltsam ausdruckslos und seine Augen ruhten auf einem Punkt am Boden. Weshalb sie die Gefühle darin nicht lesen konnte.

Seine Augen waren stets das einzige Zeichen an ihm, das seine Emotionen nicht verbergen konnte. Sie mochten so kalt wie Eiskristalle sein, aber diesen Eindruck erweckten sie nur selten.

„Eric hat bereits zu diesem Rudel gehört, als mein Vater es noch anführte“, begann er langsam und jedes Wort wohl überlegt.

„Und seit ich das neue Alphatier bin, wird niemand auch je anzweifeln, dass du nicht ebenfalls zum Rudel gehörst. Du kannst also solange bleiben, wie du möchtest. Der Clan wird euch beide beschützen.“

Der Panther in seinem Kopf brüllte lautstark, als wolle er bekunden, dass es ihm lieber wäre, wenn er alleine als ihr Beschützer fungierte. Aber diesen nachlässigen Schutz konnte er nicht riskieren. Er hatte schon einmal versagt. Er würde wieder versagen.

Nataniel stand auf, sah sie aber immer noch nicht an. Seine Gefühle tobten hinter seinen Augen.

Amanda hatte ja keine Ahnung, wie schwach sie ihn machte. Auf eine Art, die er noch nicht kannte. Da er ohnehin schon so oft in ihrer Nähe Schwäche gezeigt hatte und jetzt auch noch als Anführer stark sein musste, brauchte er einen Moment, um sich wieder zu fangen. Alleine.

„Du musst etwas essen. Ich werde dir etwas Wärmendes bringen.“

Bei der Tür zögerte er noch einen Moment und wagte einen kurzen Blick über seine Schulter zu ihr zurück.

„Du liegst übrigens falsch. Egal wie lange du bleiben willst, es ist mir recht.“

Danach öffnete er die Tür und glitt in die Nacht hinaus, um Essen und frische Kleider für sie zu besorgen.

19. Kapitel

Die nächsten beiden Tage und Nächte verliefen wie im Zeitraffer, da Amanda meistens schlief, aß oder sich mit Eric unterhielt. Ihr Bruder teilte ihr zwar mit, dass Nataniel sie besucht habe, aber davon hatte Amanda nicht wirklich etwas mitbekommen. Entweder hatte Nataniel immer einen Zeitpunkt abgepasst, an dem sie schlief, oder hatte diesbezüglich schlechtes Timing bewiesen.

Am vierten Abend nach ihrer Verletzung saß sie auf dem Rand ihres Bettes und zog sich die Klamotten an, die Nataniel ihr besorgt hatte. Sie rochen nach Gras und warmem Fell, was Amanda allerdings behagte. Es roch in einem gewissen Sinne gemütlich.

Mit dem Verband fühlte sie sich etwas blechern in ihren Bewegungen, vor allem, nachdem die Luchsfrau sie erst gestern neu verbunden hatte. Aber sie spürte die Verletzung nur noch als leichtes Zwicken, wenn sie sich falsch bewegte oder überanstrengte. Nichts worüber man sich Sorgen machen musste. Die Nachricht, die sie in der Nacht von Clea erhalten hatte, war da etwas ganz anderes.

Sobald sie daran dachte, was ungefähr jede Sekunde war, die sie krampfhaft versuchte, nicht daran zu denken, wurde ihr übel und sie hätte am liebsten laut gebrüllt. Aber das würde auch nichts nützen.

„Hey. Na? Bereit?“

Eric holte sie im Bungalow ab und Amanda nickte kurz, während sie versuchte ein einigermaßen überzeugendes Lächeln aufzusetzen.

„Klar bin schon ganz aufgeregt. Immerhin laufe ich.“

Eric schüttelte bloß grinsend den Kopf und bot ihr den Arm an, als sie die kleine Hütte verließen, um im Abendlicht auf den Versammlungsplatz zu gehen.

Es brannte bereits ein recht großes Feuer, obwohl es noch nicht wirklich dunkel war. Bald würden sich alle zum Abendessen versammeln, das bereits teilweise gebraten wurde und herrlich duftete. So unauffällig wie möglich hielt Amanda nach Nataniel Ausschau, hätte ihn allerdings lieber nicht entdeckt, als sie die Szene vor sich sah.

Anscheinend kam er gerade von irgendwo zurück oder hielt sich hier gern in seinem Tierkörper auf. Jedenfalls ging er gerade auf die Feuerstelle zu, wo er bereits von einer Löwin erwartet wurde, die sich an ihn schmiegte und ihm übers Gesicht leckte.

In Amandas Magen schien sich ein kleiner Ball düsterer Gefühle zusammenzuziehen, als sie sah, dass Nataniel sich die Behandlung nicht nur gefallen ließ, sondern sich auch noch hinlegte. Die Löwin ließ sich nicht lange bitten und kuschelte sich zu ihm, was Amanda einen neuerlichen Stich nicht nur in die Magengegend versetzte. War er deshalb in den letzten paar Tagen so selten aufgetaucht?

Der kleine dunkle Ball in ihrem Magen ging in Rauch auf, als Wut in ihr hochbrannte. Dabei konnte Amanda noch nicht einmal sagen, auf wen genau sie wütend war. Auf Nataniel, weil er sich so verhielt oder mehr auf sich selbst, weil es ihr offensichtlich etwas ausmachte? Ach, es war ihr doch scheißegal, er konnte tun, was er wollte.

Aber wenn das so war, warum setzte sie sich dann mit finsterer Miene neben Eric so weit weg von Nataniel und dieser Löwin wie möglich? Amanda machte sich vor, dass so nicht die Gefahr bestand, dass jemand hörte, was sie ihrem Bruder zu sagen hatte.

 

Nataniel war völlig geschafft.

Nicht nur, dass er kaum Schlaf fand, weil er jede freie Minute, die er aufbringen konnte, Amanda besuchte, auch wenn diese für gewöhnlich zu dieser Zeit schon schlief, ihn nahmen auch ganz schön seine Pflichten als Anführer mit, die er erst nach und nach in vollem Ausmaße begriff.

Weniger denn je, wollte er das hier alles, aber umso mehr er sich um die anderen kümmerte, umso deutlicher wurde ihm klar, dass man ihn brauchte.

Kein Wunder, dass die meisten anwesenden Gestaltwandler meistens in ihrer Tiergestalt herumliefen, anstatt als Menschen. Sie hatten zu große Angst, als dass sie ihre geschärften Sinne so einfach aufgeben wollten. Andere fühlten sich so einfach sicherer.

Nataniel verstand sie wirklich, aber er war inzwischen ganz froh, einmal den Pelz los zu werden. Andererseits war es leichter, ständig die Clanbande aufzufrischen, wenn es in Tiergestalt geschah. Sonst müsste er als Mensch immer wieder Leute umarmen, Schultern klopfen, Wangen küssen, Kinderköpfe streicheln, bis er weder ein noch aus wusste.

Inzwischen war er es ziemlich überdrüssig, nie Zeit für sich zu haben, um alleine herumzustreifen. Das Gefühl der Verbundenheit war so stark, dass es ihn manchmal regelrecht erdrückte und doch war er irgendwie abhängig davon. Als würde ihm etwas fehlen, wenn er nicht mehr dazugehören würde.

Dennoch hoffte er, dass der junge Nachwuchs schnell groß und stark werden möge. Einige unter ihnen hatten schon jetzt Führungspotential, und wenn sie eines Tages so weit waren, würden sie ihre eigene Art anführen. Sodass sich Nataniel nicht mehr um jede einzelne Raubkatze würde kümmern müssen, die bei ihm Schutz suchte. Die Jaguare würden ihm schon reichen. Immerhin waren das in seinem Rudel bereits zwölf Stück.

Gerade, als er zum Lagerfeuer zurückkam, hatte er die halbwüchsigen Jungen der Löwin Susan in ihre Schranken weisen müssen.

Da sie sich weigerten sich in Menschen zu verwandeln, hatte er auch nicht anders gekonnt, als ihnen als Raubtier gegenüberzutreten. Der Streit war schnell geschlichtet, aber für die Witwe waren ihre zwei Kinder im Augenblick eine ziemliche Belastung. Zumindest, wenn sie sich so aufführten.

Die Frau tat Nataniel leid. Ihr Mann war bei der Flucht für sie ums Leben gekommen. Sie hatte den Schock noch kaum überwunden. Also versuchte er sie zu trösten, so gut es ging.

Damit man ihr die Trauer nicht zu sehr ansah, blieb sie freiwillig schon seit Tagen in ihrer Tiergestalt. Was Nataniel wiederum nicht wundern ließ, warum sich ihre Kinder so aufführten. Es wurde wirklich einmal Zeit, gewisse Regeln aufzustellen. So konnte das nicht weiter gehen.

Einen Moment legte er sich hin, sah müde in die Flammen des Lagerfeuers und ließ es zu, dass sich Susan neben ihn hinlegte. So konnte er ihr gleich auf katzenhafte Weise mitteilen, dass ihre Jungs jetzt im Bett lagen und für heute ruhe geben würden. Was die Löwenmutter sichtlich beruhigte.

Noch einmal gab er ihr einen sanften Stoß mit dem Kopf zur Aufmunterung, ehe er wieder aufstand und auf müden Pfoten zu seinem Schlafplatz schlich, um sich umzuziehen. Für heute reichte ihm der Pelz und es wurde Zeit den Panther wieder in seinen Kopf zu sperren.

Als er wieder einen Versuch startete, sich in Ruhe ans Lagerfeuer zu begeben, wurde er natürlich erneut aufgehalten. Eigentlich hätte er damit rechnen müssen und auch mit der Tatsache, dass er bald an die Decke gehen würde, wenn er nicht endlich seine Ruhe hatte. Seltsamerweise blieb er aber völlig ruhig. Auch in seinem Inneren. Als hätte er sich entweder damit abgefunden, oder als wäre seine Geduld mit seinen Leuten unerschöpflich.

Eine junge Jaguarfrau mit goldbraunen Haaren und honiggelben Augen trat an ihn heran, noch ehe er den Schein des Feuers erreichen konnte. Allein ihr Geruch teilte ihm nur zu deutlich mit, dass sie mehr als nur ein höfliches Interesse für ihn hegte. Nicht nur, weil er das Alphamännchen, sondern auch der einzige Singlejaguarmann in der Nähe war. Weshalb sie wie die Motte zum Licht kam und immer wieder praktisch an seinem Hintern klebte.

Da sie wie alle anderen des Rudels Körperprivilegien hatte, durfte sie immer mal wieder auf völlig keusche Weise seinen Arm berühren, oder seine Hand nehmen. Mehr jedoch nicht und mehr wagte sie auch nicht, denn inzwischen hatte er ihr deutlich klar gemacht, dass sie eindeutig zu jung für ihn war. Dennoch ließ sie sich davon nicht beirren. Solange sie diese Privilegien hatte, würde sie diese auch ausnutzen.

Nataniel konnte erst dann etwas gegen dieses Familienbedürfnis unternehmen, wenn er eine Gefährtin hatte und der das nicht recht war. Nicht eher.

„Niela würdest du mich bitte entschuldigen? Ich habe noch etwas Wichtiges zu besprechen“, vertröstete er sie mit einem sanften Lächeln, während er ihr in unschuldiger Geste übers Haar strich, woraufhin sie förmlich schnurrte. Dann aber mit einer leichten Schmollschnute abzog. Was das anging, durfte sie nicht widersprechen. Sein Wort war Gesetz, auch wenn er diesen Status noch nicht ausgenutzt hatte.

Mit lauter unausgesprochenen Seufzern setzte er sich schließlich zu Amanda und Eric, um mit ihnen zusammen etwas zu essen.

„Wie ich sehe, geht es dir besser. Hast du noch Schmerzen?“, wollte Nataniel von Amanda wissen, während er sich ein Stück gebratenes Fleisch nahm. Sein Magen knurrte wie ein Bär, da er seit dem Frühstück nichts mehr zu essen bekommen hatte.

„Übrigens wollte ich euch beiden mitteilen, dass ich morgen mit einem Trupp in die Stadt gehe, um einige Sachen zu besorgen. Außerdem will ich mich unauffällig umhören, ob während unserer Abwesenheit etwas passiert ist. Das Problem mit Nicolai ist leider nicht aus der Welt. Ich werde mich früher oder später darum kümmern müssen.“

Aber das alles würde die beiden wohl nicht mehr betreffen. Wenn Amanda schon gehen konnte, dann würde ihre Abreise sicher nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Warum wurmte ihn das nur so sehr?

 

“Mir geht’s hervorragend.”

Ja, wirklich ganz toll. Was für eine bescheuerte Frage!

Sie konnte kaum mehr als ein paar Schritte aufrecht gehen, hatte die wohl schlimmsten Nachrichten seit dem Tod ihrer Eltern bekommen und jetzt durfte sie sich auch noch ansehen, wie Nataniels neuer Harem hier um ihn herumschwänzelte!

Warum hatte er das blonde Mädchen – denn mehr war sie wirklich noch nicht – nicht gleich hier neben dem Feuer vernascht, wo es alle sehen konnten? Am besten gleich mit der Löwin zusammen. Immerhin war er der Anführer, es war doch seine Pflicht seine Gene unter die hübschesten, besten Frauen zu verteilen, oder etwa nicht?

Es wunderte Amanda sowieso, dass er sich angezogen hatte, um hier bei ihnen zu sitzen. Jetzt auf einmal brauchte er wirklich kein Schamgefühl an den Tag zu legen. Immerhin hatte Nataniel sich, als sie allein waren, nie Gedanken darum gemacht, ob es Amanda vielleicht unangenehm war, ihn nackt zu sehen.

Sie konnte sich nicht vorstellen, warum es sie wütend machte, dass er hier saß, in seinen Jeans, von denen sie wusste, dass darunter kein Stoff mehr verborgen war und sein Ego vor ihnen ausbreitete.

Nataniel sah also, dass es ihr besser ging? Warum fragte er dann? Bloß, um herauszufinden, wann sie endlich verschwand? Am liebsten hätte er sie Morgen bestimmt in der Stadt abgesetzt. Dann konnte er wieder zu seinen Weibchen zurück, die bestimmt willig vor seinem Unterschlupf Schlange standen. Sie konnte es sich bildlich vorstellen.

Amanda starrte ins Feuer, während Eric sich zu dem Plan in die Stadt zu gehen äußerte. Das wäre wohl noch etwas zu viel für Amanda. Die Nähte könnten bei zu großer Anstrengung aufplatzen oder es könnte doch noch eine Entzündung ausbrechen. Und dass sie sich nicht schonen würde, wäre ja wohl klar.

Ein einziger Satz genügte und Nataniel war sich sicher, dass wieder alles wie vorher war. Amanda war sauer auf ihn, doch wenigstens schien sie keine Angst zu haben. Dafür alleine war er dankbar, wenn er auch wortlos ihren Sarkasmus schluckte. Zumindest hieß das doch, dass es ihr trotz ihrer gegenteiligen Worte wirklich besser ging.

Wenn er morgen in die Stadt ging, würde er ihr Schmerzmittel und Antibiotika besorgen. Danach ging es ihr sicher besser und er müsste sich nicht weiter Sorgen machen, dass sie doch noch eine Entzündung bekam, so wie Eric ihm seine Bedenken mitteilte.

Als wenn Nataniel die beiden mitnehmen würde. Das war viel zu gefährlich, wo sie noch nicht einmal wussten, was nun genau los war und welche Dinge Nicolais Rudel wieder ausheckte. Es war äußerste Vorsicht geboten.

Ihre Fantasie spielte mit Amanda gerade Verstecken. Sie versuchte angestrengt das Bild, das sich immer wieder vor ihr inneres Auge schob, zu verbannen, verbrennen oder auf jeden Fall irgendwie zu vernichten, bevor irgendjemand bemerkte, was sie dachte. Aber immer wieder, wenn sie gerade glaubte, dass es verschwunden war, tauchte es auf. Das Bild von leicht verschwitzter Haut, die im Feuerschein leicht glitzerte, Muskeln, die sich anspannten und dunkle Haare über eisblauen Augen.

Ihr Atem zitterte leicht, als sie tief Luft holte, um sich auf etwas Anderes zu konzentrieren. Als hätte sie nicht schon genug Sorgen, ohne sich Nataniel beim … ohne sich ihn vorzustellen. Noch dazu, wenn er direkt neben ihr saß.

Das, was ihr einfiel, lenkte sie allerdings mehr als schnell und nachhaltig ab. Ihre Stimme war so düster, wie es auch die Nachrichten waren, die sie zu übermitteln hatte.

„Ich habe heute mit meinem Kontakt in der Moonleague telefoniert.“

Mitten in einem belanglosen Satz, den er sofort vergaß, ließ Amanda eine Bombe platzen.

Sofort war Nataniel klar, was für ein Thema nun aufkommen würde, weshalb ihm schon allein beim Gedanken daran das Blut in den Adern zu gefrieren schien. Er hatte die Sache zwar nicht vergessen, aber in den Hintergrund geschoben, während man ihn so forderte. Jetzt war seine ganz persönliche Familientragödie wieder vollauf präsent, egal, was Amanda gleich sagen würde. Obwohl ihre Stimme nichts Gutes verhieß.

Sofort verstummten die beiden Männer. Man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass es ihr nicht leicht fiel, weiter zu sprechen.

„Clea, eine Freundin von mir, hat nach Beweisen für deine Theorie gesucht.“

Noch immer sah sie Nataniel nicht an. Er wusste auch so, dass sie ihn meinte. Ihre Augen blieben auch zum Selbstschutz auf die Flammen gerichtet.

„Es hat länger gedauert. Die Informationen waren durch mehrere Sicherheitssperren und andere Dinge geschützt, von denen ich keine Ahnung habe.“

Amandas bitteres Lachen erschreckte sie selbst ein wenig, weswegen sie einfach weitersprach, ohne auf eine Reaktion zu warten. Wahrscheinlich erzählte sie das hier sowieso hauptsächlich sich selbst, damit sie es tatsächlich glauben konnte.

„Kein Wunder. Hätte ich das getan, hätte ich auch dafür gesorgt, dass niemand an die Informationen rankommt. Ich verstehe gar nicht, wie sie so dumm sein konnten, nicht alles sofort zu vernichten.“

Nun wurde ihre Stimme leiser und brach von Zeit zu Zeit, ohne dass es Amanda verhindern konnte.

„Du hattest Recht. Mit allem. Es gab diese Tötungsaktion, bei der Wandlerkinder mit dem Potential zum Rudelführer aus dem Weg geräumt wurden. Sie haben es Herodes-Aktion genannt.“

„Mein Gott.“

Eric sah zwischen Amanda, die sich vorgelehnt hatte und Nataniel hin und her. Ein wenig machte er sich Sorgen, der neue Rudelführer könnte auf diese Nachrichten aggressiv reagieren. Eric hätte es sogar verstanden, wenn Nataniel sie angegriffen oder zumindest augenblicklich aus dem Lager geworfen hätte. Er selbst wagte es kaum die Augen zu heben und sich die Gestaltwandler, die sich überall ums Feuer herum zusammengefunden hatten, anzusehen. Sie mussten ihn und Amanda hassen, Eric konnte sich gar keine andere Reaktion vorstellen.

Amanda schien es da nicht anders zu gehen. Sie drehte sich zu Nataniel um und sah dem Gestaltwandler in die Augen, während sie sprach. Ihr Gesicht schien bis auf Trauer und Scham völlig leer, aber ihre matten braunen Augen baten nicht um Vergebung. Die würde sie nie verlangen, weil sie wusste, dass die Organisation es gar nicht verdient hatte.

„Ich weiß nicht, was du jetzt tun willst.“

Amanda erinnerte sich an das, was in seinem Zimmer passiert war, sah das aufflammende Licht beinahe vor sich und spürte seinen Körper, mit dem er sie an die Wand gedrückt hatte. Damals hatte er ihr nichts getan, weil er nicht sicher gewesen war. Jetzt hatte sie ihm bestätigt, dass diese Grausamkeiten alle der Wahrheit entsprachen.

„Aber ich hab dir damals gesagt, dass du mich töten sollst, wenn du das Bedürfnis hast.“

Im Augenwinkel konnte Amanda Erics panische Gesichtszüge sehen und wie er sich hin und her gerissen fühlte, zwischen dem Bedürfnis von Nataniel wegzukommen und Amanda nicht mit ihm allein zu lassen.

„Bitte, Nataniel. Du weißt, dass Eric schon hier war, bevor du überhaupt davon wusstest. Er hat schon deinem Vater geholfen. Wenn du jemanden bestrafen willst, dann nicht ihn.“

Mühsam rappelte sich Amanda auf die Füße und biss die Zähne zusammen, um so gerade wie möglich vor ihm stehen zu bleiben. Das Feuer in ihrem Rücken warf einen Schatten über ihn. Er wusste, dass sie nicht vor ihm fliehen konnte. Und dennoch hoffte Amanda, dass er ihr Opfer für das Leben ihres Bruders akzeptieren würde.

Vollkommen reglos hörte Nataniel schweigend Amandas Ausführungen zu, während sich seine Kehle immer weiter zu schnürte und sein Herz, wie wild in seiner Brust tobte. Der Panther knurrte und fauchte, jaulte und winselte, als er all das hörte, doch sein menschlicher Körper zeigte keinerlei Emotionen.

'Herodes-Aktion' … Die Morde hatten also auch noch einen Namen, unter dem sie ausgeführt worden waren? Irgendwie machte das sogar alles noch schlimmer. Es zeigte zu deutlich, wie geplant das alles war.

Nataniel verschlug es regelrecht die Sprache. Natürlich hatte er geglaubt, dass sein Dad ihn nicht angelogen hatte. Aber etwas zu glauben und etwas zu wissen, war vollkommen unterschiedlich. Jetzt war es nicht nur eine sehr persönliche Geschichte, sondern eine nackte Tatsache. Man hatte seinen Bruder und unzählige andere Kinder umgebracht, um Chaos unter den Gestaltwandlern zu säen. Es war ihnen gelungen. Zwar nur teilweise, aber die Opfer hatten den Preis dafür mit ihrem Leben bezahlt.

Nicht einmal, als Amanda ihn direkt ansah, ließ das Gefühl der blinden Benommenheit ab, die sich seiner zu bemächtigen versuchte. Seine Gedanken waren ein einziges Chaos und zu gleich schien nur Leere zu herrschen.

Was bedeuteten diese Worte denn nun für ihn? Am Tod seines Bruders konnte er nichts ändern. Aber er war hier, um die Zukunft für alle weiteren Jungtiere zu verbessern. Die Moonleague durfte niemals wieder die Chance bekommen, seiner Rasse so stark zuzusetzen. Aus den Fehlern seines Vaters würde Nataniel lernen müssen. Keine Registrierung und der Schutz der Jungen mussten ihr oberstes Ziel sein. Aber vor allem brauchten sie ein sicheres Zuhause, wo jeder auf seinem eigenen Stück Land leben konnte, wie er wollte, ohne dass man ihn belästigte.

Schutz, Anonymität und Freiheit … das war es, was er zu erreichen versuchte.

Umso verwirrter wurde Nataniel, als er Amanda von 'töten' sprechen hörte.

Was sagte sie da?

Mit Müh und Not zwang er sich zur Aufmerksamkeit und bekam somit erst jetzt mit, was hier eigentlich vor sich ging. Wenn er vorher nicht wütend geworden war, so wurde er es jetzt.

Es war wirklich edel von Amanda, sich schützend für ihren Bruder einzusetzen, aber dass sie glaubte, er würde sie umbringen oder sonst irgendwie bestrafen wollen, nur weil die Geschwister bei der falschen Organisation arbeiteten, verletzte ihn sehr.

Sie degradierte ihn mit diesen Worten wieder zu einem ungebändigten Tier herab, das sich nicht beherrschen konnte, selbst wenn es emotional völlig erledigt am Boden lag und nicht mehr hin wusste, mit all den schmerzenden Gefühlen. Sie hielt ihn wohl wirklich für einen Barbaren, und dass er vor ihren Augen zwei Männer seiner eigenen Rasse getötet hatte und das mit bloßen Händen, machte sicher auch keinen besseren Eindruck. Dennoch, so war er nicht und würde er auch nie sein.

Ein Grund mehr, wieso er auf die Beine kam, als auch Amanda sich hinstellte. Sie musste zu ihm aufsehen, machte aber den Eindruck, als würde sie ihn ganz einfach hopsnehmen, sollte er es auch nur wagen, ihrem Bruder etwas anzutun.

Sie selbst opferte sich ohne Bedenken.

Jetzt wurde er stinksauer.

Mit eisigen Gesichtszügen und Augen, die nicht minder wärmer waren, drehte er sich zu Eric um, während er Amanda am Handgelenk packte. Aber nicht fest, nur so, dass sie ihren Arm nicht mehr wegziehen konnte.

„Entschuldige uns kurz. Ich gebe dir mein Wort darauf, dass deiner Schwester nichts passiert. Ich will lediglich unter vier Augen mit ihr reden.“

Er machte eine alles sagende Kopfbewegung zu dem kleinen Grüppchen Gestaltwandlern hinüber, die neugierig die Szenerie beobachteten.

Eric machte zwar nicht den Eindruck, als wäre er durch Nataniels Worte beruhigt, aber er widersprach auch nicht. Vielleicht war es die Tatsache, dass Amanda sich notfalls verteidigen konnte, immerhin war es Nacht oder dass Nataniels Vater kein gnadenloser Anführer ohne Herz gewesen war. Was das anging, hatte Nataniel viel von dem Jaguar geerbt.

Schließlich zog er Amanda hinter sich her, dabei Rücksicht nehmend, dass sie mit ihren Verletzungen nicht so schnell vorankam.

Er steuerte ein Bungalow abseits vom Rest des belebten Lagers an, ehe er Amanda ins Dämmerlicht der Hütte hinein schob und die Tür hinter ihnen beiden etwas lauter zu schlug, als nötig. Was die einzige Reaktion auf seine absolute Wut war, denn sein Gesicht war noch immer kühl.

Er ließ ihre Hand los und sah ihr fest ins Gesicht. Nataniel konnte nicht sagen, wie gut sie sein Gesicht sehen konnte, er jedoch erkannte sogar die Farbe ihrer Augen trotz des Zwielichts.

Amanda sah sich nicht einmal nach Schatten um, die sie hätte nutzen können. Sie war viel zu schwach und angeschlagen, um sich mit ihrer Fähigkeit in Sicherheit bringen zu können. Und sie wollte es auch nicht.

Den größten Teil ihres Lebens hatte sie damit verbracht, an die Organisation zu glauben. Sie hatte sie als ihre Heimat und die Kollegen als ihre Familie gesehen. Und jetzt hatte man ihr bestätigt, dass sie in einem Gebilde von Mördern aufgewachsen war.

Amanda hatte gar keine Lust sich zu wehren. Eric war in Sicherheit, sie hatte ihn gefunden. Und so, wie es aussah, würde er auch unbeschadet hier herauskommen. Zwar würde sie das Versprechen, das sie ihrem Vater gegeben hatte, nicht weiter einhalten können, wenn sie tot war, aber auch das war nicht schlimm. Sie hatte Eric gerettet und der war alt genug, um auf sich selbst aufzupassen.

Also ließ sich Amanda wortlos und ohne Gegenwehr von Nataniel zu einem der Bungalows ziehen und sich von ihm hinein schieben. Dass er sich gerade so einen Ort aussuchte, fand sie beinahe lächerlich.

Nachdem er die Tür hinter ihnen zugeworfen hatte, legte sich ein Druck auf Amandas Körper, den sie noch nie zuvor verspürt hatte. Ob es Todesangst war, konnte sie nicht sagen. Es fühlte sich nicht so an, als würde gleich der Film ihres Lebens vor ihren Augen ablaufen oder irgendetwas in der Richtung. Wobei Amanda sowieso nicht an so etwas oder das Licht am Ende des Tunnels glaubte. Wenn Nataniel mit ihr fertig war, würde da nichts mehr kommen. Vielleicht würde es so ähnlich sein wie die Schatten.

„Ich will, dass du mir jetzt einmal ganz genau zuhörst“, zischte er leise, blieb ansonsten aber vollkommen ruhig.

„Ich hatte in letzter Zeit absolut nicht das Bedürfnis dich umzubringen und das wird sich auch jetzt garantiert nicht ändern. Aber wenn du mich schon für ein Tier hältst, dann solltest du einmal genauer hinsehen, um was es sich bei diesem wirklich handelt!“

Er trat auf sie zu. Bedrohlich groß, einschüchternd stark und mit Augen, die so kalt waren, dass sie schon wieder heiß wirkten, trotzdem hatte er in seinem Inneren absolut nicht den Drang nach Gewalt. Auch wenn er nun die Wahrheit mit solch absoluter Klarheit kannte, dass jegliche Hoffnung sich sofort in Luft aufgelöst hatte.

Dennoch konnte er sich inzwischen mit der Vergangenheit abfinden.

Er war bereits einmal deswegen an die Decke gegangen, er würde es also nicht wieder tun. Zumindest nicht aus diesem Grund. Doch Amanda war ein ganz anderer Punkt. SIE machte ihn wirklich stinksauer.

Mit seinem Rudel hatte er unendlich viel Geduld, aber bei ihr gab es in seinem Inneren sofort Stichflammen, anstatt vor sich hinglimmende Flämmchen, die sich nur langsam mehrten. Auch wenn sie seiner Meinung nach zu eben diesem Rudel gehörte.

Sie war mehr und er spürte es. Aber er gestand es sich nicht ein. Sie war wie sein Gegenspieler. Ihm absolut würdig. Bei ihr würde er nie den Boss raushängen lassen, um etwas zu bewirken, denn es würde sie kein bisschen jucken. Sie sah ihn nicht als Ranghöheren an. Auch wenn Nataniel nicht sicher sein konnte, was sie in ihm eigentlich sah, außer eben das wilde unbeherrschte Tier.

Langsam streckte er die Hand nach ihrem Gesicht aus. Seine Krallen waren voll ausgefahren, weil er emotional sehr aufgewühlt war, doch er wollte sie nicht dazu benützen, ihr wehzutun. Aber ihre Augen zeigten ihm deutlich, dass sie genau das befürchtete trotz ihres Mutes.

„Ich werde dich nicht umbringen und dir auch nicht wehtun“, versuchte er sie etwas zu beruhigen.

Sein aggressives Zischen passte weder mit seinem Gesichtsausdruck noch mit den Worten zusammen, die er ihr an den Kopf warf. Er wollte sie nicht umbringen? Was dann? Verdammt. Sein Tier war eine Katze. Er würde zu allem Überfluss auch noch mit ihr spielen, bevor er sie endgültig erledigte.

Amanda wich keinen Zentimeter zurück, als er sich bedrohlich vor ihr aufbaute. Wieder war die Angst völlig verflogen, auch wenn ihr Horrorszenarien im Kopf herumschwirrten, über das, was Nataniel mit ihr vorhatte. Seine Krallen blitzten neben ihrem Gesicht auf, doch Amanda versuchte auch diese zu ignorieren, solange sie ihr nicht durch die Haut und die Muskeln schnitten.

Er sagte noch einmal, dass er sie nicht töten würde. Noch dazu würde er ihr nicht wehtun.

Beinahe hätte sie ihm ins Gesicht gelacht.

Natürlich, deswegen stand er auch vor ihr, mit vor Wut überschäumenden Augen und gab ihr zu verstehen, wie sehr er verletzt war. Nicht nur durch die Tatsache, dass sie zur Moonleague gehörte, sondern auch dadurch, dass sie ihn für das hielt, was er in seinem Inneren nur immer wieder ordentlich verstaute.

 Seine Stimme senkte sich zu einem leisen Raunen herab.

„Aber da du ohnehin glaubst, ich wäre ein wildes Tier, kann ich dich nicht von deinen Ängsten und deinem Irrglauben befreien. Ich kann aber etwas ganz anderes.“

Sie auf neue Gedanken bringen. Dinge, über die sie nachgrübeln konnte und auch auf jeden Fall sollte. Denn wenn sie sein Wesen wenigstens einmal in Frage stellen sollte, war das für ihn genug. Mehr wollte er nicht erreichen.

Seine Hand legte sich auf ihre kühle Wange, strich ihren Hals nach hinten bis zum Nacken, wo sie Amanda an Ort und Stelle mit sanfter Gewalt festhielt. Dann beugte er sich geschmeidig wie das Tier in ihm zu ihr herab und legte ohne zu zögern seine Lippen auf die von Amanda.

Beinahe wäre ihm ein Stöhnen entkommen, als er diese Empfindung kribbelnd bis in seine Fingerspitzen spürte. Doch so neu und ungewohnt es auch für ihn war; so sehr ihm auch noch nach mehr verlangte, er löste sich nur einen Moment später wieder ganz von ihr und trat einen Schritt zurück.

Mit kaum hörbar zitternder Stimme und deutlich wärmeren Augen flüsterte er: „Du kannst zu deinem Bruder zurückgehen. Ich … brauche etwas Zeit für mich …“

Das brauchte er wirklich dringend. Bei all den herumwirbelnden Gedanken eine Richtung einzubringen, würde schwierig werden, wenn Amanda noch länger in seiner Nähe war. Immerhin würde er nie ihren Duft vergessen und dass der Panther schon wieder mit ihr spielen wollte. Erst recht, da der Kuss ihn auch noch aufgestachelt hatte.

Ihr Herz und ihre Atmung schienen gleichzeitig stehen zu bleiben, als er sie mit der Hand in ihrem Nacken dazu zwang ihren Kopf ein wenig anzuheben, ihm ihren Hals offen zu legen. Gleich würde die Panik einsetzen. Amanda fühlte sie bereits in den Winkeln ihres Körpers, wie sie lauerte und über sie hereinbrechen wollte. Ihr Körper versteifte sich völlig, als sie seine Bewegung auf sie zu wahrnahm und doch nicht das kam, was sie erwartet hatte.

Nataniel zog sich so schnell wieder zurück, dass Amanda gar keine Zeit hatte, das auf sich wirken zu lassen, was gerade passiert war. Sie starrte ihn durch die Finsternis hindurch an.

Jetzt sollte sie zu Eric zurückgehen? Sie sollte ihn allein lassen, weil er etwas Zeit für sich brauchte?

In einem Anfall von Wut, mit der Nataniel wohl genauso wenig gerechnet hatte wie Amanda selbst, riss sie ihn am Arm zu sich herum, damit er ihr in die Augen sah.

„Für was hältst du mich eigentlich?!“, ihr Fauchen war bestimmt nicht weniger beeindruckend, als das der Wandler im Lager.

„Glaubst du, ich bin dein Spielzeug?! Was willst du von mir?! Erst behandelst du mich wie deinen Todfeind, dann rettest du mir das Leben, küsst mich und jetzt schickst du mich weg?“

Ihre stumpfen Fingernägel krallten sich in seinen Arm, während ihre Augen Funken sprühten.

„Ich bin keine deiner Gespielinnen, die du benutzen kannst, wann immer und für was auch immer du willst, verstanden?! Lass dir nicht einfallen, mich als eine von deinem Harem anzusehen.“

Mit einem Grollen ließ sie ihn los und war schon auf dem Weg zur Tür, als sie noch etwas nachschob, diesmal allerdings sehr leise und fast so, als wüsste sie nicht, ob er hören sollte, was sie zu sagen hatte.

„Mich bekommst du ganz oder gar nicht.“

Der Panther in seinem Kopf knurrte mehr als zufrieden über Amandas Reaktion, was Nataniel wieder einmal überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Ganz im Gegenteil, wenn er vorher schon sauer gewesen war, war er jetzt fuchsteufelswild.

Noch bevor Amanda die Tür erreichen konnte, schoss er an ihr vorbei und versperrte ihre mit glühenden Augen den Weg, während sein ausgestreckter Arm sich in das Holz der Tür krallte und diese somit definitiv noch unpassierbarer im Augenblick machte.

„Verdammt noch mal, was redest du da eigentlich?!“

Jetzt fauchte auch er, ohne noch weiter seine Gefühle zu verbergen. Das Holz unter seinen Fingern splitterte.

„Du glaubst also wirklich, ich hätte jede Nacht eine andere, die mir mein Bett wärmt? Ich wüsste zwar nicht, was dich das angehen sollte, aber nur zu deiner Information: Ich hatte schon seit Monaten keinen Sex mehr!“

Er knurrte und der Jaguar wanderte rastlos in seinem Kopf hin und her. Wusste nicht, ob er nun Fauchen oder Schnurren sollte. Vermutlich beides.

„Wie käme ich denn auch dazu? Ich habe schließlich den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als mich um ein ganzes Rudel voller Gestaltwandler mit ihren unterschiedlichsten Problemen zu kümmern. Hinzu kommt noch die Sorge über die ungewisse Zukunft unserer Jungen. Ich muss mir Gedanken über mögliche Pläne machen, wie wir das alles hier heil überstehen sollen, zwischendurch werfe ich mir noch was zu essen ein, und wenn ich dann mal ein paar Momente Ruhe habe, besuche ich meine Lebensretterin, die zwar schon schläft, aber weswegen ich mir keine Gedanken mache, weil sie sich dadurch leichter erholen dürfte. Und dann, wenn’s vielleicht noch mal hochkommt, lege ich mich für zwei, drei Stunden in mein 'kaltes' Bett, um etwas Schlaf zu bekommen, ehe das ganze wieder von vorne losgeht.“

Er nahm die Hand von der zerkratzten Holzfläche der Tür und drehte sich nun wieder ganz zu Amanda um. Im Augenblick war es ihm egal, was sie von seinen Worten hielt, weswegen er sich auch nicht aufhalten ließ, weiter zu sprechen.

„Und gerade eben, als du noch auf deinen Tod oder Schlimmeres gewartet hast, wollte ich dich zu deinem Bruder zurückschicken, damit er sich keine Sorgen macht und du mich los bist, weil ich dir ja ach so sehr gegen den Strich gehe!“

Langsam wurde er immer leiser, aber seine Augen sprühten regelrecht vor Leben.

„Glaub also nicht, du wärst eine Gespielin für mich. Hätte ich die Zeit und Lust dazu, könnte ich mir leichtere Kost fürs Bett besorgen. Aber da ich das nun einmal nicht tun werde, hör damit auf, mich für einen sexgeilen Wilden zu halten. Ich habe es satt, mich ständig in deiner Nähe zurückzuhalten, damit du dich dort nicht vollkommen unwohl fühlst. Ich weiß genau, dass du vor meiner wilden Seite Angst hattest und ich kann es dir nicht einmal übel nehmen, weil du ein Mensch bist und es nicht besser weißt. Aber nur weil ich tobe, heißt es noch lange nicht, dass ich nicht auch Grenzen kenne!“

Und dass er gerade getobt hatte, war nicht zu übersehen gewesen. Aber nun war er wieder ruhig, auch wenn sein Körper immer noch vor Anspannung leicht zitterte.

Trotzdem öffnete er die Tür, ging zur Seite und hielt sie auf.

„Also, falls du nicht noch etwas hast, das du mir an den Kopf werfen willst, dann geh zu deinem Bruder, ehe er sich noch ernsthaft Sorgen macht.“

Nataniel holte tief Luft, als müsse er sich immer noch erst wieder fangen.

„Eins noch: Um es mit deinen eigenen Worten zu sagen. MICH gibt es auch nur ganz oder gar nicht.“

Sie konnte immerhin niemals von ihm verlangen, dass er seine Wildheit ablegte. Das war ein Teil von ihm, genauso wie ihre Fähigkeiten ein Teil von ihr waren und diese hatte er schon längst an ihr akzeptiert, selbst wenn ihm fast schon schlecht wurde, wenn er danach die finstere Ausstrahlung an ihr witterte. Aber hatte er sie deshalb gemieden? – Nein.

 

Während seines Ausbruchs und auch jetzt hatte Amanda Nataniel einfach nur angesehen. Er war ihr ganz schön über den Mund gefahren und hatte sie tatsächlich getroffen, was sie nicht erwartet hätte. Aber er hatte es zurecht getan.

Amanda wusste gar nicht, warum sie sich über seine Nähe zu der Löwin und dieser anderen Frau so aufgeregt hatte. Was immer es gewesen war, es war jetzt verflogen und das nicht nur, weil er ihr gesagt hatte, dass er im Moment diesbezüglich nichts am Laufen hatte.

Irgendwie schien jedes Gefühl in ihr auf einmal versiegt zu sein, was allein damit zusammenhing, dass Nataniel sie anscheinend grundlos geküsst hatte. Wenn das tatsächlich so war, verstand sie ihn jetzt noch weniger als bisher.

Wieder fühlte sie kleine Flammen in ihrem Bauch auflodern. Die Tür stand offen und Nataniel sah sie immer noch auffordernd an. Er hatte ihr in so kurzer Zeit viel mehr an den Kopf geworfen, als sie ihm. Oder wog es nur schwerer, weil er mit seinen Vorwürfen im Gegensatz zu ihr, Recht gehabt hatte. Musste dieser Kerl denn immer Recht behalten.

„Nein, ich habe nichts mehr zu sagen.“

Sie ging langsam auf ihn zu, die Augen auf die offene Tür gerichtet. Erst als sie schon fast an ihm vorbei war, drehte sie sich leicht zur Seite, um ihm in die Augen zu sehen. Es war dunkel und sie konnte sein Gesicht nur schemenhaft erkennen. Aber es reichte.

„Ach, doch …“

Es tat ihm keinen Moment lang leid, was er alles zu Amanda gesagt hatte. Immerhin hatte er jedes einzelne Wort ernst gemeint und war im Nachhinein ganz froh, dass er wenigstens einen Teil seines Frusts ablassen konnte. Gerechterweise aber nur den Teil, der auch die Blondine betraf. Der Rest hatte nichts mit ihr direkt zu tun, weshalb er es nicht an ihr auslassen würde.

Aber ob es etwas an Amandas festgefahrener Meinung über ihn geändert hatte, wusste er nicht. Immerhin machte sie Anstalten, einfach so zu gehen, ohne noch etwas auf seine Worte hin zu erwidern. Vielleicht interessierten sie seine Ansichten auch überhaupt nicht.

Genau dieser Gedanke war es, der Nataniel davon abhielt, sie aufzuhalten, als Amanda einfach so zur Tür hinaus wollte.

Ein Gefühl der Enttäuschung und neuerlicher Frustration wollte sich bereits in ihm breitmachen, als sie sich noch einmal zu ihm umdrehte. Vermutlich, um am Ende doch noch das letzte Wort zu haben. Aber da unterschätzte sie ihn. Oder er sie, wie sich einen Moment später herausstellte.

Amanda war vollkommen ernst, was er hoffentlich bemerkte, als sie einen Schritt auf ihn zumachte.

„Du gehst mir nicht mehr gegen den Strich, als ich dir ...“

Sie war ein ganzes Stück kleiner als er, aber diesmal lag die Überraschung eindeutig auf ihrer Seite, als sie in seinen Nacken griff und ihn ein wenig zu sich hinunter zog. Jetzt begegneten sich ihre Blicke nur zu deutlich und die Luft zwischen ihnen schien genauso stillzustehen wie alles Andere um sie herum.

„Aber vielleicht solltest du dir darüber klar werden, ob sich streiten besser für dich anfühlt oder das hier.“

Ihr Kuss war länger als seiner, aber dafür war ihr Abgang auch nachdrücklicher. Sie ließ ihn los und stapfte aus dem Raum zurück in Richtung Feuer.

Vollkommen fassungslos starrte Nataniel ihre Hand an, wie diese sich ihm näherte. Näher und näher, bis sie sich schließlich kühl und angenehm in seinen Nacken legte, um ihn dazu zu bewegen, sich nach unten zu beugen. Der Panther schnurrte lautstark in seinem Kopf, während bei ihm fast eine Sicherung durchknallte.

Sie küsste ihn … länger als er sie geküsst hatte, aber das Ergebnis war definitiv sehr ähnlich und doch wieder ganz anders, immerhin ging das von ihr aus …

Da war wieder das Kribbeln in seinen Fingerspitzen und der Drang, sie an sich zu ziehen, um seinen Mund enger gegen ihren zu pressen. Doch sie löste sich zu schnell von ihm, als dass er hätte reagieren können. Er war noch immer erstaunt.

Mit leichter Verblüffung blickte er ihr hinterher, während er im Schatten der Hütte stehen blieb und sich sein Gehirn langsam wieder einzuschalten begann.

Nataniel wusste nicht, für was er sich auf Amandas Worte hin entscheiden sollte: Küssen oder Streiten.

Sich mit ihr anzulegen war genauso aufregend, wie sie zu küssen und zugleich war ihm nur zu deutlich bewusst, dass sich beides durchaus miteinander verbinden ließ. Erst streiten und dann versöhnen.

Ganz klar. Spätestens bei diesem Gedankengang konnte er sich von seinem Schönheitsschlaf in dieser Nacht verabschieden.

Als könnte er schlafen, wo er nun an der Tatsache zu knabbern hatte, dass Amanda ihn geküsst hatte. Also sozusagen aus freien Stücken. Es war zwar nicht anders, als das was er mit ihr angestellt hatte, nur im Gegensatz dazu, wusste er seine Motive. Bei ihr tappte er im Dunkeln, oder sollte er wirklich glauben, dass sie ihm eine Entscheidungsmöglichkeit gab, wie sie in Zukunft miteinander umgingen? Das wäre reines Wunschdenken gewesen.

Eric kam ihr bereits mit sorgenvollem Gesicht entgegengelaufen.

„Geht’s dir gut?“

Natürlich war ihm in der Zwischenzeit nichts passiert. Die Anderen hatten sich wahrscheinlich lediglich gewundert, warum Eric so nervös und ängstlich am Rande der Gesellschaft herumgesessen hatte. Das war normalerweise nicht seine Art.

„Ja, alles in Ordnung. Er wird uns nichts tun. Keiner von ihnen. Aber wir sollten vielleicht schlafen gehen.“

Eric nickte nur und sie verließen bald in unterschiedlichen Richtungen den Versammlungsplatz.

Als Amanda schließlich im Bett lag, kribbelte es überall auf ihrer Haut. Für sie war klar, welche der beiden Alternativen sich besser anfühlte.

„Scheiße.“

Mit einem Ruck zog sie sich die Decke über den Kopf und rollte sich mit dem Gesicht zur Wand zusammen. Schlaf würde sie wohl so schnell keinen finden.

20. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

21. Kapitel

Irgendwann am späten Nachmittag war sie aufgewacht und hatte selbst dann noch über eine halbe Stunde gebraucht, um sich dazu aufzuraffen, aus dem Bett zu klettern.

Als sie zum Fluss lief, um dort ein kurzes Bad zu nehmen, dachte sie über so viele Dinge nach, dass sie schlussendlich gar nicht mitbekommen hatte, wie sie genau zu dem kleinen, breiteren Stück des Flusslaufs gekommen war. Ihr ging so viel durch den Kopf, das sie bereinigen oder erledigen musste. Vielleicht würde ihr das kalte Wasser helfen, etwas klarer zu werden.

Da sich hier alle ihrer Nacktheit alles andere als schämten, beschloss Amanda ebenfalls auf Bedecktheit zu pfeifen.

Sie zog sich vollständig aus und sprang mit einem Satz ins Wasser, das ihr kurz den Atem nahm, als die Kälte wie viele kleine Nadelstiche auf ihrer Haut explodierte.

Leicht prustend kam sie an die Oberfläche und ließ sich schließlich, als sie sich an die Temperatur gewöhnt hatte, ein wenig treiben.

 
 

***

 

Ausnahmsweise wachte Nataniel erst lange nach Sonnenaufgang auf, da ihn auch niemand weckte und er offenbar nicht gebraucht wurde. Jetzt erst konnte er im hellen Tageslicht erkennen, was für ein Durcheinander er letzte Nacht angerichtete hatte.

Offenbar mehr als das, woran er sich erinnerte, denn nicht nur auf dem Bett, sondern auch überall auf dem Boden lagen weiße Federn herum. Das Kissen war fast völlig zerfetzt und somit unbrauchbar geworden. Weshalb er sich erst einmal säuberte, sich anzog und danach das Chaos beseitigte.

Die Federn und das Kissen warf er in die Mitte des zerwühlten Lakens und knüllte danach alles zusammen, ehe er es in eine Ecke in seinen Schrank stopfte, bis er die Gelegenheit bekam, es richtig wegzuräumen.

Erst dann machte er sich auf die Suche nach etwas Essbarem. Bestimmt waren noch Reste von gestern Nacht übrig geblieben, an denen er sich satt essen konnte.

Sex machte ihn immer so verdammt hungrig, selbst wenn es nur mit sich selbst war.

Zum Glück begegnete er in dieser Zeit Amanda nicht, da er sich nicht sicher war, wie er ihr ungerührt in die Augen sehen konnte, ohne dabei wieder an beide Teile von gestern Nacht zu denken. Zuerst diese heißen Küsse und danach seine Fantasien.

 
 

***

 

Amanda hatte sich schon lange nicht mehr so gut gefühlt.

Das Wasser, das um ihre Ohren spielte, während sie auf dem Rücken lag und sich nur ab und zu bewegte, um nicht zu weit abgetrieben zu werden, schloss jedes Geräusch aus ihrem Kopf. Es umgab sie kühl und hüllte sie ein wie ein schützender Kokon, den sie gerade nur allzu nötig brauchte.

Zwar war ihr vermeintlich schützender Ort durchsichtig, aber selbst diese Tatsache war Amanda nach einer Weile egal. Sie dachte nicht einmal daran, dass sie irgendjemand beobachten könnte. Vielleicht war es unvorsichtig, aber hier in der Nähe des Lagers würden schon keine Feinde herumlaufen, ohne dass es irgendjemand bemerkte und Alarm schlagen würde.

Das Sonnenlicht glitzerte durch die Baumkronen golden auf die sich bewegende Wasseroberfläche und ließ Amanda genauso durchatmen wie der Duft nach Pflanzen, frischer Luft und dem Waldboden. Im Gegensatz zum kühlen Nass war die Sonne wärmend und die beiden Elemente spielten angenehm um Amandas Körper. Sie fühlte sich auf eine ungewohnte Art frei und glücklich. Als wäre zumindest für einen Moment alles so, wie es sein sollte.

Lächelnd breitete sie die Arme aus und planschte ein wenig mit den Zehenspitzen an der Wasseroberfläche, verursachte sanfte Wellen, die sich mit der Strömung des Flusses vermischten und leise geschluckt wurden, wie alles Andere, was diesen stillen, perfekten Ort hätte stören können.

 

Nataniel nahm an, dass sie in ihrem Bungalow war, oder bei Eric, da er sie nirgendwo sehen konnte, als er sich auf den Weg zum Fluss machte, um sich die Hände von dem fettigen Fleisch zu waschen, das er zu sich genommen hatte.

Als er zwischen ein paar Büschen hindurch ans Ufer trat, blieb er wie angewurzelt stehen.

Ach du heilige Scheiße!, fluchte er lauthals in seinem Kopf, während der Panther zustimmend knurrte. Jetzt wusste er, warum er Amanda bisher nicht angetroffen hatte.

Sie badete im Fluss.

Nackt.

Augenblicklich schwand der Platz in seiner Jenas nur so dahin, was er dieses Mal mit einem noch derberen Fluch zur Kenntnis nahm. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

 

Ein Lied drängte sich in ihren Kopf, das zu ihrer Stimmung passte und sich mit den Bildern von letzter Nacht übereinanderlegte. Es war eigentlich gar nicht ihre Art, sich Träumereien hinzugeben, aber mit einem kleinen Summen auf den Lippen ließ sie den Fantasien freien Lauf.

Amanda konnte sogar Bilder heraufbeschwören, die sie und Nataniel in friedlichen Zeiten zeigten. Wie sie irgendwo auf einer großen Wiese saßen, zusammen lachten. Wie er sie umarmte und sie küsste. Wie sie zusammen glücklich waren.

Nichts und niemand hätte Amanda in diesem Moment davon abhalten können leise zu lachen. Sie konnte sich selbst nur gedämpft hören, aber es reichte aus, um wieder in die Realität zurückzukehren.

Nichts war perfekt. Eigentlich war alles um sie herum dabei zu bröckeln und zu Staub zu zerfallen. Und dennoch lächelte Amanda weiter zu den Blättern der Bäume hinauf, die sich sanft im Wind wiegten und das Licht der Sonne nur in dünnen Strahlen zum Fluss hindurch ließen.

Eigentlich wollte Amanda diesen Zustand, der sich wie leichtes Schweben anfühlte, nie wieder verlassen, aber nach einer Weile riss sie sich doch los und drehte sich wieder auf den Bauch, um zu ihren Sachen zurückzuschwimmen. Sie wollte sich noch die Haare waschen, bevor sie sich anzog.

Heute würde garantiert ein guter Tag werden. Diese unerwartete Wärme in ihrem Inneren konnte ihr niemand mehr nehmen. Sie strahlte so viel Wohlbehagen und gute Laune aus, dass die Stimmung bestimmt um sich greifen würde.

Zwei Schwimmzüge brachten sie wieder ein Stück stromaufwärts auf die Stelle zu, wo ihre Kleider, ein Handtuch und Shampoo im hohen Gras am Ufer lagen.

Ihre braunen trafen seine eisblauen Augen mit völlig ruhigem Blick.

Amanda hielt inne und auch Nataniel bewegte sich keinen Zentimeter von dort weg, wo er an der kleinen Böschung stand, die zum Fluss hinunter führte.

Die Arme weit ausgebreitet, paddelte Amanda mit den Beinen unter Wasser, um an Ort und Stelle zu bleiben und nicht wieder abgetrieben zu werden.

In ihrem Inneren war der Nachhall ihrer Tagträume noch so stark, dass sie gar nicht auf die Idee kam, in Scham oder gar Panik auszubrechen. Sie sah ihn nur an, als wäre es nur natürlich, dass er dort stand und seine Augen vielleicht schon eine Weile auf ihrem nackten Körper geruht hatten.

Das Lied spielte immer noch auf ihrer Zunge, während sie ihn leicht herausfordernd anlächelte und sich unter Wasser mit einem Schlag ihrer Beine nach hinten bewegte. Die Geste besagte nur zu deutlich, was ihr Lächeln vielleicht nicht deutlich genug gemacht hatte.

Komm spielen.

 

Nataniel versuchte sich einzureden, dass er sich nur deshalb nicht umdrehte, um zu gehen, weil Amanda in diesem Augenblick absolut nichts mitzubekommen schien und hier jeder sie angreifen könnte. Oder ungeniert anstarren, so wie er es tat.

Mann und Tier knurrten synchron bei der Vorstellung, ein anderer Kerl könnte sie gerade in diesem Moment beobachten.

Sofort ließ er seinen Blick über die Umgebung schweifen.

Da war niemand. Aber verdammt, er würde hier stehenbleiben, bis sie wieder aus dem Wasser gekommen war und sich anzogen hatte!

Nataniel musste hart schlucken, als er Amanda erneut ansah, wie sie ausgelassen das Wasser genoss, mit einem absolut zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht, und wenn er sich nicht verhörte, summte sie sogar.

Das Spiel der Lichtreflexe der Sonne und des Wassers auf ihrer Haut machte ihn fast wahnsinnig. Genauso wie der Anblick ihres Haares, wie es ihre Haut liebkoste und sich mit der Strömung bewegte.

Er glaubte, noch nie jemals etwas so wunderschönes in seinem Leben gesehen zu haben. Sie war … vollkommen. Keineswegs perfekt, aber für ihn absolut vollkommen.

Denn obwohl er noch immer die Spuren des Gepardenbisses auf ihrer Haut deutlich sehen konnte, die vermutlich auch Narben hinterlassen würden, so tat das ihrer Schönheit keinen Abbruch.

Ihm sackte das Herz in die Magengegend, nicht nur, da sie sich umgedreht und sich in Richtung Ufer aufgemacht hatte, sondern weil er sich beim Anblick ihrer Verletzungen nur zu deutlich seiner Natur bewusst geworden war.

Sein Gesicht wurde vollkommen ausdruckslos.

Wie konnte ein normaler Mensch, wie sie es war, es jemals mit einem Tier wie ihn aufnehmen? War das zerstörte Kissen von heute Morgen kein offensichtliches Zeichen dagegen gewesen? Und dennoch, obwohl er sich des Unterschieds ihrer Arten nur zu deutlich bewusst war, begehrte er sie mehr denn je.

Als Amanda ihn schließlich erblickte, schwiegen sie beide.

Nataniel machte keinen Hehl daraus, dass er hier schon länger stand und sie beobachtet hatte, auch wenn er das niemandem sonst gestatten würde.

Seltsamerweise war Amanda ihm deshalb nicht einmal böse, was er irgendwie erwartet hätte, da sie sonst immer etwas peinlich berührt wirkte, wenn sich die Gestaltwandler in ihrer Nähe, besonders er, schamlos entblößten, um sich zu verwandeln.

Gerade als Nataniel vermutlich die Kraft besessen hätte, sich umzudrehen, um Amanda ihre Privatsphäre zu lassen, gab sie ihm ein deutliches Zeichen, er solle zu ihr ins Wasser kommen.

Das Lächeln war ein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen, doch es war ihr Entschluss, noch einmal vom Ufer weg zu schwimmen, der die Einladung offiziell machte.

Nataniel wollte zögern, doch der Panther trieb ihn vorwärts, was er ausnahmsweise zu ließ. Alles war besser, als Amanda hier so schutzlos alleine zu lassen. Weshalb er sich von der Böschung löste, zu ihren Sachen ging und sich mit einer geschmeidigen Bewegung das Shirt über den Kopf zog.

Er ließ Amanda dabei keine Sekunde lang aus den Augen. Fixierte ihr Gesicht, als wäre es das Einzige, was er wahrnehmen konnte, obwohl er sehr genau wusste, was er sehen würde, sollte er seinen Blick weiter hinab unter die Wasseroberfläche wandern lassen. Es war jedoch, als hätte sie ihn vollkommen in ihren Bann gezogen.

Seine Hände wanderten zum Bund seiner Jeans, hielten selbst dann nicht in ihrer Bewegung inne, als er sich wieder seiner Erektion bewusst wurde, die er in diesem Augenblick niemals vor Amanda verbergen könnte. Vorausgesetzt, er hätte es wirklich gewollt.

Nataniel zog sich die Jeans von den Hüften, in dem Bewusstsein, dass sie ihn ansah.

Wie jede Katzenart genoss er es sehr, Aufmerksamkeit zu bekommen, was den Panther dazu brachte, sich in Pose zu werfen, auch wenn der Mann es nicht tat. Seine Bewegungen waren ohnehin von geschmeidig kraftvollerem Naturell als die von menschlichen Männern. Das lag an dem gewandten Jäger dicht unter der menschlichen Oberfläche.

Nackt in all seiner Größe watete Nataniel schließlich ins Wasser. Er spürte jeden einzelnen Zentimeter, den es seinen Körper entlang wie eine Liebkosung nach oben glitt. Wie sehr er doch dieses Gefühl auf seiner Haut genoss! Er liebte das Wasser so sehr, kam aber leider nur selten in den Genuss, schwimmen zu gehen.

Als das kühle Nass seine Erregung erreichte, und schließlich vollkommen umspülte, biss sich Nataniel auf die Unterlippe. Das Gefühl war einfach zu köstlich, noch dazu, da seine Augen dabei unablässig an Amanda hingen.

Nachdem das Wasser selbst für ihn zu tief geworden war, begann er geschickt wie ein Otter zu schwimmen. Dabei hatte er seinen ganz eigenen Stil.

Menschen sahen dabei wie überdimensionale Frösche aus, er bewegte sich jedoch größtenteils wie eine Raubkatze und durch seine menschlichen Möglichkeiten doch noch etwas anders.

Noch immer ohne ein Wort zu sagen, glitt er mit zwei Meter Abstand um Amanda herum, auf eine Art, als wäre er im Wasser zuhause. Seine Beine gaben ihm mit der Auf- und Abbewegung den nötigen Schwung, während seine Arme an seinen Seiten die Richtung vorgaben.

Er tauchte dabei immer wieder unter, wirbelte unter Wasser seinen Körper herum, als wäre er ein verspielter Delphin und hatte großen Spaß daran. Bis er schließlich dicht vor Amanda wieder auftauchte und sie leicht keuchend ansah.

Sein Gesicht war immer noch fast als ernst zu bezeichnen.

Nataniel wusste nicht genau, wieso er Amandas fröhliche Ausstrahlung nicht erwidern konnte, obwohl er sich dadurch fast wohl fühlte. Vielleicht, weil ihm da am Ufer etwas Entscheidendes klar geworden war.

Am Ende hatte Amanda doch Recht behalten. Er war ein Tier und war sogar zu Schlimmeren fähig, als die Spuren des Bisses auf ihrem Körper es vermocht hatten. Wenn er wollte, könnte er jeden Knochen im menschlichen Körper auf die eine oder andere Weise brechen. Seine Kiefer zermalmten schließlich Schildkrötenpanzer wie knusprige Cornflakes!

Ja, wenn er wollte, könnte er gewaltigen Schaden anrichten. Das war der entscheidende Punkt.

Als müsste er sich selbst etwas beweisen, streckte er seine Hand nach Amandas Gesicht aus, um mit seinen Fingerkuppen über ihre Schläfe die Wange hinab zu ihren Lippen zu streichen. Dort verharrte er einen Moment, bis er seine Handfläche wieder auf ihre Wange legte und sich nach vorne beugte, um sie sanft zu küssen.

Die Empfindung strich wie seidige Weichheit über ihn hinweg und ließ ihn einen Moment lang schnurren, bis er sich langsam wieder löste und Amanda wortlos anblickte. Er hatte sie nicht verletzt. Das würde er nie, und wenn er sich selbst in Ketten legen müsste, er könnte ihr nicht wehtun. Niemals.

 

Milde überrascht sah sie Nataniel zu, wie er sich vor ihr auszog.

Es war nicht die Tatsache, dass er sich entkleidete, die sie irritierte. Das war sie inzwischen schon fast gewohnt, obwohl sie immer noch nicht so natürlich damit umgehen konnte, wie es hier wohl angebracht gewesen wäre. Seine Nacktheit und sein lässiger Umgang waren es nicht, sondern, was unter seiner Jeans zum Vorschein kam.

Ihr war durchaus bewusst gewesen, dass er wohl schon länger am Ufer gestanden und sie beobachtet hatte, aber mit seiner körperlichen Reaktion hatte sie nicht gerechnet.

Kurz breitete sich so etwas wie Angst in ihr aus. Angst davor, was er von ihr erwartete. Und wie prompt er es von ihr wollte.

Es schien Nataniel auch überhaupt nichts auszumachen, dass Amanda sah, in welcher Stimmung er sich gerade befand.

Natürlich machte es ihm nichts aus. Das wäre das erste Mal gewesen, dass Nataniel sich wegen irgendetwas vor Amanda peinlich berührt gefühlt hätte. Diesem Ego konnte wohl wirklich überhaupt nichts etwas anhaben.

Sie schluckte einen winzigen Kloß hinunter, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, und zwang sich dazu, sich wieder zu entspannen. Sie war doch kein kleines Mädchen mehr. Amanda wusste sehr gut, wie man 'nein' sagte. Und zwar so nachdrücklich, dass es jeder verstand.

Als er geschmeidig auf sie zuschwamm, sich aber nicht direkt zu ihr gesellte, sondern sie in enger werdenden Kreisen umrundete, machte sich Amanda das erste Mal Gedanken darüber, was sie empfand.

Nicht für Nataniel im Allgemeinen. Dass sie in der Frage nicht weiterkam, hatte sich in ihrer durchwachten Nacht gezeigt. Nein, es ging ihr darum in sich hinein zu hören, was dieser Mann, den sie erst ein paar Wochen kannte, der zu den Gestaltwandlern gehörte, die sie ihr Leben lang als ihre Feinde angesehen hatte und der jetzt mit einem körperlich nur zu deutlich demonstrierten Ziel um sie herum schwamm, für einen Eindruck auf sie machte.

Er machte sie eindeutig nervös. Aber Amanda konnte beim besten Willen nicht sagen, ob das daran lag, dass er sie offensichtlich wollte oder daran, dass er sie jederzeit mit einer fast nebensächlichen Geste hätte töten können.

Ihr Verstand schwieg eine Weile, als er sich ihr doch bis auf einen halben Meter näherte, seine Hand ausstreckte und sie berührte.

Er war sanft, beließ es aber nicht dabei über ihre Wange zu streicheln, sondern lehnte sich ihr entgegen, um sie leicht auf die Lippen zu küssen.

Bereits jetzt war sein Geschmack ihr vertraut und ließ das Rauschen der Bäume klarer werden und ihre innere Freude, die hier an diesem Ort bereits so groß war, fast überschäumen.

Was war nur los mit ihr?

 

Amanda musste sich gezwungener Maßen auf das Paddeln ihrer Füße konzentrieren, um nicht unterzugehen. Sie hätte Nataniel sehr gern berührt, aber im Gegensatz zu ihm war es ihr durchaus unangenehm, zu wissen, dass er offensichtlich mehr wollte, als nur die Berührung ihrer Lippen oder ihrer Hände.

Es war wohl sein inneres Tier, das sie schließlich mit dem schnurrenden Laut besänftigte und dazu brachte, ihre Hände auf seine Seiten zu legen und sich ein wenig an ihm festzuhalten.

Ob er so sanft sein konnte, wie es sein Schnurren vermuten ließ? Gerade solche Dinge, die für ihn ganz natürlich waren und ihn so stark von Amanda als Menschen unterschieden, ließen ihn in ihren Augen umso interessanter erscheinen. Und es warf so viele Fragen auf.

„Nächstes Mal verlange ich Eintritt, wenn du vorbei kommst, um mich so anzustarren.“

Ihre Daumen strichen unter Wasser über seine Haut und sie lächelte ihn ein wenig schelmisch an.

„Und glaub nicht, dass es da mit einem Kuss und ein paar Süßigkeiten als Bezahlung getan ist.“

Nein, er machte ihr keine Angst. Nicht in diesem Augenblick, wo er sich mit ihr im Wasser befand und genauso nackt und schutzlos wirkte wie sie selbst. Es war nicht so, wie es den Anschein hatte, aber es beruhigte Amanda trotzdem ungemein.

Sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob sich an seinem körperlichen Zustand etwas geändert hatte, aber Amanda wusste, was sie wollte. Und zwar da weitermachen, wo sie gestern unterbrochen worden waren.

Wie weit sie gingen, würde sich zeigen.

Ein Stück weiter den Fluss hinunter, ragte ein großer Findling aus dem Wasser und bot gleichzeitig Schutz vor der Strömung und neugierigen Blicken.

Um Nataniel zu necken, drückte Amanda ihren Körper kurz an seinen und küsste seinen Hals, bevor sie sich von ihm abstieß und in Richtung Felsen davon schwamm. Sie blickte sich nicht einmal um, da sie sich sicher war, dass er ihr folgen würde.

 

„Gerne, wenn ich der einzige Zuschauer bin. Ansonsten muss ich Türsteher und Rausschmeißer gleichzeitig sein“, gab er mit sanftem Knurren zurück, da ihn die Tatsache immer noch aufregte, dass sie hier jeder sehen könnte. Keiner außer ihm sollte sie so sehen. Was das anging, war er mehr als nur besitzergreifend. In diesem Fall könnte er tatsächlich auch als Mann zum Tier werden. Aber Amandas Berührungen an seiner nackten Haut besänftigten ihn etwas. Weshalb er nicht gar so verkrampft war, als sie sich an ihn drückte, um seine Kehle zu küssen, ehe sie auch schon von ihm weg schwamm.

 

Der Findling war noch kühler als das klare Wasser, das ihn umspülte und in aufgeregten Wirbeln um ihn herum floss. Aber die Blätter und das wenige Moos, die ihm seine kantige Form ein wenig nahmen, ließen ihn beinahe einladend aussehen.

Amanda fand einen kleinen Vorsprung, auf den sie ihre Füße stellen konnte und Halt bekam. Kaum dass Nataniel um den großen Stein herum geschwommen kam und neben ihr auftauchte, griff sie seine Schultern und zog ihn zu sich heran. Der Auftrieb des Wassers machte es ihr leichter mit seiner sonst wesentlich überlegenen Körperkraft mitzuhalten.

Ihre Nasenspitzen berührten sich fast und ihre Blicke bohrten sich ineinander.

Ich mag dein Schnurren.

Sie hätte es ihm gern gesagt, aber es kam ihr nicht über die Lippen, die im nächsten Moment wieder seine berührten.

 

Der Panther übernahm die Führung, als er die Verfolgung aufnahm.

Sie wollte wohl spielen und er hatte im Augenblick nichts dagegen, jetzt, da er wusste, er könnte sich beherrschen, wenn es sein musste. Aber vielleicht kam es gar nicht einmal so weit. Vielleicht musste er bei ihr nie die Beherrschung verlieren. Obwohl er gestern nahe dran gewesen wäre.

Heute aber zeigten sich ihre Verletzungen nur zu deutlich, weshalb Tier und Mann umsichtig bleiben würden. Man umsorgte seine Gefährtin mit all der Hingabe, die man aufbringen konnte, da sie wichtiger als sein eigenes Leben war. Nur war Amanda nicht seine Gefährtin … oder?

Während Nataniel ihr folgte, überlegte er sich, was sie eigentlich für ihn war.

Zuallererst war sie sein Feind gewesen. Dann hatte sie ihn von seiner Amnesie befreit. Sie hatte ihm zweimal das Leben gerettet. Hatte ihm Nahrung gegeben und sich um seine Wunden gekümmert. Nun war sie ein Mitglied seines Rudels, seiner Großfamilie sozusagen und seit dem Kuss gestern, war sie sogar mehr als das. Allein seine Begierde nach ihr stellte sie höher als alle anderen Clanmitglieder. Sie hatte besondere Privilegien.

Amanda könnte ihn bedrohen, ihn verletzen, seine Befehle missachten und ohne weiteres seine Führung anzweifeln und trotzdem würde sie niemals eine Strafe dafür erwarten. Solange er es akzeptieren würde, dürfte niemand anderes gegen sie vorgehen. Egal wie loyal seine Leute zu ihm standen.

Als Nataniel bei Amanda ankam, war er zu der Erkenntnis gekommen, dass sie sein Vertrauen hatte. Vielleicht nicht in allen Dingen, aber auf jeden Fall in denen, auf die es ankam. Zum Beispiel wenn es um Leben und Tod ging. Es war egal, ob sie noch bei der Organisation war, immerhin hatte sie bewiesen, dass sie seiner Rasse nicht schadete. Zumindest nicht den Leuten, die ihm wichtig waren.

Überrascht ließ er sich von ihr heranziehen und wischte somit sämtliche seiner Gedanken restlos fort. Er hatte auch noch später Zeit, darüber nachzudenken. Hoffte er zumindest.

Selbst wenn nicht, er würde die Zeit niemals gegen Amandas Kuss eintauschen. Egal was sie sagte, dieser war einfach unbezahlbar.

Um ebenfalls Halt zu finden, schob er sein Bein unter Wasser an ihres heran, so dass er auf dem Vorsprung zumindest einbeinig zum Stehen kam und dabei ihre Zehen berührte. Mit einer Hand hielt er sich am Stein fest, während er mit der anderen Amanda näher an sich heranzog, um den Kuss spielerisch zu erwidern.

An seinem Zustand hatte sich nicht im Geringsten etwas geändert, lediglich die Tatsache, dass er im Augenblick nicht gar so hungrig war wie gestern Nacht, als er sich Erleichterung hatte verschaffen müssen, um zur Ruhe zu kommen.

Ob das heute wieder sein Abendprogramm sein würde?

Oh Gott, hoffentlich nicht!

Schließlich war einsame Handarbeit nichts im Vergleich zu dem Vergnügen, mit Amanda zu knutschen. Denn dass sie hier nichts anderes taten, war offensichtlich.

Während sich seine Zunge um ihre schlang und er ihren Geschmack voll auskostete, schob er seinen Körper gegen ihren, so dass sie schließlich mit dem Rücken am Felsen lehnte und er auch sein zweites Bein abstellen konnte.

Damit der Stein ihr nicht ins Kreuz drückte, hatte er seinen Arm der Länge nach ihren Rücken hinauf gelegt, damit das Gestein sie gar nicht einmal berührte. Zumindest nicht dort, wo sie verletzt war. Seine Hand legte er dabei auf ihr Schultergelenk und strich zugleich mit seinen Fingern über ihre weiche, warme Haut.

Sein Becken kippte er etwas nach hinten, damit sie sich nicht zu sehr von ihm bedrängt fühlte, denn ab und zu konnte er es nicht verhindern, dass seine Härte gegen ihren Bauch strich, was ihn immer wieder kurz aus dem Rhythmus brachte. Dafür genoss er umso mehr das Gefühl ihrer Brüste an seinem Oberkörper und wie sich ihre Brustwarzen an seiner Haut rieben.

Sie waren hart. Ob vom kühlen Wasser oder anderen Dingen, es war nicht wichtig. Die Wirkung zählte und die fühlte sich wahnsinnig sinnlich an.

Der Panther schnurrte wie wild, warf sich auf den Boden, rollte sich hin und her, wollte unbedingt noch mehr gestreichelt werden. Nataniel verstand ihn nur allzu gut.

Seine andere Hand musste ihm nun nicht mehr als Halt dienen, weshalb er sie wieder in Amandas Haar vergrub und dabei ihre Kopfhaut massierte, als wäre er eine Katze, die so ihr Wohlbefinden ausdrückte nur ohne die ausgefahrenen Krallen.

Wieder schnurrte er in den Kuss hinein, ließ kurz seine Augenlider hoch flattern, ehe er den Kopf auf die andere Seite neigte und wieder Amandas Mund in Beschlag nahm, um so viele Küsse und Berührungen zu erhaschen, wie sie ihm geben wollte. Was das anging, war er vollkommen auf ihre Gnade angewiesen.

 

Wo sollte das nur hinführen? Sie standen im Wasser, aneinander geschmiegt, verborgen vor neugierigen Blicken und küssten sich. Nicht zu vergessen: beide vollkommen nackt.

Aber gerade Nataniel gab ihr nicht das Gefühl, dass das hier zu mehr führen musste. Wahrscheinlich wäre es nicht anders gewesen, wenn sie beide durch Kleidung voneinander getrennt gewesen wären.

In gewissem Sinne hielt er Amanda sogar auf Abstand. Ihre Haut lag nur oberhalb der Gürtellinie wirklich aufeinander und selbst dort ließ er ihr so viel Freiraum, wie sie wollte.

Er bedrängte sie keineswegs und doch waren die Zeichen eindeutig, dass er mehr als einem Kuss nicht abgeneigt gewesen wäre. Oder unterschied er sich so weit von einem Menschen, dass Amandas Sinne sie diesbezüglich trügen konnten?

Gerade die Tatsache, dass sie es nicht wusste, stachelte Amanda an. Aber letztendlich war es wieder Nataniels Schnurren, das Amanda dazu verleitete, einen winzigen Schritt weiter zu gehen.

Bis jetzt hatte sie ihre Arme um seinen Nacken geschlungen und sich von ihm lediglich an der Schulter und in den Haaren kraulen lassen. Jetzt ließ sie ein wenig von seinen Lippen ab, um Sauerstoff zu tanken und den Mann zu erforschen, mit dem sie hier leidenschaftliche Küsse austauschte.

Dafür war so eine Gelegenheit doch wie gemacht, ja dafür war sie sogar gedacht, oder nicht?

Noch mit geschlossenen Augen ließ Amanda ihre Lippen über Nataniels Wange zu seinem Ohr gleiten. Seine Haare, die ihm tief in die Stirn hingen, kitzelten ihren Nasenrücken, was sie kurz innehalten ließ.

Das Rauschen des Wassers und das Säuseln der Blätter über ihnen drangen zu Amanda genauso leicht und klar, wie der Duft, den Nataniels Haare und seine Haut verströmten. Er roch ungewöhnlich, ganz anders als jeder Mann, dem sie bis jetzt so nahe gekommen war.

Der beruhigende Geruch, den schon der Pullover, den er ihr gebracht hatte, verströmte, haftete auch an ihm. Ihre Wange schmiegte sich kurz an seine, bevor sie ihre Lippen über sein Ohrläppchen zu seinem Hals wandern ließ. Während sie dort eine Weile verharrten, um seine Haut zu schmecken, ergriffen ihre Hände die Gelegenheit sich von seinem Nacken zu lösen.

Um seinen Hals herum streichelte sie vorn über seine Brust und seinen Bauch. Dabei fuhr sie mit den Fingerspitzen leicht die Konturen seiner Muskeln nach, bis sie einen Punkt besonderen Interesses gefunden hatten.

Die Haut seiner Brustwarzen hatte sich zusammengezogen und die Spitzen standen hervor. Vielleicht ein weiteres Zeichen seiner Erregung, denn noch hatte sich am Zustand seiner Lendengegend wohl nichts geändert.

Gerade streifte der Beweis dafür ihren Bauch und Amanda schob sich unbedacht ein wenig an Nataniel heran. Die Berührung, die seine Erektion nun zwischen ihren Körpern ein wenig einklemmte, brachte Amanda dazu, von seinem Hals abzulassen und wieder seine Lippen in Beschlag zu nehmen.

Heute würde sie zwar ihr Geruch nicht verraten, da das Wasser um sie herum jegliche Duftspur ihrer Erregung verwischte, aber es würde Nataniel auch durch andere Zeichen nicht entgehen, dass ihr leichtes Erzittern nicht nur an der Kühle des sie umgebenden Elements lag. Fordernd tanzte ihre Zunge um seine und ihre Zähne knabberten an seinen Lippen.

 

Mit gespannter Neugierde wartete Nataniel ab, was Amanda vorhatte, nun da sie ihre Lippen von seinen gelöst hatte und ihm somit die Möglichkeit gab, etwas durchzuatmen.

Nicht, dass er deswegen ruhiger atmen würde, das auf keinen Fall. Erst recht nicht, da er sie zuerst an seiner Wange, dann an seinem Ohrläppchen spürte, was ihn erschaudern ließ.

In dem Bewusstsein, dass das für einen Jäger nicht sehr leicht war, legte er seinen Kopf etwas zur Seite und in den Nacken, um seinen Hals vor ihr zu entblößen. Sowohl wachsam als auch genussvoll schnurrend streckte sich der Panther aus, um sich dem Gefühl vollkommen hinzugeben.

Nataniel würde es nicht zugeben, aber er brauchte Amandas Initiative, was die Berührungen anging. Klar könnte er sie einfach packen, gegen den Felsen drücken und sie sofort auf verschiedenste Arten zum Höhepunkt bringen. Sollte das hier was werden, würde er es irgendwann sicher noch tun, aber der Anfang war oft zerbrechlich und zwischen ihnen herrschte ohnehin eine besonders empfindliche Verbindung.

Würde er seinem Verlangen ungezähmt nachgeben, könnte er sich gleich 'wildes Tier' auf die Stirn tätowieren lassen.

Gerade weil er ihr beweisen wollte, dass er nicht immer so war, obwohl das beim Sex des Öfteren vorkam, hielt er sich an das Tempo, das sie ihm vorgab. Sie war keine Gestaltwandlerin und kannte somit nicht die Leidenschaft der Männer seiner Art. Ebenso wenig hatte er bisher mit einer menschlichen Frau geschlafen. Einer Frau, die vermutlich nicht auf sinnliche Bisse und genussvolles Kratzen stand.

Es war alles in allem eine mehr als schwierige Situation. Ob sie sich dem bewusst war oder nicht. Er musste selbst für Sicherheit sorgen.

Also ließ er sich fallen, wo er konnte und würde sich zurückhalten, wenn es knapp wurde. Mehr konnte er nicht tun. Was aber seiner Meinung nach auch schon ausreichte. Immerhin waren ihre Liebkosungen an seinem Hals verdammt lustvoll.

Bestimmt konnte sie das wohlige Vibrieren in seinem Brustkorb spüren, während sie ihre Hände darüber gleiten ließ. Es wurde deutlicher, als sie seine Brustwarzen berührte, die ihr alleine entgegen kamen. Nicht etwa dem kühlen Nass. Kalt war ihm auf gar keinen Fall.

Amanda machte eine Bewegung nach vorne, was seine Erregung nicht nur gegen ihren Bauch reiben, sondern auch daran entlang hochgleiten ließ.

Nataniel gab einen zischenden Laut von sich, als er das spürte, kam aber gar nicht mehr dazu, erregt zu knurren, da Amanda ihn nicht nur zwischen ihren Körpern einklemmte, sondern auch wieder über seinen Lippen herfiel.

Ihr fordernder Kuss stand dem seinen in nichts nach. Zwar konnte er nur den Geruch ihrer Haut riechen, nicht aber den Duft ihres Verlangens, doch das machte kaum einen Unterschied.

Er war nicht zu seinem eigenen Vergnügen hier, wenn dann war das lediglich ein Nebeneffekt davon. Er war hier, weil er sich nur zu deutlich an die Botschaft von Amandas Körper gestern Nacht erinnern konnte und was diese ihm mitgeteilt hatte. Sie konnte immer noch nein sagen. Das Risiko bestand jederzeit, aber bis es so weit war, würde er für sie da sein.

Die Hand in ihrem Haar glitt ihren Nacken hinab, um ihren Hals herum, über das zarte Schlüsselbein, was sie noch zerbrechlicher unter seiner großen Hand erschienen ließ und stoppte schließlich bei der Außenseite ihrer perfekt an seine Handfläche angepassten Brust.

Ein anerkennendes Knurren übertrug sich in den Kuss, als er das weiche Fleisch erst nur mit seinem Daumen erkundete, dann aber mit seinem ganzen Handballen leicht anhob, um ihre harte Brustwarze gegen die Haut seines Brustkorbs reiben zu lassen.

Neckend biss er ihr dabei zärtlich in die Unterlippe, ehe er seine Zunge um Vergebung bettelnd über die geschändete Stelle gleiten ließ, obwohl nichts zu sehen war. Immerhin war er nicht grob gewesen.

Seine Hand auf ihrer Brust erforschte jeden Millimeter von dieser, ehe er langsam ihre Rippenbögen hinab streichelte, so fedrig leicht, als wolle er sie kitzeln und doch auch etwas ganz anderes. Sein Daumen zog Kreise um ihren entzückenden Bauchnabel herum und versuchte dabei ihren Verletzungen zwar nicht auszuweichen, sie aber besonders vorsichtig zu behandeln. Sie waren noch sehr frisch und bestimmt taten sie weh, wenn man sie ganz normal anfasste. Bei seinen Kratzern war es nie anders gewesen. Doch inzwischen war fast alles vollkommen verheilt, so dass sie nur ein paar weitere Narben in seinem ganzen Sammelsurium davon auf seinem Körper geworden waren.

Er trug jede einzelne mit Stolz, bis auf die über seinem Auge und den langen Schnitt seinen rechten Arm hinauf. Diese entstammten reiner Dummheit, waren dabei aber die Schlimmsten. Was für eine Ironie.

Zwecks Atemnot ließ nun Nataniel von Amandas Lippen ab und ließ die seinen über ihr Kinn hinab wandern. Seine andere Hand bog ihr sanft aber auch ein bisschen fordernd, den Kopf in den Nacken, damit er leichter an ihren Hals kam.

Damit sie nicht gleich auf den Gedanken kam, er wolle ihr die Kehle durchbeißen, obwohl er das durchaus gekonnt hätte, schloss er seinen Mund vollkommen und ließ nur seine Lippen über die weiche Haut ihres Halses hinab wandern. Sein Mund folgte der Spur ihrer Sehnen und der Halsschlagader, die unter seinen Lippen deutlich pochte.

Er konnte es sogar hören, wenn auch nur ganz schwach. Besonders an dieser Stelle ging er behutsam vor, da er ihr klarmachen wollte, dass er nicht gefährlich war. Nicht in diesem Augenblick und nicht wegen ihr.

Er hatte die Angst immer noch nicht vergessen, die sie an jenem Tag im B&B empfunden hatte, auch wenn nichts davon im Augenblick an ihr haftete. Trotzdem küsste er genau jene Stelle, die ihm damals die Kraft zum Weitermachen gegeben hatte. Ohne diese Empfindung wäre er vielleicht in der Nähe von Menschen vollkommen ausgetickt.

Er wollte sich gar nicht ausmalen, was in diesem Fall alles hätte passieren können.

Beruhigend schnurrte er gegen ihren Hals, ehe er nun doch wagte, den Mund zu öffnen, um seine raue Zunge über ihre Haut gleiten zu lassen. Ein genießerisches „Mhmmm“ entkam ihm, als er ihren Duft nicht nur roch, sondern nun auch auf seiner Zunge schmeckte.

Einfach köstlich!

 

Aus Nataniels nassen Haaren fielen einzelne, kühle Wassertropfen auf Amandas Schultern. Sie bildeten einen so starken Kontrast du seinen warmen Lippen an ihrem Hals, dass sie diese nur noch intensiver zu spüren schien. Seit Nataniel ihr den Kopf mit sanfter Gewalt nach hinten gebogen hatte, verharrte Amanda abwartend und leicht verkrampft zwischen ihm und dem Felsen hinter ihr eingeklemmt.

Sie erinnerte sich nur zu bildlich an die Nacht in seinem Zimmer, als er sie ebenfalls gegen die Wand gedrängt hatte. Allerdings nachdrücklicher als jetzt, um allein einen Kuss auf ihren Hals zu hauchen. Damals hatte sie Angst gehabt und auch jetzt mischte sich ein wenig Unwohlsein in die Erregung, die durch ihren Körper lief.

Amanda war sich sicher, dass er sie nicht verletzen wollte. Woher sie das wusste, war ihr nicht klar. Vielleicht lag es an dem neuerlichen Schnurren, das ihre Haut kitzelte, bevor er mit einem zufriedenen Laut über ihren Hals leckte. Aber ihr Verstand warnte sie trotzdem vor ihm.

Er hatte sich damals auf sie gestürzt und ihr mit ausgefahrenen Krallen einen einzigen, flüchtigen Kuss abverlangt. Was würde passieren, wenn er sich noch mehr von Leidenschaft mitreißen ließ?

Obwohl es ihr selbst wahnsinnig zuwider war, rollten sich Informationen über sein Tier in ihrem Verstand aus. Würde er sie im Taumel des Verlangens mit seinen Krallen und einem Biss in ihren Nacken dazu zwingen, das zu tun, was er wollte? Sie war nur ein Mensch und noch dazu nicht besonders scharf auf Verletzungen der Art, die sie bereits auf ihrem Bauch und ihrer Seite mit sich herumtrug, auch wenn diese aus Boshaftigkeit entstanden waren.

In Amanda entbrannte ein innerer Kampf zwischen dem, was sie gern tun wollte und ihrer Angst, dass genau das dazu führen konnte, dass Nataniel sie ungewollt verletzen würde.

Eine Saite in ihr schien zu zerreißen, als sie beide Handflächen auf Nataniels Brust legte, um sich von ihm weg an den Felsen zu schieben.

Er hatte sofort von ihr abgelassen und sah sie mit einem Blick an, der ihr Herz rebellieren ließ. Sie wollte nicht aufhören. Das sollte er bloß nicht denken. Aber sie musste es einfach zuerst wissen.

Um die Verbindung zu ihm nicht zu unterbrechen, ließ sie ihre Hände auf seinem Körper ruhen.

„Ich lass euch beide ganz sicher nicht gern hier so stehen …“

Ihr freches Grinsen misslang ein wenig, was Nataniels Augen nicht entging und sie einen Hauch von Besorgnis annehmen ließ.

Mein Gott, wie fing man denn bitte so ein Gespräch an? Noch dazu mit einem Mann, dessen – nicht nur sexuelles – Ego einen mehr in die Enge trieb, als es sein durchaus gefährlicher Körper hätte tun können.

„Ich hab verstanden, was du letztes Mal zu mir gesagt hast.“

Ihr Ton war ernst und aufrichtig und Amanda brach den Blickkontakt nicht ab, denn er schien es nur leichter zu machen.

„Ich halte dich nicht für ein wildes Tier. Und ich weiß, dass du mir nicht willentlich wehtun würdest.“

Seine Lippen verzogen sich leicht. Wahrscheinlich hätte er in der nächsten Sekunde dieses lauernde 'aber' selbst ausgesprochen, um die Situation endlich auf den Punkt zu bringen.

Amanda nahm es ihm ab.

„Aber ich bin nun mal anders als du. Ich weiß nicht, wie das bei dir ist, aber ich hatte noch nie Sex mit jemandem, der nicht von meiner Art war. Ich würde gern wissen, ob und zu was du deine Krallen und Zähne einsetzen willst, wenn wir es denn so weit kommen lassen.“

Würde er jetzt wieder an die Decke gehen und sich gekränkt fühlen?

Er musste doch sehen, dass ihr das nicht leicht fiel. Konnte er nicht durch ihre lässige, bestimmte Fassade sehen? Verdammt, immerhin stand sie nackt vor ihm. Verletzlicher konnte sie nicht sein.

22. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

23. Kapitel

Schon sein aggressives Knurren hatte sie zusammenschrecken und die braunen Augen aufreißen lassen.

Als er seine Krallen in den Findling schlug, konnte sie hinter sich das Brechen und Rieseln des Gesteins hören und wie ein paar abgeplatzte Stückchen ins klare Wasser fielen.

Sie hatte ihn sofort losgelassen und stand nun mit angespannten Muskeln in dem Käfig, den sein Körper mit den Armen um sie bildete.

Nataniel hatte sich von ihr losgerissen, als hätte er sich an ihrer Haut verätzt und doch schien er sie einzuschließen. Dass es ihm leidtat, beruhigte Amanda keine Sekunde. Denn sie wusste nicht, was er damit meinte. Seine Augen erinnerten sie an die Nacht, in der sie sich das erste Mal als Menschen gegenübergestanden hatten. Auch sein zitternder Körper und wie er sie ansah, erinnerten eher an die Abscheu und den Hass, den er damals empfunden hatte.

Amanda wagte nicht einmal zu schlucken, als sich sein Blick erneut veränderte und er sich näher zu ihr lehnte.

Er hatte sich nicht unter Kontrolle? Was hatte er denn um Himmelswillen vorgehabt?

So, wie er gerade wirkte, war Nataniel nicht er selbst. Da war kein Flackern hinter seinen Augen, das normalerweise sein Wesen offen legte. Von Leidenschaft oder Verlangen war überhaupt nichts mehr zu spüren.

Amanda versuchte sich damit abzufinden, dass sie etwas falsch gemacht hatte oder ihm einfach nicht genügte.

Sie beantwortete seine Frage mit einer Gegenfrage, weil sie überhaupt nicht anders konnte.

„Was war das gerade?“

Und wo bist du hin?, hätte sie gern noch hinzugefügt.

Der Nataniel, mit dem sie gerade noch ausgiebig, leidenschaftlich und sehr erfüllen geknutscht hatte und auf bestem Weg gewesen war, mehr als das zu tun, war auf jeden Fall verschwunden.

Es brannte wie Säure in ihrem Hals, weil sie wusste, dass sie ihn vertrieben hatte.

Amanda war drauf und dran unter seinem Arm wegzuschlüpfen und sich einfach davon zu machen. Aber ohne eine Antwort würde sie nicht gehen.

 

„Eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem Panther und mir“, antwortete er wahrheitsgemäß auf ihre Frage hin in einem Tonfall, als würde er über das Wetter plaudern. Fügte dann aber auch noch erklärend hinzu: „Er wollte raus und das konnte ich nicht zulassen.“

Wer sonst hatte die Krallen in den Felsen geschlagen? Das Menschliche in Nataniel war es garantiert nicht gewesen. Zumindest nicht den größten Teil davon. Aber auch dieser Teil war wie weggeblasen. Er fühlte sich seltsam leer, dafür aber angenehm beruhigt. Als wäre der Druck, gegen den er schon sein ganzes Leben lang standhalten musste, einfach verschwunden.

Nataniel erkannte noch nicht einmal die Gefahr dahinter, da selbst sein sonst so gutes Bauchgefühl für ihn nicht mehr wahrzunehmen war.

Seltsam.

Leicht verwirrt ließ er vollkommen von Amanda ab, da er offensichtlich nicht nur die Stimmung zerstört, sondern zusammen mit dem Tier auch seine Erektion zum Verstummen gebracht hatte. Was ihm erst jetzt auffiel, da das Adrenalin langsam in seinen Adern abebbte und sein Herzschlag sich deutlich beruhigte. Seine Atmung war vollkommen normal.

„Er hätte dich verletzt“, warf er noch ein, wusste aber zugleich, wie sinnlos diese Rechtfertigung war, weshalb er noch weiter auf Abstand ging, in dem er einen Meter von ihr wegschwamm und sich mit Beinbewegungen über Wasser hielt.

Sein Blick war unverwandt auf Amanda gerichtet.

 

Damit hatte sie nicht gerechnet.

War es das, was passierte? Verwandelte er sich in das Tier, das in ihm wohnte, wenn er Sex hatte? Und das hatte er ihr so locker verschwiegen?

Im Gegensatz zu jenen Nataniel blitzten Amandas Augen vor geladener Emotion geradezu auf.

War das hier ein albernes Experiment gewesen?

„Wolltest du dir mit mir nur irgendwas beweisen?“, raunte sie so leise, dass er es, wenn überhaupt, sicher nur halb verstand.

In diesem Moment wäre es ihr mehr als recht gewesen, wenn sie sich ebenfalls in eine Raubkatze hätte verwandeln können. Dann hätte sie ihm vielleicht gebührend zeigen können, was sie von seinem Verhalten hielt.

Warum hatte er denn überhaupt angefangen, was er nun so gleichgültig beendete? Es musste ihm doch von Anfang an klar gewesen sein, dass er mit dem Panther aneinandergeraten und verlieren würde. Immerhin konnte nur der Mann mit Amanda intim sein. Etwas Anderes war doch hoffentlich völlig abwegig.

Auch Amanda hatte mehr Stolz, als manchmal gut für sie war und den hatte Nataniel gerade mit Furchen und Kratzern übersät, obwohl er gerade sein Tier nicht ans Tageslicht gelassen hatte.

Sie war sogar weniger als eine Gespielin, sie war NUR ein Mensch. Und wie sich gezeigt hatte, taugte sie nicht einmal zu ein wenig Vergnügen.

Enttäuscht und deshalb wutentbrannt ließ sie sich ins Wasser gleiten. Nataniel paddelte ein gutes Stück von ihr entfernt im Fluss, was es ihr leicht machte, einfach zu verschwinden. Und das nicht nur aus seiner Nähe. Sie würde noch heute Clea anrufen. Sie sollte ihr eine Maschine schicken, die sie ins Hauptquartier brachte. Trotz des Gepardenbisses würde Amanda es schon irgendwie bis zu ihrem Wagen zurückschaffen. Und wenn es Tage dauern sollte.

 

Amanda murmelte irgendetwas von 'beweisen'. Da sie aber so aussah, als würde sie gleich in die Luft gehen, fragte Nataniel nicht nach, was sie gesagt hatte, sondern ließ sie ziehen.

Während er ihr nachblickte, schien etwas in ihm runter zu fallen und durch den Aufprall zu zerschellen. Er fühlte es nicht. Er fühlte absolut gar nichts. Weder Bedauern, noch Schuld, noch irgendetwas anderes, was in diesem Augenblick deutlich angebracht gewesen wäre.

Es hätte Nataniel mehr als nur beunruhigen sollen, aber das tat es nicht. Wie könnte es auch. Da war nichts mehr.

 

Er hatte sich eine Weile an den Felsen gelehnt und darüber nachgedacht, was passiert war.

Wäre Amanda eine Wandlerin gewesen, würde er gerade heißen, wilden Sex haben und es absolut genießen. Hemmungslos und ohne Bedenken. Aber das war sie nicht und somit war das der springende Punkt.

Der Panther war ein instinktgesteuertes Wesen. Seine leidenschaftlichen und wilden Eigenschaften beherrschten beim Sex hauptsächlich Nataniels Gefühlsleben und teilweise sogar seine Gedanken. Sein menschlicher Körper wäre nur noch eine Fassade für seinen ungezähmten Trieb. Das hieß nicht, dass er vollkommen rücksichtslos war, immerhin war der Panther auch ein fürsorglicher Gefährte, aber für Amanda hätte das nicht gereicht.

Sie kannte sich mit Gestaltwandlern in dieser Situation ebenso wenig aus, wie er sich mit menschlichen Frauen bei dieser Gelegenheit auskannte. Das Nichtwissen würde zu Missverständnissen führen und am Ende sogar zu Angst. Von dort aus war es bis Hass und Abscheu nicht mehr weit.

Nein, Nataniel hatte gut daran getan, den Panther in seine Schranken zu verweisen, ehe etwas Schlimmeres als das passiert wäre, vor dessen Tatsachen er sich nun sah.

Amanda war fort und irgendwie wusste er, dass das noch nicht alles sein würde.

Nachdem vermutlich genug Zeit vergangen war, damit sie sich in Ruhe hatte anziehen können, schwamm Nataniel zu seinen eigenen Sachen zurück und zwängte sich in seine Jeans, was sich als äußerst schwierig gestaltete, da er nass war. Sein Shirt zog er noch nicht einmal an, ehe er zurück zum Lager ging.

Im Augenblick war er ratloser denn je. Er hatte das Gefühl, seine ganze Orientierung verloren zu haben.

Schon während er über den Versammlungsplatz und an einigen Leuten vorbei ging, fiel ihm auf, dass sie ihn alle sehr merkwürdig ansahen. Kinder, die sich gestern noch an seine Beine gehängt hatten, wichen erschrocken vor ihm zurück und sahen verwirrt ihre Eltern an. Die Alten starrten ihn mit entsetztem Schweigen an, während die Jüngeren aufgebracht miteinander tuschelten. Aber keiner wagte es, ihm nahezukommen. Was auch gut so war, im Augenblick wollte er nichts anderes, als alleine sein.

Nataniel war sich noch nicht einmal bewusst, dass er kein bisschen mehr die Ausstrahlung oder den Geruch des Alphatiers an sich trug. Er war wie ein Fremder für seinen Clan geworden.

 
 

***

 

Nele war den ganzen Tag völlig aufgedreht gewesen. Ihre Mutter hatte sie gerade einmal dazu zwingen können, noch ihr Abendessen zu beenden, bevor sich die Kleine vom Tisch aufmachte und zum Versammlungsplatz rannte. Dort setzte sie sich auf einen großen Stein, sah den Männern dabei zu, wie sie das große Feuer am Laufen hielten, und ließ ihre großen, grünen Augen in die Runde schweifen.

Jedes Mal, wenn jemand auf den Platz kam, strahlte ihr hübsches rundes Gesicht, bevor das Mädchen bemerkte, dass es nicht die Person war, auf die es wartete.

 

Nele hatte Stunden dort gesessen, bis ihr schließlich von der Nachtluft kalt wurde, genauso wie von der Enttäuschung, die sich in ihr breitmachte.

Amanda war nicht gekommen. Dabei hatte Nele geduldig gewartet, bis es dunkel geworden war.

Amanda hatte ihr doch fest versprochen, dass sie ihr zeigen würde, wie sie verschwand. Nele wollte auch ganz tapfer sein und nicht erschrecken, wenn das Düstere danach an ihr hing. Und sie hatte sogar den Mund gehalten und niemandem davon erzählt. Ganz so, wie sie es versprochen hatte.

Ihre dünnen roten Lippen pressten sich aufeinander, als ihr eine dicke Träne über die Wange rollte.

Warum war Amanda nicht gekommen?

 
 

***

 

Mit gesenktem Blick stand Amanda neben einem der Schreibtische und sah Clea über die Schulter. Die streng zurückgekämmten Locken, die sie in einem Dutt zusammengefasst hatte und die dunkle Uniform ließen sie hart erscheinen.

Über schwarzen Stiefeln und Hosen trug sie eine eng geschnittene lange, schwarze Jacke, an der auf beiden Schultern ihr Rang in einem Symbol abgebildet war.

Seit sie zurückgekommen war, hatte sie fast ihre gesamte Zeit in der Zentrale verbracht.

Die Sammler 1. Klasse hatten sie zu sich berufen und einem strengen Verhör unterzogen, da sie so lange ohne Bericht verschwunden gewesen war. Eric hatte sie mit keinem Wort erwähnt. Weder sein Verschwinden, noch die Tatsache, dass er sich wieder in der Stadt aufhielt.

Er war über den Kontakt mit ein paar Wandlern hier in den Untergrund gegangen. Die Gruppe würde das versuchen, was William Hunter im Nationalpark geschafft hatte. Und Amandas Pläne würden ihnen in die Hände spielen.

Unter der Frisur konnte jeder, der vorbei ging, ihr Registrierungstattoo sehen. Sie trug es inzwischen mit einem grimmigen Stolz, den niemand so recht verstehen konnte, außer sie selbst und den Menschen, die von der 'Herodes-Aktion' wussten.

Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, lehnte Amanda sich ein wenig vor, um die Landschaft auf dem Bildschirm besser erkennen zu können.

Es war irgendwo in Kanada.

Ein Landstrich, auf dem inzwischen viel mehr Wohnhäuser und andere Gebäude standen. Punkte verschiedener Farbe leuchteten einzeln und in kleinen Gruppen überall auf der Karte.

„So viele.“

Selbst ihre Stimme war in dieser Umgebung um einige Grad herunter gekühlt und verriet nichts von der Person, die sich hinter den hellbraunen Augen verbarg.

„Ja. Und das ist nur einer der sechzehn Landstriche, die sie gesäubert haben.“

Cleas Augen hinter der dickrandigen, goldenen Brille ruhten nicht zum ersten Mal besorgt auf Amandas blassem Gesicht.

„Meinst du wirklich, dass wir das tun sollten? Ich meine … hier.“

Amanda machte sich gar nicht die Mühe, ihre Freundin beruhigend anzusehen.

„Du weißt doch am allerbesten, dass nichts so gut abgeschirmt ist, wie dein Büro. Hier müsste schon jemand willentlich vorbei kommen, um uns auszuspionieren.“

Und das würde nicht passieren.

Cleas von Neonröhren, Computern, Bildschirmen und Hello-Kitty-Katzen dominiertes Reich lag im Keller des Hauptgebäudes und wurde nur dann von echten Personen besucht, wenn es gar keine andere Möglichkeit gab. Und das kam nicht vor. So viele Daten, Anrufe und andere Übermittlungen, wie hier jede Stunde eingingen, machte jeden persönlichen Besuch absolut unnötig.

„Okay, du hast Recht. Aber ich halte es immer noch nicht für eine gute Idee, was du vorhast.“

Clea tippte mit ihren bunt lackierten Fingernägeln auf der pinken Tastatur herum und ließ weitere Karten auf dem Bildschirm erscheinen. Amanda zählte die Punkte und über ihr blasses Gesicht legte sich nicht zum ersten Mal, seit sie zurück war, ein grauer Schatten.

Das würde ein hartes Stück Arbeit werden. Zum Glück konnte sie es allein tun und würde Clea und jeden Anderen in Sicherheit wissen, bevor sie zuschlug.

 
 

***

 

Nataniel war gerade in der Apotheke, als er den Anruf erhielt.

Ein Mitglied seines Rudels hatte sich beim Jagen verletzt und er war hier, um die nötigen Antibiotika zu besorgen, da sie ihre Vorräte bereits erschöpft hatten.

Er hätte auch jemand anderen schicken können, doch seit Amanda weg war, wollte er jede Möglichkeit nützen, alleine zu sein, selbst wenn das bedeutete, dass er einen mehrstündigen Fußmarsch in kauf nehmen musste, da er seit dem Tag ihrer Abreise so extrem wütend auf seinen Panther war, dass er ihn nicht mehr befreien wollte. Übrigens die einzige Emotion, die ihn ab und zu überkam.

Es wunderte ihn sogar, dass seine Leute ihn nicht schon längst ersetzt hatten. Er kümmerte sich weiterhin um seine Pflichten, aber er roch nicht einmal mehr nach Raubkatze, als wäre er nichts weiter als ein stinknormaler Mensch.

Vermutlich war die Loyalität seinem Vater gegenüber das Einzige, was seine Leute davon abhielt, ihn abzulösen. Denn im Fall der Fälle wäre er nicht mehr in der Lage, sie zu beschützen. Zumindest konnte man ihm das nicht mehr zutrauen und schon gar nicht ansehen.

Mehr denn je kümmerte er sich deshalb um die organisatorischen Dinge. Dachte sich alle möglichen Pläne aus, falls etwas schiefgehen sollte und wenn er schon nicht mehr Stärke beweisen konnte, dann doch wenigstens einen berechnend scharfen Verstand. Da er mit eiskalter Logik vorging.

An Amanda versuchte er weitestgehend, nicht zu denken. Das brachte ihn jedes Mal so dermaßen durcheinander, dass er gar nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand und das konnte er sich nun einmal nicht leisten.

Wenn es aber um das einzige Mitglied seines Clans ging, das ihn nicht ständig mit einem seltsam besorgten Blick bedachte, konnte er es nicht verhindern, an sie erinnert zu werden.

Nele war, so oft sie konnte, in seiner Nähe und fragte jeden Tag nach Amanda und ob sie bald wieder kam. Die enttäuschten kleinen Augen konnte er kaum noch ertragen, umso öfter er ihr erklären musste, dass er nicht wusste, wo Amanda war und auch nicht glaubte, dass sie wieder zurückkäme. Nie wieder.

Auch wenn sein eigenes Herz keine Gefühle zu ließ, so war es doch das des kleinen Mädchens, das jeden Tag ein Stück mehr zu brechen schien und das entging ihm keinesfalls.

Aus diesem Grund fiel es Nataniel so schwer, seine Pflicht zu tun und das Raubtier wieder zuzulassen. Mit dem Panther würden all seine Emotionen zurückkehren und irgendwie war er sich dabei bewusst, dass sie mächtiger denn je in ihm zuschlagen würden. Damit setzte er alles aufs Spiel, was er besaß, um genau das zu verhindern.

Letztendlich hatte er das Rudel wirklich nicht verdient. Er war ein verdammter Feigling ohne Verantwortungsgefühl geworden.

Die Besitzerin der Apotheke wünschte ihm noch einen schönen Tag, als sie ihm die Tüte mit den Medikamenten überreichte und er sie in den Plastikbeutel zu den Süßigkeiten für Nele tat. Sie waren kein Trost, aber vielleicht würden sie das kleine Mädchen etwas aufheitern.

Gerade als Nataniel zur Tür raus wollte, klingele sein Handy.

Während er den Laden verließ und auf die Straße trat, zog er es aus seiner Hosentasche und hob mit tonloser Stimme ab: „Ja?“

„Nataniel?“

Sven klang so, als wäre gerade der Geist seiner Schwiegermutter vor ihm erschienen. Vollkommen entsetzt und ungläubig zugleich.

„Was ist los? Ist dir eine Festplatte eingegangen, oder so etwas in der Art?“, wollte Nataniel wissen, während er nachsah, ob die Straße frei war, ehe er losging, um zum Waldrand zu kommen.

„Verdammt noch mal, das Gleiche könnte ich dich fragen. Du hörst dich an wie ein Toter. Aber zum Teufel noch mal, deswegen rufe ich nicht an!“

Etwas in Svens Stimme veranlasste Nataniel dazu, abrupt stehenzubleiben. Das klang nicht gut.

„Was ist los?“, wollte er nun schon drängender in Erfahrung bringen.

„Die verdammte Hölle ist los! Hast du eigentlich eine Ahnung, was zurzeit auf den Rechnern der Moonleague abgeht? Vor einer Stunde bekam ich eine ganze Welle voller Alarmsignale. Die haben nicht einfach nur einen Gestaltwandler registriert, sondern einen ganzen Haufen davon, und zwar genau dort, wo dein Arsch sich gerade befindet. Ist dir klar, was das bedeutet? Oder klingst du deshalb so, weil sie dich schon erwischt haben?“

Nataniel erstarrte vollkommen.

„Was?“

„Rede ich Wellensitisch oder was? Nach der Menge zu urteilen, müssen die sämtliche Wandler in deiner Region aufgelistet haben. Zwar noch nicht mit persönlicher Kennzeichnung, aber die wissen Sachen, die dürften sie gar nicht wissen, ohne dass jemand geplaudert hat. Familiennamen, Adressen, Rasse, Anzahl der Kinder, Alter, Verwandte. Verdammt noch mal, von einigen hab ich sogar die Schuhgröße!“

Ein eiskalter Schauer überkam Nataniel und zum ersten Mal, seit Amanda vor unzähligen Tagen gegangen war, spürte er wieder die leichte Präsenz seines Raubtiers. Sein Beschützerinstinkt seinem Clan gegenüber sprang so reibungslos an, als wär er ein gut geölter Motor.

„Wann sind sie hier?“, war alles, was er noch fragte, da Nataniel auch so schon begriffen hatte.

Jemand hatte alle Daten über sein Rudel preisgegeben, die er wusste und sie somit auf dem Silbertablett serviert.

Sein Verstand weigerte sich hartnäckig, dabei an Amanda oder Eric zu denken. Das war einfach nicht wahr!

„Ich befürchte, dir bleibt kaum noch Zeit die Kurve zu kratzen. Hau so schnell ab, wie du kannst. Laut dem Signal ihrer Wagen zu urteilen, müssten sie bereits in der Stadt sein.“

Nataniel ließ die Plastiktüte fallen und lief los, während er auflegte und die Nummer von Palia wählte.

Als sie endlich ranging, gab er ihr kurze und knappe Befehle. Sie sollte das Rudel so schnell wie möglich zu einem der geheimen Schutzpunkte bringen und dabei nur das Nötigste mitnehmen. Er übergab ihr so lange die Verantwortung, bis er ebenfalls bei diesem Punkt angekommen war.

Palia war überrascht, ihren Anführer wieder zu haben, zumindest schien das sein Tonfall deutlich gemacht zu haben. Aber gehorsam, wie sie war, versprach sie sich darum zu kümmern und hoffte, dass er bald sicher bei ihnen ankommen würde.

Nataniel hätte sich gewünscht, ihr diesen Gefallen tun zu können, doch kaum, dass er wie der Teufel in den Wald lief, wurde ihm klar, warum er nichts Auffälliges in der Stadt gesehen hatte.

Die ganze Truppe lauerte bereits im Wald auf ihn.

Noch während Nataniel sich verwandelte, zerbröselte er sein Handy, ehe er sich auf den ersten Mann stürzte, den er erreichen konnte.

Seit langem schmeckte er wieder Blut in seinem Maul und kostete das Gefühl aus, Knochen zu brechen und Muskeln zu zerreißen, Leiber mit seinen Krallen zu zerfetzen und seine ungeheure Wut hinauslassen zu können. Doch es reichte nicht. Bei weitem nicht. Es waren zu viele.

24. Kapitel

Die nächsten Tage waren wie ein verschwommener Stummfilm. Viele Stunden schien Nataniel unter harten Beruhigungsmitteln in einem Käfig zu verbringen, der für seine Körpergröße viel zu klein war, während man ihn fortbrachte. Weit weg von seinem Rudel.

Hoffentlich war es in Sicherheit.

Man behandelte ihn roh und brutal, da er vier ihrer Kameraden getötet hatte, bis man ihn hatte bändigen können. Ein Grund mehr, sich nicht zurückzuverwandeln. Als Raubkatze hatte er wenigstens die Mittel, sich halbwegs zu verteidigen und sein Fell bot ihm zumindest etwas Schutz.

In den Stunden, die Nataniel in vollkommener Dunkelheit verbrachte, versuchte er sich mit dem Tier auszusöhnen, doch zeitgleich wurde ihm bewusst, dass das nicht nötig war.

Die aufgefüllte Leere in ihm hatte ihm deutlicher gezeigt, dass er ohne das Tier nicht vollkommen war, als es je etwas anderes vermocht hätte. Genauso wie das Tier ohne ihn nicht existieren konnte. Sie gehörten zusammen und spürten den gleichen Schmerz in der Brust, wenn sie an ihr Rudel oder an Amanda dachten.

Noch immer weigerte er sich, zu glauben, dass sie es war, die sie verraten hatte. Es musste einfach eine andere Lösung geben. Etwas, das er nicht bedachte und in seinem Zustand auch nicht richtig ergründen konnte.

 
 

***

 

Nataniel wehrte sich verbissen gegen die Hände, die ihn aus dem kleinen schützenden Käfig zogen und zugleich in einen kalten Raum ohne Fenster verfrachteten. Da waren nur Betonwände und eine massive Stahltür.

Wieder betäubten sie ihn, bis er glaubte, sein Herz müsste unter all den Mitteln versagen. Doch dieses Mal versank er nicht in tiefen erlösenden Schlaf, stattdessen war er kurz darauf völlig unfähig, auch nur mit den Augen zu blinzeln.

Er war gelähmt, damit er sich nicht wehren konnte, aber dennoch den grausamen Akt voll und ganz mitbekommen konnte, den sie kurz darauf an ihm vollzogen.

Mit stummem Entsetzen, da er nicht einmal brüllen konnte, sah er mit an, wie sie seine linke Schulter rasierten und ihm das Zeichen der Registrierung mit schwarzer Tinte in seiner Raubtierhaut verewigten. Danach ließen sie ihn mit dem Gefühl des totalen Versagens alleine.

 
 

***

 

Der Klang ihrer Stiefel hallte von den leeren Wänden wider, während Amanda so langsam wie nötig und so schnell wie möglich durch die Korridore der Zentrale lief.

Immer wieder begegnete sie Leuten, die ihr grüßend zunickten oder ein wenig verstohlen einen Blick auf sie warfen. Die meisten wussten, wer sie war. Immerhin war sie länger hier als manch älterer Kollege. Und wenn Amanda mit diesem verbissenen Ausdruck auf dem Gesicht durch das Gebäude wirbelte, als wäre sie der Teufel persönlich, dann konnte es nur bedeuten, dass es Ärger gab.

Mit dem Klemmbrett unter dem Arm stieß sie die Feuertür zum Treppenhaus auf, hörte, wie sie zufiel, und nahm dann drei Stufen auf einmal, um die zwei Stockwerke zu überbrücken.

Sie atmete nicht einmal hörbar schneller, als sie in den weißen Gang trat, der genauso aussah wie der, den sie gerade verlassen hatte. Bloß kam ihr hier niemand entgegen.

Ihre Augen flogen über die Notiz, die W4 ihr gegeben hatte, und wandte sich nach rechts. Am Ende des hell erleuchteten Ganges kam sie zu einer Sicherheitsschleuse, an der ihre Netzhaut gescannt wurde.

Wie immer und wie bei sonst nur wenigen Mitgliedern der Organisation flammte ein kleines rotes Warnsignal neben ihrer Zugangsbestätigung auf: N47, die gleiche Buchstaben- und Zahlenkombination, die unter ihrem Haaransatz im Nacken zu lesen war.

Ein Wärter sah sich noch ihren Ausweis an und notierte die Zeit ihres Zugangs, bevor er ihr zu der Zelle folgte, zu der sie wollte und von außen das Licht anschaltete. Er würde hier auf sie warten, falls es Probleme gäbe.

Amanda nickte nur abgehakt und ließ sich die Tür öffnen.

Der Raum war größer, als es die schwere Tür von außen vermuten ließ. Wie es Vorschrift war, blieb Amanda erst einmal hinter der gelben Linie auf dem Boden stehen. So weit würde die Kette, die sie ihm umgelegt hatten, reichen. Hier war sie sicher und würde Krallen, Zähnen oder anderen Angriffen entgehen. Mal von verbalen Attacken abgesehen. Und die erwartete sie mehr als alles Andere. Aber sie fürchtete sich nicht. Er konnte ihr nicht mehr wehtun, als er es bereits getan hatte.

Der Kugelschreiber verursachte ein leichtes Schaben, als sie ihn aus der Metallklammer des Klemmbretts zog, vertuschte aber ausgezeichnet den kleinen Knopfdruck, den sie vollführte, um die Kommunikationsleitung zum Raum über Cleas Terminal umzuleiten.

Niemand würde sie belauschen können. Auch wenn Amanda sich nicht einmal sicher war, dass es zu einem Gespräch kommen würde. Aber es reichte auch, wenn er ihr zuhörte.

Ihr Blick ruhte einen Moment auf seiner Schulter, wo die Zeichen deutlich in schwarz und mit einem blutigen, entzündeten Rand hervorstachen. Das hätte sie ihm auf keinen Fall ersparen können, egal wie schnell sie den Auftrag übernommen hatte und hierher gekommen war.

„Wir werden nicht abgehört.“

Er würde ihr nicht glauben.

„Ich weiß nicht, was genau passiert ist. Sie haben mir erst vor fünfzehn Minuten gesagt, dass du hier bist.“

Er würde ihr nicht mal zuhören.

„Ich bring dich hier raus.“

Aber das war egal, denn sie log ihn nicht an.

 

Nataniel sah sich nicht einmal um, als die Tür zu seinem Gefängnis geöffnet wurde.

Seine Augen starrten leer durch die Gegend und machten vermutlich keinen Unterschied zu jenem Anblick, den er noch vor einigen Tagen abgegeben hatte, ehe er sein Tier wieder zugelassen hatte. Doch statt der Leere in seinem Inneren schien er zu brennen. Die Sorge um sein Rudel fraß ihn regelrecht auf. Seine gestohlene Anonymität schmerzte ihn gewaltig, da er versagt hatte und somit das Opfer seiner Eltern umsonst gewesen war. Genauso wie der Tod seines Bruders.

Manchmal glaubte er sogar, an dem gewaltigen Kloß in seinem Hals ersticken zu müssen, der so sehr brannte, als würde er langsam aber sicher von innen verätzt werden.

Noch bevor er ihre Stimme erkannte, umfing ihr Geruch sein Gehirn wie erlösender Nebel.

Auf der Stelle riss Nataniel den Kopf in die Richtung, aus der der Duft kam, wobei die Kette um seinen Hals vernehmlich klirrte.

Sie war es tatsächlich, auch wenn der Ausdruck ihrer hellbraunen Augen für ihn schlimmer war, als wenn man ihm das Fell bei lebendigem Leibe abgezogen hätte.

Schweigend hörte er ihr zu, und noch ehe das letzte Wort im Raum verklungen war, setzte er sich auf und verwandelte sich, was mit dem Metallring um seinen Hals nicht leicht, aber auch nicht unmöglich war.

Er schlang die Arme um seine nackten Knie, während er sich seitlich gegen die Wand lehnte. Nataniel war unglaublich müde, hungrig und von den Mitteln, die man ihm gegeben hatte, vollkommen ausgelaugt, dennoch waren seine Augen wachsam auf Amanda gerichtet.

Es gab so vieles, dass er ihr hätte sagen wollen, doch nichts davon hätte auch nur im Ansatz erklärt, wie leid ihm das alles tat. Nicht nur ihm, sondern auch dem Panther. Doppeltes Schuldbewusstsein.

„J-Jem…“

Er musste sich räuspern, da seine Stimme so rau wie Schleifpapier war.

„Jemand hat unser Rudel verraten. Ein Informant hatte mir gerade mitgeteilt, dass unzählige Daten über fast jeden unserer Clanmitglieder bei der Moonleague eingegangen sind. Inklusive des Namens der Stadt, in deren Nähe unser Lager war. Ich konnte sie noch warnen, mich hat man erwischt.“

Wieder musste er an sein Rudel denken und ob es in Sicherheit war. Wenn auch nur einem einzigen Mitglied etwas passiert war, könnte er sich das niemals verzeihen. Es war alles seine Schuld. Seine Dummheit hatte sie in Gefahr gebracht und seine Unfähigkeit zu handeln.

Doch, da er ohnehin nichts mehr daran ändern konnte, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Amanda. Er hatte keinen einzigen Moment lang dem Drang nachgegeben, sie zu beschuldigen. Er glaubte einfach nicht, dass sie es war. Weshalb er immer wieder 'unser Rudel' gesagt hatte und nicht 'sein Rudel'. Auch wenn Amanda es verlassen hatte. Sie gehörte dazu. In seinen Augen würde sie immer dazugehören. Genauso wie ihr Bruder.

 

Amanda nickte nur und machte sich Notizen auf dem Klemmbrett, die allerdings nur für die Kameras da waren. Es war nicht mehr als ein paar leere Worte auf dem Papierbogen.

Seit Nataniel sich verwandelt hatte, richtete Amanda ihren Blick hauptsächlich auf die Spitze des Kugelschreibers, die im Neonlicht fahl glänzte. Ihn sah sie nur hin und wieder an, ohne irgendeines ihrer Gefühle aus ihrem Inneren preiszugeben.

An ihren Kiefermuskeln, die sich anspannten und ihren Augen, die sich wütend verengten, musste er sehr genau erkennen, was sie bei dem empfand, was er ihr erzählte.

Wie war das möglich? Niemand von der Organisation war dort gewesen. Niemand außer Eric und ihr. Und sie hatten niemanden verraten.

Es hatte Amanda bereits verwundert, dass Nataniel ihr den Gefallen getan hatte, sich zu verwandeln, um mit ihr sprechen zu können. Sie wollte sein momentan anscheinend großzügiges Wesen nicht zu sehr strapazieren, aber ob er es ihr glaubte oder nicht, sie musste es ihm sagen.

„Es tut mir leid. Ich habe nichts davon gewusst, sonst hätte ich es euch wissen lassen.“

Kurz begegneten ihre Augen den seinen, bevor sie sich wieder auf ihren Berichtsbogen konzentrierte und irgendeinen ausgemachten Blödsinn darauf kritzelte.

„Clea kann herausfinden, ob und wie viele erwischt worden sind. Ich lass dir was zu essen bringen und bin sobald ich kann mit Informationen wieder hier.“

Während sie den Kugelschreiber wieder verstaute und die Notizen unter ihren Arm klemmte, hätte sie gern ein aufmunterndes Lächeln zustande gebracht. Aber sie konnte nicht. Nicht nach allem, was passiert war und vor allem nicht hier.

„Mach dir nicht zu viele Sorgen, ich bekomm dich wahrscheinlich schon heute Nacht hier raus.“

Ihre Augen nahmen einen Ausdruck an, den er nicht kannte, während sie sich nur zentimeterweise nach vorn bewegte, bis ihre Stiefelspitzen den gelben Streifen zunächst unschuldig berührten, um ihn dann irgendwann, wie nebenbei ein Stück zu überschreiten.

Amanda ging, wie ärgerlich und aufgebracht über irgendetwas hin und her und überschritt immer wieder diese Grenze, die sie vor ihm schützen sollte.

„Aber damit ich das kann, musst du mir helfen. Jetzt sofort. Und du hast keine zweite Chance.“

Der nächste Teil würde ihm sicher gefallen, was Amanda auch ein bitteres Grinsen in seine Richtung werfen ließ.

„Greif mich an.“

Sie sah den verwirrten Ausdruck in seinem Gesicht und brachte ihn mit ihrem Blick dazu, auf die gelbe Linie zu sehen und endlich zu verstehen. Hier konnte sie nichts tun. Es gab nur elektrisches Licht, das sie nicht nutzen konnte, da es sich in jeden noch so kleinen Winkel des Raumes schmiegte. Erst musste er woandershin gebracht werden, bevor sie ihm zur Flucht verhelfen konnte.

Amanda verlangsamte sogar ihre Schritte, auch wenn ihr klar war, dass es ihm so wahrscheinlich sogar zu einfach vorkam. Bestimmt kribbelten seine Finger schon, bei der Vorstellung, sie verletzen zu können. Und dennoch ließ er sie selbst in diesem Moment zappeln.

„Jetzt.“

 

Er glaubte ihr sofort, dass sie nichts davon gewusst hatte. Sie hatte immerhin auch nichts von der 'Herodes-Aktion' gewusst, bis sie näher nachgeforscht hatte. Was für eine Organisation das auch immer war, bei der sie arbeitete, es war eine von der ganz verschwiegenen Sorte.

Andererseits fragte sich Nataniel, wieso sie ihm überhaupt noch helfen wollte, nachdem er sie vermutlich gewaltig gedemütigt haben musste. Doch es entsprach mit großer Wahrscheinlichkeit ihrem Wesen, ihm selbst dann noch zu helfen, wenn er zum beschissensten Arschloch der Welt gekürt worden wäre.

Als Amanda sich seltsam zu verhalten begann, fragte er sich, was sie vorhatte. Sie wollte ihn herausbringen, alles gut und schön, aber warum begann sie dann aufgebracht hin und her zu laufen, obwohl ihre Stimme absolut nicht dazu passte?

Ihr Blick wies auf den gelben Streifen auf dem Boden, dessen Sinn er noch nicht ergründet hatte. Wenn es aber so etwas wie eine Sicherheitsvorkehrung war, könnte er sich den Rest selbst zusammenreimen. Vermutlich könnte er mit der Kette um den Hals nicht ganz bis zur Linie reichen.

Amandas befehlender Tonfall, er solle sie angreifen, verwirrte und entsetzte ihn zugleich, doch er begann den Plan zu begreifen, den sie da offensichtlich ausgeheckt hatte. Aber sie angreifen? Nichts lag ihm ferner!

Mit Müh und Not zwang er sich dazu, aufzustehen, was die Ketten wieder klirren ließ. Dabei versuchte Nataniel die Gegebenheiten als das zu sehen, was sie in Wirklichkeit waren.

Amandas aufgebrachter Gang war in seinen Augen nichts weiter als Show und vermutlich ging es genau darum. Etwas zu bieten.

Ihm fiel die kleine Kamera ein, die Amanda in seinem Käfig angebracht hatte, als er noch nicht wusste, was er war und bei der Ärztin im Zwinger festsaß. Bestimmt wurden sie auch jetzt beobachtet, auch wenn er nicht wagte, sich nach einer Kamera umzusehen. Das hätte vielleicht Amandas Plan durchkreuzt.

Also spielte er mit. Er bleckte die Zähne, fuhr seine Krallen bis zum Anschlag aus und tat so, als würde er durch irgendetwas wahnsinnig wütend werden.

Seine Augen verfolgten ihre langsam werdenden Schritte, als würde er die Entfernung für einen Sprung abschätzen.

Er täuschte ein gespieltes Zucken vor, als würde ihm etwas wehtun. Begab sich dabei sogar in die Hocke und umschlang verkrampft mit seinen Armen seinen Oberkörper.

Sein Blick war auf den Boden gerichtet, während er ganz genau auf Amandas Schritte hörte, die ihm ihre Position verrieten.

Gerade als sie vermutlich die Geduld bei diesem Spielchen verlor, oder sich ernsthaft fragte, was nun mit IHM los war, stieß er sich pfeilschnell vom Boden ab und schlug präzise mit seiner ausgestreckten Klaue nach ihr.

Die Kette würgte ihn und riss ihn schmerzhaft zurück, doch als er auf dem Rücken aufschlug, dabei seine Schulter mit der Tätowierung umklammert hielt, als hätte er sich beim Aufprall daran verletzt, betrachtete er sein Werk.

Er hatte Amandas Ärmel an ihrem linken Oberarm aufgeschlitzt, so dass nicht nur der weiße Stoff einer Bluse hervorstach, sondern auch deutlich das rote Blut daran zu erkennen war.

Sein eigenes Blut. Das aus der Wunde, die er gerade fest mit seiner Hand zudrückte. Er hatte seiner frischen Tätowierung noch eine neue Verzierung verpasst.

War das genug Show? Er hoffte es.

 

Er hatte sie nicht mal angekratzt. Einen Höllenschrecken hatte er ihr eingejagt, obwohl sie innerlich darauf vorbereitet hätte sein müssen, dass er sie ansprang. Aber nein, ihr saß der Schreck trotzdem in den Knochen und Amanda musste gar nicht wirklich vorspielen, dass sie an die Tür hinter sich zurücktaumelte.

Der Raum wurde in dem Moment in rotes Licht getaucht, als ein Zischen zu hören war und Betäubungsgas durch die Luftschächte eingelassen wurde. Die Tür wurde entriegelt und Amanda von dem Wachmann herausgezerrt, bevor er die Metalltür wieder zuwarf.

Amanda wäre es lieber gewesen, wenn Nataniel ihr tatsächlich eine Wunde zugefügt hätte. Dann wäre es mit dem weiteren Schauspiel leichter gewesen. Aber Wut brauchte sie fast nie zu spielen.

„Mann, wo waren Sie denn? Haben Sie nicht gesagt, dass sie hier warten würden? Pennen Sie immer bei ihrem Job oder was?“

Amanda hielt sich die Stelle, an der Nataniels Krallen ihre Jacke aufgerissen hatten, wo sie aber nicht einmal eine Schramme davon getragen hatte.

Verdammter Idiot! Konnte er nie das tun, was sie ihm sagte?

„Entschuldigen Sie, Miss. Ich dachte nur … Er war doch angekettet.“

Der Wächter sah verschreckter aus, als Amanda in der Zelle je hätte sein können. Es tat ihm offensichtlich mehr als leid, dass er seinen Pflichten nicht nachgekommen war. Amandas eiskalte Stimme schien fähig zu sein, ihn in Scheiben zu schneiden.

„Beschaffen Sie ein paar Männer und bringen Sie ihn in eine der alten Zellen im Keller.“

Gerade wollte der Wachmann zu einer Antwort ansetzen, als Amandas Blick auf ihm landete und er nicht nur verstummte, sondern beinahe panisch davon fegte.

 
 

***

 

Gegen Abend hatte sie alles erledigt, was sie erledigt wissen wollte, bevor sie zu Nataniel ging.

Ihre zerrissene Jacke hing über dem Bürostuhl vor einem der wenigen laufenden PCs in Cleas Büro und Amanda lächelte ihre Freundin an, die schon seit zehn Minuten nervös hin und her lief.

„Und du bist sicher, dass du mich nicht brauchst? Ich meine, ich könnte dir hier eine Hilfe sein. Du kennst dich mit dem Programm vielleicht nicht so gut aus, dass …“

„Clea.“

Amandas Stimme war ruhig und warm, was ihre Freundin sofort verstummen ließ. Die kleinere Frau setzte ein gerührtes Gesicht auf und Amanda konnte sehen, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten.

„Oh Amanda …“

„Mach dir keine Sorgen. Eric wartet bei der Adresse auf dich, die ich dir gegeben habe. Herb hat er auch schon abgeholt. Euch wird’s gut gehen.“

„Was ist mit dir?“

Amanda stand auf und drückte Clea fest an sich, bevor sie diese losließ und ihr eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. Sie antwortete ihr, während sie die kleinere Frau bereits auf die Tür zuschob.

„Ich pass schon auf mich auf, keine Sorge.“

„Zehn Minuten. Nicht mehr und nicht weniger, Amanda.“

 
 

***

 

Schon wieder schlafen. Er hätte es wissen müssen. Zugleich fragte er sich, als er langsam erneut aufwachte, ob er bei der nächsten Betäubung nicht einfach gleich ins Koma fiel und somit allen Beteiligten ganz schön viel Ärger ersparte. Vor allem für sich selbst. Aber das alles wurde ohnehin hinfällig. Denn Amanda würde ihn hier herausholen.

Diesen Gedanken wiederholte er im Geiste wie ein Mantra, während er im Stockfinsteren da saß, und sich von der chemischen Keule erholte. Er war nur noch ein einziges Nervenbündel aus zitternden Muskeln und fahrigen Bewegungen. Seine Sinne waren zugleich betäubt, aber auch überreizt, so dass er ihnen nicht vollkommen trauen konnte.

Das Warten wurde zu einer unerträglichen Sache, in der er das Essen, das man ihm brachte, lustlos hinunter schlang, ohne etwas zu schmecken, um seinem Körper ein bisschen Energie zu schenken. Danach hatte er sich wieder in eine Ecke verzogen, um seiner mehr als nur ungewissen Zukunft entgegen zu bangen.

Würde Amanda ihm trotz allem wirklich helfen? Welches Risiko ging sie dabei für ihn ein? War der Preis vielleicht zu hoch?

Fragen über Fragen quälten seinen schmerzenden Kopf, bis die Stille endlich durch die Tür zu seinem Gefängnis durchbrochen wurde.

 

Der Riegel der Tür gab ein Quietschen von sich, als Amanda ihn zur Seite zog.

Vor einer Stunde hatte sie veranlasst, dass man Nataniel etwas zu Essen brachte. Da er jetzt als absolut aggressiv galt, hatte man ihm nur ein Tablett durch die Klappe am unteren Ende der Tür geschoben. Eben das schob Amanda nun mit dem Fuß zur Seite, als sie in den finsteren Raum eintrat.

Die Zelle gehörte zu den ältesten im Gebäude und hatte etwas Martialisches mit den Steinwänden und dem winzigen, vergitterten Fenster, das über einen Schacht zum Innenhof hinausführte.

Nur bleiches, graues Licht fiel herein und erhellte gerade mal einen Fleck in der Größe einer Schuhschachtel auf dem Boden.

Amanda konnte Nataniel im Stockdunkeln nicht sehen, aber das musste sie auch nicht. Sie wusste, dass er hier war.

„Ich hoffe, das Essen war nicht so schlecht, wie ich befürchte.“

Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und ließ ihren Blick durch die Schatten an den Wänden und in den Ecken des Raumes schweifen. Links neben ihr schien sich etwas bewegt zu haben. Aber sicher war sich Amanda nicht.

„Clea hat herausgefunden, dass keiner deiner Leute gefasst worden ist. Du hast sie noch rechtzeitig gewarnt.“

Etwas rührte sich und Amanda wandte ihre Augen nach links, wo sie seine Augen leicht schimmern sehen konnte.

„In zehn Minuten wird hier der Hauptrechner zusammen und das Chaos ausbrechen. Ich denke, dass es dir bestimmt Recht ist, wenn ich dich vorher hier rausbringe.“

Ihre hellen Augen hefteten sich auf das kleine Rechteck aus Licht auf dem Zellenboden und sie lächelte.

„Laufen wäre nicht schnell genug, daher werden wir keine andere Möglichkeit haben, als dass du mit mir durch die Schatten kommst.“

Ihre Stimme war leer und geschäftsmäßig, als sie weitersprach.

„Du musst nur die Augen offen halten und versuchen dich am hellsten Licht festzuhalten, das du siehst. Den Rest mache ich schon.“

Das hörte sich alles so verdammt leicht an. Aber das Risiko erhöhte sich schon allein dann, wenn er nicht zu ihr kam, sondern darauf bestand, dass sie ihn aus seiner dunklen Ecke pflückte.

Sie hatte die Entfernung von der Tür aus berechnet, und wenn sie jemanden mitnahm, musste der Gang nur noch exakter stimmen.

 

Amandas Geruch wehte ihm in die Nase und ihre Worte erfüllten den Raum. Mühsam versuchte er aufzustehen, schwankte mehr schlecht als recht auf sie zu, bis er so dicht vor ihr stand, dass er die kühle Wärme ihrer Haut förmlich auf sich spüren konnte.

Die Tatsache, dass seine Leute offenbar in Sicherheit waren, beruhigte ihn sehr. Dennoch wollte er um nichts auf der Welt noch länger von ihnen getrennt sein. Immerhin waren sie im Augenblick führerlos und in höchster Gefahr. Er sollte bei ihnen sein und mit ihnen zusammen diese Situation durchstehen. Aber er würde es nicht um jeden Preis tun.

„Ich weiß, die Zeit ist knapp, aber ehe ich deinem Plan zustimme, will ich wissen, welches Risiko du dabei eingehst. Ich habe dich bereits öfters in die Schatten gehen sehen und das eine Mal, als es dich förmlich niedergestreckt hatte, werde ich nie vergessen. Es kann also nicht so leicht sein, auch noch jemanden mitzunehmen.“

Klar, er war nicht hier, um ihr einen Sicherheitsvortrag über ihre eigenen Fähigkeiten zu halten. Aber wenn sie für ihn schon etwas riskierte, wollte er genau wissen, ob sie es nicht besser sein ließ. Immerhin hatte er ihr bereits genug wehgetan. Selbst wenn er es nicht gewollt hatte.

 

Eine ihrer Haarsträhnen hatte sich gelöst und hing über ihrem rechten Auge, als er vor sie trat. Amanda hob den Kopf nicht, sondern sah ihn von unten herauf an, während sie mit den Händen hinter dem Rücken an der Tür lehnte.

Bevor er zustimmte, wollte er ihr Risiko kennen? Amandas Gesicht verzog sich zu einem schiefen Lächeln, das sie in Kombination mit ihren ausdruckslosen Augen fast gefährlich aussehen ließ.

Was würde es ändern, wenn er es wüsste? Er wollte hier raus, weil er ein Rudel zu beschützen hatte. Sie würde ihn rausbringen. Und zwar, bevor hier das totale Chaos ausbrach. Wozu da noch Fragen stellen? Amanda kannte das Risiko und würde es trotzdem tun.

„Glaubst du, wenn du mir unterstellst, ich hätte meine Fähigkeiten nicht unter Kontrolle, würde das irgendwas bringen?“

Ihre Augen fingen bereits an sich dunkel zu verfärben und Amanda konnte die Schatten unter ihren und Nataniels Füßen wabern sehen. Wie immer warteten sie auf sie.

„Halt einfach die Klappe.“

Sie hatte seinen Arm ergriffen, bevor er überhaupt antworten konnte, und warf sich mit ihrem Körper gegen ihn, um ihn mit sich zu ziehen. Es war so, als würde sich der Schatten einen kurzen Moment gegen den Eindringling sperren, bis er mit einem reißenden Geräusch nachgab und sie beide aufnahm.

Amanda war das Gefühl des Fallens und die Schmerzen gewohnt. Trotzdem konnte sie nicht anders, als kurz aufzuschreien. Sie hielt Nataniels Körper so fest, wie sie nur konnte, damit er ihr zwischen all den herumwirbelnden Elementen nicht verloren ging. Dabei waren sie beide nur Eindrücke von Schatten in absoluter Dunkelheit, die an hellen Lichtflecken vorbeiwirbelten.

Es waren fünf Meter nach oben und achthundert nach Westen, um hinter die Außenmauer zu kommen. Sie würde ihn unter einer Straßenlaterne absetzen. Wenn sie es denn schaffte, ihn bis dorthin zu zerren.

Die Leere, die wie ein Sog an ihm riss, musste fast unerträglich für ihn sein. Vielleicht konnte er das alles gar nicht so wahrnehmen wie sie selbst. Hoffentlich blieben ihm, wenn überhaupt etwas, die Schmerzen erspart.

Amanda zog und zerrte Nataniel gegen die nagenden Schatten, die ihn ihr entreißen wollten, und versuchte gleichzeitig den Überblick über die Entfernungen zu behalten.

Einmal schoss irgendetwas oder irgendwer durch ihr linkes Bein, was sie vor Schmerzen aufheulen ließ, aber sie musste trotzdem weiter vorwärts. Auf das Licht zu, das neben anderen, schwächeren Flecken vor ihnen lag.

Wenn er ihr nicht zugehört und die Augen offen gelassen hatte, würden sie es vielleicht nicht schaffen. Die Straßenlaterne war die hellste Lichtquelle. Er musste sie sehen. Er musste sich daran festhalten, damit sie es beide hier rausschaffen konnten.

Amanda schob Nataniel aus den Schatten heraus, die sich gegen ihre beiden aufgelösten Körper stemmten, und wurde einen Moment nach hinten gerissen. Kurz verlor sie die Orientierung und musste erst einmal das Licht wieder finden, bevor sie sich darauf zu bewegen konnte.

Mit letzter Kraft zog sie sich wie durch ein Fenster. Ein Fenster, das circa einen halben Meter über dem Boden lag. Wieder fiel sie, landete diesmal aber einigermaßen weich auf Nataniel, der sich nicht von dort wegbewegt hatte, wo er gelandet war.

 

Nataniel kam nicht dazu, ihr zu erklären, dass er nicht an ihre Fähigkeiten zweifelte, sondern einfach nicht bereit war, ein Risiko einzugehen, wenn es ihr schaden würde.

Statt etwas sagen zu können, wurde er von Amanda gepackt und spürte für kurze Zeit, wie sie sich an ihn drückte, was sein Herz einen Schlag lang aussetzen ließ, ehe es ihn förmlich in alle Einzelteile zerriss.

Der Panther und Nataniel brüllten zur gleichen Zeit los, als sie sich ohne sein Zutun in einzelne Moleküle auflösten.

Mann und Tier waren sehr überrascht über die Verwirrung, die dieses altvertraute Gefühl auslöste, da es doch auf seine Art vollkommen neu war. Immer wieder kämpfte er dagegen an, wieder Form annehmen zu wollen, da er Amanda folgen musste.

Es war ungeheuer anstrengend, seine menschliche, wie auch seine tierische Form zerstückelt zu lassen und es tat verdammt noch mal weh!

Aber wenigstens vertrieb es seine Benommenheit vollkommen, auch wenn seine Gedanken ebenfalls wie seine Bestandteile in der Dunkelheit herumwirbelten.

Nataniel konnte trotzdem Amanda bei sich fühlen und hielt sich geistig umso stärker an ihrer Präsenz fest, um sie bloß nicht zu verlieren. Das hier war ihr Reich. Er kannte sich nicht damit aus und musste ihr daher vollkommen vertrauen. Wenn sie nicht den Weg fand oder ihn verlor, es gäbe kein zurück mehr. Das wusste er.

Wie Amanda ihm gesagt hatte, versuchte er, trotz seiner absoluten Verwirrung und der starken Unterdrückung seiner Wandlung, sich auf das hellste Licht zu konzentrieren, das er finden konnte. Irgendwann, es schienen Jahre vergangen zu sein, entdeckte er jenes, das sie wohl für ihn vorgesehen hatte, da sie ihn darauf zusteuerte.

So schnell, wie die Schatten ihn eingehüllt hatten, verschwanden sie, als er nackt auf dem Asphalt unter dem Schein einer Laterne landete und im nächsten Moment wieder auseinanderzubrechen drohte.

Gerade als etwas hart auf ihm landete, konnte er dem Drang nicht mehr länger widerstehen. Nataniel wurde zum Tier und blieb schließlich in dieser Form völlig fertig auf dem Boden liegen. Amanda ganz dicht bei ihm unter einer seiner Pranken, da er als Mensch noch instinktiv den Arm um sie gelegt hatte, um sie zu beschützen. Vor den Schmerzen, den ekelhaften Schatten, was auch immer.

Sein Raubtierherz hämmerte ihm rasend schnell gegen die Brust und die Aura der Finsternis, die immer noch um sie herum lag, brachte seine Instinkte schier um den Verstand, da sie auch an ihm hingen.

Vorsichtig nahm er die Pranke von Amanda und stand mehr schlecht als recht auf. Er rieb sich mit der Pfote immer wieder über die Nase. Schüttelte den Kopf, schnaubte und wimmerte, als würde es etwas helfen. Das Einzige, was half, war das Licht um sie herum, weshalb er sich auch streng im Lichtkegel hielt. Trotzdem war es verdammt widerlich.

Schließlich konnte er seine Instinkte so weit unter Kontrolle bringen, dass er sich wieder hinlegte und sich noch einmal wandelte. In einen Menschen, dem die Schatten weniger ausmachten, als dem Tier an sich.

„Mach das bitte … nie wieder …“, stöhnte er gequält, während er die Übelkeit in seinem Magen zurückzudrängen versuchte. Verdammt war ihm schlecht.

 

Amanda war von Nataniel herunter gerollt und stocksteif auf dem Rücken liegen geblieben, als sie zuerst seinen Arm und nach seiner Wandlung eine seiner Pranken um sich spürte.

Das Licht der Straßenlaterne vertrieb die Schatten für sie nicht so schnell, wie es das natürliche Licht des Mondes getan hätte. Aber Nataniel würde es so sehr viel schneller wieder besser gehen.

Unter ihrem Rücken konnte Amanda den Wirbel der Schatten immer noch spüren und setzte sich mühsam auf, ohne allerdings die Augen zu öffnen.

„Du musst hier weg.“

Sie würden auffallen, sobald im Hauptgebäude die Computer ausfielen und Alarm geschlagen wurde. Aber Nataniel konnte allein durch seine Statur und die Tatsache, dass er nackt auf der Straße lag, niemandem entgehen. Sie waren hier in einer Art Industriegebiet, was aber nicht bedeutete, dass nie jemand vorbeikam.

„Mein Wagen steht auf dem Parkplatz.“

Ihr linkes Bein, das in den Schatten durch irgendetwas Schaden genommen hatte, gab kurz unter ihr nach, bis sie die Zähne aufeinander biss und es einfach ignorierte. Sie griff Nataniel am Oberarm und zog ihn hoch, ähnlich ihrer Geste, mit der sie ihn in der Zelle in die Dunkelheit geworfen hatte.

Das Flackern der Autoscheinwerfer und das Piepsen der Zentralverriegelung schafften es tatsächlich, Amanda etwas zu beruhigen.

Gleich waren sie bei ihrem Wagen. Sobald sie aus dem Industriegebiet raus waren, konnten sie direkt auf die Schnellstraße. Dann konnte man sie nur schlecht wieder einholen. Amanda hatte sich selbst und Nataniel mit ihrem Angriff auf den Hauptcomputer aus der Kartei gelöscht. Sie waren frei. Aber das hieß nicht, dass man sie nicht finden konnte.

Kaum dass die Beifahrertür ins Schloss gefallen war, trat Amanda aufs Gas und der dunkle Wagen fuhr vom Parkplatz auf die Straße, die am Gebäude der Moonleague vorbei führte.

„Kopf runter.“

Eine Minute.

Amanda musste sich zwingen nicht so schnell zu fahren, dass sie auffiel, bevor irgendetwas passiert war. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, heulte der Alarm los und die Rolltore an der Außenmauer wurden scheppernd zugefahren. Sie waren bereits außerhalb des Geländes, aber die Suchscheinwerfer fielen nur allzu oft auch auf die Straße.

Gleich hatten sie es bis auf die Schnellstraße geschafft. Das Auto federte widerwillig in den Stoßdämpfern, als Amanda viel zu schnell über ein paar Bahngleise bretterte und schließlich mit quietschenden Reifen über die Gegenzufahrt auf die Schnellstraße einbog.

Hier konnte sie endlich so viel Gas geben, dass sich die Geräusche und strahlenden Suchscheinwerfer in befriedigender Geschwindigkeit hinter ihnen entfernten.

Keine Minute später schrillte der PDA in Amandas Tasche. Sie zog ihn heraus und las die zwei Buchstaben, die den Anrufer identifizierten.

Mit teilnahmslosem Blick ließ sie das Fenster herunter. Der Fahrtwind riss an ihren Haaren, bevor sie den PDA auf die Straße warf und das Fenster wieder schloss. Das Gerät zerbarst in tausend Teile, was Amanda ein zufriedenes Schmunzeln entlockte, während sie ihren Blick vom Rückspiegel löste und sich wieder ganz aufs Fahren konzentrierte.

 

Am liebsten hätte er sich zu einem Ball zusammengerollt und wäre einfach liegen geblieben. Nataniel hatte keine Ahnung, wie Amanda bereits so schnell wieder auf den Beinen sein konnte. Für sie musste das doch genauso schlimm gewesen sein wie für ihn. Sie war wohl deutlich stärker, als er angenommen hatte. Aber vielleicht störte sie die Präsenz der Schatten auch nicht so sehr, da ihre menschlichen Sinne nicht so ausgeprägt waren wie seine. Dennoch müsste es schon reichen. Es war absolut ekelhaft.

Nataniel kämpfte die ganze Zeit gegen seine überwältigende Übelkeit an, und bekam daher nur sehr wenig mit, was in den nächsten Minuten geschah.

Erst zerrte Amanda ihn wieder auf die Beine, dann saß er plötzlich in einem Auto und die Umgebung zog schnell an ihm vorbei. Dann war da ein Alarm und die Fahrt wurde noch schneller.

Das Erste, was Nataniel wirklich mit bekam, war in dem Moment als Amanda ihren PDA aus dem Fenster warf. Sie sah regelrecht zufrieden dabei aus.

Der kurze Schwall kühler Nachtluft im Auto half ihm etwas gegen den Brechreiz, so dass er sichergehen konnte, nicht doch noch in Amandas Auto zu kotzen. Nach den Dingen, die sie heute für ihn getan hatte, wollte er es ihr nicht gerade auf diese Weise danken.

Da das Unwohlsein aber dennoch nicht nachließ, drückte er sich etwas in den Autositz, schlang die Arme um seinen Oberkörper und drehte sich leicht zum Fenster, da er immerhin noch immer nackt war.

Es war nicht so, dass er sich für seine Nacktheit vor Amanda schämte, aber er war schmutzig, blass und sah absolut so aus, wie etwas, das die Katze angeschleppt hatte. Von Wegen stolzer Rudelführer. Im Moment kam er sich vor, wie ein Häufchen Elend, das nur deshalb schwieg, weil es nicht wusste, was es sagen sollte.

Wo brachte ihn Amanda hin? Nach Hause? Wo war sein Zuhause überhaupt?

Dort wo sein Rudel war, wollte auch er sein, aber das konnten sie nicht als Zuhause nennen.

Was war außerdem nun mit der Moonleague? Amanda hatte irgendetwas getan, um alles zu sabotieren, aber würde das die Organisation lange genug aufhalten? Immerhin … auf seinem Schulterblatt prangten noch immer die schwarzen Lettern des Registriertattoos. Er war also gekennzeichnet.

Allerdings hatte Nataniel ganz schöne Arbeit geleistet. Fünf tiefe Linien voller getrocknetem Blut zogen sich durch die schwarze Tinte. Zwar konnte man die Tätoowierung immer noch sehen, aber er hatte auch deutlich gemacht, was er davon hielt.

Nataniel lehnte seine heiße Stirn gegen das kalte Fensterglas und sah in die Nacht hinaus, die rasend schnell an ihm vorbeizog. Sein Rudel war vorerst in Sicherheit und dank Amanda auch er. Aber wie würde es nun weiter gehen? Würde sie ihn absetzen und dann auf nimmer wiedersehen davon fahren, um an ihn und seine Taten nicht mehr denken zu müssen?

„Danke“, durchbrach er schließlich schwach die Stille. Er schloss einen Moment lang die Augen, ehe er etwas intensiver hinzufügte.

„Und es tut uns leid, dass wir dich so behandelt haben.“

Der Panther und er.

 

Amanda mochte das Autofahren über lange Strecken und vor allem nachts, wenn kaum jemand anderes unterwegs war. Die Landschaft schoss in der Dunkelheit an ihnen vorbei, bloß von den Lichtern der großen Stadt unterbrochen, die sie rechts hinter sich ließen.

Es wäre sicher keine gute Idee gewesen, sich in ihre Wohnung zu begeben. Nachdem sie sich nicht auf den Anruf gemeldet hatte und Clea ebenfalls verschwunden war, wären sie ihr bestimmt bald auf der Spur. Die Organisation zog weite Kreise. Und selbst wenn Amanda erstmal Chaos verbreitet und so manche Dinge unwiederbringlich zerstört hatte, war die Moonleague nicht dumm.

Und sie verzieh nicht.

Wenn sie nicht gefangen genommen werden wollte, würde sie nie wieder in ihre Wohnung oder in irgendeine ihr vertraute Umgebung zurückkehren dürfen. Vielleicht sollte sie zu Eric in den Untergrund gehen, ihm dabei helfen die Wandler hier zu unterstützen.

Das würde sich schon alles finden. Sie würde Nataniel dort abliefern, wo er sein Rudel ohne Probleme erreichen konnte und sich dann selbst einen Platz zum Überleben suchen. Selbst wenn es kein guter Ort zum Leben wurde, sie würde sicher irgendwie durchkommen. Das hatte sie doch bis jetzt immer getan.

Nataniels Dank quittierte sie nur mit einem Nicken, wobei sie nicht einmal die Augen von der Fahrbahn vor sich nahm. Ein Straßenschild zeigte die nächste größere Stadt in etwa zehn Kilometer Entfernung.

Sein nächster Satz brachte Amanda einigermaßen aus dem Konzept.

Es tat ihm leid?

Seit fast einem Monat hatte er sich nicht bei ihr gemeldet und jetzt auf einmal tat es ihm leid?!

Da waren wieder die Flammen, die nur er anfachen konnte. Am liebsten wäre Amanda in einer Vollbremsung mitten auf der Fahrbahn stehen geblieben und hätte ihn aus dem Auto geworfen. Warum sie es nicht tat, war ihr nicht klar, aber sie starrte weiter nur geradeaus und knirschte leicht mit den Zähnen.

„Du brauchst dich nicht zu bedanken. Immerhin kann ich froh sein, dass du mich nicht in der Luft zerrissen hast. Ich nehme an, du dachtest, dass ich was damit zu tun habe.“

Sie hatte noch gar keine Zeit gehabt, sich über diese Sache Gedanken zu machen. Wer hatte Nataniels Rudel an die Moonleague verraten? Hätte sie früher davon erfahren, hätte sie die Akten durchforsten können, aber dazu war sie einfach zu beschäftigt gewesen. Nataniel würde es herausfinden müssen, sonst war sein Clan wahrscheinlich nie ganz außer Gefahr.

Als ein großes Kaufhaus in Sicht kam, bog Amanda ziemlich unelegant auf den Parkplatz ein – wütend fuhr sie tatsächlich wie der letzte Verkehrsrowdy – und stellte das Auto irgendwo im Schatten ab.

Sie schätzte seine Größe ab, was er mit einem zustimmenden Nicken bestätigte, und sprintete in den großen Verkaufsraum, um ihm ein Paar Jeans und ein schwarzes Shirt zu besorgen. Außerdem Socken und schwarze Turnschuhe. Immerhin würden sie in ein Hotel einchecken müssen. Da konnte er nicht völlig nackt aufkreuzen.

Amanda drückte ihm die Tüte mit den Klamotten in die Arme und fuhr schon wieder los.

Es dauerte nicht lange, bis sie das Schild eines Hotels erkannte, an dem drei kleine Sterne unter einem Delfin in Neonblau prangten. Das würde für eine Nacht schon genügen.

 

Okay, jetzt war sie wütend. Dazu brauchte er ihr noch nicht einmal ins Gesicht sehen, wo er vermutlich sowieso nichts erkannt hätte. Aber das Zähneknirschen war ihm nicht entgangen und auch der Ton in ihren nächsten Worten hielt ihn davon ab, auch nur noch irgendetwas zu sagen.

Ja, verdammt. Er hatte Angst alles mit seinen Worten noch schlimmer zu machen. Außerdem hätte sie ihm sowieso nicht geglaubt, wenn er ihr die Wahrheit gesagt hätte. Immerhin hatte er keinen Moment lang gedacht, sie oder ihr Bruder hätten sein Rudel verraten. Sicherlich, es musste irgendjemand gewesen sein, aber seit heute Nacht war er sich so absolut sicher, dass keiner der Geschwister es gewesen war, wie noch nie.

Vielleicht, aber auch nur vielleicht, wäre es sogar besser gewesen, wenn Nataniel Amanda alles erzählt hätte, was diesen Vorfall betraf, der sie beide so entzweit hatte. Wenn sie verstehen könnte, warum er so gehandelt hatte, würde es sich vielleicht nicht so schlimm anfühlen. Aber allein der Versuch, sich für etwas zu rechtfertigen, was ihm zwar leidtat, aber in jenem Moment vollkommen richtig erschienen war, könnte alles nur noch verschärfen.

Nataniel hatte wohl alles zerstört und das traf ihn härter, als der Verrat seines Rudels durch einen Unbekannten, der sich mitten unter ihnen befinden könnte. Denn wer sonst könnte all diese Informationen gewusst haben?

Er schwieg auch wohlweißlich zu Amandas rüdem Fahrstil, den selbst er als Mann nicht besaß, obwohl man seinem Geschlecht bekanntlich eine aggressive Fahrweise nach sagte.

Überhaupt erschien es ihm besser, sich zurückzuhalten, bis ihre Wut verraucht war, oder auch nicht.

Lediglich seine Kleider- und Schuhgröße nannte er ihr, als sie auch schon aus dem Auto stieg, um ihm etwas zum Anziehen zu besorgen.

Na Klasse. Jetzt musste sie ihn auch noch einkleiden.

Gab es bei Amanda eigentlich eine Grenze der brodelnden Gefühle, über der sie nicht mehr nett zu jemandem war, auch wenn dieser es absolut verdiente, schlecht behandelt zu werden? Sie hätte ihn doch einfach bei der nächsten Kreuzung rausschmeißen können, immerhin war er erwachsen. Irgendwie wäre er schon klargekommen. Auch ohne Geld und Kleidung.

Aber darauf wäre er wirklich nicht scharf gewesen, weshalb er ihr mehr als nur dankbar war. Verdammt, er schuldete ihr bereits so viel und sie hatte nichts von ihm bekommen außer Ärger. Kein Wunder, dass sie so wütend war. Er wäre es an ihrer Stelle auch.

25. Kapitel

Als sie bei einem kleinen Hotel ankamen, war Nataniel bereits ordentlich angezogen und ging fast schon wieder als normaler Bürger durch. Vielleicht trotz allem etwas abgerissen, wegen der verwuschelten Haare, der blassen Haut und dem leicht käsigen Ausdruck in seinem Gesicht. Die Nachwirkungen seiner Übelkeit und Gefangenschaft. Aber bestimmt konnte er das mit einer heißen Dusche wieder beheben.

Er freute sich so sehr auf diese Annehmlichkeit, die er seit dem B&B nicht mehr hatte genießen können, dass er fast ein heiteres Funkeln in den Augen gehabt hätte, wäre da nicht noch immer Amanda neben ihm, der er schon wieder zur Last fiel.

Wenigstens nahm sie nur ein Zimmer, sonst hätte er schließlich doch noch den Mund aufmachen müssen, um zu protestieren. Immerhin könnte er sich auch irgendwo einen Platz für die Nacht zum Schlafen suchen, zur Not hätte sie ihn auch in ihrem Kofferraum verfrachten können, damit er bloß friedlich und unentdeckt blieb.

In ihrem kleinen, aber sauberen Zimmer angekommen, blieb Nataniel an der geschlossenen Tür gelehnt stehen und sah Amanda an.

„Möchtest du zuerst duschen gehen?“, durchbrach er endlich das Schweigen zwischen ihnen, auch wenn es keine sehr originelle Frage war.

Wie er doch diese unangenehme Spannung zwischen ihnen hasste, als wären sie Hunderte von Kilometern weit entfernt, anstatt nur die paar Meter.

Selbst der Panther wagte es nicht, einfach zu ihr hinüber zu gehen, seine Arme um sie zu schlingen und sie um Vergebung zu küssen. Er wusste, dass er Schuld an allem hatte. Genauso wie Nataniel.

Beide gaben ihrem Verlangen nicht nach, auch wenn es sich verdammt quälend anfühlte, sie nicht berühren zu können. Er hatte wirklich alles zerstört. Selbst die Hoffnung auf wenigstens so etwas wie einen Funken von Versöhnung begann zu sterben, auch wenn er eher all ihre geballte Wut und den Hass auf sich nehmen würde, als aufzugeben.

 

„Ja, danke.“

Ohne ihn nur einmal anzusehen, schnappte sich Amanda die Plastiktüte mit den Sachen, die sie in dem Kaufhaus für sich selbst besorgt hatte und verschwand im Bad.

Sie rupfte sich den Haargummi aus den Locken, streifte sich die Uniform der Organisation vom Leib und stopfte sie in den eigentlich zu kleinen Mülleimer, der unter dem Waschbecken stand.

Der Wasserdampf hatte den kleinen Raum sehr schnell in Beschlag genommen und Amandas Körper eingehüllt. Die Dusche tat wirklich gut, auch wenn Amandas Gefühle hochkochten und sie zu zittern anfing. Sie würde verdammt noch mal nicht weinen. Das hatte sie damals nicht getan, als sie gegangen war, da würde sie es jetzt auch nicht tun.

Eigentlich war es doch gut, dass er sie damals noch nicht einmal hatte aufhalten wollen. So war zumindest auch jetzt klar, dass es keine Hoffnung für sie beide gab. Amanda mochte immer noch in irgendeiner Weise an Nataniel hängen. Sonst hätte sie ihn nicht befreit, würde jetzt nicht dafür sorgen, dass er sicher nach Hause kam … Und es würde sie nicht so aufwühlen, ihn anzusehen.

Selbst nach diesen paar Wochen, wo sie sich einigermaßen wieder gefangen zu haben glaubte, konnte allein ein Blick von ihm das Gefühl von damals zurückholen.

In ihrer Vorstellung war die Szene nur noch schlimmer und schlimmer geworden, hatte sich verselbstständigt und das Ganze zu einer Demütigung gemacht, über die Amanda wahrscheinlich nie mehr in Nataniels Gegenwart hinwegkommen würde.

War es denn nicht tatsächlich so gewesen, dass sie Gefühle für ihn gehabt hatte und er hatte sich nur lustig über sie gemacht? Hatte ihr vorgespielt, sie könnten …

Am liebsten hätte Amanda in diesem Moment geschrien, wie sie es am Anfang ein paar Mal auf der Autofahrt nach Hause getan hatte. Aber es kam nur ein gedämpfter, wütender Laut über ihre zusammengekniffenen Lippen.

Sie stellte das Wasser ab, holte die Zahnbürste aus der Zweierpackung und ließ die andere neben der Zahncreme am Waschbecken liegen.

Als sie sich bettfertig gemacht und ein großes, weißes T-Shirt zum Schlafen übergezogen hatte, machte sie das Bad für Nataniel frei.

Wieder versuchte sie ihn nicht anzusehen, als sie ins Zimmer kam und die Plastiktüte mit den Klamotten für den nächsten Tag neben das Bett auf den Fußboden warf.

Wortlos schlug sie die Decke zurück, zupfte das obere Laken auf der einen Seite unter der Matratze hervor und legte sich dann darunter.

„Nacht.“

Sie rollte sich mit dem Rücken zur Badezimmertür leicht zusammen und warf noch einen Blick auf die Ausgangstür, um zu überprüfen, ob der Schlüssel noch von innen steckte. Dann schloss sie die Augen.

Das Plätschern der Dusche würde ihr hoffentlich dabei helfen, einzuschlafen.

 

Nataniel rührte sich keinen Millimeter, als Amanda ins Bad ging, sich duschte und sich danach fürs Bett fertigmachte, bis sie schließlich in einem weiten T-Shirt wieder zurückkam.

Noch immer bewegte er sich nicht, sah sie nur an, wie sie seinen Blick mied.

Nicht einfach so, als wäre er nicht da, sondern auf eine Weise, als wäre sie sich nur zu genau bewusst, wer da noch im Raum stand und gerade deshalb sah sie nicht hoch.

Es tat weh. Jede einzelne abweisende Geste ihrerseits schmerzte ihn bis in sein Innerstes und schnürte ihm zugleich die Kehle so fest zu, als würden sich eiskalte Hände um seinen Hals legen und zudrücken.

Nur mit aller Gewalt zwang er sich dazu, erst einen Schritt und dann einen zweiten auf die Badezimmertür hin zu machen, als sie sich schweigend ins Bett legte. Kaum war er im Türrahmen des Badezimmers angekommen, hörte er ihr 'Nacht', als hätte sie sich auch noch dazu zwingen müssen.

Lautlos schloss er die Tür hinter sich. Nicht fähig auch nur ein Wort von sich zu geben. Keine Erwiderung wäre an dem Kloß in seinem Hals vorbeigekommen, selbst wenn er gewollt hätte.

Eine Weile stand er einfach nur da, weder fähig sich zu rühren, noch etwas zu denken. Da war nur dieses grauenhafte Gefühl in seiner Brust, dass sich wie Gift von seinem Herzen im Rest seines Körpers ausbreitete und ihn lähmte.

Irgendwann, es mussten bereits einige Minuten vergangen sein, schaffte er es, sich mechanisch in Bewegung zu setzen und sich die Kleider vom Körper zu streifen.

Dass Amandas Duft schwer durch die Dampfschwaden im Raum hing und sich wärmend auf seine Haut legte, machte alles nur noch schlimmer.

Weitere Minuten vergingen, bis er es endlich in die Duschkabine schaffte. Doch kaum, dass der heiße Wasserstrahl auf ihn niederprasselte und dennoch nicht die Kälte in seinem Inneren zu vertreiben vermochte, sank Nataniel an der gefliesten Wand zu Boden. Er schlang seine Arme so fest um seinen Kopf, während seine Knie eng gegen seine Brust drückten, dass es wehtat. Trotzdem drückte er immer fester und fester zu, als würde er sich sonst wieder in seine Moleküle zerlegen, wenn er sich nicht selbst festhielt, bis selbst das Atmen nicht mehr möglich war.

Als ihm schließlich die Luft ausging, ließ er endlich los. Seinen Kopf knallte er dabei unsanft gegen die Wand, aber er spürte es gar nicht. Stattdessen schloss er die Augen und versuchte einfach nur noch das Wasser auf seiner Haut zu spüren, das ihn reinwusch.

Einatmen … Ausatmen … Einatmen … Ausatmen …

Mehr musste er nicht tun, um weiter zu machen.

 

Nach einer Ewigkeit, wie es schien, war er gefasst genug, aufzustehen, sich abzutrocknen und die Zähne zu putzen. Er zog seine Kleider gar nicht erst an. Stattdessen löschte er das Licht im Raum und konnte durch den Türspalt erkennen, dass auch bei Amanda keine Lampe mehr brannte. Weshalb er die Tür einen Spalt weit öffnete und sich dann wandelte.

Lautlos schlüpfte er in das Zimmer, schlich um das Bett herum und legte sich in eine Ecke nahe der Tür auf den kühlen Holzboden.

Er rollte sich zu einem Knäuel zusammen, vergrub dabei sein Gesicht unter seinen Vorderpfoten, während sein Schwanz über seinen Kopf ein Stück die Wirbelsäule entlang verlief.

Da Amanda garantiert schon schlief, würde es ihr sicher nicht auffallen, wenn er eine Weile zur Beruhigung schnurrte. Das hatte er dringend nötig, denn die Alternative dazu wäre ein Brüllen gewesen. Immer wieder, bis er heiser oder ganz verstummt war.

Was hatte er nur getan?

 

Sobald es still im Zimmer war, fingen Amandas Gedanken an zu rasen. Sie drehten sich gar nicht um Nataniel – den verdrängte sie, so weit es ging, um nicht doch noch einzubrechen, was sie unter der Dusche gerade so hatte verhindern können. Ihre Augen hefteten sich auf den grässlich orangegelbgestreiften Vorhang vor dem Fenster neben der Tür, während sie darüber nachdachte, wer das Rudel verraten haben könnte.

Zunächst fiel ihr Mrs. Cauley ein. Das Hühnchen, das sie mit dieser Dame zu rupfen hatte, war so groß wie ein ausgewachsener Truthahn, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Frau allein an all die Informationen gekommen war.

Die Alte hatte Amanda an Nicolais Rudel verraten. Vielleicht hatte sie mehr getan als das. Er hatte genug Rudelmitglieder, dass jeder auch nur ein wenig über Nataniels Clanmitglieder wissen musste, um ein großes Puzzle zusammenzusetzen. Nicolai musste nur einen anonymen Hinweis bei der Moonleague abgeben und er wäre seinen größten und einzigen Konkurrenten im Nationalpark losgeworden.

Konnte das die Wahrheit sein?

Verdammt, dann hatten sie den Tiger ganz schön unterschätzt. Und seine Kontaktmöglichkeiten ebenfalls. Immerhin war es für keinen Gestaltwandler, genauso wie für normale Menschen die einfachste Sache der Welt sich mit der Organisation in Verbindung zu setzen. Dafür musste man die richtigen Adressen und am besten noch die richtigen Leute dazu kennen. Aber wenn sie bedachte, was Nataniel alles für sein Rudel tun würde …

Der Gedanke war gar nicht so abwegig. Dass sie zumindest für dieses Rätsel eine annehmbare Lösung gefunden hatte und dass nun endlich die Dusche ansprang, entspannte Amanda ein wenig.

Mit Gewalt versuchte sie nicht darauf zu hören, was Nataniel im Bad tat und schaffte es nach einer Weile sogar ihn ganz aus ihrem Kopf zu vertreiben. Zumindest bis Morgen, wenn sie ihn gezwungenermaßen wieder wahrnehmen, und sich mit ihm auseinandersetzen musste.

Bald war er zu Hause. Dann würden sie sich die Hand geben und jeder würde seiner Wege gehen. So wie sie es eigentlich schon einmal getan hatten. Bloß würde er ihr diesmal nicht wieder vor die Füße geworfen werden.

Amanda bekam nicht mehr mit, wie die Badtür leise aufging und sich Nataniel hinlegte, um sich selbst in den Schlaf zu schnurren. Sie war in leere Träume gesunken.

 

Das Vibrieren in seiner Brust half etwas gegen die Anspannung, aber dieses Etwas war nicht genug, um seine Gedanken zu beruhigen und ihn schlafen zu lassen. Er war müde, trotz der Tatsache, dass man ihn immer wieder zum Schlafen gezwungen hatte, aber einschlafen konnte er deswegen auch nicht.

Zu wissen, dass Amanda keine drei Meter von ihm entfernt schlief, hielt ihn erst recht wach. Denn so konnte es einfach nicht mit ihnen weiter gehen.

Würde das denn etwa alles gewesen sein, wenn sie ihn dorthin gebracht hatte, wo sie wollte?

Vermutlich an einen Ort, an dem es ihm möglich war, sein Rudel zu erreichen. Aber selbst der Gedanke, sein Rudel womöglich bald wiederzusehen, tröstete ihn kein bisschen. Seine Hauptsorgen galten dem, was zwischen Amanda und ihm vorgefallen war. Sie hatte schon davor Privilegien besessen, die sonst keiner hatte und das hatte sich noch immer nicht geändert.

Wenn Nataniel eines wusste, dann war es die Tatsache, dass er die letzten Wochen nur deshalb ohne sie ausgehalten hatte, weil er gar nicht in der Lage gewesen war, etwas zu fühlen. Doch das hatte sich nun gewaltig geändert.

Er fühlte mehr, als er ertragen konnte, ohne fast wahnsinnig zu werden. Er wollte sie nicht gehen lassen, aber schlimmer noch wäre, wenn sie ihn erneut verließ. Was mit großer Wahrscheinlichkeit passieren würde. Alleine ihre Reaktionen ihm gegenüber zeigten doch, wie sehr sie ihn hassen musste. Vielleicht nicht genug, so dass er ihr vollkommen egal wäre, aber doch gut genug, um froh zu sein, wenn sie ihn endlich wieder los war.

Entweder, er war ihr von Anfang an ziemlich egal gewesen, weshalb es ihr nicht schwerfallen dürfte, ihn nie wieder zu sehen, oder er hatte sie gerade deshalb so tief verletzen können, weil es doch nicht einfach nur eine etwas ungewöhnliche Bekanntschaft zwischen ihnen war.

Dass Amanda für ihn nicht einfach nur irgendeine Frau war, die er kannte, war ihm nur zu gut bewusst. Sie war so viel mehr als das. Sicher sogar noch ein gutes Stück mehr, als er sich eingestand, aber das tat ohnehin nichts mehr zur Sache. War es dann nicht eigentlich ohnehin egal, was er noch tat? Er konnte nichts mehr verlieren, da er schon alles in dieser Beziehung verloren hatte. Amandas Hass ihm gegenüber könnte vielleicht noch wachsen, aber wie schlimm konnte das noch werden, im Gegenzug zu jetzt?

Nataniel erschauderte bei dem Gedanken. Ihm war tatsächlich kalt, obwohl der kühle Boden für ihn normalerweise kein Problem hätte sein dürfen. Aber wenn man innerlich ein einziger Gletscher war, sollte einen das nicht wundern.

Langsam und geräuschlos stand er schließlich auf Samtpfoten auf.

Unschlüssig blickte er sich um, aber der dünne Läufer auf dem Fußboden würde nicht annähernd genügen und auf dem feuchten Badezimmerteppich wollte er nicht liegen.

Natürlich blieb ihm nur noch eine andere Option übrig. Trotzdem sah er sich noch einen Moment nach einer anderen Möglichkeit um, bis er schließlich einsah, dass es keinen Sinn hatte. Es war ohnehin egal, was er tat oder sagte. Das hatte er vorhin ja schon festgestellt.

Also schlich er lautlos zum großen Bett hinüber, auf dem Amanda auf einer Seite schlief. Nataniel ging darum herum zur anderen Seite am Fußende. Prüfend legte er zuerst eine Pfote darauf, um zu sehen, ob Amanda durch die Bewegung der Matratze unter seinem Gewicht aufwachen würde, doch sie rührte sich keinen Millimeter, weshalb er auch die zweite hochnahm.

Da er groß genug war, musste er wenigstens nicht mit einem Ruck hochspringen, sondern brauchte einfach nur mit den Hinterläufen auf das Bett zu steigen. Nun bewegte sich die Matratze sehr deutlich unter seinem Gewicht, da er als Tier nicht gerade wenig wog.

Da ihn doch fast der Mut verließ, legte er sich an die äußerste Kante des Fußendes vom Bett und streckte sich nur etwas aus. Es war auf jeden Fall tausendmal besser, als auf dem Boden schlafen zu müssen und auch das Frieren ließ etwas nach.

Wieder schloss er die Augen und versuchte zu schlafen, was ihm auch fast gelungen wäre, wenn er nicht im letzten Augenblick beim Eindösen bemerkt hätte, wie er langsam zu Rutschen begann.

Fast wäre er hinuntergefallen, doch er konnte es gerade noch verhindern, in dem er ein gutes Stück weiter das Bett hochkroch und schließlich fast neben Amandas Rücken zum Liegen kam. Auch er hatte sich mit dem Rücken zu ihr hingelegt. In diesem Augenblick riskierte er sogar den Anschiss, den er am nächsten Morgen sicher dafür erhalten würde, oder das noch schlimmere Schweigen. So oder so, er war einfach nur froh, endlich einschlafen zu können und gerade weil es vermutlich die letzte Nacht neben Amanda war, schätzte er es umso mehr. Ihm graute vor dem nächsten Tag, mehr noch als vor der Zeit danach.

 
 

***

 

Amanda drehte sich irgendwann in der Nacht um und legte ihre Wange auf ihrer Hand ab. Irgendein Geruch lag in der Luft, der ihr sehr bekannt vorkam und ihr auch gefiel, aber durch ihren schlaftrunkenen Zustand konnte sie nicht zuordnen, was es war. Sie atmete aber nun zufriedener tief ein und schlief weiter, bis sie am nächsten Morgen durch ein Geräusch vor der Tür geweckt wurde.

Zunächst hatte Amanda angenommen, sie würde sich das leise Brummen einbilden und hatte es daher so gut ignoriert, wie sie konnte. Aber es war immer näher gekommen und lauter geworden, bis es so nervtötend war, dass es sie gänzlich aufweckte.

Offensichtlich war es bereits so spät, dass die Putzkolonne ihre Tätigkeit aufgenommen hatte und in den anliegenden Zimmern staubsaugte.

Das erklärte zumindest das Geräusch und die leise Stimme, die ein Amanda unbekanntes Lied auf Spanisch trällerte.

Unbedacht streckte Amanda sich aus und rollte sich auf die andere Seite, um über das Bett hinweg zu steigen und ins Bad zu gehen. Im nächsten Moment schnellte ihr Puls in die Höhe und sie zuckte zusammen.

„Mein Gott“, zischte sie leise aber hörbar und griff sich mit der Hand an die Brust. Sie hatte direkt auf Nataniels weiße Reißzähne gesehen, die in seinem vor Entspannung leicht geöffneten Maul blitzten.

Amandas Atmung war bei dem unerwarteten und daher riesig erscheinenden Schatten im Bett neben ihr ebenfalls in die Höhe geschnellt. Ihren prüfenden Blick immer noch auf Nataniel gerichtet versuchte sich Amanda einigermaßen zu beruhigen. Beinahe hätte sie jetzt, da sich der Adrenalinstoß in Wohlgefallen auflöste, losgelacht.

Sein Pantherkörper nahm fast die gesamte zweite Hälfte des großen Bettes ein und dennoch sah er in diesem Moment aus wie ein überdimensionales Schmusekätzchen.

Er lag halb auf dem Rücken, eine Vorderpfote leicht abgewinkelt, den Kopf nach hinten gelehnt und ein wenig geöffnet. Eigentlich hätte man ihm den offenbarten Bauch kraulen wollen, wenn seine Krallen und Zähne nicht derart abschreckend gewirkt hätten. Außerdem stand es Amanda sicher nicht zu, irgendetwas an Nataniel je wieder zu kraulen. Selbst wenn er sie auf Knien darum gebeten hätte, würde sie das nie wieder tun.

Ihre Züge verhärteten sich und sie riss das Laken auf ihr zur Seite, um aufzustehen. Die Plastiktüte raschelte laut, als sie diese unnötig schwungvoll vom Boden aufhob und damit ins Bad verschwand.

Heute war wieder strenge Frisur mit dementsprechend strenger Kleidung angesagt. Zwar nichts, im Vergleich zur Uniform, die sie gestern noch getragen hatte, aber ebenfalls dunkel und bis oben hin zugeknöpft.

Sollte das Katerchen da draußen bloß nicht auf die Idee kommen, sie würde sich noch einmal in so eine peinliche Situation bringen wie damals.

Da hatte er ihren Schutzschild doch tatsächlich fast zum Bröckeln gebracht. Aber er hatte es nicht mitbekommen. Kein Grund sich Sorgen zu machen.

 

Sein Kopf dröhnte, als ein unangenehmes Geräusch in seinen Ohren immer lauter wurde. Es klang wie ein Brummen, mit einem hohen Ton darin, das für Menschen wohl kaum noch wahrnehmbar war. Ihm jedoch verursachte es ziemliche Kopfschmerzen.

Nataniel schlug schläfrig die Augen auf und legte sich wieder gerade hin. Gähnend sah er sich im Zimmer um, stellte jedoch fest, dass er vollkommen alleine war. Doch über den Lärm hinweg konnte er Amanda im Badezimmer hören.

Warum hatte er nicht mitbekommen, wie sie aufgestanden war?

Da es ihm auch jetzt noch schwer fiel, überhaupt seine Augen offen zu halten und einen klaren Gedanken zu fassen, vermutete er immer noch ein gewisses Maß an Betäubungsmittel im Blut, die er erst abbauen musste. Das könnte auch erklären, wieso er so schwer wach wurde und sich sein Körper so steif anfühlte, als wären seine Muskeln aus Hartgummi.

Ächzend glitt er vom Bett auf den Boden, streckte sich ausgiebig, gähnte noch einmal, ehe er sich neben die Tür zu ihrem Zimmer setzte und darauf wartete, dass Amanda aus dem Bad kam, damit er sich wandeln und anziehen konnte.

Hungrig, müde und frustriert ließ er den Kopf hängen und starrte seine Pfoten an, ohne wirklich etwas zu erkennen. Vielleicht würde das heute sein letzter Tag mit ihr sein, oder auch erst morgen. Das konnte er nicht genau abschätzen, doch dass es ein Ende nehmen würde, war ihm deutlich bewusst, und obwohl er gerade erst aufgewacht war, drückte ihn das auf der Stelle wieder nieder.

Er konnte versuchen, es einfach zu akzeptieren, dass sie nichts mehr von ihm wissen wollte. Er konnte versuchen, damit zu leben, dass er sie nie wieder sah, aber egal was er versuchte, er würde daran scheitern. Dessen war er sich nur zu deutlich bewusst.

Welche Möglichkeiten hatte er also? Sich mit all seiner Kraft und seiner Aufmerksamkeit auf sein Rudel zu richten? Das wäre sicher nicht schlecht, nur würde es ihn nicht glücklich machen. Vielleicht irgendwann zufrieden stellen, aber er wäre dennoch unglücklich.

Als Amanda aus dem Bad kam, sah er sie einen Moment lang an. Ihre Frisur war akkurat gebändigt, die Kleidung ebenso streng und unnachgiebig wie ihre Ausstrahlung und der kaum sichtbare Zug um ihren Mund. Als wolle sie ihn mit all der Härte strafen, die sie aufbringen konnte.

Nataniel schnaubte leise, ehe er träge aufstand und an Amanda vorbei ins Bad ging. Er konnte in dieser Form die Tür nicht ganz zu machen, weshalb er sich erst zurück verwandelte und sie dann erst richtig schloss, um sich einen eiskalten Schopf Wasser ins Gesicht zu werfen, sich die Haare zu richten und seine Kleider überzustreifen.

Zum krönenden Abschluss putzte er sich noch die Zähne und zog die Schuhe an. Danach packte er zusammen und verließ das Badezimmer.

Schweigend blieb er im Türrahmen stehen, wusste nicht, was er sagen sollte, hasste aber die Stille zugleich so sehr, dass er sich dazu zwang, eine harmlose Frage zu stellen.

„Willst du hier etwas essen oder unterwegs?“

Seine Stimme war so tonlos, wie sein Gesichtsausdruck nichtssagend war. Die Autofahrt würde die Hölle werden. Aber sehr viel weiter steigern als jetzt, konnte es sich ohnehin nicht mehr.

 

Zum ersten Mal sah sie ihn an, um ihm zu antworten.

Amanda wusste, wie wichtig Nataniel Essen war. Und er hatte seit seiner Gefangennahme sicher nicht annähernd so viel bekommen, wie er brauchte und auch bestimmt nichts Gutes.

„Aus rein praktischen Gründen würde ich gern in die nächste Stadt fahren. Hier waren wir schon viel zu lange. Falls wir uns in ein Café setzen, könnten wir uns gleich selbst Handschellen umlegen.“

Jetzt hätte sie doch gern ihren PDA wiedergehabt, um die Dörfer auf dem Weg nach einem passenden Restaurant oder Café abzusuchen.

Na ja, vorbei. Sobald Clea Amandas Konten umgelenkt hatte, würde sie wieder einfacher an Geld kommen und sich einen neuen besorgen. Auch wenn sie dann nicht mehr auf die Daten der Moonleague zugreifen konnte, was manchmal wirklich Einiges erleichtert hatte.

„Lass uns einfach die Hautstraße weiterfahren und anhalten, sobald uns was ins Auge springt.“

Sie schnappte sich die Plastiktüte und schloss die Tür auf, damit sie gehen konnten. Kurz dachte Amanda darüber nach, sich bei der Rezeption zu erkundigen, ob sie telefonieren konnte. Aber mit Clea und Eric konnte sie sich noch früh genug in Verbindung setzen.

 

Nataniel nickte nur, als er sogar eine Antwort auf seine Frage bekam. Noch dazu so reichhaltig. Damit hatte er schon gar nicht mehr gerechnet, doch vielleicht war Amanda heute Morgen besser gelaunt als gestern Abend. Obwohl es eigentlich kein Wunder sein sollte, immerhin hatte sie gestern ihre ehemalige Firma sabotiert. Wie würde es ihm da gehen?

Schweigend folgte er ihr aus dem Zimmer, stieg wieder wortlos neben ihr ins Auto und richtete seinen Blick auf die Landschaft vor dem Seitenfenster.

Er war sich durchaus bewusst, dass es nicht sehr konstruktiv war, sich in unangenehmes Schweigen zu hüllen, aber er wollte Amanda nicht schon so kurz nach dem Aufstehen aufregen. Sicherlich würden sie noch einige Stunden Autofahrt vor sich haben, so dass er immer noch eine Katastrophe auslösen konnte.

 

Die Fahrt dauerte so lange, dass Amanda selbst schon der Magen knurrte und ihr Verlangen nach Kaffee beinahe unerträglich wurde.

Sobald sie irgendein Bistro entdeckten, würde sie sich eine Badewanne voll Milchkaffee bestellen. Bei der Vorstellung allein bekam sie verträumte Augen und drückte ein wenig mehr aufs Gas.

In einem winzigen Dorf, das nur aus einer Hauptstraße mit ein paar Läden bestand, fanden sie endlich ein einigermaßen einladendes Restaurant, das sogar bis nachmittags Frühstück servierte.

Sie waren mehr oder weniger die einzigen Gäste und Amanda ging voraus, um sich einen Tisch am Fenster und mit Blick auf die Eingangstür zu suchen. Alte Gewohnheiten legte man nicht so schnell ab, schon gar nicht, wenn man auf der Flucht war.

Sie tippte nervös mit den Fingern auf der Platte des Holztisches herum und sah konzentriert durch den Raum, auf der Suche nach der Bedienung, bei der sie den Kaffee bestellen konnte.

Um sich von dem Wunsch nach Koffein abzulenken, vergrub Amanda sich in der Speisekarte. Das Angebot war überraschenderweise so reichhaltig, dass sie sich gar nicht entscheiden konnte.

Sie hatte schon den Mund geöffnet und Luft geholt, um Nataniel zu fragen, was er denn nehmen wollte, als sich ihre Blicke kurz trafen und Amanda die Frage hart hinunterschluckte.

Sie würde noch mit ihm reden. Eigentlich wollte sie sogar mit ihm reden. Sie wollte wissen, was jetzt passieren würde. Er hatte sicher Pläne, würde zu seinem Rudel zurückkehren und sich irgendwann diesem Nicolai stellen. Wenn sein Rudel denn immer noch in Takt war und hinter ihm stand.

Ein junger Herr in Jeans und lindgrünem Hemd, das zum Logo des Cafés passte, kam an ihren Tisch und wollte ihre Bestellung aufnehmen. Seine blauen Augen ruhten lächelnd auf Amanda, während sie noch überlegte.

„Ich bin mir noch nicht schlüssig, ob ich lieber die Pancakes oder das Müsli mit Früchten möchte. Eigentlich möchte ich beides …“

Der Kellner schenkte Amanda ein breites Lächeln und notierte etwas auf seinem Block.

„Wenn es okay ist, dass Sie für die Pancakes etwas mehr bezahlen, dann kann ich bestimmt etwas für Sie tun“, versprach er mit einem Zwinkern.

Das Angebot nahm Amanda gern an. Vorhin im Auto hatte sie Nataniels Magen knurren hören. Das würde wieder eine dieser Bestellungen werden, die ihr jedes Mal ein Schmunzeln auf die Lippen zauberten.

 

Sein Magen kämpfte wie ein wildes Tier in seinem Bauch und fühlte sich auch nicht weniger aggressiv an. Er war hungrig, sehr sogar, aber wenn er gekonnt hätte, er hätte das Knurren auf 'Stumm' gestellt.

Da er Amanda schon die ganze Zeit die Führung überließ, folgte er ihr wie ein Schatten zu dem Platz, den sie sich ausgesucht hatte, und glitt lautlos ihr gegenüber auf den Stuhl neben dem Fenster. Sein Blick galt eher schon als teilnahmslos, aber er war wachsam und auf der Hut.

Natürlich hatte er nicht vergessen, dass sie auf der Flucht waren, immerhin zog die Verletzung auf seiner Schulter immer noch, wenn er sich bewegte.

Sie wirkten also nicht ungewöhnlicher als zwei Durchreisende in diesem Provinzkaff.

Im Augenwinkel konnte Nataniel eine Bewegung von Amanda wahrnehmen, die ihn dazu veranlasste, sie anzusehen. Sie sah so aus, als wollte sie etwas sagen, schien es sich dann aber doch wieder anders zu überlegen.

Er kam auch nicht dazu, sie darauf anzusprechen, denn schon kam ein Kellner an den einzigen besetzten Tisch im ganzen Raum und richtete höflicherweise seine Aufmerksamkeit zuerst auf die Dame.

Nataniel musste wegsehen, also starrte er aus dem Fenster. Dennoch spannten sich seine Nackenmuskeln an und seine Kiefer pressten sich fest aufeinander.

Der Kellner war nur freundlich. Der Blick war ganz gewöhnlich und nett. Gehörte zur höflichen Fassade. Aber verdammt noch mal, dieser Geruch!

Bevor sich seine Krallen verlängern konnten, legte Nataniel seine Hände in den Schoß unter den Tisch und hielt die Luft an.

Mit aller Kraft konzentrierte er sich auf den Spatz beim Mülleimer neben dem Eingang zum Café und nicht auf das Gespräch zwischen Amanda und dem Kellner. Wie nett und aufgeweckt sie auf einmal wirkte. Wegen eines Fremden!

Heftige Eifersucht erfasste ihn und der Panther schlug brüllend gegen seine Käfigstangen. Doch anstatt auch nur einen Ton von sich zu geben, ließ er in einem ruhigen Zug seine angestaute Luft entweichen, um erneut von diesem Gestank zu kosten, damit auch er bestellen konnte.

Allerdings konnte er sich nicht dazu durchringen, den Mann anzusehen. Sonst hätte er ihm vermutlich den Kopf abgerissen, oder wenn er schon dabei war, etwas, das um einiges tiefer saß.

„Heiße Schokolade“, bestellte er kurz und knapp in einem Tonfall, der besagte, er sollte ihn bloß nicht zu lange darauf warten lassen, weil er sonst ungemütlich werden würde. Der Mann konnte froh sein, dass Nataniel nicht in der Stimmung war, vor Amanda eine Szene zu machen. Wobei die Geschehnisse in seinem Kopf weit über einen normalen Streit hinausgingen. Es war Horrorfilmmaterial der blutigsten Sorte.

Als der Kerl mit seinem aufdringlichen Gestank endlich davon gerauscht war, zwang sich Nataniel dazu, Amanda anzusehen. Er müsste nicht einmal hinsehen, um zu wissen, dass seine Bestellung sie sehr verwundern musste. Normalerweise aß er wie ein Mähdrescher auf Speed. Aber das war ihr Geld und außerdem war ihm der Appetit gehörig vergangen.

 

“Bist du auf Diät?”

Ihr Tonfall war weder schnippisch noch aggressiv. Es hätte sie einfach zu brennend interessiert, warum Nataniel nichts zu essen bestellte. Sie hatte sich schon auf das Gesicht des Kellners gefreut, wenn er eine Kombination wie Croissants und blutiges Steak an die Küche weiterreichen musste.

Irgendetwas musste an Nataniel nagen, wenn es ihn davon abhielt, etwas zu sich zu nehmen. Eigentlich hatte Amanda die Frage vermeiden wollen. Sie hatte sich so fest vorgenommen ihn nicht zu bevormunden, und doch …

„Dir geht’s doch gut, oder?“

Vielleicht hatte man ihm im Hauptquartier irgendwas eingeflößt oder noch schlimmer, der Gang durch die Schatten hatte ihn so mitgenommen.

Bei dem Gedanken, dass sie ihm geschadet hatte, obwohl sie ihm nur hatte helfen wollen, wurden Amandas Augen tatsächlich für einen Moment besorgt. Außerdem sah sie ihn sich endlich, seit sie sich wieder begegnet waren, ausführlich an.

Er sah erstaunlicherweise nicht anders aus, als an dem Tag, an dem sie gegangen war. Vielleicht etwas blasser, aber ansonsten hatte er sich nicht verändert. Sein dunkles Haar verdeckte fast gänzlich eines seiner eisblauen Augen. Gerade nicht jenes, über das sich eine dünne Narbe durch seine Augenbraue zog.

Daran konnte man allerdings sehen, dass Zeit vergangen war. Seit Amandas überstürztem Abschied schien er zumindest keine großen Verwundungen mehr eingesteckt zu haben. Mal von den blauen Flecken abgesehen, die ihm die Gummiknüppel der Organisation bei der Festnahme beigebracht hatten.

Vielleicht war das Leben im Rudel tatsächlich gut und sicher verlaufen. Bis zu dem Tag, an dem sich die Moonleague eingemischt hatte.

 

Nachdem Nataniel den penetranten Geruch des Kellners wieder gegen diesen zarten Duft von Amanda eintauschen konnte und sich dadurch seine Krallen wieder zurückzogen, legte er seine Hände wieder verschränkt auf den Tisch.

Wenigstens für einen Moment wollte er vergessen können, dass der Typ scharf auf sein Gegenüber war, auch wenn sie sich dessen wohl nicht bewusst war und der Kellner nichts dafürkonnte, dass Amanda nun einmal dessen Vorstellung von einer heißen Blondine ziemlich nahe kam. Zu nahe, für Nataniels Geschmack, wenn es um den Kellner ging.

„Nein und nein“, war seine tonlose Antwort, bis er sich ermahnte, dass es wohl besser wäre, wieder aufzutauen. Erst recht, als Amanda einen flüchtigen Moment lang wirklich so aussah, als wäre ihre Besorgnis echt. Vermutlich bildete er sich das nur ein.

Etwas wärmer begann er sich daher zu erklären, während er ihr unverwandt in die Augen starrte, als würde sie einfach verpuffen, wenn er auch nur einen Moment lang wegsah. Aber er musste einfach sehen, wie sie auf seine Worte reagierte, selbst wenn es keine positive Reaktion sein sollte.

„Ehrlich gesagt, mir ist der Appetit vergangen und ich wäre schon dankbar, wenn ich die heiße Schokolade hinunter bekomme, ohne mich zu übergeben.“

Das war ziemlich ehrlich. Aber so hungrig er auch war, es war nicht nur der Kellner, der ihm den Magen umdrehte.

Er seufzte, ließ Amanda dabei aber nicht aus den Augen. Die Antwort auf ihre zweite Frage war weitaus schwieriger zu erklären und er spürte, wie sich seine Finger fest miteinander verschlangen. Bestimmt standen seine Knöchel bereits weiß hervor, aber er sah nicht hin, um nachzusehen.

„Da ich nicht weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt, bis …“ ... du mich aussetzt, „… wir ankommen und es sowieso nie einen passenden Zeitpunkt dafür geben wird, können wir es auch genauso gut jetzt gleich hinter uns bringen. Du darfst mich gerne unterbrechen, wenn ich dir zu viel quatsche.“

Sein Gesicht verriet nichts, aber hinter seinen Augen tobten die Gefühle und sein Tonfall war zugleich hart und abgekämpft, wie auch traurig und zermürbt.

„Nein, es geht mir nicht gut, seit du das Rudel verlassen hast und daran wird sich auch nichts ändern, egal wie sehr es mir leidtut und wie oft ich dir das sage. Auch wenn du mir nicht glaubst.“

Er holte tief Luft, um seine Stimme ruhig zu halten, aber seine Augen schienen zu brennen. Schmelzendes und doch ewiges Eis.

„Die Stellung in meinem Rudel hat sich empfindlich verschärft, aber das bekomme ich wieder hin. Wir werden einen Ort finden, wo wir unentdeckt leben können und danach werde ich etwas besser schlafen können. Aber das wird nie etwas daran ändern, dass nicht ein einziger Tag vergeht, an dem ich nicht an die Sache beim Fluss denken muss. Ich weiß nicht, was genau du über diesen Vorfall denkst, nur dass ich deine Härte verdient habe und zugleich nicht verstehen kann, wie du mich retten konntest, wenn ich dir doch nichts weiter als schlechte Gefühle bereitet habe. Deine Wut ist für mich nichts Neues. Wenn du also die Sache hier und jetzt endgültig abgeschlossen haben willst, damit du unbelastet in ein neues Leben gehen kannst, bin ich bereit dir zuzuhören. Sag mir, was auch immer du dazu sagen willst. Schrei mich von mir aus an oder schlag mich, aber hör auf mich mit dieser Eiseskälte und Härte zu strafen, die mir die Luft zum Atmen nimmt. Das ertrage ich keine Sekunde länger!“

Den letzten Satz hatte er regelrecht flehend gesagt, damit sie sich nicht weiter für diese Form der Folter entschied, um sich an seinen Taten zu rächen.

26. Kapitel

Je mehr er redete, desto weniger wusste Amanda, was sie antworten sollte. Es tat ihm leid. Das hatte er nun schon zum wiederholten Male gesagt. Und sie glaubte ihm sogar. Was sie allerdings nur noch trauriger machte.

Sie lehnte sich auf die Unterarme gestützt auf den Tisch und wandte ihren Kopf, um aus dem Fenster zu blicken. Ihre Stimme war völlig ruhig und ließ keine aufbrandenden Gefühle erkennen. Immerhin hatte sie oft genug darüber nachgedacht, was sie von der Szene am Fluss halten sollte.

Die ersten Tage, nachdem sie fortgegangen war, hätte sie ihn zu gern ausgefragt. Hätte im Detail mit ihm klären wollen, was passiert war …

Aber um zu glauben, dass man es wieder ungeschehen machen konnte, dafür waren sie wohl beide schon zu alt. Was passiert war, war passiert, aber Amanda hätte es damals nur zu gern verstanden.

Jetzt, wo sie die Gelegenheit hatte, war sie nicht mehr so sicher, dass sie seine damalige Sicht der Dinge wirklich hören wollte.

Also fing sie mit der einzigen seiner Fragen an, die sie auf Anhieb beantworten konnte.

„Deine Frage, warum ich dich gerettet habe, hast du dir doch selbst schon beantwortet. Ich hab dein Rudel gesehen, Nataniel. Sie sehen alle zu dir auf und brauchen deine Hilfe. Nachdem, was ich über die Moonleague erfahren habe, konnte ich doch gar nicht anders, als dir da raus zu helfen. Und ich werde dich auch zu ihnen zurückbringen.“

Als sie sich ihm wieder zuwandte, sah sie im Augenwinkel gerade den Kellner mit einem Tablett und ihren Getränken zurückkommen. Daher fügte sie nur kurz etwas an. „Außerdem warst du unschuldig.“

Sie hatte sich schon so lange auf den großen Milchkaffee gefreut, der nun verführerisch duftend vor ihr stand und unter ihrem Blick langsam kalt wurde.

„Was die Sache am Fluss angeht …“

Ihre hellbraunen Augen hatten fast die gleiche Farbe wie der Inhalt ihrer großen Tasse und erschienen beinahe völlig leer, als sie die von Nataniel trafen, hinter denen so viele Emotionen zu lauern schienen.

„Wenn du nur von mir willst, dass ich dir eine Szene mache, dich anschreie und dann damit abschließe, dann muss ich dich enttäuschen.“

 

Als der Kellner bei ihnen aufkreuzte, die Getränke vor ihnen abstellte und Amanda einen Blick schenkte, der um ein paar Sekunden zu lange war, als dass er rein geschäftsmäßig hätte sein können, verlor Nataniel für einen Moment den Gesprächsfaden.

Zum Glück schien Amanda es gar nicht zu bemerken, doch er sah dieses Lächeln sehr wohl und witterte auch den verlangenden Duft, den der Typ ausstrahlte, als hätte er darin gebadet und wolle damit ihre Instinkte ansprechen.

Allerdings war das Einzige, was der Kerl damit wirklich anlockte, Nataniels dominante Alphatierpräsenz, die er schon seit geraumer Weile nicht mehr so offen gezeigt hatte.

Augenscheinlich veränderte sich gar nichts. Er legte lediglich die Hände um seine heiße Schokolade und sah auf den dunklen Inhalt, doch mit einem Mal verkrümelte sich der Kellner schneller, als nötig. Ganz so, als wäre ihm erst jetzt Amandas Begleitung so richtig aufgefallen.

Damit konnte Nataniel sich wieder voll und ganz auf das aktuelle Gesprächsthema konzentrieren. Die Sache am Fluss ...

„Im Grunde will ich gar nicht von dir angeschrien werden. Aber es wäre eine Reaktion, mit der ich etwas anfangen könnte, auch wenn es jetzt im Nachhinein nichts mehr ändert. Es tut mir trotzdem leid, wie die ganze Sache gelaufen ist.“

 

Die Oberfläche des Milchkaffees bewegte sich träge unter den Kreisen, die Amanda mit dem Löffel darin zog.

„Ich glaube dir sogar, dass es dir leidtut. Aber das ändert doch nichts. Wir haben irgendwas versucht … Es hat nicht geklappt. Ich habe …“

Schnell schluckte sie den kleinen Kloß hinunter, der ihre Kehle zu verstopfen drohte, indem er schlagartig anschwoll, wenn sie weiter sprechen wollte.

„Ich habe dich abgestoßen. Dir ist jede Emotion abhandengekommen. Ich weiß nicht, wie ich es gemacht habe, aber das ist auch egal. Eigentlich muss es dir gar nicht leidtun. Das muss es keinem von uns beiden.“

Menschen und Wandler passten eben einfach nicht zusammen. Sie wollte nicht sagen, dass er doch keine Schwierigkeiten haben würde, jemanden zu finden. Sie wollte doch gar nicht, dass er jemand anderen fand. Vielleicht hatte er das schon.

Amandas Herz schlug schnell und schmerzhaft, als ihr der Gedanke kam.

„Es war die richtige Entscheidung zu gehen. Du hast mich ja auch gehen lassen. Du hast nicht mal versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen.“

Diesen kleinen Vorwurf konnte sie einfach nicht unterdrücken, aber das war auch der einzige Satz, der ihren Schmerz außerdem im Tonfall beinhaltete.

 

„Du hast mich damals nicht abgestoßen, Amanda.“ Das musste er jetzt einfach klarstellen, so wie so manch anderes auch.

„Das absolute Gegenteil war der Fall und genau deshalb drohte die Situation mit einem Schlag gefährlich für dich zu werden. Der Panther …“

Nataniel zögerte nur kurz, aber es war keine geringe Entscheidung, die er da fällen musste. Immerhin würde er sich Amanda jeden Moment komplett offen legen.

„Es ist schwer zu erklären. Aber wenn ich es versuchen müsste, würde ich es eben mit jenem Tag am Fluss vergleichen. So wie ich deine beherrschten und kühlen Gefühle nicht richtig nachvollziehen kann, wirst du nie vollständig das Gegenteil davon verstehen können, mit dem ich tagtäglich zu kämpfen habe. Besonders an diesem verhängnisvollen Tag.“

Seine Finger schlossen sich enger um die Tasse.

„Ich weiß, dass die Menschen auch heißblütig, wild und ebenso auch brutal sein können wie wir. Nur haben sie nicht die körperlichen Voraussetzungen ohne Hilfsmittel auch so enormen Schaden anrichten zu können, wie ich zum Beispiel dazu in der Lage wäre. Darum hoffe ich, dass du mir glaubst, wenn ich dir sage, dass ich dich damals nur beschützen wollte.“

Den letzten Satz sagte er mit Nachdruck.

„Ich werde niemals kühl und gelassen sein können, wenn ich innerlich eigentlich das Gefühl habe, ich müsste explodieren. Das ist mir einfach nicht möglich, weil ich ein Wandler bin.“

An dieser Tatsache war einfach nicht zu rütteln.

„Der Panther ist ziemlich besitzergreifend, impulsiv und in seiner ungezähmten Leidenschaft oft auf unbeabsichtigte Weise wild und daher unberechenbar. Natürlich ist er ein Teil von mir, wie ich ein Teil von ihm bin. Aber bei starken emotionalen Regungen vermischen sich diese Eigenschaften so sehr, dass ich das Tier nicht länger im Käfig halten kann. Seine Gefühle, seine Wünsche, sein Verlangen greifen auf mich über. Weshalb ich stark aufwallende Gefühle nicht verbergen kann.“

Nataniel entkam ein Seufzer, ehe er einen Schluck von seinem Getränk nahm, da ihm der Mund trocken wurde.

„Du bist ein Mensch und somit mit all deinen Gefühlen, Instinkten, Sinneswahrnehmungen und Gedanken alleine. Ich trage auch noch ein Tier in mir herum, das ich nur selten ignorieren kann. Mir sind damals die Emotionen abhandengekommen, weil ich den Panther tief in mir einschließen musste, damit er nicht über dich herfällt.“

Zum ersten Mal blickte er hoch: „Du kennst doch den Spruch: Die Sau raus lassen? Nicht anders verhält es sich, wenn ich sage: Den Panther befreien.

Ich lass mich gehen, werde zu einem Wesen, das zwar menschlich aussieht, aber hinter seinen Augen kannst du ebenso ein Tier erkennen. Eines das dich mit seiner ungestümen Art unabsichtlich hätte verletzen können, auch wenn ich dir damit nicht sagen will, dass du schwach bist, aber eben weil du ein Mensch bist, war Vorsicht angebracht und gerade, weil ich dir all das verschwiegen habe, tut es mir umso mehr leid.“

 

So, wie Amanda es verstand, war Nataniel damals im Fluss dabei gewesen, die Beherrschung zu verlieren. Der Panther hätte die Oberhand gewonnen und sie eventuell verletzt. Um das zu verhindern, hatte Nataniel ihn wegsperren wollen und dabei wohl maßlos übertrieben.

Sie sah ihm direkt in die Augen, die jetzt vor Emotionen aufgewühlt schienen, als würde sich darunter eine stürmische See befinden. Damals hatten seine Augen so leer ausgesehen, es war rein gar nichts darin gewesen.

Um ehrlich zu sein, wusste sie nicht genau, was sie auf diese Offenbarung hin sagen sollte.

 

Bevor Nataniel weiter sprechen konnte, kam schon wieder der Kellner, der sich langsam zu einer lästigen Plage entwickelte, stellte rasch Amandas Bestellung vor ihr hin und verzog sich schleunigst wieder in die Küche.

Braver Junge.

Da der Geruch des Essens ihm vollauf reichte, wandte Nataniel seinen Blick von seinem Getränk auf die Aussicht vor dem Fenster. Inzwischen hatten sich zu dem einen Spatz mehrere andere Vogelkollegen dazu gesellt, die sich um ein Stück Brötchen stritten.

Mit vollkommen verändertem Tonfall begann er plötzlich, leise und bedeutungsschwer zu sprechen.

„Du hast Recht, ich hätte dich aufhalten können, tat es aber nicht. Aber wenn ich dich jetzt bitten würde, bei mir und dem Rudel zu bleiben, würdest du es tun?“

 

Amanda nahm endlich einen Schluck von ihrem Milchkaffee. Der Geschmack, den sie allerdings normalerweise so liebte, drang jedoch gar nicht bis zu ihr durch. Eigentlich nippte sie nur an dem heißen Getränk, um sich Stille zum Nachdenken zu verschaffen.

In den Wochen, die sie allein in ihrem winzigen Apartment und im Hauptquartier verbracht hatte, waren so viele Szenarien von dem entstanden, was passiert war.

Amanda hatte verzweifelt versucht, eine befriedigende Erklärung zu finden. Und irgendwann hatte sie beschlossen, es einfach aufzugeben. Nataniel hatte sich nicht bei ihr gemeldet, kein Lebenszeichen von sich gegeben, geschweige denn sie darum gebeten, zurückzukommen. Und jetzt bat er sie darum, beim Rudel zu bleiben?

Das erste Mal, seit sie ihn wieder getroffen hatte, gab Amanda auch ihren Emotionen nach und ihr Gesichtsausdruck wurde traurig.

„Um ehrlich zu sein, hab ich mir nur ein paar Gedanken darüber gemacht, was ich nun tun soll, nachdem ich im übertragenen Sinn das Haus meiner Familie in die Luft gesprengt habe.“

So fühlte es sich tatsächlich an. Amanda hatte sich befreit und etwas Gutes getan, indem sie die Moonleague sabotiert hatte. Dass sie ein Stück von sich dabei ebenfalls zerstört hatte, konnte Nataniel nicht verstehen. Er kannte ihre Geschichte nicht.

„Ich habe mir überlegt, mit Eric in den Untergrund zu gehen. Ihm zu helfen, die Wandler in der Stadt zu unterstützen.“

Ihr Daumen fuhr den Rand der großen Tasse entlang, an dem ein wenig Schaum klebte. Amanda kümmerte sich nicht darum, sondern wischte weiter geistesabwesend am Tassenrand hin und her, als wolle sie ihn polieren.

„Natürlich könnte ich auch mit dir kommen …“

Diesmal konnte sie ihn nicht ansehen. Wieder gönnte sie sich eine Pause, um zu überlegen, wie viele ihrer Gedanken sie preisgeben sollte.

 

Nataniel stützte sich mit den Armen am Tisch ab und hörte Amanda aufmerksam zu, während sich seine ganzen Sinne vollkommen auf sie und ihre Bewegungen richteten.

Er fand es seltsam, dass sie die Organisation als Familie bezeichnete, doch zugleich war ihm bewusst, dass sie sehr lange für die Moonleague gearbeitet hatte. Natürlich konnte mit der Zeit ein familiäres Betriebsklima aufgekommen sein, auch wenn das für Nataniel nur schwer vorstellbar war. Es war auf jeden Fall nicht unmöglich.

Der Panther schnaubte leise, als er Amandas Traurigkeit so schleichend zu spüren bekam, als würde ein Gewitter aufziehen und sich schließlich knapp über seiner Haut entladen. Es kribbelte jedoch nicht nur in seinem Nacken, sondern auch an Stellen, an denen es bei ihm noch nie gekribbelt hatte. Zugleich machte es ihn ebenfalls traurig.

Müsste er seiner eigenen Familie in den Rücken fallen, selbst wenn er wüsste, dass es richtig war, so wäre der Verlust trotzdem gewaltig. Wie musste es da erst Amanda gehen? Zum Glück hatte sie noch ihren Bruder und auch ihn und das Rudel. Aber wollte sie das überhaupt?

Nataniel sah ihr gespannt dabei zu, wie ihre Augen in weite Ferne schweiften, als würde sie intensiv über die zweite Option nachdenken. Er unterbrach sie nicht, spürte er doch, dass es wichtige Gedanken für sie waren, selbst wenn ihm zugleich ganz bang wurde. Was wenn sie sich tatsächlich gegen ihn und das Rudel stellte? Was wenn sie alleine mit ihrem Bruder unterwegs sein wollte?

Er würde sie ziehen lassen. Er würde es tun, weil er es müsste. Immerhin konnte er eine Frau, wie sie es war, nicht aufhalten. Aber er würde erst alles geben, ehe er es so weit kommen lassen würde. Das schwor er sich.

 

Ja, sie könnte mit ihm gehen. Das Familiengefühl des Rudels hatte ihr gefallen und sie hatte sich wohlgefühlt.

Sofort sah sie Nele vor sich, mit ihrer Zahnlücke, dem zuckersüßen Lächeln und den großen, schönen Augen. Aber Amanda traute es sich einfach nicht zu. Sie konnte nicht mit Nataniel zusammen sein, das hatte ihr seine Erklärung klar gemacht. Sie würde nicht von ihm verlangen, dass er seine Leidenschaften zügelte, denn das wäre Unsinn. Aber sie würde ihm diesbezüglich nie genügen können. Trotz ihrer Fähigkeiten, die sie immer von ihnen unterschieden hatten, fühlte Amanda jetzt, dass sie einfach NUR ein Mensch war. Sie würde nicht riskieren, dass Nataniel seine Gefühle wieder abhandenkamen, nur weil er sie beschützen wollte.

Vielleicht hatte er das sowieso schon ausgeschlossen. Sie traute ihm in diesem Moment zu, dass er vernünftiger war als sie und eine Beziehung jedweder Art, die über bloße Freundschaft hinausging, ausgeschlossen hatte. Und genau das war der Grund, warum sie nicht mit ihm gehen konnte.

Sie würde es nicht ertragen, ihn mit einer Anderen zu sehen.

Schon damals hatte es ihr einen Stich versetzt, als er dem Jaguarmädchen so nah gekommen war. Wenn er Rudelführer blieb, würde er früher oder später ein Alphaweibchen und Kinder haben. So gut hatte Amanda ihre Gefühle dann doch nicht unter Kontrolle, dass sie das hätte einfach wegstecken können.

„Ich weiß nicht, wie du das siehst. Aber ich muss leider zugeben, dass ich das nicht könnte.“

Er sah sie verständnislos an. Amanda hatte so gesprochen, als hätte Nataniel ihre Gedanken hören und ihr damit folgen können.

„Wir können uns beide nicht verleugnen. Ich kann nicht mehr sein als ein Mensch. Ich würde nicht zu euch …“

Sie unterbrach sich, und wenn es ihm jetzt noch nicht genug Emotion war, die er in ihren Augen und ihrem Gesicht lesen konnte, dann würde es nie genug sein.

Amanda war wütend.

Wütend, weil sie all das hier so traurig machte und sie nichts dagegen tun konnte. Bloß konnte sie mit der Wut, die sich gegen niemanden im Speziellen richtete, auch nicht umgehen.

 

War es das? Glaubte sie tatsächlich, sie könnte niemals ein vollständiger Teil der Gemeinschaft sein, nur weil sie ein Mensch war? Machte sie diese Unzugehörigkeit so wütend?

Denn dass sie auf einmal zu kochen begann, spürte er stechend in seiner Nase, genauso wie die salzige Bitterkeit ihrer Traurigkeit. Dazu musste er ihr noch nicht einmal in die Augen sehen, die leicht glasig wurden, als könne jeden Moment eine Träne über ihre Wangen rollen.

Nataniel wollte ihr ins Wort fallen, sie aufklären, dass es egal war, zu welcher Rasse sie gehörte. Er akzeptierte sie vollkommen, so wie sie war, denn sie war vollkommen. Niemals hätte er an ihr etwas ändern wollen!

Da sein Knoten im Hals jedoch immer größer und das dumpfe Gefühl in seinem Magen auch nicht kleiner wurde, hörte er ihr weiterhin schweigend zu, während er in seine leere Tasse starrte.

Oh Gott … ihre Emotionen waren so überwältigend intensiv. Wann hatte sie sich je auf diese Art vor ihm geöffnet?

Ihre Lust und Erregung kannte er, aber das hier hatte nichts mit körperlichen Reaktionen zu tun, sie öffnete sich ihm auf emotionaler Ebene. Sie ließ ihn einen winzigen Blick auf ihr Seelenleben erhaschen. Vermutlich sogar mehr, als sie sich bewusst war.

 

„Nataniel, ich hab mich damals auf dich eingelassen. Mehr, als ich eigentlich wollte. Dann ist diese blöde Sache passiert und ich bin ausgetickt und davon gelaufen. Für mich war es so, als wolltest du mich nicht.“

Wellten da etwa Tränen in ihren Augen auf? Verdammt, wann hatte sie das letzte Mal vor einem Mann geweint?

Sie konnte sich nicht erinnern.

„Und jetzt soll ich mit dir kommen? Ich kann dich noch nicht mal nach deinen Gründen fragen, weil mich das wahrscheinlich noch mehr fertigmachen würde.“

Ihre Stimme war so leise, dass er sich fast unmerklich vorlehnte. Oder gab es dafür andere Gründe, als dass er sie nicht hören konnte?

„Ich werde es nicht aushalten, mir anzusehen, wie du dir jemanden suchst, der zu dir passt. Spätestens dann werde ich gehen müssen. Und vielleicht ist mir das zu spät.“

Die Tür zur Küche schwang fast lautlos auf, aber da sonst niemand im Café saß, hörte Amanda es trotzdem und ihr wurde mit einem Schlag bewusst, was sie gerade alles von sich gegeben hatte.

 

Nataniel hätte am Liebsten den Tisch zur Seite gefegt und Amanda in seine Arme gezogen. Damit er ihr deutlich machen konnte, wie sehr er sie wollte und wie unrecht sie mit ihrer Vermutung hatte.

Natürlich konnte er das nicht tun, aber er kam trotzdem ein Stück näher. So nahe, wie er es wagen konnte, hier in der Öffentlichkeit und in Anbetracht der heiklen Lage.

Als wäre er jemals wieder dazu in der Lage, sich eine Gestaltwandlerfrau als Gefährtin zu suchen. Nicht, wenn Amanda alle anderen weiblichen Wesen in seiner und ihrer Nähe verblassen ließ.

Abermals wollte er endlich zu Wort kommen, um sich zu erklären und um Amanda zu beruhigen, aber da wurden sie auch schon unterbrochen.

In diesem Augenblick war der Drang, den Kellner auf der Stelle umzulegen, gewaltig!

Was dem Kerl keineswegs entging, denn er blieb abrupt stehen, als er Nataniels Miene sah.

 

Ihr Magen fühlte sich so an, als hätte er sich auch gerade überlegt auf Stichwort etwas von sich geben zu wollen.

Mit fahrigen Bewegungen stand Amanda auf und sah weder Nataniel noch den Kellner an, der neben der Küchentür stehen geblieben war.

Sie suchte verzweifelt das Schild, das zu den Toiletten zeigte, und folgte schließlich dem Pfeil, bis sie den stillen, kleinen Raum erreichte.

Die Tür der zweiten Kabine schepperte gegen die Trennwand, als Amanda sich hineinflüchtete, die Tür hinter sich sogar verriegelte und sich auf den Deckel setzte, um ihr Gesicht in ihren Händen zu vergraben.

 

Amanda war schon aufgesprungen, ehe er reagieren konnte und auf die Toiletten geflüchtet.

Jetzt wäre der richtige Augenblick gewesen, dem Typen Manieren beizubringen, doch stattdessen blieb Nataniel bewegungslos sitzen, starrte aus dem Fenster und wartete darauf, dass Amanda zurückkam. Doch das tat sie nicht. Auch nicht, als bereits einige Minuten vergangen waren, weshalb er sich ernsthaft Sorgen zu machen begann.

Schließlich stand er mit einem leisen Stuhlscharren auf und folgte ihr in Richtung Toiletten.

Vor dem Symbol für Frauen schrak er nicht zurück, doch er öffnete nur langsam die Tür, um zu sehen, ob die Luft rein war.

Als er niemanden sehen konnte, aber die zweite Kabinentür besetzt war, schloss er die Damentoilettentür hinter sich und ging zu den Waschbecken hinüber.

Er sah sich im Spiegel an, während seine Händen den Rand des Waschbeckens fest umklammert hielten.

Eine Weile sagte er nichts und blieb auch sonst vollkommen lautlos, während er lauschte. Doch er hörte nichts außer ihrer Atmung.

 

Ein paar Mal war sie fast so weit gewesen aufzustehen und ins Café zurückzugehen. Aber sie hatte es doch nicht getan. Amanda hatte Angst, Nataniels Antwort auf ihren Ausbruch zu hören.

Für ihre Verhältnisse hatte sie ihm sehr wohl eine Szene gemacht – es war in ihren Augen fast so schlimm, dass sie verstanden hätte, wenn er einfach ginge.

Stattdessen hörte sie die Tür aufgehen und dann wahnsinnig leise Schritte auf dem Linoleum.

Es konnte niemand sein, der hier auf die Toilette wollte. Dann hätte sich die Person in eine der freien Kabinen begeben oder das Wasser angestellt, um sich die Hände zu waschen. Irgendetwas hätte Amanda auf jeden Fall gehört und wenn es nur das Klicken eines Taschenspiegels gewesen wäre.

Da jedes Geräusch aber ausblieb, wusste sie, wer hereingekommen war. Und genau das machte sie völlig fertig. Es war so, als könne sich ihr Körper nicht entscheiden, was schlimmer war. Durch die Kabinentür von ihm getrennt oder ihm so nah zu sein. Warum konnte sie die Unterschiede zwischen ihnen beiden nicht einfach fortwischen und alles einfach machen?

 

„Ich kann dich nicht zwingen, dich wieder dem Rudel anzuschließen, erst recht nicht, da es noch immer in Gefahr ist. Jetzt mehr denn je“, begann er schließlich mit leicht bebender, aber ruhiger Stimme zu sprechen, wobei er sich selbst in die Augen starrte.

„Du … sollst nur wissen, dass du immer bei uns willkommen bist. Du bist ein Mensch Amanda und keinem ist das deutlicher bewusst als mir, aber …“

Sein Blick fiel auf seine Hände, dessen Fingerknöchel sich weiß unter seiner Haut hervorhoben.

„... zum einen fühle ich mich dir ebenbürtig. Nicht, was körperliche Stärke anbelangt, aber das ist im Vergleich dazu nur ein geringer Anteil und zum anderen bin ich der Meinung, dass, wenn man beim ersten Versuch Fahrrad zu fahren hinfällt, man dann auch nicht einfach aufgibt und es sein lässt.“

Nataniel holte schaudernd nach Atem.

„Amanda … ich bin mir bewusst, wie schwierig es ist, aber ich WILL aufstehen. Ich will keine Frau, die nicht einmal halb an dich heranreichen wird und bei der ich niemals das Gefühl haben werde, sie sei mir gewachsen. Wenn du also gehen musst, weil du nicht anders kannst, muss ich dich gehen lassen. Aber das wird nichts daran ändern, dass ich dich trotzdem bei mir haben will.“

Bevor er das Waschbecken mit bloßen Händen zerquetschen konnte, nahm er seine Hände weg und ließ sie leblos an seinem Körper hinab baumeln. Er hatte gesagt, was ihm auf dem Herzen lag. Ob sie es auch so verstanden hatte?

 

Als Nataniel den Vergleich mit dem Fahrrad anführte, musste Amanda tatsächlich lächeln. Zumindest hatte er nicht davon gesprochen, dass sie wieder in den Sattel steigen sollte.

Ihr Lächeln wurde noch breiter.

Endlich kam seine Nachricht in ihrem Hirn an. Er wollte sie bei sich haben. Das hatte er gerade gesagt. In genau diesen Worten.

Leicht zitternd stand Amanda auf, riss ein Stück Klopapier ab und wischte sich dicht unter den Wimpern damit entlang. Auf dem Weiß des Papiers zeigten sich schwarze Striche, die sich nun hoffentlich nicht mehr als Spuren ihrer Tränen unter ihren Augen zeigten.

Mit beiden Füßen fest auf dem Boden straffte sich Amanda und schloss die Tür auf.

Nataniel stand ihr gegenüber am Waschbecken. Da der Raum sehr klein war, hätte sie kaum an ihm vorbei gehen können, wenn sie es denn gewollt hätte.

„Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, was das Symbol auf der Tür bedeutet?“

Amanda fühlte sich schwach in den Knien, als sie auf ihn zuging. In diesem Moment war es ihr völlig egal, ob jemand hereinkommen könnte. Vorsichtig legte sie ihre Hände auf seine Brust und lehnte sich kurz an seinen warmen Körper.

Sie hatte diesen warmen, herben Geruch wirklich vermisst und musste ihm schnell wieder entfliehen, um nicht tatsächlich loszuheulen.

Hätte sie jetzt ihrem Wunsch nachgegeben und sich an ihm festgekrallt, hätte sie ihn wahrscheinlich nie wieder losgelassen.

Es war nur eine kurze Umarmung gewesen, aber für etwas Anderes fühlte sich Amanda noch nicht bereit, sonst würden sie ihre Gefühle wahrscheinlich überschwemmen. Sie hatten geklärt, dass sie einander mochten. Aber es würde verdammt kompliziert werden.

 

Die Zeit, die er mit dem Warten auf eine Reaktion von Amanda verbrachte, schien sich unendlich in die Länge zu ziehen. Jede Sekunde schien ein ganzes Leben zu sein, das eine gute oder eine schlechte Wendung mit sich brachte. Er hätte nicht sagen können, wie Amanda reagieren würde. Was das anging, war Nataniel ein hoffnungsloser Fall in Sachen Verstehen. Zumindest wenn es um sie ging.

Er konnte ihren Geruch deuten, ihre Mimik beobachten und würde trotzdem nie genug über sie wissen. Aber verdammt noch mal, er würde nur allzu gerne ein ganzes Leben lang damit verbringen, sie kennenzulernen. Tag für Tag, Moment für Moment.

In diesem Augenblick, als in seiner Brust eine Flamme so heiß und kraftvoll wie ein Stern zu glühen begann, und ihm damit etwas sagen wollte, kam Amanda aus der Toilette, woraufhin er sich zu ihr umdrehte.

Das Gefühl verstärkte sich noch, als er sie sah. Ich Make-up war tadellos, aber er sah trotzdem, dass sie geweint hatte. Ihre Augen waren leicht gerötet, weshalb ihre nächsten Worte genauso wenig zu ihrem Gesicht passten, wie sein darauf folgendes Grinsen zu seinen Emotionen passte. Er wollte sie beschützend in die Arme ziehen und laut knurren, damit jeder wissen sollte, unter wessen Schutz sie stand.

Doch weder das eine noch das andere brachte er fertig. Erst als Amanda sich kurz an seine Brust schmiegte, schlossen sich seine Arme um sie.

„Ich höre nicht immer auf meine Mutter, weißt du?“, gab Nataniel flüsternd zurück, ehe er sie wieder entließ. Er würde sie nicht festhalten, auch wenn ihm im Augenblick nichts mehr am Herzen liegen würde.

„Glaubst du, ich könnte vielleicht einen Bissen von deinen Pancakes abhaben? Vorausgesetzt sie sind noch nicht schreiend davon gelaufen?“

Wieder ein Lächeln, dieses Mal eines der sanften Art, doch er wollte die Stimmung nicht noch mehr drücken, als sie ohnehin schon schwer war. Weshalb er Amanda zu zwinkerte und mit den Worten: „Ich hör wohl doch lieber auf meine Mom und warte am Tisch“, zur Tür ging.

Sicher wollte Amanda noch einen Augenblick lang alleine sein. Trotzdem drehte er sich noch einmal um und sah sie mit leicht bittender Miene an.

„Lass mich aber nicht zu lange warten, okay? … Sonst ist dein Frühstück am Ende noch wie vom Erdboden verschluckt.“

Verdammt war das alles schwierig, und auch wenn Amanda sich einen Moment lang an ihn gedrückt hatte, bedeutete das doch gar nichts. Weder wusste er, ob sie gehen würde, noch wie sich das alles entwickeln würde. Die Zukunft war so ungewiss, wie sie von Ängsten erfüllt war.

 

„Klar kannst du.“

Sie würde sich einfach noch eine Portion bestellen, wenn sie wieder an den Tisch kam.

Gerade wollte sie ihm sagen, dass er ihr was übrig lassen sollte, als er wohl ihre Gedanken gelesen hatte. Also nickte sie nur, und als die Tür hinter ihm zugegangen war, sah sie sich im Spiegel an.

Eigentlich sah sie recht in Ordnung aus. Was hätte sich auch ändern sollen. Ihre wohlweislich aufgebaute Schutzmauer hatte gebröckelt. Ziemlich sogar. Aber gegenüber Nataniel konnte sich Amanda das selbst durchgehen lassen.

27. Kapitel

Amanda wusch sich kurz die Hände, öffnete ihre Haare und nahm sie dann zu einem weniger strengen Pferdeschwanz zusammen, bevor sie zu ihrem Tisch zurückging.

Von den Pancakes war noch ein Großteil übrig, auch wenn ihre Gabel in Nataniels Hand gerade wie eine drohende Wespe darüber schwebte.

Mrs. Cauley fiel ihr wieder ein und das, worüber sie letzte Nacht vor dem Schlafen nachgedacht hatte. Sie würde mit ihm darüber sprechen müssen. Aber nicht jetzt. Das hatte auch noch bis nach dem Frühstück Zeit.

Amanda schnappte Nataniel die Gabel aus der Hand und winkte den Kellner zum Tisch, der sich seltsam steif und widerwillig bewegte. Ganz anders als zuvor, was ihr ein Stirnrunzeln entlockte, das sie aber aufgab, als der junge Mann doch an den Tisch kam und fragte, ob er noch etwas bringen könne.

Amanda bestellte eine zweite Portion Pancakes und sah dann Nataniel erwartungsvoll an. Sobald er mit Bestellen beschäftigt war, probierte sie von den Pancakes, die mit Sirup und Früchten beinahe überladen waren – sie waren einfach göttlich.

Während sie genüsslich kaute und noch einen Schluck Milchkaffee trank, lehnte sie sich endlich entspannt zurück.

„Kennst du Nele?“, fragte sie unvermittelt, weil ihr das Mädchen seit ihrer Abreise nicht mehr aus dem Kopf gegangen war.

„Sie ist etwa sechs und in deinem Rudel. Ich hab sie bei dem Fest kennengelernt. Bestimmt ist sie ziemlich sauer auf mich. Ich hab ihr nämlich was versprochen und bin dann abgehauen, ohne ihr Bescheid zu sagen.“

Vielleicht hatten sie Zeit, ein Geschenk für das Mädchen zu besorgen. Hoffentlich würde sie Amanda ihr Verschwinden irgendwann verzeihen.

„Ich weiß nicht mal, welche Katze sie in sich trägt.“

 

Der Gestank des Mannes hatte sich in eine angstvolle Duftnote verwandelt. Also bestellte Nataniel nun schon etwas freundlicher noch eine große Portion Spiegeleier mit Speck und eine weitere heiße Schokolade.

Nachdem der Typ abgerauscht war, begann Amanda bereits mit dem nächsten Gesprächsthema, was ihn sich versteifen ließ. Gerade hatte er seine leere Tasse zur Seite schieben wollen, blieb aber mitten in der Bewegung hängen.

„Ich kenne jedes Mitglied unseres Rudels.“

Sein Tonfall war sachlich und machte klar, dass es sich hierbei um keine Behauptung, sondern eine Tatsache handelte. Er wusste es wirklich. Aber gerade Nele im Speziellen war ihm natürlich nicht aus dem Kopf gegangen. Wie hätte sie auch? Es hatte dem kleinen Mädchen statt seiner das Herz gebrochen, als Amanda fortging. Eine Last, die er der Kleinen zu gerne abgenommen hätte, aber damals war er nicht dazu im Stande gewesen. Nataniel wusste nicht einmal, ob er es jetzt könnte.

„Sie ist nicht sauer auf dich.“ Sondern traurig und enttäuscht, aber sicherlich nicht so, dass sie ihre Meinung nicht wieder ändern könnte. Das Mädchen hat eine verbissene Hartnäckigkeit, von der er sich noch eine Scheibe abschneiden konnte.

„Sie vermisst dich sehr und hat jeden Tag nach dir gefragt, seit du weggegangen bist.“

Wie sehr es die Kleine getroffen hatte, konnte er Amanda nicht sagen. Er wollte ihr kein schlechtes Gewissen einreden.

„Sie und ihre Mutter gehören im Übrigen zur Familie der Ozelot. Eine der schwächsten Mitglieder unseres Clans und deshalb besonders behütet. Aber es sind wirklich wunderschöne Tiere. Wie große Katzen.“

Da die Küche heute nicht viel zu tun hatte, war das Essen schneller fertig, als zu erwarten und der Kellner legte eine beachtliche Leistung an Unauffälligkeit an den Tag, die man nur bewundern konnte.

Verdammt hungrig, aber immer noch halbwegs gesittet, stürzte sich Nataniel auf den Speck.

„Was war es denn, was du ihr zeigen wolltest? Sie hat so etwas in der Art nie wirklich erwähnt“, fragte er neugierig, nachdem er den ersten Bissen hinunter geschluckt hatte.

 

Nele hatte wirklich jeden Tag nach ihr gefragt? Amandas Augen wurden groß und ein mehr als überraschter Ausdruck legte sich über ihre Züge. Hätte sie gewusst, dass es der Kleinen so wichtig war, wäre sie niemals wortlos verschwunden. Das hätte sie so oder so nicht tun sollen. Dafür gab es wahrscheinlich keine Entschuldigung. Amanda würde sich die größte Mühe geben, es wieder gutzumachen.

Auf Nataniels Frage hin, und weil er endlich begeistert aß, musste Amanda schmunzeln.

„Ich weiß nicht, ob ich dir das verraten darf.“

Nele hatte ihm auch nichts erzählt.

„Es ist unser Geheimnis, also Nele und meins.“

Noch immer war sich Amanda nicht sicher, ob sie der Kleinen ihre Fähigkeiten zeigen sollte. Bestimmt würde es ihr Angst machen. Aber nachdem das Mädchen jeden Tag bei Nataniel gewesen war, um sich nach ihr zu erkundigen, konnte Amanda es ihr genauso wenig abschlagen.

Ozelots also. Amanda wusste, wie sie aussahen und es waren, wie Nataniel gesagt hatte, wunderschöne Tiere.

„Wo sind deine Leute denn jetzt?“

Ihr war aufgefallen, dass er von 'unserem Rudel' gesprochen hatte, aber noch wollte sich Amanda einfach nicht so weit aus dem Fenster lehnen. Immerhin war zu erwarten, dass die Mitglieder Amanda verdächtigen würden, sie an die Organisation verraten zu haben. Das konnte sie ihnen keinesfalls verübeln. Es war die logischste Erklärung, auch wenn sie nicht richtig war. Vielleicht würde sie sich innerlich darauf vorbereiten müssen, auf Ablehnung zu stoßen, bis die Sache vollkommen geklärt war.

„Sind sie denn in alle Winde zerstreut oder konnten sie irgendwohin zusammen fliehen?“

Es wäre einfach zu schön gewesen, wenn sie einen annähernd genauso gemütlichen Ort, wie ihr Refugium im Wald zur Verfügung hätten. Aber daran glaubte Amanda nicht. Selbst wenn es einen Ausweichort gab, an dem sie sich alle aufhalten konnten, war er sicher nicht so luxuriös, wie das alte Lager.

 

Nataniel nickte nur und schob sich dann eine weitere Gabel voll Ei in den Mund. Geheimnisse zwischen einer Sechsjährigen und Amanda wirkten zwar sehr interessant auf ihn, aber es konnte nichts sein, worüber er sich Sorgen machen müsste. Was das anging, vertraute er Amanda voll und ganz.

„Während du weg warst, habe ich viele organisatorische Dinge erledigt. Weshalb ich rechtzeitig Notfallpläne zur Hand hatte, als ich das mit der Moonleague herausfand. So konnte ich Palia das Kommando übertragen, damit sie alle in Sicherheit bringt. Zwar hatten wir das alles noch nicht für den Ernstfall geübt, aber ich bin mir sicher, dass es trotzdem geklappt hat. Immerhin sagtest du, dass niemand gefangen genommen wurde. Sie dürften also in Sicherheit sein.“

Er hoffte es wirklich. Denn auch wenn ihm dank Amanda auch einmal andere Gedanken durch den Kopf gingen, vergaß er dennoch nie seine unzähligen anderen Sorgen.

„Das Versteck ist leider nur darauf ausgerichtet, ein längeres Überleben zu sichern, wenn alle in ihrer Tiergestalt bleiben und Wild jagen.“

Dass es sich hierbei um Höhlen handelte, die er bei einem seiner ersten Streifzüge entdeckt hatte, verschwieg er ihr für den Moment. Sie waren hier an einem öffentlichen Ort, weshalb er nicht näher ins Detail gehen wollte, bis er sich wirklich sicher war, dass niemand ihnen zuhörte, selbst wenn derjenige ohnehin glauben musste, sie gehörten in die Psychiatrie.

Nataniel legte sein Besteck auf den leer gegessenen Teller, schob ihn beiseite und zog sich wieder die volle Tasse mit heißer Schokolade heran.

„Wenn du wirklich mitkommen willst …“ Was er natürlich mit jeder Faser seines Körpers hoffte. „… wirst du Wanderklamotten brauchen. Es ist ein weiter Weg und eventuell könnte ein Schlafsack nicht schaden. Solltest du nichts gegen frisch gefangene Kost haben, brauchst du dir wegen Vorräte keine Sorgen zu machen. Es führen einige Flüsse mit großen Fischbeständen durch die Region und ich bin ein hervorragender Angler.“ Selbst ohne Angelrute.

Während er einen großen Schluck von dem heißen Getränk nahm, sah er Amanda erwartungsvoll an.

Würde sie sich nun entscheiden? Wollte sie überhaupt einen so beschwerlichen Weg auf sich nehmen, wenn sie gar nicht vorhatte, etwas länger zu bleiben? Vielleicht setzte sie ihn auch einfach nur am Waldrand ab und fuhr zu Eric.

Wenigstens war ihr Bruder in Sicherheit.

 

“Okay, das ist kein Problem. Wanderschuhe und einen Schlafsack habe ich im Auto.“ Bei ihren Einsätzen und den Verfolgungen von Gestaltwandlern musste sie öfter irgendwo im Freien weite Strecken zurücklegen oder übernachten. Sie war also vorbereitet. Ein Glitzern legte sich in Nataniels Augen, das Amanda ein Lächeln entlockte.

„Allerdings würde ich gern noch ein paar Kleinigkeiten besorgen, bevor wir uns in die Wildnis schlagen.“

Wenn sie hörte, dass die Anderen wahrscheinlich alle als Katzen herumliefen, war an Luxus wohl nicht zu denken. Amanda wollte zumindest noch ein paar Dinge besorgen, wie das Geschenk für Nele und etwas, das Abwechslung zum Fleisch auf den Speiseplan brachte, wenn sie unterwegs zum Lager waren.

 
 

***

 

Sie einigten sich schnell darauf, dass Amanda noch von einem Münztelefon in der Stadt ihren Bruder anrief, der sich vor Sorgen schon fast die Haare ausgerauft haben musste. Amanda teilte ihm mit, dass sie erstmal mit Nataniel gehen würde. Warum, sagte sie ihm allerdings nicht. Sie wusste es selbst noch nicht und wollte das zerbrechliche Gebilde, das sie beide zwischen sich aufgerichtet hatten, auch nicht damit belasten, dass sie irgendjemandem davon erzählte.

Nach dem Einkauf war die Autofahrt immer noch lang. Sie folgten der Autobahn bis zu einer Ausfahrt, die Amanda noch nie gehört hatte und deren Name ihr auch circa zwei Minuten später wieder entfallen war.

Je weiter sie fuhren, desto mehr nahm die Besiedlung ab und die Straßen wurden zunächst enger und dann auch holpriger.

Schließlich hopste der Wagen nur noch über einen Kiesweg dahin, der sie später völlig im dichten Wald verlor. Ob hier jemals jemand vorbei kommen würde, war fraglich. Aber Amanda wollte kein Risiko eingehen und fuhr das Auto eine sanfte Böschung hinunter, wo es einem zufällig Vorbeikommenden sicher nicht ins Auge fiel.

 

Während Amanda ihre Besorgungen machte, blieb Nataniel im Auto und überlegte sich derweil, welche Rute wohl die Beste wäre, um zu den Höhlen zu gelangen.

Es gab mehrere Wege, aber nur ganz wenige davon, waren auch für Menschen zugänglich. Manchmal leichter, manchmal schwerer.

Das Gebiet lag weitab jeglicher Zivilisation, weshalb es für Nicolais Clan wohl nicht sehr begehrt gewesen war. Denn offenbar hatte er trotz allem wert auf etwas Luxus gelegt. Hätte es sich sonst dieser Leopard im Haus der Luchse gemütlich gemacht?

Die meisten Gestaltwandler waren dazu in der Lage, lange Zeit in der Wildnis zu überleben, aber trotzdem zogen sie die menschlichen Annehmlichkeiten vor. Eben weil nicht alles an ihnen Tier war.

Die lange Fahrt verlief relativ still. Nur ab und zu gab Nataniel Amanda ein paar Richtungsangaben, ehe wieder jeder seinen eigenen Gedanken nach hing.

Es war zwar noch immer keine harmonische Stille, doch wenigstens nicht unangenehm aufgeladen. Fragen hingen noch deutlich in der Luft, aber es schienen wohl beide zu ahnen, dass sie diese entweder gar nicht stellen würden, oder noch dazu kamen, sie auszusprechen. So oder so, während der Fahrt bestand kein sehr großes Redebedürfnis beider Seiten.

 

Als sie endlich nicht mehr mit dem Auto weiter kamen, war Nataniel innerlich schon ganz aufgeregt. Er war seinem Rudel so nahe, wie seit seiner Gefangennahme nicht mehr, was ihn etwas ungeduldig machte. Aber das zeigte er nicht, da er Amanda nicht hetzen wollte.

Sie würden beide zu Fuß gehen, und da es schon bald regnen würde, mussten sie besonders vorsichtig sein.

Wenn der Wald nass und mit leichten Nebelschwaden behangen war, konnte man rasch irgendwo ausrutschen und sich ernsthaft verletzen. Selbst wenn man als Tier unterwegs war.

Während Amanda ihren Rucksack aus dem Kofferraum holte und sich die Wanderstiefel anzog, schlüpfte Nataniel aus seinen Turnschuhen und den Socken. Er krempelte sich auch die Jeansbeine bis unters Knie hoch, um möglichst nirgends mit dem Saum seiner Hose hängen zu bleiben. Außerdem brauchte er das Gefühl der feuchten Erde auf seinen nackten Fußsohlen. Zum einen gab es ihm mehr Informationen über den Untergrund und seine Umgebung, als es mit Schuhen möglich gewesen wäre, zum anderen hatte er die Natur in ihrer Fülle schmerzlich vermisst und war daher umso froher, wieder frische und unbelastete Luft atmen zu können, während er sie zugleich auf seiner Haut spürte.

 

Amanda zerrte den Rucksack, in dem sie auch den Schlafsack verstaut hatte, aus dem Kofferraum, zog sich die Wanderstiefel an und blickte Nataniel erwartungsvoll in die Augen. Leider hatte es schon die ganze Zeit, während sie hierher gefahren waren, nach Regen ausgesehen, der wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Aber Amanda hatte sich auch eine Wanderhose und Regenjacke besorgt. Es konnte also nicht so schlimm werden.

„Du bist der Kompass, wo geht’s lang?“, fragte sie enthusiastisch. Hier draußen fühlte sie sich sehr viel freier und unbelasteter, als in den Städten die sie durchquert und hinter sich gelassen hatten.

Es mochte trügerisch sein, aber hier kam sich Amanda so vor, als könne sie der Arm der Moonleague zumindest nicht so leicht erreichen.

 

„Amanda, ich werde nicht nur der Kompass sein, sondern auch der Gepäckträger“, meinte er in einem Tonfall, der jegliche Diskussionsbasis über dieses Thema von vornherein ausschloss, wobei er die Hand nach ihrem Rucksack ausstreckte.

„Es wird so schon anstrengend genug für dich werden. Aber vor allem wäre mir wohler, wenn du nicht auch noch das Gewicht des Rucksacks tragen musst, während du über relativ schlüpfriges Gelände marschierst.“

Dass er selbst weder Regenschutz, noch Schuhe, noch eine Jacke brauchte, war nur zu deutlich. Selbst als Mensch würde ihm die Witterung kaum etwas ausmachen. Dazu müsste es schon arktische Schneestürme geben. Weshalb er auch keinen Schlafsack benötigte. So etwas hatte er noch nie gebraucht. In diesem Sinne war es also praktisch, dass sie nur einen Rucksack brauchten und ER diesen an sich nahm. Amanda würde wirklich noch merken, dass das kein Spaziergang werden würde. Selbst für ihn war es keine leicht zu nehmende Strecke.

„Wir haben noch etwa vier Stunden, bis die Sonne untergeht. Bis dahin können wir nur hoffen, dass uns der Regen verschont und wir gut vorankommen.“

Nachdem er seine Schuhe und die Socken ebenfalls noch in den prall gefüllten Rucksack verstaut hatte, schnallte er ihn sich mit allen Riemen um und deutete in Richtung Südwesten.

 

Zuerst hatte Amanda noch protestieren wollen, aber bereits nach einer Weile war sie froh darüber, dass Nataniel ihr den Rucksack abgenommen hatte. Er kam trotz seiner bloßen Füße sehr viel schneller voran als sie selbst. Das lag bestimmt auch daran, dass er genau wusste, wo er hinwollte.

Sie folgte ihm nur, so gut es ging und konzentrierte sich darauf seinen Spuren zu folgen, da er sich immer einen stabilen Tritt suchte. So wanderten sie stundenlang durch den Wald und sprachen eigentlich kein Wort. Nur ab und zu fragte Nataniel, ob Amanda mitkam oder es ihr zu steil wurde. Er half ihr auch über besonders schwierige oder schlüpfrige Abhänge und sie ließ sich nach einiger Zeit sogar gelassen von ihm hochziehen.

Der Regenguss machte ihr offensichtlich etwas mehr aus als Nataniel. Hauptsächlich deshalb, weil ihr die dicken Regentropfen oftmals die Sicht nahmen und sie immer wieder auf dem schlammigen Boden anfing zu rutschen.

Amanda konnte es nicht leiden keinen festen Tritt zu haben und nur zu erahnen, wo sie entlang lief. Eine Verletzung wollte sie nicht riskieren, und als auch noch der Himmel derart dunkel zuzog, war sie erleichtert zu hören, dass Nataniel einen Ort zum Unterstellen suchen wollte.

 

Der Anfang der Strecke war gnädigerweise noch leicht zu bewältigen. Hier und da kreuzten umgestürzte Bäume, kleine Felsbrocken und dichte Büsche ihren Weg, aber alles lag relativ eben. Weshalb sie bis zum Regenguss gut vorankamen. Als der Himmel allerdings seine Schleusen öffnete, sah die Sache plötzlich ganz anders aus.

Das Wasser kam literweise vom Himmel, weshalb Nataniel schon nach wenigen Minuten vollkommen nass war.

Sein schwarzes Shirt klebte ihm ebenso eng am Leib, als wäre es seine Haut und die Jeans wurde durch die Nässe spürbar enger. Aber alles in allem liebte er es, wie ihm der Regen teilweise ins Gesicht klatschte, wenn die Bäume weiter auseinander standen und das Gefühl der mit Feuchtigkeit geschwängerten Erde zu seinen Füßen.

Amandas Regenschutz war ausgesprochen gut, weshalb sie hoffentlich darunter nicht frieren würde. Komplett trocken würden nämlich auch sie nicht bleiben.

Da Nataniel genau spürte, wann der Boden zu unberechenbar wurde, verlangsamte er rechtzeitig das Tempo, während es ihm nicht mehr darum ging, die Richtung zu halten, sondern einen geschützten Platz zu finden, an dem sie ausharren konnten, bis der Regen nach ließ, oder gezwungenermaßen sogar übernachten mussten, da es schon relativ dämmrig war, durch die schwarzen Wolken am Himmel.

Sein Sehvermögen war gut, aber Amanda würde schon bald große Probleme bekommen, um keine glitschige Wurzel oder einen nassen Stein zu übersehen.

Schließlich fand Nataniel, was er suchte, weshalb er Amanda bat, einen Moment unter einem Baum mit weit ausladender Krone zu warten, während er nachsehen ging, ob der Platz wirklich genügen würde, um Schutz zu finden.

Es handelte sich hierbei um einen großen Hang, der teilweise mit Gras und Erde bedeckt war, aber auch mit bloßem Stein. Bei dem Gestein lagen mehrere Felsen so geschlichtet, dass sie von drei Seiten Schutz vor Wind und Wetter boten. Über der kleinen Nische wirkte der Felsen fest und robust, weshalb sie keinen Hangrutsch fürchten mussten, während sie dort Schutz suchten.

Noch während er sich auf den Weg zurück zu Amanda machte, riss er große Zweige von Tannen ab, um in Windeseile ein provisorisches Dach über ihren Köpfen zu gewährleisten. Absolut Regenfest war es nicht, aber sie standen auch nicht mehr im vollen Guss.

Da der Boden nun auch für ihn merklich rutschig wurde, nahm er Amanda bei der Hand, um sie zu führen.

Einen Moment lang musste sie noch im Regen stehen bleiben, ehe er die Zweige geschickt miteinander verwoben und solide über ihren Wetterschutz aufgebaut hatte.

„Es ist zwar nicht das Hilton, aber ich denke, für den Augenblick wird es das tun“, gab er recht gelassen von sich, während er Amanda ein paar Felsvorsprüngen hoch half und sich dann neben ihr in die Nische schob. Für sie beide war es noch gerade so ausreichend. Sie würden aber trotzdem nur knapp Schulter an Schulter sitzen.

 

Nach einer Weile kam er auch, offensichtlich fündig geworden, wieder zu dem Baum zurück, unter dem Amanda Schutz vor der Nässe gesucht hatte und sie folgte ihm zu einem Abhang. Zuerst konnte sie nicht wirklich erkennen, auf was er sie hinweisen wollte. Für sie sah das alles nur nach herumliegenden Felsen und einem glitschigen Hügel aus, aber nachdem Nataniel eine Art Dach errichtet hatte, konnte sie die Nische als Unterstand erkennen.

Das würde ziemlich eng werden, aber auf jeden Fall besser, als noch lange im Dunkeln im Wald herumzutappen.

Amanda lehnte sich an die felsige Wand in ihrem Rücken, als Nataniel sich noch einigermaßen neben sie quetschte, ohne sie zu stark zu berühren. Die Landschaft vor ihnen war unter dem Schleier des Regens kaum noch zu sehen. Wäre ihr ein wenig wärmer gewesen und hätten sie mehr Platz gehabt, hätte Amanda das Ganze gefallen. So war es einfach nur ziemlich ungemütlich.

Sie hoffte stark darauf, dass es sich nur um einen Platzregen handelte. Aber Feuer würden sie auch nicht machen können, wenn es aufhören sollte, so zu schütten. Sie würden kein annähernd trockenes Holz finden. Das hieß wohl, frierend einzuschlafen. Wenn denn überhaupt. Da konnte man fast neidisch werden, dass Nataniel sozusagen immer seinen eigenen Pelzmantel dabei hatte.

Amanda griff sich den Rucksack und zerrte ihn sich auf den Schoss. Geschickterweise hatte sie die Essenssachen ganz obenauf verstaut, um nicht alles herauskramen zu müssen, um daran zu kommen. Nacheinander zog sie Müsliriegel, eingeschweißte Minisalami, Schokolade, Äpfel und belegte Brote aus der Tasche und legte sie fein säuberlich auf Nataniels Oberschenkel aus, als wäre er eine lebende Warentheke.

„Such dir was aus. Ich werde dich bei dem Sauwetter nicht raus zum Jagen schicken. Und außerdem steh ich nur auf rohen Fisch, wenn er in Reis und Algen gewickelt ist.“

Sie grinste ihn an und schnappte sich ein belegtes Brot. Es war ein wenig durchgeweicht, schmeckte aber lecker nach der Anstrengung der Wanderung.

 

Nataniel hatte eigentlich nicht vor, jetzt schon wieder etwas zu essen, auch wenn sein Hunger bei weitem noch nicht gestillt worden war, so hielt er ihn doch längere Zeit lang aus. Meistens jedoch, wurde er umso gereizter, je länger er hungrig bleiben musste, weshalb er sich schließlich ein belegtes Brot von seinem Oberschenkel fischte, da Amanda ihn interessanterweise als Ablage verwendete. Es störte ihn keine Sekunde lang.

Da es heute ohnehin nicht mehr weiter ging, aß er zufrieden das Brot, da er wusste, dass sie Morgen nach einer Weile einen Fluss erreichen würden.

Denn auch wenn Amanda keinen Fisch zu mögen schien, zumindest nicht den, den er ihr bieten konnte, so war er dem nicht abgeneigt und umso weniger er sich von ihren Vorräten bediente, umso länger kam sie selbst damit aus. Wenn er also noch nicht einmal einen Fisch für sie braten musste, würde das alles kein großer Zeitaufwand werden. Als Tier konnte er rohes Fleisch, Blut und Knochen genüsslich fressen, während ihm als Mensch dabei schon eher der wohlmeinende Geschmack abhandenkam. Es lag einfach an den veränderten Geschmacksknospen.

Während sie schweigend aßen, blickte Nataniel wachsam durch den Regenschleier, um nach möglichen Gefahren Ausschau zu halten. Seine Sinne zeigten ihm nichts an, was aber in seiner menschlichen Form nicht immer etwas bedeuten musste.

 

Was hätte Amanda jetzt für heißen Tee gegeben. Aber Wasser hatten sie dabei.

Während sie ihren Hunger und Durst stillte, sah Amanda weiter in den Regen hinaus und überlegte. Sie dachte über nichts Bestimmtes nach, sondern ließ ihre Gedanken ein wenig wandern, bis ihr auffiel, dass sie das Bedürfnis hatte, sich an ihren Begleiter anzulehnen. Es hätte einfach so wahnsinnig gut zur ganzen Stimmung gepasst. Sie saßen hier mitten im Wald, außerhalb ihres kleinen Schutzraumes schüttete es immer noch wie aus Kübeln, sie hatten zu Essen und Amanda wusste einfach, welche Wärme Nataniels Körper ausstrahlte. Wer hätte sich nicht an einen lebenden Heizkörper anlehnen wollen? Aber das war nicht der einzige Grund.

Sie kam sich ziemlich kindisch dabei vor, aber kaum, dass sie ihr Brot aufgegessen hatte, wagte Amanda es, sich ein wenig zu Nataniel hinüber zu lehnen und ihren Kopf an seiner Schulter abzulegen. Selbst auf ihrer Wange spürte sie den Temperaturunterschied deutlich.

„Was glaubst du, wie sie es aufnehmen werden, dass ich mit dir zurückkomme?“

Sie löste sich nicht von ihm, sah aber immer noch geradeaus.

„Ich würde mich an ihrer Stelle für die Schuldige halten. Wahrscheinlich werde ich kein warmes Willkommen zu erwarten haben, hm? Irgendwie macht mir das ein bisschen Sorgen. Vor allem, weil ich ihnen nicht beweisen kann, dass ich es nicht getan habe.“

 

Gerade, als er zu dem Schluss kam, dass kein Wahnsinniger bei diesem Wetter draußen herumlief, um ihnen nachzustellen, lehnte sich Amanda an seine Schulter. Seine verletzte Schulter. Aber er zuckte nicht einmal zusammen, weil es ihn einerseits ziemlich überraschte und ihn andererseits verdammt zufrieden machte.

Außerdem konnte er so genauer wahrnehmen, dass ihr Körper kaum spürbar bebte. Sie musste wohl frieren.

Während er sich ihre Bedenken anhörte und von dem restlichen Essen auf seinem Schoß befreit wurde, überlegte er sich eine passende Antwort. Doch bevor es zu dieser kam, schob er seine Schulter von ihrem Kopf weg, so dass sie kurz von ihm ablassen musste.

Vermutlich glaubte sie, er hätte etwas gegen diese Berührung. Weswegen er sich mit seinem Vorhaben beeilte. Nataniel schlang seinen Arm um Amanda, zog sie auf seinen Schoß und umarmte sie dann vollkommen, während sie mit dem Rücken gegen seine Brust gepresst wurde.

„Du frierst.“, war alles, was er zu dieser Aktion sagte, immerhin hatte er keine Hintergedanken dabei. Aber wenn sie weiterhin auf dem kalten Stein hockte, könnte sie gleich eine Einladung für alle möglichen gesundheitlichen Beschwerden einreichen. Von einer Erkältung angefangen bis hin zu einer Blasenentzündung. Was das anging, waren Menschen wirklich nicht sehr robust.

Um jegliche aufkommenden Proteste von Amandas Seite nachdrücklich im Keim zu ersticken, tat er einfach so, als würde sie nicht gerade gegen ihn da gelehnt liegen, um von seiner Hitze umfangen zu werden.

„Nele wird sich sehr freuen, dich wieder zu sehen. Mir schien auch, dass Palia sich gut mit Eric verstand. Ich bin mir sicher, sie denkt ebenfalls nichts Schlechtes über dich oder deinen Bruder. Was den Rest angeht, weiß ich nicht genau, wie sie es auffassen werden. Aber da ich dich persönlich mitgebracht habe, werden sie meine Entscheidung akzeptieren oder gehen müssen.“

Nataniel zog ihr das Haarband heraus, um Amandas feuchte Locken zu befreien. Bei dieser Bewegung stieg ihm ihr Duft direkt durch die Nase intensiv ins Gehirn. Es war so unglaublich beruhigend, sie wieder bei sich zu wissen.

Während er ihr eine Strähne nach der anderen mit den Fingern glättete, redete er weiter.

„Auch wenn ich für die Stimmung keine Garantie abgeben kann, so verspreche ich dir jedoch, dass man dir nichts tun wird. Keiner würde es wagen, dich auch nur offen anzupöbeln. Außerdem muss ich ohnehin noch herausfinden, wer sie alle nun wirklich verraten hat. Ich weiß es einfach nicht, aber es könnten genauso welche innerhalb unserer eigenen bunten Familie sein. Ein für mich sehr beunruhigender Gedanke.“

 

Amanda war innerlich zusammengezuckt, als Nataniel sie dazu gebracht hatte, ihre Haltung aufzugeben. Sie war schon fast dabei gewesen, sich für ihre Aufdringlichkeit zu entschuldigen, als er sie völlig überraschte.

Leicht perplex ließ sie sich auf seinen Schoss ziehen und versuchte es sich einigermaßen gemütlich zu machen.

Das war allerdings alles andere als leicht. Das letzte Mal, als sie sich körperlich wirklich nahe gewesen waren, hatten sie wild geknutscht und waren noch dazu nackt gewesen. Sie hatten sich beide gar nicht die Zeit genommen, sich einmal harmlos zu berühren oder ihre Gegenwart tatsächlich zu genießen. Es fühlte sich schon jetzt wahnsinnig schön an, das nachzuholen.

Amanda legte ihre Hand auf die von Nataniel, die nicht damit beschäftigt war, mit ihren Haaren zu spielen. Still saß sie da und entspannte sich immer mehr, während ihr durch seine Körperwärme immer gemütlicher zumute wurde.

„Es geht mir eigentlich gar nicht darum, dass ich Angst habe, angepöbelt oder sogar angegriffen zu werden. Wie gesagt, das würde ich sogar verstehen. Aber ich hoffe, dass ich dieses Misstrauen zerstreuen kann, bevor es sich zu sehr festigt. Immerhin will ich mit ihnen allen auskommen.“

Amanda hatte nun mal vor, eine Weile zu bleiben – auch wenn sie das Nataniel immer noch nicht so gesagt hatte – und wollte sicher nicht, dass jemand sie mied oder hinter ihrem Rücken böse Blicke hin und hergeworfen wurden.

„Hast du darüber nachgedacht, wer es gewesen sein könnte? Vor deinen Rudelmitgliedern fallen mir ja noch hunderte andere Personen ein, die mehr davon hätten.“

Ohne, dass es ihr wirklich bewusst war, streichelten ihre Finger sanft über Nataniels Handrücken, der sehr viel rauer war, als ihr eigener.

 

Nataniel spreizte seine Finger, dort wo Amandas auf seinen lagen, damit er sie auf diese Weise von unten herauf umschlingen konnte, während sein Arm um ihren Bauch herum, auf ihrer anderen Seite lag und dort die Bewegung ihrer Atmung verfolgte.

Sie wurde deutlich wärmer unter dem Einfluss seines Körpers. Was ihn erleichterte. Er wollte nicht, dass sie frieren musste, selbst wenn es in ihrer Lage fast unmöglich gewesen wäre, es trocken und warm zu haben. Es goss noch immer in Strömen, weshalb er dicht an ihrem Ohr sprach, damit er seine Stimme nicht gegen den Regenguss anheben musste. Nataniel selbst verstand Amanda auch ohne, dass sie lauter reden musste.

„Misstrauen wird immer in einer Weise da sein. Du bist ein Mensch und mein Volk vertraut diesen Geschöpfen nicht. Aber das darfst du nicht persönlich nehmen, denn es richtet sich nicht gegen dich speziell.“

Besänftigend streichelte sein Daumen über die zarte Haut über den ersten Wirbeln in ihrem Nacken, während seine Fingerspitzen immer noch über die inzwischen trocknenden Locken glitten.

„Was das Andere angeht, so wird sich das gewiss legen, wenn sich erst einmal alles aufgeklärt hat. Ich hoffe, dass es bald geschieht, weil ich diesen Zustand der Flucht und der ständigen Angst nicht noch länger an unserem Rudel mit ansehen kann. Sie haben es verdient, sich wieder in ihrer engsten Familie geschützt zu fühlen und ihr Leben weiter zu führen. Die Kinder sollten wieder zur Schule gehen und etwas lernen können. Die Erwachsenen sollen ihren Berufen nachgehen und sich wieder so frei wie möglich unter den Menschen bewegen können. Wir sind Tiere, aber auch so sehr Mensch, dass wir uns ebenfalls ein normales, zivilisiertes Leben wünschen. So wie ich es bei meinen Pflegeeltern auf der Ranch hatte. Es würde dir gefallen …“

Mit etwas traurigem Tonfall, der sein Heimweh ausdrückte, legte Nataniel seine Wange an die von Amanda und zog sie etwas enger an seine Brust. Seine Hand in ihrem Nacken drückte sich in schützender Absicht um ihren Brustkorb und blieb auf ihrer Schulter liegen. Es musste sich anfühlen, als säße sie im Käfig, für ihn selbst war es einfach nur ein gutes Gefühl, sie so halten zu können und dabei zu wissen, dass in diesem Augenblick ihr nichts anhaben konnte. Nicht einmal er selbst, denn der Panther lag entspannt auf der Seite, schnurrte zufrieden, hatte die Augen geschlossen und räkelte sich ab und zu, als würde er vor einem flauschig warmen Kaminfeuer liegen und die Hitze auf jeden Zentimeter seiner Haut genießen.

Er war vollkommen zufrieden und Nataniel somit auch. Zumindest größtenteils, bis es ihm gelingen würde, seine besorgten Gedanken für eine Weile ganz von sich zu schieben. Aber noch war es nicht so weit.

 

„Ich musste letzte Nacht an Mrs. Cauley denken. Ihr würde ich das mit Sicherheit zutrauen. Und sie arbeitet in jedem Fall für diesen Nicolai.“

Amanda seufzte etwas angestrengt, als sie an den Kampf auf dem Hügel dachte, bei dem sie von dem Geparden gebissen worden war.

Sollte ihr diese Frau noch mal in die Hände kommen, würde Amanda sicher keine freundlichen Worte mit ihr wechseln.

„Seltsamer Weise konnte ich fast überhaupt nichts über Nicolai in Erfahrung bringen. Er ist auf jeden Fall nicht bei der Moonleague registriert. Aber irgendwie müssen sie doch mit ihm zu tun haben. Es gab ein paar Daten, denen ich entnehmen konnte, dass er ein Tiger ist und ein Bild habe ich auch gesehen. Aber nicht wirklich viel mehr.“

Sie gab ein frustriertes Grummeln von sich und sah in den grauen Regentag hinaus. Es musste gegen sechs Uhr abends sein. Vielleicht etwas später. Wenn das Wetter so weiterspielte, würden sie heute nicht mehr weiterkommen. So von Nataniels Wärme umfangen, hätte Amanda beinahe schläfrig werden können, aber zum Schlafen war es doch auch noch viel zu früh.

 

„Ehrlich gesagt, mir kam der Gedanke noch gar nicht, dass Nicolai etwas damit zu tun haben könnte. Er ist wie ein Phantom. Zwar habe ich haufenweise Ärger wegen ihm und dennoch habe ich ihn noch nie zu Gesicht bekommen. Würden wir uns einfach gegenüber stehen und die Angelegenheiten unter uns ausmachen, wüsste ich wenigstens, was mich erwartet. Aber so spinnt er ein Netz aus Intrigen, Angst und Unsicherheit, das nicht nur mich bedroht, sondern alle die ich zu beschützen versuche.“

Nataniel war in diesem Augenblick erst richtig bewusst geworden, dass er, obwohl er kein Anführer hatte sein und auch nicht diese große Verantwortung tragen wollen, es trotzdem tat.

Ohne es zu wissen, war dieses Gefühl schleichend über ihn gekommen. Erst verwirrend, doch inzwischen wusste er, was zu tun war und hatte keine Zweifel mehr an seiner Rolle. Natürlich musste er noch sehr viel lernen und erst richtig in diese Position hinein wachsen, aber sein Drang all jene zu beschützen und in Sicherheit zu wissen, war so groß, als gehörten sie alle zu seiner engsten Familie.

Vermutlich war dem auch so, selbst wenn sie unterschiedlicher Art waren. In gewisser Weise verband sie immer noch ihr wandlerisches Wesen.

Wie nebenbei bemerkte Nataniel, dass der Regen inzwischen in ein sanftes Nieseln übergegangen war. Die Luftfeuchtigkeit erhöhte sich noch mehr, wodurch die Nässe nun in jede noch so kleine Ritze und Falte kroch.

Zum Glück machte ihm das nichts aus. Er war ohnehin schon von oben bis unten Nass, wobei seine Kleider an seinem überdurchschnittlich warmen Körper rascher trockneten.

Er seufzte leise gegen Amandas Ohr.

„Ich werde noch etwas über diese Angelegenheit in Ruhe nachdenken müssen, aber eines steht fest, sobald ich mich versichert habe, dass es unseren Leuten gut geht, werde ich mich aufmachen und nach diesem Nicolai suchen. Ich habe diese schleichenden Angriffe satt. Wenn er wirklich so taff ist, wie er tut, dann wird er sich mir auch offen stellen müssen. Kein Versteckspiel mehr.“

Dann wäre die Sache hoffentlich bald geklärt. Aber Nataniel musste über noch etwas nachdenken.

Er musste seine Angelegenheiten regeln, für den Fall, dass er nicht zurückkam. Seine Leute mussten von einer anderen Person geführt und in Sicherheit gebracht werden. Wenn es sein musste, sogar weit über die Grenzen dieses Landes hinaus. Denn eines war klar, Nataniel würde nicht den Fehler machen und sich selbst überschätzen.

„Ich hab dir vorhin nicht erzählt, warum ich die Moonleague mit meiner Familie vergleiche …“, warf Amanda schließlich ein, nachdem er schon eine Weile geschwiegen hatte.

Wie froh er in diesem Augenblick doch war, dass Amanda das Thema wechselte, auch wenn er nicht abschätzen konnte, wie gewichtig dieses war. Immerhin hielt er selbst es nicht für sehr bedeutend, aber würde sie noch einmal davon anfangen, wenn nicht mehr dahinter stecken würde?

Während seine Fingerkuppen über ihre Seite streichelten und er mit geschlossenen Augen seinen Kopf an ihrer Schulter ablegte, sagte er sanft mit einem leisen schnurrenden Laut des Wohlbefindens: „Du warst so lange bei der Organisation. Ich dachte mir, das wäre nur normal. Vor allem, da ich dich für einen Menschen jener Sorte einschätze, die für ihren Beruf leben.“

Ob ihr Privatleben dabei zu kurz gekommen war, fragte er wohlweißlich nicht, weil es ihn nichts anging, aber er könnte es sich denken.

„Aber sag du mir, wieso du sie als deine Familie ansiehst. Ist es eine so enge Bindung, wie ich es mir denke? Wenn ja, dann war das sicher verdammt hart für dich, ihnen in den Rücken zu fallen. Selbst wenn es das Richtige war.“

Er schmiegte seinen Kopf tröstend gegen ihren, ließ sie mit seinen Gesten wissen, dass sie nicht alleine und er für sie da war.

Nataniel war nicht aufdringlich. Ganz und gar nicht, selbst wenn er ihr so nahe war, wie schon seit Wochen nicht mehr. Aber das war nun einmal eine ganz andere Seite in ihm. Eine, die bisher nur seine engste Familie zu Gesicht bekommen hatte. Seine bedingungslose Fürsorglichkeit galt in diesem Moment Amanda alleine.

 

„Du siehst das mehr oder weniger richtig, ich habe für meinen Job gelebt, aber nicht aus den Gründen, die du vielleicht denkst …“

Amanda spürte seine Haare an ihrem Hals, seine Arme um ihren Oberkörper. Kurz überlegte sie, ob sie Nataniel die Geschichte wirklich erzählen sollte. Aber sie hatten schon so viel miteinander durchgemacht. Selbst wenn es mit ihnen beiden nichts werden sollte, würden sie Freunde sein. Und er hatte ihr von seiner Familie erzählt. Davon, dass sein Bruder getötet worden war. Er sollte tatsächlich wissen, warum Amanda sich so stark mit der Organisation verbunden gefühlt hatte, dass es ihr das Herz zerriss, zu hören, welche Grausamkeiten die Moonleague begangen hatte.

„Ich weiß nicht mehr genau, wann es gewesen ist. Irgendwann im Herbst. Ich war zehn und Eric war sieben. Den ganzen Tag war es recht schön, ich kann mich erinnern, dass die Sonne schien. In der Dämmerung habe ich mit meiner Mutter Schattengehen geübt. Sie war wie ich, bloß dass sie die Schatten des Tages besser nutzen konnte. Das hat etwas damit zu tun, ob man nachts oder am Tage geboren ist.“

Es war so, als würde sie Nataniel eine Geschichte erzählen, die sie irgendwo gelesen hatte, vielleicht im Radio davon gehört. Aber auf jeden Fall nicht selbst erlebt. Es schien nur noch zum Reich ihrer Träume zu gehören und nicht zu ihrem Leben. Und doch tat es genau das. Amanda war, was sie war, weil es dieses Ereignis in ihrem Leben gegeben hatte.

„Wir haben geübt. Ich glaube, inzwischen bin ich nicht sehr viel besser geworden, als ich damals war. Ich hatte nie mehr jemanden, der es mir richtig beibringen konnte.“

Amanda schluckte hart, merkte aber gar nicht, wie sich ihre Stimme verändert hatte. Sie war leer, als würde sie genau das Gegenteil von dem darstellen wollen, was in Amanda vorging.

„Es war eigentlich alles ganz normal. Dad kam nach Hause und wir haben zu Abend gegessen. Sie haben Eric und mich ins Bett gebracht. Danach fehlt ein bisschen was in meiner Erinnerung. Ich sehe mich nur noch auf unserem Rasen stehen, das Haus brennt und ich halte Eric fest, damit er sich nicht umdreht und nicht sehen kann, was passiert. Ein Wandler hat es getan.“

Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauchen, weil diese Tatsache in Nataniels Gegenwart so viel schwerer zu lasten schien als jemals zuvor.

„Ich habe nie rausgefunden, warum er sich unser Haus ausgesucht hat. Vielleicht wollte er uns nur ausrauben und irgendetwas ist schief gegangen. … Er hat meinen Dad schwer verletzt … Meine Mom sah wohl keine andere Möglichkeit. Sie war in der Nacht so viel schwächer, als sie es am Tage gewesen wäre … Sie hat den Tiger mit in die Schatten genommen … und ist nie wieder zurückgekehrt. Dad ist vor unseren Augen verblutet.“

Ihre Finger bewegten sich fast mechanisch über Nataniels Hand, als könnte die Bewegung die Bilder auch nur ansatzweise lindern, die sich vor ihrem inneren Auge abspielten.

„Die Moonleague hat den Vorfall untersucht, und da ich schon als Schattenwandlerin registriert war, haben sie ihren Arm über Eric und mich gehalten. Wir mussten nicht ins Waisenhaus. Die Organisation hat uns aufgenommen und wir sind in der Familie eines der Gründer aufgewachsen … Eric kann sich an den Vorfall kaum erinnern.“

Sie sprach nicht weiter, sondern sah in den Nieselregen hinaus, der sich wie ein dünner Film auf ihre Haut legte. Wäre Nataniel nicht da gewesen, hätte sie vor Kälte gezittert. So zitterte sie nur vor Anspannung und darum ringend, keine Träne zu vergießen.

 

Nataniel saß wie hypnotisiert da, rührte keinen Muskel und wagte kaum zu atmen, während er Amandas Geschichte lauschte. Ihr Tonfall war so hohl und leer, wie er es niemals in ihrer Lage zustande gebracht hätte, aber das Zittern ihres Körpers war ihm vertraut.

Schweigend drängten sich ihm Bilder auf, die Amanda durch ihre Worte hervorrief. Ob er wollte oder nicht, er konnte es sich regelrecht vorstellen, wie sie als kleines Mädchen ihren Bruder beschützend im Arm hielt. Damals schon so stark, um den Tod ihrer Eltern zu überleben und mit anzusehen, wie ihr Zuhause niederbrannte. Was für unglaubliche Kraft und Schmerzen es sie gekostet hatte, konnte er sich nicht einmal im Traum vorstellen.

Seine Familiengeschichte war genauso tragisch, doch er hatte sie nie am eigenen Leibe miterleben müssen. Stattdessen war er wohlbehütet und glücklich aufgewachsen. Etwas, das Amanda nicht vergönnt gewesen war.

Als ihre Worte verstummten und das Zittern ihres Körpers noch etwas mehr zunahm, umschlang er Amanda von hinten, so allumfassend, als wäre er ein schützender Mantel.

Sein Kopf ruhte an ihrer Halsbeuge und er wiegte sie kaum spürbar sanft hin und her. Lange war er nicht in der Lage etwas darauf zu erwidern, bis er schließlich doch etwas fand, was er hätte sagen können. Noch dazu meinte er es vollkommen ernst.

„Die Moonleague wird immer mein Feind sein, aber jetzt, da ich das über sie weiß, hasse ich sie weniger.“

Sein Flüstern war so leise, als könne es alles zerstören, wenn er nur etwas lauter sprach.

„Sie haben auf dich aufgepasst und dich beschützt, als … ich es noch nicht konnte …“, gestand er schließlich, sich dabei deutlich bewusst, dass er genauso ein Wandler war wie damals der Tiger.

Was auch immer dieses Tier dazu veranlasst hatte, Amanda so etwas anzutun, Nataniel würde es nie verstehen können. Diese Art von Grausamkeit lag nicht in seinem Wesen, mochte er sich noch so sehr dem Panther hingeben.

„Denn genau das ist es, was ich möchte, Amanda. Ich weiß, du kannst auf dich selbst aufpassen, aber wenn du es zulässt, wäre ich gerne für dich da, wenn dich deine Alpträume niederringen. Denn genau das ist doch in jener ersten Nacht im B&B passiert.“

Er wusste es. Etwas anderes hatte sicherlich nicht die gleiche Wirkung im Schlaf, wie Erinnerungen an schreckliche Dinge. Und genau wie in jener Nacht begann er sanft zu schnurren und küsste liebevoll die Haut an ihrem Hals, während er sie ein bisschen spürbarer in seinen Armen wiegte.

 

Zuerst wollte sich Amanda dagegen wehren, aber Nataniels Schnurren ließ es nicht zu, dass sie weiter die Augen offen hielt. Sie entspannte sich in seinen Armen und fühlte seinen leichten Kuss auf ihrem Hals.

War das vielleicht gar nicht so schlecht? Sich von jemandem beschützen zu lassen?

Amanda war in ihrem Leben, vor allem seit dem Tod ihrer Eltern, immer die Beschützerin gewesen. Diejenige, die für alle anderen stark sein musste und wollte. Es war wahrscheinlich genau das, was ihr an Nataniel so gefiel und sie gleichzeitig so oft auf die Palme brachte.

Er akzeptierte, dass sie stark war, und würde es ihr auch nie absprechen. Aber bei ihm durfte es sich Amanda erlauben, auch mal schwach zu sein. Sich beschützen zu lassen, anstatt immer wachsam ihre Augen und Sinne überall zu haben. Ja, das hörte sich wirklich nicht schlecht an. Auch wenn es sie vor allem am Anfang bestimmt einige Überwindung kosten würde, das zuzulassen.

„Sag mal ...“, ihre Stimme war immer noch leise, aber nicht mehr tonlos, wie zuvor. Sie klang so interessiert, wie sie war und es lag sogar schon wieder etwas Wärme in ihren Worten.

„Dieses Schnurren … kommt das von dir oder dem Panther?“

Vorsichtig drehte sich Amanda auf Nataniels Schoß etwas herum, um ihm in die blauen Augen sehen zu können.

„Ich habe, glaube ich, immer noch nicht ganz verstanden, ob er auch ein eigenständiges Wesen ist. Wenn ja, würde es mich interessieren, was er eigentlich von mir hält.“

Nataniel hatte gesagt, dass der schwarze Jaguar, den er mit sich herumtrug, anders war als er selbst. Dass er rücksichtslos sein konnte. Auch Amanda gegenüber.

Konnten Nataniels Gefühle gespalten sein?

Amanda hätte gern gewusst, ob sie sich vor ihm zurückziehen musste, wenn er in seiner tierischen Gestalt war.

 

Diese inzwischen wohlige Atmosphäre, selbst wenn noch ein Hauch von Trauer in der Luft lag, entspannte ihn so sehr, dass er selbst das Nieseln gar nicht mehr richtig wahrnahm. Sondern nur noch die Wärme zwischen ihren Körpern, das Vibrieren in seiner Brust und der zarte Duft ihres Haars und ihrer Haut dicht an seiner Nase.

Trotzdem ließ Nataniel Amanda so viel Bewegungsfreiraum, wie sie brauchte, um sich zu ihm herumzudrehen.

Wenn sie das Bedürfnis hatte, ihm in die Augen zu sehen, würde er sie daran nicht hindern, zumal er auch unendlich gerne in die ihren blickte.

Ihre Frage kam etwas überraschend, war zugleich aber auch sehr gezielt gestellt und dem Moment durchaus angepasst. Immerhin hielt er sie im Arm, dicht bei sich, so eng wie schon seit langem nicht mehr. Was das letzte Mal passiert war, als sie sich so nahe gekommen waren, hatte er selbstverständlich noch nicht vergessen. Amanda musste ebenfalls daran gedacht haben.

Während er sich in den karamellfarbenen Augen verlor, überdachte er seine Antwort sehr genau, denn die Frage war nicht sehr leicht zu erklären, für jemanden der so etwas nicht kannte. Und für gewöhnlich hatte sich Nataniel noch nie in dieser Hinsicht erklären müssen. Weil Amanda der erste Mensch war, mit dem er enger zu tun hatte.

„Das Wesen eines Gestaltwandlers zu erklären, ist nicht sehr leicht, aber wenn ich es erklären müsste, würde ich es mit zwei Seelen in einem Körper vergleichen: Die eine in mir gehört der menschlichen Seite an. Ich fühle wie ein Mensch, denke wie einer, handle wie einer. Dabei kommt aber die zweite Seele – das Tier – ins Spiel. Der Panther hat im Grunde genommen kein aktives Bewusstsein, so wie ich, aber mit seinen Urinstinkten, den unbewussten aber starken Gefühlsregungen und seinen Trieben beeinflusst er mich deutlich in meiner Handlungs- und Denkweise.“

Wie sich das anhörte! Ob Amanda davon auch nur ein Wort verstand? Es war wirklich nicht leicht zu erklären, dennoch versuchte er weiter in Worte zu fassen, was sich eigentlich nicht beschreiben ließ.

„Manchmal ist es für mich schwer zu unterscheiden, ob nun diese Urkraft in mir etwas will oder fühlt, oder ob es der zivilisierte Mensch ist. Für gewöhnlich, stört mich das nicht, weil sich meine Wünsche mit dem Verlangen des Tiers decken. Aber seit ich dich kenne, bin ich mir nicht immer einig mit dem Panther gewesen. Es ist, als ob mein Bewusstsein mit meinem Unterbewusstsein hadert.“ Während er das zugab, streichelte er mit seinen Fingerknöcheln zart über Amandas Wange und sah ihr noch tiefer in die Augen.

„Du musst verstehen, dass der Panther, also diese wilde Urkraft in mir, kein Bewusstsein hat, das aktiv und logisch denken kann. Der schwarze Jaguar begreift es nicht, dass du ein Mensch bist und somit vorsichtiger zu behandeln bist, als meine eigene Spezies. Alles, was ihn vorantreibt, sind seine Triebe und Instinkte.“

Nataniels Blick schweifte einen Moment lang überlegend von Amandas Augen ab, fand sie aber rasch wieder.

„Damals im Fluss hast du mir so viele heftige Emotionen beschert, dass mein kontrollierender Verstand die Urtriebe nicht mehr bändigen konnte. Du kennst das doch sicher auch, dass man im Rausch der Lust sich irgendwie eine Zeitlang selbst zu verlieren scheint und die Zeit für einen stillsteht. Man bekommt nichts mehr mit, außer das, was man fühlt. Das hat nichts mehr mit logischem Denken zu tun, denn Wesen wie ich können dabei nicht mehr klar denken.“ Vielleicht fiel es ihm sogar noch schwerer, weil er ein Mann war.

„Ich weiß nicht, ob das bei Menschen anders ist. Ob ihr euch dann auch noch zügeln und beherrschen könnt. Aber bei mir geht das auf jeden Fall nicht. Und da ich nun einmal unzertrennlich mit dem Panther verbunden bin und somit seine Gefühle, die meinen stark beherrschen, hätte ich in jenem Augenblick nicht anders reagieren können, als wie ich es tat. Ich sperrte zwar zugleich mit dem Tier auch meine Gefühle fort, weil sie den Großteil meines Wesens ausmachen, aber dafür musste ich nicht länger gegen dieses ganze Verlangen ankämpfen, das dich bedrohte.“

Allein bei dem Gedanken, dass er gleich aussprechen würde, was für Amanda sicher ziemlich verstörend sein musste, konnte er ihr nicht länger in die Augen blicken. Stattdessen beobachtete er seine Hand, wie sie weiterhin mit einer Strähne ihres Haars spielte. Nervös, zittrig und zugleich beruhigend.

„Der Panther mag dich. Sehr sogar. Weshalb er damals auch den unbändigen Drang verspürte, dich als die Seine zu kennzeichnen. Was bedeutet hätte, dass er dich spielend gebissen, dich gekratzt und sich immer wieder an dir gerieben hätte. Natürlich nicht mit roher Gewalt, aber du bist zarter als unsere Frauen. Es hätte dir wehgetan. Denn das Endergebnis hätte für jedes männliche Wesen, ob nun Mensch oder Wandler, offensichtlich sein müssen. Jeder hätte sehen und riechen müssen, dass du schon jemandem gehörst und dass es bloß kein Mann wagen sollte, dich auch nur auf unzüchtige Weise anzusehen. Der Panther würde ihn zerfetzen. So stark ist seine Besitzgier.“

Es fühlte sich tatsächlich so schlimm an, wie vermutet, nun da er es ausgesprochen hatte. Nataniels Herz raste in seiner Brust, vollgepumpt mit Adrenalin stieg sogar seine Körpertemperatur um einen Grad an.

Er seufzte zittrig, während hinter seinen Augen die Gefühle tobten. Denn er hatte bisher aus der Sicht des Panthers gesprochen, Amanda würde also auch sicher wissen wollen, wie er – die menschliche Seite – es gesehen hatte.

Wäre ihm Ehrlichkeit nicht so wichtig, er hätte einfach geschwiegen oder sie gar angelogen. Aber er konnte keines von beidem. Es war ohnehin schon egal.

„Ich muss gestehen, ich bin in vielen Punkten mit dem Panther einig, aber zugleich kann ich nicht leugnen, was du bist. Du bist ein Mensch und besitzt somit alle Freiheiten, die ihr habt. Ihr lebt zwar auch in Familien, aber ein Rudel ist doch noch etwas anderes. Du als Frau kannst jeden Mann wählen, den du möchtest und zugleich ihn auch wieder verlassen, wenn er dir nicht genügt. Auch unsere Frauen haben dieses Recht, aber meistens bleiben sie bei dem Mann, der sie als sein gekennzeichnet hat. Nicht, weil sie müssten, sondern weil sie sich genau ihrer Macht über ihre Männer bewusst sind und die damit verbundene Sicherheit für ihre zukünftige Familie. Wir würden sterben für unsere Gefährtin und die Jungen. Im Gegenzug sind sie in der Lage uns zu bändigen. Paarverbindungen wie diese kommen zwar eher seltener vor, als alle anderen üblichen Verbindungen, sind aber in ihrem Bestand so sehr gefestigt, dass sie meistens ein Leben lang halten und in dieser Zeit gehorchen wir unseren Frauen fast bedingungslos. Selbst der aufgebrachteste Gestaltwandler kann von seiner Gefährtin mit nur wenigen Worten wieder vollkommen beruhigt werden. Ein Privileg, das nur in diesen besonderen Verbindungen vorkommt.“

Warum erzählte er ihr das eigentlich alles? Immerhin maß er sich nicht an, zu glauben, sie beide wären zu so einer Verbindung fähig. Zwar gab es Gerüchte, dass es so etwas immer wieder einmal in den vergangenen Zeiten gegeben hatte, aber das hieß noch lange nicht, dass das auch auf sie beide zu traf. Zumal ihre Verbindung so zerbrechlich war, als könne man sie mit nur einem einzigen Wort zerstören. Aber dennoch war es genau das gewesen, was der Panther angestrebt hatte. Er hatte Amanda als seine einzige Gefährtin kennzeichnen wollen und Nataniel hatte es nur deshalb nicht zugelassen, weil er sie damit nicht nur verletzt, sondern auch unberechtigterweise eingesperrt hätte. So oder so, Amanda hatte die Freiheit, selbst zu wählen. Er konnte sich dieser Wahl nur unterwerfen.

„Nun ja, was ich eigentlich damit sagen wollte, ist, dass du frei bist und selbst wählen kannst. Egal was geschieht, dieses Privileg wirst du bei mir immer besitzen.“

 

Amanda hatte nicht damit gerechnet, dass sie mit ihrer Frage so eine ausführliche Antwort heraufbeschwor. Oder so ein Geständnis. Denn nichts anderes schien es zu sein, was Nataniel da gerade aussprach.

Der Panther hatte sie kennzeichnen wollen, weil er sie für immer bei sich haben wollte. Nataniel hatte sich selbst das nicht erlaubt, weil er sie nicht hatte verletzen wollen. So wie sie es verstanden hatte, war er sich über das, was diese Kennzeichnung bedeutet hätte, aber einig.

Das hörte sich alles so endgültig und gefestigt an, dass es Amanda fast Angst machte. Ihr Herz schien lauter und eindringlicher in ihrer Brust zu schlagen, was vor allem auch daran lag, dass sie sehen konnte, wie Nataniel nervös wurde.

Vor ihr.

Sie hatte ihn noch nie nervös gesehen. Da waren viele Emotionen gewesen, sogar Unsicherheit, aber nie so etwas wie jetzt.

Er mochte seine Gefühle mehr auf der Zunge tragen, als Amanda es tat, aber das hier hatte ein Gewicht, das sogar auf sie überging.

„Ich ...“

Sie wusste gar nicht, wie sie anfange sollte. Immerhin konnte das, was sie sagen würde, Einiges entscheiden. Nataniel hatte ihr jede Freiheit gelassen, sich zu entscheiden, aber sie wusste nur zu gut, dass sie vorsichtig sein musste. Auch ihn konnte man verletzen.

„Es war mir nicht bewusst, dass damals am Fluss so viel hinter der ganzen Sache steckte. Ich dachte, es wäre einfach nur Sex.“

Nataniels Augen veränderten sich leicht, was Amanda dazu brachte, so schnell wie möglich weiter zu sprechen.

„Versteh mich bitte nicht falsch. Es ist auch damals nicht so gewesen, dass du mir nichts bedeutet hast. Aber ich hab es vor mir selbst nicht zugegeben und einfach angenommen, dass du nicht mehr wolltest, als ein bisschen ungezwungenen Spaß. Das war wahrscheinlich sogar der Grund, warum ich so überzogen reagiert habe, als du dich von mir abgewendet hast. Ich konnte doch gar nicht verstehen, was passierte, weil ich nicht wusste, dass du so viel ... von mir wolltest.“

Jetzt war es an ihr zu seufzen und sich kurz seinem Blick zu entziehen.

Sie sah hinter Nataniel an die Felswand, an der kleine Rinnsale hinunter liefen und ein metallisch schimmernder Käfer ebenfalls Schutz vor dem Wetter suchte.

„Es ist gut, zu wissen, dass du mir die Wahl und auch die Freiheit lassen willst, zu entscheiden. Denn was du mir erzählt hast, hört sich alles wirklich ... so endgültig an. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, mich lange an jemanden zu binden.“

Wenn sie ehrlich war, musste sie sogar zugeben, dass sie angenommen hatte, dass sie vielleicht einmal allein und wenn es gut lief, mit einem unehelichen Kind enden würde.

Anstatt Nataniel wieder in die eisblauen Augen zu sehen, die in diesem Moment zu fordernd auf sie gewirkt hätten, selbst wenn er es nicht so meinte, lehnte sie sich wieder an ihn und kuschelte sich in seine Arme.

„Ich weiß, dass ich gern mit dir zusammen bin. So wie jetzt. Und ich würde mich freuen, wenn es mehr würde.“

Bei dem nächsten Satz wurde sie rot, was Nataniel glücklicherweise nicht sehen konnte. Es wäre ihr peinlich gewesen, auch noch ihre körperliche Reaktion vor ihm auf diese Weise offen gelegt zu wissen, wo ihre leicht zitternde Stimme doch bereits genug sagte.

„Ich habe nichts dagegen, zu dir zu gehören. Auch nicht, dass es alle wissen.“ Sie drückte seine Hand und sah sich nun doch wieder um.

„Aber über das mit dem Kennzeichnen müssen wir uns noch einigen. Ich steh nicht so auf Körperschmuck von dieser Art“, sagte sie schmunzelnd und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

 

Nataniel erklärte Amanda nicht, dass er damals am Fluss eigentlich auch nur seinen Spaß hatte haben wollen und zugleich das Bedürfnis auch ihr ein unvergleichliches Erlebnis zu verschaffen.

Da ihm der Panther damals aber unmissverständlich darauf hingewiesen hatte, dass es zwischen ihnen beiden niemals 'nur' Spaß geben würde, konnte er nicht leugnen, dass Amandas Worte ihn tief in sich drin freuten.

Wäre er einfach nur irgendein Kerl für sie gewesen, der gerade als Lustbefriedigung zur Hand wäre, hätte ihm das garantiert einen bitteren Beigeschmack verpasst. So aber war da nur Wärme in seiner Brust, die sich wie schon in der Damentoilette glühend heiß anfühlte und trotzdem nicht von verbrennender Natur war.

„Glaube mir, ich würde dir auch niemals freiwillig einen Körperschmuck verpassen, der dauerhaft bliebe.“

Zwar hatte Amanda diese Worte in einem auflockernden Tonfall gebracht, er nahm die Ernsthaftigkeit dahinter trotzdem wahr, und er meinte es auch ernst.

Sie sollte niemals so von ihm verletzt werden, wie es der Gepard getan hatte. Selbst wenn er dafür den Panther kastrieren müsste, um sie davor zu bewahren. Er würde es tun.

Da im Moment aber nicht die Gefahr dafür bestand, weil das Tier ohnehin gerade ruhig und entspannt war, brauchte er sich augenblicklich auch keine Sorgen deswegen zu machen. Stattdessen streichelte er Amanda wieder über die Wange und sah ihr tief in die Augen. Von diesen Bernsteinen würde er nie genug bekommen.

„Ich weiß nicht, ob dich das beruhigt oder verletzt, aber ich muss trotzdem gestehen, dass ich im Moment kein Material für eine Dauerbindung bin“, flüsterte er ihr leise zu.

„Was das angeht, sind mein Panther und ich uns nicht einig. Ich begehre dich, daran besteht kein Zweifel. Ich verspüre einen gewaltigen Drang, dich zu beschützen, auch da bin ich mir absolut sicher, aber ich habe im Augenblick schon eine große Verantwortung dem Rudel gegenüber übernommen, mit der ich noch nicht sehr gut klarkomme. Das kannst du vielleicht nicht nachvollziehen, aber die Verantwortung einer Gefährtin gegenüber, ist um Vieles gewaltiger. Ich denke nicht, dass ich dem gewachsen bin.“

Leicht frustriert vergrub er sein Gesicht in ihrer Halsbeuge, damit sie nicht sah, wie schwer ihm seine Worte gefallen waren. Immerhin konnte er zwar logisch denken, aber seine Gefühle waren mehr als nur real. Selbst das Rudel würde er für Amanda vernachlässigen, wenn es sein müsste und das durfte er einfach nicht. Aber es zu wissen, half ihm auch nicht weiter.

Das Einzige, was ihn wirklich zurückhalten konnte, eine solche Verbindung auch nur in Erwägung zu ziehen, war die Tatsache, dass er schon in den nächsten Tagen tot sein könnte. Wenn er die Auseinandersetzung mit Nicolai nicht überstand, wäre es Amanda gegenüber unfair, ihr auch nur die Möglichkeit auf eine Zukunft mit ihm vorzugaukeln. Er musste klare Grenzen ziehen, so sehr es ihm auch zuwider war.

„Ich bin auch gerne mit dir zusammen, Amanda. Mehr wage ich gar nicht, zu verlangen. Das Desaster von letztem Mal werde ich nie vergessen, andererseits bin ich trotzdem bereit, es noch einmal zu versuchen, sofern du es willst. Ansonsten genügt es mir, dich einfach nur halten zu können, so wie jetzt.“

Seine Stimme wurde zu einem verschmusten Schnurren.

 

„Ich weiß auch nicht genau, ob mich das beruhigt oder verletzt.“

Amanda konnte ihm nicht in die Augen sehen, weil Nataniel sein Gesicht an ihrem Hals vergraben hatte, aber vielleicht war das auch ganz gut so.

„Ich persönlich kann verstehen, dass du gerade ganz andere Sachen um die Ohren hast als eine Beziehung. Noch dazu eine derart komplizierte ...“

Sie hörte sich sogar in ihren Ohren überzeugend an. Aber vielleicht auch nur, weil sie sich in den letzten Wochen, die sie allein verbracht und unbewusst immer auf ein Lebenszeichen von ihm gewartet hatte, darauf gedrillt hatte, genau das zu empfinden.

Es sollte ihr nichts ausmachen, dass er sich nicht ganz auf sie einlassen konnte. Im Moment wussten sie doch beide nicht, ob sie Morgen noch lebend überstehen würden. Und da war nun mal das Rudel, das er beschützen musste und vor allem wollte. Trotzdem hielt sich Amanda an diesem 'im Moment' fest. Noch konnte alles gut werden. Dass Nataniel sich diesem Nicolai irgendwann stellen würde, war nicht zu vermeiden. Aber dass er ihm gewachsen sein würde, daran bestand für Amanda kein Zweifel. Noch dazu, weil sie auf jeden Fall an seiner Seite sein würde.

Er würde es nicht zulassen wollen, vielleicht sogar versuchen, sie dazu zu zwingen, nicht mit ihm zu gehen. Aber er würde es trotzdem nicht verhindern können. Selbst einen Freund hätte Amanda nicht allein in so eine Situation gehen lassen. Schon gar nicht den Mann, für den sie sehr viel mehr empfand als nur reine Freundschaft.

„Wusstest du, dass ich ganz vernarrt in deinen Duft bin?“, gestand er ihr leise, mit einem zarten Lächeln auf den Lippen, das sie gegen ihren Hals spüren konnte.

Dabei stellten sich Amanda die Nackenhärchen auf. Allerdings war es ein wohliger Schauer, der sie überlief, denn wieder war da sein leises Schnurren und sein neuerliches Geständnis machte die Angelegenheit nicht weniger angenehm.

Amanda lächelte und fing wieder an, seine Hand und diesmal seinen Oberarm hinauf zu streicheln.

„Tatsächlich? Ich mag deinen Geruch auch sehr. Das hört sich vielleicht nicht sonderlich wie ein Kompliment an, es ist aber ehrlich so gemeint. Für mich riechst du ... gemütlich. Nach Geborgenheit.“

Es hörte sich wirklich etwas seltsam an, aber es war zutreffend. Nataniels Geruch, der Duft seiner Haare brachte Amanda, genauso wie sein Schnurren, dazu, sich sicher und wohl zu fühlen. Auch wenn sie sich beide darüber nicht ganz im Klaren waren, bedeutete er ihr jetzt schon so viel mehr, als sie beschreiben konnte.

Etwas neckisch, um die Stimmung nicht völlig in die absolute Ernsthaftigkeit abtauchen zu lassen, sagte Amanda: „Ich finde es übrigens hoch aufopferungsvoll, dass du nach unserem Desaster noch einmal bereit wärst, es zu versuchen.“

Sie zitierte ihn mit voller Absicht, um ihn ein wenig aus der Reserve zu locken. Diese selige Stimmung schien schon beinahe auf ihnen zu lasten. Ohne ein wenig Kabbelei war das Alleinsein mit Nataniel nicht das Gleiche.

„Muss ich mich danach dann bei dir bedanken?“

Wieder drehte sie sich zu ihm um, diesmal sogar weiter als zuvor und grinste ihn frech und herausfordernd an.

 

„Bedanken? … Du wirst mich auf Händen und Füßen anflehen, das noch einmal mit dir zu machen!“

Wieder ließ er den gespielt nachdenklichen Ausdruck fallen und grinste breit. Er meinte natürlich nichts davon ernst, weil er hinter der leicht heiteren Fassade Angst hatte, er würde es niemals schaffen, es ganz durchzuziehen. Der Panther war nur allzu wankelmütig in seinen Emotionen. Jetzt gerade begann er aufmerksam den Kopf zu heben, als wolle er die Situation prüfen. Im nächsten Moment könnte er wieder das Bedürfnis haben, Amanda zu markieren. Die Frage war also nur, wie lange Nataniel ihn davon abhalten konnte.

Da das für Amanda aber ohnehin kein sehr romantischer Ort oder dergleichen war, hielt er es ohnehin für unwahrscheinlich, gleich auf die Probe gestellt zu werden.

Zwar hatte es inzwischen auch zu Nieseln aufgehört, aber es war überall feucht. Doch wenigstens hatten sie in der Felsnische so mehr Platz und Amanda musste nicht auf dem kalten Boden sitzen. Ihm persönlich diente der Felsen unter ihm als natürliche Kühlung und machte ihm somit nicht das Geringste aus.

„Dich auf Händen und Füßen anflehen? Da lehnst du dich aber ganz schön weit aus dem Fenster, mein Lieber“, antwortete Amanda etwas verzögert und mit einem Lächeln auf den Lippen.

Nataniel blickte sie noch einen Moment lang mehrdeutig schmunzelnd an, doch im Grunde wollte er gar nichts Witzelndes mehr hören oder von sich geben. Er wollte nur noch eines tun und das mit einem Gefühlsdefizit von einigen Wochen.

Ein paar Sekunden konnte er dem Drang noch einmal widerstehen, doch da es vor allem seine menschlich bewusste Seite war, die es wollte, hielt er sich nicht mehr zurück. Seine Hand glitt in Amandas Nacken und zog sie zu sich heran. Kaum das sich ihre Lippen berührten, flammte in ihm ein Inferno an Verlangen hoch, das ihm fast den Atem raubte.

Stöhnend kostete er in vollen Zügen ihren Geschmack aus, versuchte es für sich selbst in die Länge zu ziehen und sich dabei zusammenzureißen, bis er sich wieder losriss und mit gebrochener Stimme seufzte: „Das wird noch ein ganz schön hartes Stück Arbeit.“

Am besten sie kettete ihn irgendwo fest, ehe er wieder die Beherrschung verlieren konnte. Aber er musste eben einfach lernen, sich zu kontrollieren, so wie Amanda und viele andere Menschen es konnten, egal wie es in ihrem Inneren aussah. Das musste doch irgendwie zu schaffen sein.

 

Sie hatte fest damit gerechnet, dass es seltsam sein würde, Nataniel wieder zu küssen. Es war so viel vorgefallen und gerade das Gespräch von eben hatte ihre Gedanken wieder zum Rasen gebracht.

Normalerweise war es für Amanda sehr schwer, ihr Denken abzustellen, selbst in Situationen, die – wie Nataniel sehr richtig bemerkt hatte – eigentlich absolut den Emotionen gehören sollten. Aber als er seine Hand auf ihren Nacken gelegt und sie geküsst hatte, waren alle zermürbenden Eventualitäten wie ausgelöscht. Es war nicht wichtig, was passieren würde. Darüber mussten sie sich jetzt noch keine Sorgen machen. Sie würden einfach Schritt für Schritt weiter machen und sehen, wohin sie das führte. Und vor allem würden sie jeden kleinen Schritt genießen! Das hatte zumindest Amanda vor.

Sie hatten wohl eine ganze Weile aneinander gekuschelt dagesessen, denn es wurde langsam dunkel, was nicht nur an den Wolken lag, die immer noch über den Himmel zogen.

Amanda war froh, dass es zumindest aufgehört hatte zu regnen. Alles war klamm und feucht, aber ihr Schlafsack war trocken geblieben, was zumindest eine einigermaßen angenehme Nacht versprach. Und wenn Nataniel es ihr erlaubte, würde sie nur zu gern nah bei ihm schlafen. Zugegeben auch deswegen, weil er so viel wohlige Wärme ausstrahlte, aber es gab auch noch ganz andere Gründe dafür, dass sie sich darauf freute, an ihn geschmiegt zu schlafen.

Das hatten sie noch nie getan.

Sie hatten sich geküsst und schon mehrere Nächte zusammen in einem Zimmer verbracht, eine davon sogar in einem Bett, aber sie waren sich trotzdem nie nahe gewesen. Amanda freute sich darauf, einfach in seinen Armen einzuschlafen. Selbst wenn er sich in den Panther verwandeln sollte, damit es für ihn bequemer war, auf dem harten Felsen zu übernachten, hätte sie nichts dagegen. Weiches Fell, an das sie sich schmiegen konnte, war nicht weniger gut als warme Haut unter einem Shirt.

Bei dem Gedanken überkam sie sogar ein Gähnen, was sie nur minder hinter vorgehaltener Hand verstecken konnte.

„Wann willst du denn morgen früh los? Was schätzt du, wie viele Stunden wir noch unterwegs sein werden?“ Der Regen hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie waren bestimmt nicht so weit gekommen, wie es Nataniel geplant hatte. Aber weiter zu gehen, jetzt wo es dunkel wurde, würde überhaupt nichts bringen. Ausgeruht war eine sehr viel bessere Idee.

 

„Falls wir morgen nicht auf irgendein Problem treffen, dürften wir es bis zur Abenddämmerung schaffen. Selbst wenn wir in einem angenehmen Tempo vorgehen. Was höchstwahrscheinlich der Fall sein wird, denn morgen geht’s immer mal wieder steil bergauf und über felsiges Gelände.“

Langsam löste er sich von Amandas Körper, der inzwischen angenehm warm geworden war. Sanft setzte er sie neben sich ab, um selbst wieder auf die Beine zu kommen und sich unter dem Unterschlupf hinaus ins Freie zu ducken.

„Wir können beim ersten Licht des morgigen Tages losziehen. Das Wetter wird gut sein und der Wald wird dir dann sicher gefallen.“

Nataniel war kein Wetterforscher, aber er wusste trotzdem, dass morgen den ganzen Tag lang die Sonne scheinen würde.

„Richte dich schon einmal für die Nacht ein, ich werde noch schnell eine Runde drehen. Bin aber in wenigen Minuten wieder da.“

Er zog sich das Shirt über den Kopf und legte es neben Amandas Rucksack ab. Es war inzwischen fast vollkommen getrocknet.

Seine Jeans gesellte sich ebenfalls dazu, ehe er auch schon in die aufkommende Dunkelheit verschwand. Mit seinem schwarzen Fell verschmolz er vollkommen mit den Schatten der Umgebung, während er geschickt über Felsen kletterte, Baumstämme entlang spazierte, als wäre er ein Hochseilakrobat und genauestens die Gegend überprüfte.

Kein anderes Raubtier war inzwischen hier gewesen und auch nicht vor ihrer Ankunft hier vorbei gekommen. Die Tiere der Nacht begannen nach dem starken Regenguss wieder aktiv zu werden, doch mehr als das Schuhschuhen einer Eule und das entfernte Krächzen eines Kauzes war nicht zu hören.

Die Wolken über ihnen verzogen sich langsam und ließen einen sternenklaren Blick auf den Nachthimmel frei. Überall glitzerte es hell zwischen den Baumkronen hindurch, da der Sternenhimmel so viel deutlicher zu sehen war, wenn keine Lichtquelle den Anblick störte.

 

Amanda nutzte Nataniels Abwesenheit, um eine winzige Abendtoilette durchzuführen, ihre Schlafgelegenheit vorzubereiten und sich in den Schlafsack zu mummeln.

Bis jetzt war es nur ziemlich frisch, aber in der Nacht würde es empfindlich kalt werden. Schon jetzt hatte sich Amanda zwei Paar Socken übergezogen. Als sie so mehr schlecht als Recht auf dem felsigen Boden lag, überlegte sie sich, wie das wohl werden würde, wenn sie beim Rudel ankommen und dort eine Weile bleiben würde.

Nataniel hatte gesagt, dass sie alle in ihrer Tiergestalt blieben, weil das in der gegebenen Situation praktischer war. Erst jetzt wurde Amanda bewusst, wie viel praktischer. Immerhin mussten sie sich nicht um Kleider oder warme Schlafplätze kümmern. Ein trockenes Plätzchen und ihr Fell reichten vollauf, aber bei Amanda sah das anders aus. Sie konnte sich nicht recht vorstellen, wie das Leben für sie im Rudel werden würde.

Immerhin konnte sie noch nicht einmal mit den Wandlern kommunizieren, wenn sie sich in ihrer Katzengestalt befanden.

Ein kleiner resignierender Seufzer kam über ihre Lippen. Das würde schon alles irgendwie werden. Sobald sie Nicolai los waren, könnten sie sich ein anderes Lager suchen, in ihr Altes zurückkehren oder noch besser, sich auf eigenen Farmen niederlassen, wie sie es mochten.

 

Nachdem Nataniel seine Runde gedreht hatte und sich sicher war, dass ihnen im Augenblick keine Gefahr drohte, kehrte er zu ihrem Unterschlupf zurück. Inzwischen hatte Amanda ihren Schlafsack samt wasserdichter Unterlage ausgebreitet und war auch schon wie eine Raupe in ihrem Kokon eingehüllt. Der Kopf und etwas vom Oberkörper sahen noch heraus, weil sie ihre Arme als Polster verwenden musste.

Nataniel zögerte einen Moment lang, als er im Eingang erschien. Er hätte Amanda sein Shirt zum Unterlegen geben können, da es wohl die einzigen trockenen Sachen waren, die sie dafür zur Hand hatte, aber da war auch noch die Tatsache, dass sie ohne seine Körperwärme bestimmt wieder zu frieren anfangen würde, immerhin war es hier nachts schon unangenehm kühl.

Er wusste nicht, ob es ihr recht war, wenn er als Panther zu ihr kam und sich neben sie legte. Denn als Mensch würde er diese Nacht niemals verbringen. Gerade im Freien war er auf seine geschärften Sinne angewiesen. Außerdem könnte er sie so leichter verteidigen, wenn sie tatsächlich angegriffen werden würden.

Da Amanda schon in der letzten Nacht keinen Aufstand gemacht hatte, obwohl er neben ihr gelegen hatte und sie allen Grund dazu gehabt hätte, schnaubte er schließlich entschlossen und glitt lautlos über den Felsen zu ihr.

Seine blauen Augen fixierten jede noch so kleine Bewegung ihrerseits. Bei dem geringsten Anzeichen von Abwehr hätte er sich vor der Felsnische zusammengerollt und dort die Nacht verbracht, doch sie sah ihn nur müde an.

Aus diesem Grund gab er sich schließlich einen Ruck, stupste sie sanft mit dem Kopf gegen die Stirn an, damit sie sich halb aufsetzte und er sich so ausstrecken konnte, dass er den Eingang im Blick und Amanda genug Platz zum Schlafen hatte, während sie seinen warmen Bauch als Kopfkissen verwenden konnte.

Oh ja, das gefiel ihm wirklich. Was sich auf der Stelle in ein lautes Schnurren äußerte. Eines, das viel besser war, als er es als Mensch zusammenbrachte.

Wieder schnaubte er, doch dieses Mal zufrieden. Mit einem leise gurrenden Laut zuckte er mit seinem Kopf in Richtung Bauch, um Amanda darauf hinzuweisen, dass sie keine Scheu haben sollte, es sich an ihm bequem zu machen. Er versuchte sogar extra nicht seine Zähne zu zeigen und seine Krallen fest eingefahren zu behalten.

 

Auf seinen leisen Pfoten war er tatsächlich nicht zu hören und Amanda erschrak unmerklich, als sich Nataniels großer Schatten gegen die Umgebung abhebend auf sie zu bewegte. Erst, als sie seine Augen erkannte, beruhigte sie sich augenblicklich wieder.

Nataniel machte ihr klar, dass er sich nicht zurückverwandeln würde, sondern vorhatte, als Panther neben ihr zu schlafen. Dagegen hatte sie nichts und auch nicht gegen sein Angebot, sie könne ihn als Kissen benutzen.

Es war das erste Mal, dass sie den Panther richtig berührte. Sie hatte sich nicht gleich an ihn gelehnt, sondern sich sein Gesicht, mit den strahlend blauen Augen und auch seinen Bauch angesehen, der wirklich verführerisch weich aussah.

Amanda streckte vorsichtig eine Hand aus und streichelte über das schwarze Fell, in dem man im Sonnenlicht noch die dunkleren Flecken erkennen konnte. Es war eine Mischung aus den beiden Varianten, die sie sich vorgestellt hatte.

Nicht so weich wie eine kuschelige Hauskatze, aber auch nicht struppig. Es lag irgendwo dazwischen und fühlte sich für eine Raubkatze ... passend an.

Trotz allem etwas zögerlich bettete Amanda ihren Kopf auf Nataniels Bauch und suchte sich eine bequeme Position im Schlafsack, in der sie so viel seiner Körperwärme wie möglich mitbekam. Von so viel warmem Fell umgeben, fühlte sie sich von seinem gemütlichen Duft völlig eingeschlossen und sein Schnurren dazu machte sie sofort schläfrig.

Nataniel hatte seinen Kopf Richtung Ausgang gelegt, sah sie aber jetzt an. Seinen Gesichtsausdruck konnte sie nicht deuten, aber er würde ihr sicherlich nichts tun. Amandas Hand schwebte eine Weile in der Luft, nachdem sie sie vorsichtig aus dem Schlafsack gezogen hatte. Er war nun mal trotz seiner Größe eine Katze. Noch dazu eine, die einen Mann in sich barg, den sie sehr mochte. Wie hätte Amanda anders können, als ihm ihre Hand auf den Kopf zu legen und darüber zu streicheln.

Sie fuhr auch zu seinen weichen Ohren hinüber, die unter ihrer Berührung leicht hin und her zuckten. Das entlockte Amanda ein breites Lächeln und sie kraulte ihn kurz hinter dem einen Ohr, bevor sie die Hand wegzog und neben ihrem Gesicht auf seinen Bauch legte.

„Schlaf gut“, sagte sie leise, ohne eine Antwort zu erwarten.

 

Sein Schnurren verstärkte sich noch, als Amanda ihn tatsächlich am Kopf kraulte. Seine Barthaare zitterten, während er genießerisch die Augen schloss und sich etwas enger gegen die zarte Hand drückte.

In diesem Augenblick fühlte er sich mehr als Panther als wie ein Mann, aber auch das musste er mit vollster Zufriedenheit einmal auskosten. Kein Wunder, dass Katzen den Menschen treu waren, die sie gut behandelten, es fühlte sich einfach herrlich an und war leider wieder viel zu schnell vorbei.

Doch Amanda an seinem Bauch zu spüren, war ein willkommenes Trostpflaster. Nataniel genoss es in vollen Zügen.

Auf ihr 'Schlaf gut' erwiderte er einen lockenden, vibrierenden Laut, der ihr zwar nichts sagen würde, aber vermutlich trotzdem als Erwiderung durchging.

Nachdem sie die Augen geschlossen hatte, schnurrte er behaglich weiter. Er betrachtete sie noch eine ganze Weile, bis ihre Atmung regelmäßiger und tiefer wurde. Erst dann legte auch er seinen Kopf auf die Vorderpfoten und schloss die Augen. Dabei zuckten seine Ohren aufmerksam in alle Richtungen, um die Gegend auch weiterhin nach Feinden abzusuchen.

Selbst als er schon döste, änderte sich seine wachsame Haltung nicht, weshalb er auch immer wieder aufwachte, wenn Amanda sich auch nur ein kleines Bisschen bewegte. Aber das störte ihn wenig.

28. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

29. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

30. Kapitel

Nataniel schnurrte gegen ihren Rücken, als er Amandas Wange an sich spürte und das Gefühl genoss, während seine Zunge über ihren Nacken fuhr und dabei salzige Haut schmeckte.

Umso mehr spürte er die Verbindung zu genau jener Stelle, an der nicht nur die Organisation ihr Zeichen hinterlassen hatte. Zwar war sein eigenes Zeichen gerade mal durch eine leichte Rötung der Haut zu erkennen, aber auch wenn diese schon bald wieder verblassen würde, so wüsste er doch bescheid. Sie war sein, und solange sie ihn haben wollte, würde sie das auch bleiben.

Eine Weile tat er nichts, als Amanda lediglich beruhigend zu streicheln, mit seinen Lippen ihren Nacken und die Schultern zu liebkosen und mit abnehmender Hitze ihres Körpers schlang er auch seine Arme großflächiger um sie, damit sie nicht zu frieren begann. Er selbst war ein nie erlöschender Hochofen. Zumindest könnte man den Eindruck gewinnen.

Eigentlich wollte er nicht von Amanda ablassen. Was nicht etwa an Nataniels noch immer offensichtlicher Bereitschaft für eine nächste Runde lag, sondern weil er instinktiv wusste, würde er sie loslassen, würde die Realität sie wieder einholen. Mit niederschmetternder Wucht.

Darum dachte er noch nicht einmal an die Gefühle, die er für ihr gemeinsames Rudel empfand, das so nah und doch noch fern war. Im Augenblick wollte er es vergessen.

Sanft drehte er Amandas Gesicht etwas zu sich herum und beugte sich zu ihr herab. Seine Augen streiften die ihren, ehe er sie schloss und Amanda stattdessen zärtlich küsste.

Der Hunger nach ihr würde nie enden. Er spürte es bis in die Fingerspitzen und gerade deshalb war er ihr mit Haut und Haar verfallen. Sie beide waren es. Nataniel und seine animalischen Wesenszüge, die sich inzwischen als ebenfalls sanftmütig erwiesen hatten, obwohl sie auch ganz anders konnten.

Dicht an ihre Lippen offenbarte er Amanda schließlich all das, was Nataniel normalerweise gerne wegschloss, um sie und auch ihn auf eine Weise zu schützen, die ein Herz davor bewahren sollte, gebrochen zu werden.

Aber ein verletztes Herz war besser, als ein gefühlloses. Niemand spürte das deutlicher als der Panther.

„Ich will dich nie wieder verlassen“, hauchte er ihr leise zu, ehe er sie ansah. Seine Augen waren groß und die Gefühle darin deutlich zu lesen.

Leidenschaft, Wildheit, Zuneigung und Liebe. Aber auch Furcht darüber, dass sein Wunsch sich nicht erfüllen könnte.

Bevor das schlechte Gewissen ihn niederrang, zog sich der Panther wieder zurück. Er hatte Amanda auf seine ganz spezielle Weise gekennzeichnet wie noch nie jemanden vor ihr. Ihm genügte das vollkommen. Nataniel würde die Ehrlichkeit in seinem Herzen auch nicht umbringen, selbst wenn sein versklavender Verstand ihm einzutrichtern versuchte, dass es besser wäre, sich noch nicht endgültig fallen zu lassen. Zumindest noch so lange nicht, bis alles überstanden oder er ohnehin getötet worden war.

Doch was seine Gefühle betraf, hatte er ohnehin keine Zweifel. Nur daran, ob es richtig war, sie so offen zur Schau zu stellen, wie es dem Panther eigen war. Was das anging, würde er zwar nie an die Perfektion der Menschen herankommen, die sich regelrecht Masken aus Gleichgültigkeit und Kälte aufsetzen konnten, aber er musste auch nicht alles im vollen Umfang zeigen.

Trotzdem nahm er seine Worte nicht zurück, sondern war froh, dass sein Denken wieder ordnungsgemäß funktionierte. Auch wenn es zugleich zu stören begann. War er sich doch nun noch deutlicher im Klaren, dass die schönen Augenblicke mit Amanda nun vermutlich vorbei sein würden.

Traurig darüber vergrub er wieder sein Gesicht in ihrem Haar und seufzte schwermütig. Wieso musste die Welt auch nur so grausam und so schön zugleich sein?

 

Wie ein paar Worte noch so viel mehr bewirken konnten, als es bereits der Körperkontakt zu ihm getan hatte, wusste Amanda nicht. Aber so war es nun mal.

Amanda hatte Nataniel geglaubt, als er ihr gesagt hatte, er könne im Moment keine Beziehung eingehen. Und sie glaubte ihm immer noch. Trotzdem sprühte der Funke Hoffnung in ihr wie ein Miniaturfeuerwerk hoch und explodierte in ihrem Herzen in den schillerndsten Farben.

Er wollte sie nicht verlassen. Das war alles, was sie hören musste.

Niemals hätte sie vorher den Mut aufgebracht, sich ganz und gar auf ihn einzulassen. Jetzt war sie tatsächlich sein.

Weil sie nicht wusste, was sie auf dieses intensive Geständnis, denn dass es für Nataniel und den Panther nichts Anderes und wahrscheinlich recht schwierig gewesen war, antworten sollte, drückte sie Nataniel einen Kuss auf die Lippen. Sie sah ihn aus Augen an, hinter denen das Feuerwerk weiterhin Funken sprühte.

Er ließ sich von ihr ins Gras ziehen, wo sie noch eine Weile verschlungen lagen. Amanda kraulte Nataniels Nacken und sah in den blauen Himmel hinauf. Glücklicherweise drängten sich ihr keine Gedanken auf, die sie in diesem Moment nicht zulassen wollte. Sie genoss einfach seine Nähe, die Wärme, die sein Körper ausstrahlte und seinen Atem auf ihrer Haut.

Amanda hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, aber die Schatten der umstehenden Pflanzen wurden länger und sie begann trotz Nataniels Nähe zu frösteln.

Mit einem Schlag war ihr kalt und das lag nicht nur daran, dass sie nackt auf der Wiese lag.

Sie würden in weniger als zwei Stunden das Lager erreichen. Sobald sie losliefen, kamen sie mit jedem Schritt der Situation näher, der sich Amanda noch gar nicht stellen wollte.

Sie würden es alle wissen. Zwar hatte Nataniel kein Mal auf ihr hinterlassen, sie nicht durch einen Biss oder Kratzspuren gekennzeichnet, aber selbst ihre menschliche Nase konnte den Sex an ihren beiden Körpern riechen.

Amandas Herz machte einen unangenehmen Sprung. Wie würden sie wohl reagieren? Was würde Nataniel tun? Wenn ihn das Rudel vor die Wahl stellte, weiter das Alphatier oder mit Amanda zusammen zu sein ...

Sie würde gehen. Amanda würde sich nicht zwischen Nataniel und sein Rudel stellen. Ein gebrochenes Herz war gegen so viele Leben nicht aufzuwiegen. Sie konnte und würde ihn ihnen nicht wegnehmen. Wahrscheinlich konnte sie das sowieso nicht.

Amanda küsste Nataniels warme Wange und drückte sich noch einmal an ihn, um zu zeigen, dass sie eigentlich nicht wollte, was sie sagte.

„Wir sollten langsam gehen.“

Das Rudel hatte schon zu lange auf ihn warten müssen.

Mühsam machte sie sich von Nataniel los, hob ihren zerfetzten Slip auf, um ihn in den Rucksack zu stopfen, aus dem sie frische Unterwäsche zog. Als sie wieder ordentlich bekleidet war, sah sie zu Nataniel hinüber.

Dass er nicht so glücklich aussah, wie er hätte sein können, machte es ihr etwas leichter. Amanda wusste, dass er sich darauf freute, alle wieder zu sehen, aber das hieß wohl nicht, dass er nicht gern mit Amanda hier geblieben wäre. Genauso wie sie selbst gern für immer hier mit ihm ihre Zeit verbracht hätte.

Sie ließ sich noch einmal von ihm in den Arm nehmen und küsste ihn lange, bevor sie ihm den Rucksack hinhielt.

„Sie warten.“

 

Als sie sich noch einmal küssten, war es für ihn wie ein Abschied. Obwohl er genau wusste, dass der wirklich harte Abschied noch kommen würde, war es auch schwer, diesen Ort und die damit verknüpften Empfindungen zu verlassen. Ob er ihn je wieder sehen würde, war fraglich und zugleich hatte er sich tief in seine Erinnerungen vergraben. Keine Sekunde würde er von dem Geschehen an diesem Platz vergessen.

Schließlich ergab sich Nataniel seinem Schicksal und nahm den Rucksack entgegen, um ihn sich umzuschnallen. Dieser fühlte sich unglaublich schwer an seinem Körper an, obwohl er noch immer das gleiche Gewicht hatte. Dennoch war es, als würde er ihn regelrecht hinunterziehen.

Er freute sich wirklich, ihr Rudel wieder zu sehen, aber zugleich kam ihm der Weg dorthin einer Passionsprozession gleich. Kein Wunder, dass er nichts sagte, während sie die restliche Strecke in einem guten Tempo zurücklegten, zu das er sich mehr als nur zwingen musste.

Da aber der Weg auch ab hier leichter ging, blieb er dicht an Amandas Seite, um ihr gegebenenfalls gleich eine stützende Hand reichen zu können, wenn sie Hilfe brauchte. Was das anging, schienen sie ohnehin schon ein eingespieltes Team zu sein.

 

***

 

Er konnte das Rudel schon von mehreren hunderten Metern Entfernung riechen, was kein Wunder war, hier schien regelmäßig patrouilliert zu werden. Weshalb Nataniel schließlich auch Amandas Hand ergriff, um sie sowohl beschützend, als auch als eigene Stütze festzuhalten. Denn schon nach wenigen weiteren Schritten kam ihnen ein kräftiger Jaguar entgegen.

Jerry hätte sich noch nicht einmal in einen Menschen verwandeln müssen, damit Nataniel ihn erkannte, aber es machte das Sprechen auf alle Fälle leichter. Da er selbst nicht vorhatte, sich in den Panther zu verwandeln.

„Kann ich meinen Augen trauen?“, fragte der ältere und sehnig gebaute Mann. „Nataniel, was ist passiert? Du warst einfach verschwunden!“

Erst jetzt schien Jerry Amanda als eben solche richtig wahrzunehmen, denn auch wenn sein Blick auch weiterhin überrascht und zugleich unglaublich erleichtert war, sah Nataniel genau den kalten Hauch in seinen Augen aufziehen. Trotzdem sagte der Jaguar nichts, sondern konzentrierte sich weiter auf seinen Anführer.

„Man hat mich erwischt“, antwortete Nataniel mit seltsam ruhiger Stimme. Als kümmere ihn diese Tatsache gar nicht mehr, was es im Grunde auch nicht wirklich tat. Die dunklen Stunden der letzten Tage waren durch jene unersetzlichen Momente an diesem Tag fast ganz ausgelöscht worden. Zwar erinnerte er sich noch an jedes Detail, aber es beunruhigte ihn nicht, daran zu denken.

Um seine Worte noch zu untermauern, drehte er Jerry seine gezeichnete Schulter hin und schob das T-Shirt in die Höhe.

Die Tätowierung war gut verheilt, und obwohl seine eigenen Kratzer darüber noch relativ frisch waren, sah man auch von ihnen kaum noch etwas. Lediglich die deutlichen Spuren von Narbengewebe, das langsam verblasste, aber nie ganz verschwinden würde.

Als Nataniel die Moonleague erwähnte, zuckte Jerrys Blick von seiner Schulter zu Amanda und dann wieder zurück. Der verwirrte Ausdruck war nicht zu übersehen, aber Nataniel ignorierte ihn hartnäckig. Stattdessen setzte er die Miene eines Alphatiers auf, der man nur schwer widersprechen konnte.

„Bring mich zu unseren Leuten und auf dem Weg dorthin, will ich auf den aktuellen Stand der Dinge gebracht werden. Gibt es Verletzte? Sind alle in Sicherheit? Wie sieht es mit der Versorgung aus?“

Da Jerry sich mit Befehlen offensichtlich leichter tat, als mit seltsamen Schlussfolgerungen, weil er unmöglich nicht hätte riechen können, was Amanda für Nataniel war, konzentrierte er sich ganz darauf, einen vollständigen Bericht zu liefern, während er sie führte.

Die Nacktheit des Mannes störte Nataniel so wenig wie eh und je, dennoch kam in ihm einen kurzen Moment lang der Gedanke auf, wie seltsam das wohl für Amanda sein musste und bestimmt noch werden würde. Denn wenn alle in ihrer tierischen Form waren, würden sie sich gesammelt verwandeln müssen. Nataniel hatte nicht vor, sich als Tier zu äußern, da der Wortschatz dafür niemals ausgereicht hätte.

Bei dem Gedanken gleich so eine Art Nudistenversammlung abzuhalten, musste er fast schmunzeln, was er definitiv auf seinen völlig aufgezehrten Verstand schob, der irgendwie mit der ganzen Sache klarkommen musste. Denn witzig war das alles auf gar keinen Fall.

 

Dass Nataniel ihre Hand nahm, war ein deutliches Zeichen, dass Amanda sich mit ihrem Verdacht nicht irrte. Seit einiger Zeit schien Nataniel sich öfter und genauer umzusehen, als er es vorher getan hatte. Er wirkte keinesfalls ängstlich, aber vielleicht ein wenig angespannt, wenn dieses Wort auch nicht genau das traf, was Amanda ausdrücken wollte. Es musste Vorfreude sein, mit etwas gepaart, das Nervosität bestimmt recht nahekam.

Bei Amanda selbst war Letzteres das vorherrschende Gefühl, und als sich ein Rascheln im Gebüsch schließlich nicht nur als Täuschung ihrer überreizten Sinne herausstellte, wäre ihr beinahe die Röte ins Gesicht gestiegen. Kurz wollte sie ihre Hand sogar vor Nataniel zurückziehen, bis ihr einfiel, dass der Wandler – Jerry, wenn sie sich den Namen richtig eingeprägt hatte – bestimmt nicht diese Geste sehen musste, um zu wissen, was hier lief.

Gott, wie sie es schon hasste vor Nataniel nichts verheimlichen zu können, was ihren Körper anging. Aber nun lief sie in die Höhle seines Rudels und hätte sich genauso gut ein blinkendes Schild umhängen können, auf dem stand, dass sie sich von ihm hatte flachlegen lassen. Na gut, das würde sie dann eben durchstehen müssen. Denn ungeschehen machen, konnte sie es nicht und verdammt noch mal, da müsste schon das gesamte Rudel über sie herfallen und trotzdem würde sie es wieder tun!

Bereits beim zweiten Wandler, der sich vor ihnen zeigte, musste Nataniel Amandas Hand loslassen. Denn wie auch alle anderen, die ihnen bald in großer Zahl als Begrüßungskomitee entgegen kamen, wollte auch er Nataniel die Hände schütteln.

Amanda hatte das Gefühl Nataniel immer mehr freigeben zu müssen, je mehr seiner Rudelmitglieder zu ihnen stießen.

Die meisten straften sie mit eisigen Blicken oder ignorierten ihre Anwesenheit völlig. Die zweite Variante wäre Amanda eigentlich lieber gewesen, aber gerade bei ein paar Leuten fiel ihr auf, wie weh es tat.

Sie kannte sie, hatte mit ihnen gefeiert, mit ihnen gelacht und jetzt ... Als müsse sie gegen ein tonnenschweres Gewicht ankämpfen, versuchte Amanda den Kopf hochzuhalten.

Sie hatte nicht das getan, was alle um sie herum vermuteten. Das Einzige, wofür sie deren Missmut und Strafe verdiente, war die Tatsache, dass sie für die Organisation gearbeitet hatte. Deswegen versuchte sie auch von selbst, keinen Kontakt zu irgendjemandem aufzunehmen. Wahrscheinlich hätte es alles nur noch schlimmer gemacht.

Sobald man ihr einen Blick zuwarf, versuchte sie ehrlich zu lächeln, auch wenn es sich so anfühlte, als würde sich ihr Gesicht dabei nur fratzenhaft verziehen. Und dabei verstand sie es so gut, dass man ihr derart entgegen blickte. Amanda war nicht nur das Bild ihres Todfeindes, nein, sie hatte auch noch dem Anführer den Kopf verdreht.

Am liebsten hätte sie sich in diesem Moment seinen Geruch vom Körper gewaschen. Dann hätte man Nataniel zumindest keine Skepsis entgegen bringen können. Am liebsten hätte sie laut herausgeschrien, dass die Vorwürfe nicht wahr waren, aber selbst das hätte vermutlich nichts genützt.

Als sie endlich auf einem freien Platz angekommen waren, der sich zwischen hoch aufragenden Felsnadeln befand, die von Höhlen durchlöchert waren wie Schweizer Käse, blieb Amanda am Rande der Gruppe stehen. Nataniel wurde vor ihren Augen in die Mitte aller andere gezogen, befragt über das, was passiert war und auf seine Unversehrtheit geprüft. Der Rucksack wurde ihm abgenommen und ihm wurde Wasser gebracht.

Amanda suchte Palia, von der sie zumindest so etwas wie Akzeptanz erwartete, nach dem, was zwischen ihr und Eric gewesen war. Aber sie konnte sie zwischen all den Wandlern nicht erkennen. Zumindest machte die schiere Zahl klar, dass wohl alle noch zusammen waren. Das ließ Amanda zumindest leicht zufrieden lächeln.

Sie lehnte sich neben einen Höhleneingang und sah sich die Wiedersehensszene an. Es war wirklich herzerwärmend, wie sie Nataniel wieder willkommen hießen. Zumindest schienen sie ihm den Verlust seiner tierischen Seite, die doch eine Weile vorgehalten hatte, nicht nachzutragen.

Als alle sich im Kreis um Nataniel versammelt hatten, um neue Anweisungen zu bekommen, ließ auch Amanda sich auf einen Stein sinken.

Erst im Sitzen fiel ihr auf, wie wackelig ihre Knie waren. Sie seufzte leise, was ihr sofort einen stechenden Blick von drei Wandlern in der hintersten Reihe einbrachte. Sie drehten sich halb zu ihr um und hätten sie wahrscheinlich am liebsten wortwörtlich an die Felswand hinter ihr genagelt als Zeichen, dass die Moonleague auch in Form von Amanda ihnen nie wieder zu nahe kommen sollte.

 

Seine Freude war doch größer als angenommen, als er seine Leute wieder um sich hatte und ihre Nähe spürte.

Als Rudelanführer schien er sich automatisch nur dann richtig wohl zu fühlen, wenn er wusste, dass es seinem Clan gut ging. Und so wie es aussah, war dem auch so. Selbst die kleineren Kinder, die eigentlich um diese Zeit schon langsam im Bett oder wohl eher in einem Grasnest sein sollten, scharrten sich um ihn, hingen an seinen Beinen und suchten seine Aufmerksamkeit.

Nataniel wusste von den vielen Fragen, den vielen Menschen und vor allem den vielen Händen nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Einen Moment lang hatte er noch Amandas Hand in seiner gespürt, jetzt konnte er sie noch nicht einmal mehr sehen. Was ihm gar nicht gefiel, aber als er sie doch einmal einen Augenblick lang erspähte, beruhigte er sich etwas.

Sie war also noch da, und da sich das Rudel hauptsächlich auf ihn konzentrierte, würde er wohl auch noch rechtzeitig die Chance bekommen, wenigstens die erhitzten Gemüter zu besänftigen, wenn er sie auch schon nicht alle davon überzeugen konnte, dass Amanda von nun an zu ihm gehörte und ihnen allen sogar geholfen hatte.

Als man ihm endlich wieder mehr Luft zum Atmen ließ und sich das Durcheinander beruhigte, versuchte er so etwas wie Ordnung in das Chaos seiner Gedanken zu bringen. Denn sein größtes Bedürfnis war, bei Amanda zu sein, sie in seine Arme zu schließen, um sicherzugehen, dass sie nicht einfach verschwand. Da er genau das befürchtete.

Aber solange er sie sehen konnte, musste er sich mit dem Rudel beschäftigen. Auch das war wichtig.

„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für euch“, verkündete er schließlich ohne große Vorrede. In so etwas war er noch nicht sehr geübt. Eigentlich war er lieber klar und direkt. So wusste man wenigstens, woran man bei ihm war und auch dem Clan würde es da nicht anders gehen. Aber zum Glück waren sie es ja schon von ihm gewöhnt.

„Die gute Nachricht ist, dass Amanda es geschafft hat, die Moonleague zu sabotieren. Das heißt, dass in der Datenbank der Organisation keiner eurer Namen oder auch nur irgendwelche anderen Informationen über euch aufgelistet sind. Womit ich zugleich auch zu der schlechten Nachricht komme. Ich kann und will es trotzdem nicht riskieren, dass wir uns noch länger hier in der Gegend aufhalten. Für Viele von euch ist es bestimmt schwer, ihre Heimat zu verlassen, aber ich habe Verbindungen, die euch dabei helfen werden, eure Häuser und Grundstücke gut zu verkaufen, damit ihr andernorts neu und sicher anfangen könnt. Sofern ihr euch dafür entscheidet. Ich werde natürlich niemanden zwingen, mit mir zu gehen.“

Er legte eine kurze Pause ein, damit das Rudel seine bisher gesagten Worte richtig begreifen konnte. Doch bevor es völlig unruhig werden konnte, sprach er weiter.

„Ihr sollt außerdem wissen, dass nicht Amanda oder ihr Bruder es war, die euch verraten haben, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit Nicolai. Ihr habt zwar nicht lange unter seiner Führung gelebt, ehe ihr euch abgewandt habt, aber es muss gereicht haben, um genug Informationen über euch zu sammeln. Außerdem gibt es noch jene, die bei ihm sind und früher ebenfalls zu euch gehörten.“

Auf diese Ankündigung folgten noch ein paar beruhigende und auch aufbauende Worte, ehe Nataniel die anderen entließ, damit sie lange darüber nachdenken konnten. Morgen würde eine Entscheidung fallen. Für jeden von ihnen.

Wollten sie bleiben oder würden sie mitkommen?

Zwar hatte Nataniel noch keine große Vorstellung davon, wo genau sie hingehen sollten, aber das Land seiner Pflegefamilie war sehr sehr groß und hatte früher immerhin seinem Vater gehört. Bestimmt könnten sie dort eine Weile bleiben, bis sie für jede einzelne Familie ein neues Zuhause gefunden hatten.

Das würde das Rudel zwar nicht trennen, aber sie waren so unterschiedlich in ihren Arten, dass es besser war, nicht ständig aufeinander zu hocken. Außerdem brauchte jeder seine Privatsphäre und Nataniel wollte die seine ebenso sehr, wie es die anderen verdient hatten.

Natürlich würde er immer noch als Alphatier erreichbar bleiben und es galt auch gewisse Grenzen zu sichern und zu verteidigen, sollten Mitglieder aus einem anderen Rudel oder gar Einzelgänger ihnen in die Quere kommen. Aber noch war es nicht so weit darüber nachzudenken. Diese Art der Politik konnte er bestimmt noch auf später verschieben, sofern er das Aufeinandertreffen mit Nicolai überlebte. Auch das stand bald an.

 

Wie versteinert hatte sie dagesessen und Nataniels kleiner Rede zugehört. Die Blicke in ihre Richtung, die auf ihrer Haut unangenehm zu prickeln schienen, verstärkten sich, während der kleinen Ansprache noch. Ein paar Mal war Amanda beinahe versucht gewesen, ihre Finger zu kreuzen und ein wenig Glück herauf zu beschwören, damit ihm die Rudelmitglieder Glauben schenken mochten.

Sie würde es nicht ertragen, bei ihnen zu leben und nichts anderes als schlechte Stimmung mit sich zu bringen.

 

Irgendwann gelang es Nataniel sich dünnzumachen, damit er endlich zu Amanda konnte.

Sie war noch immer Abseits von allen anderen, was ihm nicht nur seelisch wehtat. Denn im Augenblick sah es so aus, als wäre sie das schwächste Mitglied des Rudels, auch wenn es einfach nur daran lag, dass die anderen sie hauptsächlich mieden. Dennoch sollte sie eigentlich eines der Stärksten sein. Sie war seine Gefährtin. Daran hatte weder er noch sein Rudel Zweifel. Zumindest wenn es nach der Symbolik ihrer beiden Gerüche ging. Das machte sie natürlich nicht automatisch zum Alphaweibchen, aber verdammt noch mal, sie hatte ihn gerettet. Mehrmals sogar! Sie hatte sich diese Rolle also wirklich verdient und nicht erschlafen, wie bestimmt ein paar von seinen Rudelmitgliedern annehmen würden.

Noch während er ihre Hand nahm und umschloss, verdrängte er alle weiteren Gedanken. Er wollte erst einmal dafür sorgen, dass sie etwas zu essen und zu trinken bekam, sich frisch machen konnte und auch einen Platz zum Schlafen fand. Selbstverständlich an der Stelle, wo auch er schlafen würde. In diesem Punkt würde er nicht mit sich streiten lassen.

 

Dem auf ihr lastenden Druck entsprechend aß sie wenig von dem kalten, gebratenen Fleisch, das Nataniel ihr mit einer Wasserflasche brachte.

Eigentlich aß sie nur ihm zuliebe etwas, denn das Fleisch schien bei jedem Kauen nur mehr in ihrem Mund zu werden, statt weniger.

Sie hatte auf ihre Finger gesehen, an denen dunkles Fett klebte, als sie eine bekannte Stimme hörte, die sich tatsächlich an sie richtete.

„Schau doch nicht so eingeschüchtert, Amanda. Das passt gar nicht zu dir.“

„Palia!“

Amanda war aufgesprungen und hielt sich nicht zurück, sondern drückte die schlanke Frau an sich, als wären sie Freundinnen, die sich jahrelang nicht gesehen hatten.

Die Pumadame hielt Amanda ein bisschen länger in den Armen und sah sie dann lächelnd an.

Es tat so verdammt gut, zumindest von einem anderen Rudelmitglied als Nataniel nicht mit einem vernichtenden Blick gestraft zu werden.

„Schön dich wieder zu haben. Euch beide.“

Palias Blick sagte mehr, als es ihre Worte je hätten tun können. Amanda fühlte die Röte in ihre Wangen steigen und grinste etwas schief zu Nataniel hinüber, der ebenfalls aufgestanden war.

Palia begrüßte auch ihn mit einer Umarmung und setzte sich dann, um ein wenig zu plaudern. Da für sie anscheinend feststand, dass Amanda nun zu Nataniel gehörte, beinhaltete das auch, dass sie keine Geheimnisse voreinander hatten. Zumindest redete Palia drauf los, als wäre das die natürlichste Sache der Welt.

„Die Anderen werden sich schon auch noch einkriegen. Keine Sorge. Sie sind nur etwas ... Na ja, wie soll ich sagen ... Sie hatten ein logisches Opfer für ihre Wut und Enttäuschung gefunden. Es war leicht dich und Eric zu beschuldigen. Egal ob es der Wahrheit entsprach oder nicht.“

Palias Worte, mit dieser honigweichen Stimme gesprochen, schienen Amanda wie eine beruhigende, kuschlige Wolke einzuhüllen. Sie wollte ihr nur zu gern glauben, dass sie von den Anderen wieder akzeptiert werden konnte. Vielleicht nicht gemocht, aber zumindest nicht mehr gehasst.

Je mehr sie redeten, desto entspannter fühlte sich Amanda. Es wurde später und die Themen wurden weniger ernst, was sogar dafür sorgte, dass Amanda ein- oder zweimal lachte. Für ein paar Momente konnten sie alle scheinbar vergessen, in welcher Situation sie steckten und dafür war Amanda unendlich dankbar.

Als der Mond schon hoch am Himmel stand und nur noch die Nachtwachen ab und zu an den Höhlen vorbei liefen, verabschiedete sich Palia mit einem weiteren wunderschönen Lächeln.

Amanda umarmte die Frau diesmal, um zu verhindern, dass Nataniel alles mitbekam, was sie flüsternd zu ihr sagte. Es war mehr als ein einfaches 'Danke', aber es schien Amanda trotzdem nicht genug. Sie fühlte sich wieder aufgebaut und konnte sich wieder auf Anderes konzentrieren, als die Furcht, vom Rudel nicht akzeptiert zu werden. Natürlich hieß das nicht, dass sie erwartete, dass Morgen nach dem Aufstehen alles gut war, aber es würde besser werden. Schritt für Schritt und das reichte fürs Erste.

Gähnend setzte sie sich wieder und wagte das erste Mal, seit sie das Lager erreicht hatten, von selbst Körperkontakt mit Nataniel herzustellen. Es war sowieso niemand hier, der sie deswegen verurteilen konnte. Sie lehnte sich an ihn und küsste seine Wange, bevor sie ihm die schwarzen Haare etwas aus den Augen schob.

„Wie ist es? Wollen wir schlafen gehen?“

 

Palia war ein Geschenk des Himmels.

Nicht nur, dass er sich in ihrer Nähe gleich viel entspannter fühlte, da für ihn feststand, dass sie ihm eine große Stütze bei der Führung des Rudels war. Sie war sozusagen eine gute Beraterin und zugleich auch in der Lage zu handeln. Immerhin war es ihr zu verdanken, dass es alle sicher zu den Höhlen geschafft hatten.

Wem sonst hätte er diese Aufgabe auftragen können?

Natürlich hatte er sich trotzdem Sorgen gemacht, aber eben ein bisschen weniger, weil er wusste, er konnte sich auf sie verlassen. Genauso wie er sich auf sie verlassen konnte, dass sie Amanda als weibliche Verstärkung beistand. Frauen unter sich war ein Thema, bei dem er nicht mitreden konnte. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass ihm die besonderen Gaben dieser Wesen aufgefallen wären.

Nataniel fand es schön, Amanda trotz allem wieder lachen zu sehen. Es war zwar nicht so viel, wie er gerne gehabt hätte, aber immer noch mehr, als zu erwarten gewesen wäre. Außerdem war er sich sicher, dass er selbst es nicht geschafft hätte, sie dazu zu bewegen.

Als sie dann endlich alleine waren, sie sich an ihn lehnte und ihm einen Kuss auf die Wange gab, schloss er müde seinen Arm um sie.

Es war nicht so sehr das Wandern, das ihn angestrengt hatte und schon gar nicht der Sex dazwischen, sondern die Anspannung, das Wiedersehen und die drückende Last der Tage, die noch vor ihnen lagen.

Nach seinem Gefühl nach hätte er lieber die nächsten Tage geschlafen und sich erholt, aber wenn die guten Zeiten kommen sollten, dann würde er das alles nachholen können. Zusammen mit Amanda.

„Mhmm“, bestätigte er halb schnurrend und stand mit ihr zusammen auf.

Bei den vielen Gesprächen, die er heute noch geführt hatte, war es ihm auch gelungen, einen Platz zum Schlafen zu organisieren.

Er lag ganz hinten in den Höhlen, wo es am Sichersten war und er seinen Schlaf ruhig vertiefen konnte, anstatt sich dem leichten Schlaf einer Katze hinzugeben.

Licht hatten sie keines, weshalb er Amanda schließlich kurzerhand einfach auf seine Arme nahm, egal was sie dazu sagte. Sie musste sich heute nicht auch noch den Fuß verstauchen oder gegen irgendeinen herabhängenden Felsen laufen, den sie im Dunklen nicht gesehen hatte.

Für ihn selbst reichte das Licht gerade noch so aus, die Umrisse zu erkennen, zu mehr aber auch nicht mehr. Trotzdem ließ er sich ganz einfach von dem Duft von trockenem Heu, ein paar Wildblumen und Kräutern leiten.

Natürlich hatten sie hier keine Betten, aber als Nataniel Amanda auf das weich ausgelegte Lager legte, war klar, dass das auch nicht nötig war. Es war wunderbar gemütlich und noch dazu hundert Prozent Natur pur. Der einzige Luxus darin war eine dünne Baumwolldecke, die zusammen mit seiner eigenen Körperwärme dazu ausreichen würde, Amanda warmzuhalten.

„Fass das nicht falsch auf“, begann er leise flüsternd, während er sich das Shirt auszog und den Knopf seiner Jeans öffnete.

„Aber ich schlafe grundsätzlich nackt.“

Als würde er auch nur einen Gedanken daran verschwenden, sich hier so dicht an hellhörigen Ohren an Amanda heranzuschmeißen. Er war vielleicht zur Hälfte Tier, aber sicher nicht die Sorte, der es nichts ausmachte, wenn man ihnen beim 'Begatten' zusah oder sie hörte.

 

Es war wirklich stockfinster und Amanda hätte niemals wieder aus der Höhle hinausgefunden, wenn Nataniel sich dazu entschlossen hätte, sie allein zu lassen. Selbst wenn am Morgen ein wenig Licht hineinfiel, war Amanda sich nicht sicher, dass es bis zu ihrem Schlafplatz reichen würde. Noch dazu konnte sie gar nicht sagen, wo die Anderen alle waren.

Ab und zu hatte sie Geräusche wie leises Schnarchen, Schnurren oder einfach nur sanfte Bewegungen gehört, während sie immer tiefer in die Höhle eingedrungen waren.

Das Rudel schien sich über die Felsen verteilt zu haben und schlief wohl in kleinen Nischen und Ritzen, die im Inneren vorhanden waren. Zumindest hörte es sich nicht so an, als wären sie in einem großen Hohlraum.

Amanda streckte im Liegen ihren Arm über ihrem Kopf aus und konnte die Wand berühren. Nataniel würde sich ein wenig zusammenrollen müssen, um es bequem zu haben. Bestimmt hatte derjenige, der das Lager für ihn ausgesucht hatte, angenommen, dass er als Raubkatze hier sein Haupt niederlegen würde. Aber selbst zu zweit war eigentlich genug Platz, solange man sich ein wenig aneinander kuschelte. Und nichts Anderes hatte Amanda sicherlich vor.

Sie hätte wahrscheinlich erst mitbekommen, dass Nataniel sich seiner Kleidung entledigte, wenn sie seine nackte Haut an ihrer gespürt hätte.

So war sie vorgewarnt und zog sich selbst unter der dünnen Decke vor allen eventuellen Blicken, die durch das Dunkel reichen konnten, bis auf den Slip aus. Darauf wieder in ihren Klamotten zu schlafen, hatte sie keine Lust und Nataniel würde sich bestimmt ausreichend wärmen.

Als sie ihn neben sich spürte, schmiegte sie sich nah an seinen Körper und ertastete mit den Fingerspitzen sein Gesicht. Sie kam sich wirklich vor, als wäre sie blind.

Ihr Daumen fuhr vorsichtig über Nataniels Lippen, bevor sie ihm einen Gutenachtkuss gab und die Augen schloss. Die fremde Umgebung und alles, was an diesem Tag geschehen war, schien auf einmal auf sie einzustürzen und sie merkte erst, als das Schnurren neben ihr in sehr menschliches aber leises Schnarchen überging, dass Nataniel vor ihr eingeschlafen war.

31. Kapitel

Die Nacht war voll realistischer Albträume gewesen und schien Amanda mehr Kräfte geraubt, als gegeben zu haben. Sie fühlte sich wie gerädert, als sie aufwachte, und wehrte sich dagegen, die Augen zu öffnen, und beschloss den neu angebrochenen Tag noch eine Weile zu ignorieren.

Nataniel neben ihr strahlte eine derartige Hitze aus, dass Amanda die Decke von ihren Beinen ziehen musste, um nicht davon zu fließen. Trotzdem legte sie ihren Arm um ihn, drückte ihren Bauch an seinen Rücken und vergrub ihre Nase an seinem Nacken, während sie seinen Bauch streichelte.

Sie döste noch eine Weile vor sich hin, was erfrischender war, als der gesamte Schlaf zuvor. Neben Nataniel aufzuwachen machte sie glücklich.

Ein breites Lächeln spielte um ihre Lippen, die sich leicht auf seine Haut legten. Sie würde ihn nie wieder hergeben.

Am nächsten Morgen war es, als würde er immer noch träumen, auch wenn er wusste, dass dem nicht so war. Konnte denn die Realität wirklich so süß und voll Zärtlichkeiten sein?

Nataniel spürte Amandas Lippen in seinem Nacken, ihren Bauch an seinem Rücken und ihre Hand in der Region seines Bauchnabels.

Sofort begann er wieder zu schnurren. Selbst, wenn er es in diesem Augenblick gewollt hätte, hätte er es nicht abstellen können. Dazu fühlte er sich einfach zu überirdisch wohl.

Eine Weile genoss er die stille Zuwendung, ohne sie mit irgendwelchen Worten zu unterbrechen. Doch schließlich nahm er ihre Hand, führte sie zu seinem Mund und küsste sie. Danach drehte er sich zu seiner Gefährtin herum und lächelte sie an. Vermutlich konnte sie es noch nicht einmal sehen. Es war immer noch sehr dunkel, selbst wenn sein innerer Rhythmus ihm sagte, dass die Sonne vor Kurzem aufgegangen war.

Seine Finger auf ihren Lippen waren eine gutgemeinte Vorwarnung, damit sie nicht einfach erschreckte, als sie schließlich seinen Mund auf sich spüren konnte.

Während er Amanda besitzergreifend aber sehr sanft küsste, legte er seine Arme um sie und zog sie dicht an sich heran. Seine Hände streichelten ihr durchs Haar, während sein Bein sich halb um ihre schlang, um sie am Weglaufen zu hindern. Auch wenn er nicht glaubte, dass sie das vorgehabt hätte.

Nataniel wollte damit nichts erreichen. Der Zeitpunkt und die Umgebung waren dafür einfach nicht günstig. Aber gerne hätte er Amanda gesagt, wie leid es ihm tat, dass sie nur so wenig Zeit miteinander gehabt hatten. Zumindest jene Momente, die sie harmonisch miteinander verbrachten. Die kleinen Neckereien zählten für ihn dabei auch dazu.

Während er sie also küsste, als wäre es vermutlich das letzte Mal, musste er daran denken, wie wenig Amanda seine Entscheidung gefallen würde.

Bestimmt wollte sie mit ihm gegen Nicolai zu Felde ziehen, aber er konnte das von vornherein nicht zu lassen.

Wenn sie verletzt werden würde, oder gar dabei starb, könnte er das nicht ertragen.

Ihr Tod würde für ihn und den Panther jeglichen Sinn aus seinem Leben nehmen. Selbst das Rudel könnte niemals so viel für ihn sein wie seine Gefährtin. Das hatte er ihr schon einmal gesagt, nur würde es ihm bei ihrer Sturheit nichts bringen.

Überraschend für sie beide drehte er sich während des Kusses mit ihr zusammen auf dem Rücken, sodass sie halb auf seinem Körper lag. Danach sah er sie an.

„Kannst du mir etwas versprechen?“, wisperte er leise, während er ihre Wange streichelte und seine andere Hand auf ihrer Taille ruhte.

Amanda versuchte Augenkontakt mit Nataniel herzustellen, was sich gar nicht als so schwierig erwies, wie sie es sich gedacht hatte. Das wenige Tageslicht, das sie erreichte, ließ seine blauen Augen hell aufscheinen.

Auf was er mit seiner Frage hinaus wollte, wusste sie nicht genau. Es konnte sich um alles Mögliche handeln. Aber eins hatte Amanda gelernt. Bevor man ein Versprechen gab, musste man sich anhören, um was es sich handelte. Noch nie in ihrem Leben hatte Amanda ein Versprechen gebrochen und sie würde es auch nicht tun. Daher war sie keine von denen, die sich einfach im Taumel der Gefühle dazu hinreißen ließen, zu allem 'ja und Amen' zu sagen.

Auch wenn sie so in seinen Armen, nach dem Kuss, den er ihr gegeben hatte, durchaus versucht war, ihm sehr viel zu versprechen.

Amanda verschränkte ihre Arme auf Nataniels Brust und legte ihr Kinn darauf ab, wobei sie ihn weiter aus aufmerksamen Augen ansah.

„Was soll ich dir versprechen?“, sagte sie sehr leise. Bestimmt konnten viele der Wandler in ihrer Katzenform jedes Wort mithören, das Nataniel und Amanda in ihrer kleinen Höhle sprachen. Aber so machte sie es den neugierigen Ohren hoffentlich zumindest ein wenig schwerer.

In dem Wissen, dass er gleich die ganze Stimmung komplett zerstören würde, umarmte er sie noch einmal und beugte sich etwas nach vorne, damit er ihr einen letzten Kuss auf die Lippen hauchen konnte.

Wenn er könnte, er würde es niemals aussprechen. Wenn er könnte, würde er sie niemals verlassen und mit ihr irgendwohin gehen, wo sie in Frieden leben konnten. Doch er konnte es nicht. Sie war seine Gefährtin und daher ein guter Grund, einfach kampflos seiner Wege zu gehen.

Aber er konnte so viele Wandler nicht im Stich lassen, und außerdem würde Amanda sicher auch nicht einfach so kampflos abziehen. Er hatte gesehen, dass es ihr auch wichtig war, was mit dem Rudel geschah. Sonst hätte sie sich kaum so viele Gedanken darüber gemacht, was die Leute von ihr hielten. Also war es wohl hoffnungslos und zugleich sinnlos. Trotzdem musste er seinem Protest Ausdruck verleihen, damit er sich vielleicht später, wenn alles zu Ende ging, nicht vorwerfen musste, dass er es nicht wenigstens versucht hatte. Also ließ er die Katze sprichwörtlich aus dem Sack.

„Ich will, dass du mir versprichst, nicht gegen Nicolai oder irgendjemanden aus seinem Rudel zu kämpfen. Ich möchte, dass du bei unserem Clan bleibst und sie in Sicherheit bringst.“

Amanda schien sprichwörtlich der Schlag zu treffen, als sie seine Worte hörte. „Was?!“

Als Reaktion auf ihr lautes Zischen hörte sie weit hinter sich, wie sich etwas bewegte. Aber das war ihr im Moment so egal, wie ihr nur irgendetwas sein konnte.

In einer wütenden Bewegung riss sie sich aus seinen Armen und stützte sich auf seiner Brust ab, um ihn von oben herab anzufunkeln.

„Du weißt genau, dass ich dir das nicht versprechen werde!“

Natürlich war ihr klar gewesen, dass er sich Nicolai irgendwann stellen wollte. Und sie hatte sogar damit gerechnet, dass er sie dann nicht bei sich haben wollte. Aber das würde an ihrer Entscheidung nichts ändern.

„Palia kann das Rudel in Sicherheit bringen. Von mir werden sie sowieso keine Hilfe annehmen.“

Sie hoffte ihn mit diesen Argumenten zu treffen, die ihrer Meinung nach richtig waren. Aber ihre Wut war derart hochgeflammt, dass sie kaum noch logisch denken konnte.

Ihre Finger krallten sich in seine Brust, weil sie gleichzeitig nicht zu nah bei ihm sein wollte, sich aber genauso wenig von ihm entfernen konnte.

War es das etwa gewesen? Hatte er das gemeint, als er sagte, dass das Rudel zuerst kam und er deshalb keine Gefährtin haben wollte? Schön und gut, aber dann war es doch wohl auch egal, wenn sie mit ihm kam!

„Warum soll ich nicht gegen Nicolais Gefolgsmänner kämpfen. Ich bin verdammt nochmal nicht so schwach, wie ihr alle glaubt! Erinnerst du dich? Ich hab schon mal einen von ihnen umgebracht. Und dir das Leben gerettet! Ich werde sicher nicht zurückbleiben und bibbernd in der Ecke sitzen, darauf hoffend, dass du lebend zu mir ...“

Gerade noch so schaffte sie es, sich zu unterbrechen. Aber um ihre Unsicherheit und die Wahrheit der Worte, die sie eigentlich hatte benutzen wollen, zu verbergen, stieg sie von ihm herunter.

„Ich werde mit dir kämpfen, ob du willst oder nicht. Und ich werde mit dir sterben, wie jeder andere Kämpfer in deinem Rudel, wenn es sein muss.“

Inzwischen war sie so laut geworden, dass bestimmt jeder sie hören konnte. Ihr Atem kam stoßweise und Nataniel musste ihre Augen eigentlich aufflammen sehen.

Wieso konnte es ihn nicht überraschen? Wieso hatte er genau gewusst, dass sie so reagieren würde, wie er es von ihr erwartete?

Konnte sie nicht wenigstens nur dieses eine Mal jemand sein, der sich einfach nur von ihm beschützen ließ, anstatt ihm ständig den Hintern zu retten? Amanda hatte nämlich wirklich Recht.

Sie war nicht schwach und sie hatte ihn schon oft genug aus dem Dreck gezogen, aber gerade deshalb hatte er solche Angst, sie mitzunehmen. Sie war auf ihre Weise so selbstlos, dass es ihr egal war, ob sie dabei draufging.

Das bewies doch nur die Geschichte mit dem Geparden, der ihr beinahe die halbe Seite herausgebissen hätte. Alles nur wegen der Tatsache, dass sie ihm hatte helfen wollen, obwohl sie sich zu diesem Zeitpunkt gar nicht gut verstanden hatten.

Ja, genau deshalb wollte er sie nicht dabei haben. Damit sie nicht irgendetwas tödlich Dummes tun konnte. Und damit er selbst nicht abgelenkt war, sollte es wirklich hart auf hart kommen.

Sie in Gefahr zu wissen, war wirklich nicht gerade die Methode, die ihm einen freien Kopf und einen ruhigen Verstand bescherte.

Doch bevor er ihr auch nur irgendetwas davon sagte, ließ er sie zurückweichen und richtete zugleich seinen Blick in die dunklen Schatten der Höhle und die Umrisse, die er dort genau erkennen konnte.

„Lasst uns allein!“, knurrte er in einem herrischen Tonfall, der Übles versprach, wenn sich auch nur einer seinem Befehl widersetzen sollte.

Kein Wunder, dass auf einmal eine ganze Schar von Pfoten auf dem Boden zu hören war, ehe es vollkommen still wurde. Ein Schweigen, das so schwer in der Luft lag, wie sein Herz sich anfühlte.

„Genau das ist es doch, was ich befürchte“, sagte er schließlich ruhiger an Amanda gewandt, während er sich ganz aufsetzte.

„Ich will nicht, dass du für so eine Sache stirbst. Und schon gar nicht, bei dem Versuch mir zu helfen. Auch wenn du mir vielleicht nicht glaubst. Gerade, weil ich dich für stark halte, will ich dich nicht dabei haben. Das ist nicht dein Kampf und ich will auch nicht, dass er es wird.“

Nataniel hatte gewusst, dass es schwer werden würde und er wusste tief in sich drin auch, dass es keinen Sinn hatte, mit ihr darüber zu diskutieren. Aber verdammt nochmal, er würde nicht kampflos nachgeben. Und wenn sie sich gegenseitig aneinander die Zähne ausbissen, das war besser, als einfach nur dabei zuzusehen, wie sie sich in die Gefahr stürzte!

„Verstehst du denn nicht? Ich will einen guten Grund haben, der mich davon abhält, zu verlieren und mich wieder sicher nach Hause bringt, aber der ist bestimmt nicht das Rudel, sondern du! Aber wenn du tot bist, was nützt mir das dann noch? Da kann ich mich gleich selbst erschießen!“

Den letzten Satz hatte er fast gebrüllt, ehe er sich wieder fassen konnte. Trotzdem ging seine Atmung aufbrausend.

„Und ich soll das einfach so hinnehmen? Bloß, weil du hier der große Anführer bist, darfst du die Entscheidungen für mich treffen?!“

Sie kniete halb und versuchte die animalische Kraft, die ihrer Stimme im Gegensatz zu seiner fehlte, mit wilden Gesten wettzumachen.

„Du hast verdammt nochmal mehr als einen Grund, dich nicht umbringen zu lassen. Wie du schon sagtest, das Rudel wird immer an erster Stelle stehen. Und trotzdem werde ich dich nicht allein gehen und sterben lassen! Weil ich dich liebe, du Idiot!“

In der bleiernen Stille, die sich auf sie beide legte, ließ sich Amanda auf ihre Fersen zurücksinken, zog sich die Decke um den halbnackten Körper und massierte sich mit den Fingern die Nasenwurzel.

„Das war nicht fair, entschuldige.“

Ihre Stimme war ruhig, aber immer noch von Emotionen durchsetzt, die sie gar nicht verleugnen wollte. Sie hatte die Wahrheit gesagt, auch wenn es ihr im völlig falschen Moment über die Lippen gekommen war. Sie würde es nicht zurücknehmen, aber vielleicht konnte sie ein wenig Schadensbegrenzung betreiben.

„Fühl dich nicht genötigt, irgendwas dazu zu sagen. Das wollte ich nicht erreichen.“

Sie schickte sich an, ihre Sachen im Dunkeln zusammenzusuchen, damit ihre Hände mit irgendetwas beschäftigt waren. Wenn der Drang, wegzulaufen, am vergangenen Abend schon groß gewesen war, dann war er jetzt übermächtig.

„Ich werde deine Leute in Sicherheit bringen, wenn du das willst. Und wenn sie es zulassen.“

Sie hatte tatsächlich alle ihre Klamotten im Zwielicht gefunden und fing an, sich anzuziehen. Sie musste unbedingt hier raus. Die Höhle schien auf einmal mit der gesamten Wucht und dem Gewicht des Steins, der über ihnen prangte, auf Amanda zu lasten.

Amandas impulsive Erwiderung hallte so stark in seinem völlig erstarrten Körper wider, dass selbst sein Herz einen Moment lang stillstand, ehe es von neuer Kraft beseelt um vieles schneller weiter pochte.

Bis sein Gehirn allerdings ebenfalls wieder richtig in die Gänge kam, war Amanda schon halb angezogen, weshalb ihm wieder einmal der Panther dort half, wo sein Verstand versagte.

Ohne zu zögern, packte er Amanda bei den Händen, zog sie zu sich herab und hielt sie mit dem Rücken an seine Brust gepresst fest umschlungen. Seine Arme waren wie Fesseln und ebenso unnachgiebig. Aber um nichts auf der Welt hätte er sie jetzt losgelassen. Selbst wenn sie schreiend um sich schlagen würde, hätte er nicht die Kraft dazu besessen.

Stattdessen vergrub er verzweifelt sein Gesicht in ihrem Haar, während er um Ruhe rang.

„Verdammt, Amanda. Ich liebe dich doch auch“, flüsterte er leise und mit völlig verrauchter Wut dicht an ihrem Ohr.

„Darum, egal was es mich kostet, lauf bitte nicht vor mir weg. Bitte tu das niemals. Ich könnte es nicht ertragen.“

Seine Arme schlossen sich daraufhin noch etwas enger um ihren Körper. Beschützend, verlangend und zugleich nach Halt suchend. Sie durfte nicht gehen. Das konnte er nicht zulassen. Aber wenn er sie in Sicherheit wissen wollte, würde er sie gehenlassen müssen. Ihren letzten Worten zu entnehmen, hatte er diese Auseinandersetzung gewonnen. Sie hatte nachgegeben und sich bereit erklärt, das Rudel in Sicherheit zu bringen. Aber da hatte er ihre Liebe auch noch nicht mit seinen eigenen Worten erwidert.

Es war verdammt bezwingend. All die Gefühle, die er inzwischen wesentlich leichter zulassen konnte, da er nicht mehr Angst um Amanda haben musste. Zumindest nicht, was den Panther anging. Mann und Tier zogen in diesen Dingen nun am gleichen Strang, weshalb er sich auch nicht mehr zurückhielt.

Scheiß auf mögliche Konsequenzen! Sollte er heute oder morgen sterben, müsste er es mit der Gewissheit tun, dass er vor Amanda noch etwas zurückgehalten hatte. Damit könnte er nicht leben.

„Du stehst für mich über dem Rudel, Amanda“, begann er die aufgekommene Stille erneut mit einem Wispern zu durchbrechen. Aber wenn er es jetzt nicht sagte, würde er nie die Kraft dazu aufbringen.

„Wenn du mich darum bitten würdest, ich würde noch heute mit dir fortgehen. Weit weg von diesem Land und Nicolai.“

Das meinte er ernst. Selbst wenn er ein Leben lang mit der Tatsache leben müsste, dass er sein Rudel im Stich gelassen hatte. Es war besser, als die Frau zu verlieren, die er liebte. Denn dass es so war, wusste er nun so deutlich, wie niemals zuvor.

Ein wenig wehrte sie sich gegen seinen Griff, versuchte seinen warmen Körper so wenig zu berühren, wie möglich, um nicht an das Gefühl erinnert zu werden, das sie hatte, als sie neben ihm aufgewacht war.

Doch ihre Gegenwehr schmolz dahin wie Schnee in der Sonne, als sie seine Worte warm an ihrem Ohr spürte. Zuerst glaubte sie an einen Streich, den ihr Kopf ihr spielte. Er musste das, was Nataniel gesagt hatte, in das umgewandelt haben, was sie hatte hören wollen.

Seine Arme schlossen sie noch stärker ein und Amanda gab die Gegenwehr auf. Sie wollte doch gar nicht davonlaufen. Eigentlich hätte sie das doch gar nicht gekonnt. Genau das war doch das Problem.

Selbst von dem leichten Kratzen in ihrer Stimme überrascht, zwang sich Amanda doch weiter zu sprechen. Nataniel hatte sie nicht abgelehnt und was er gesagt hatte, war ihm sicher nicht leicht gefallen. Selbst wenn es nicht sein Ernst war, erkannte sie doch das Opfer, das er allein mit seiner Aussage gebracht hatte.

„Wer wäre ich, von dir zu verlangen, dass du dein Rudel aufgibst? Das würde ich niemals tun. Wir stehen das schon durch. Alle zusammen.“

Sie wussten beiden, dass es schwer werden würde, und dass die Trennung nur die erste Verletzung sein würde, die sie beide ertragen mussten.

Amanda schmiegte sich in Nataniels Arme, die sie immer noch warm umfingen. Er roch wie immer beschützend und gemütlich.

„Komm einfach wohlbehalten zu mir zurück.“

Sie wollte ihm kein Versprechen abringen, das er nicht geben konnte und dabei wäre es genau das gewesen, was sie wollte. Amanda würde ihn gehenlassen, aber sie wollte am liebsten die Garantie.

Amanda war genau die, die er wollte, so wie sie war. Genau deshalb bedeutete sie ihm doch so viel. Hoffentlich würde das Rudel sie nach der Beseitigung von Nicolai wieder als einen Teil von sich betrachten. Denn genau das war sie. Teil des Rudels und ein großer Teil in ihm drin, der sich wärmend dort ausgebreitet hatte.

Wie sie schon sagte, sie würden es irgendwie überstehen, aber es fiel ihm trotzdem nicht leicht. Ganz und gar nicht leicht.

Nun etwas besänftigt drehte er sie langsam in seinen Armen zu sich herum, sodass er ihr in die Augen sehen konnte. Zärtlich streichelten seine Fingerknöchel über ihre Wange.

„Alles, was in meiner Macht steht, werde ich tun, um dafür zu kämpfen, wieder bei dir zu sein. Immerhin, ich will dich doch meiner Pflegefamilie vorstellen.“

Er lächelte warm.

„Sie wird dir gefallen. Aber auch die Ranch und die weiten Wälder und Felder rundherum.“

Ein Seufzen entkam ihm, als er daran dachte und sich fast bildlich vorstellen konnte, wie er sie über das Land seines Dads führte. Ihr die kleinen verborgenen Winkel zeigte, die er schon als Kind für sich alleine entdeckt hatte und nun unbedingt mit ihr teilen wollte.

„Es gibt noch so viel, das ich dir zeigen möchte“, gestand er schließlich kaum noch hörbar, ehe er sich zu ihr herabbeugte und ihre Lippen küsste.

Versöhnen fühlte sich wirklich tausendmal besser an, als zu streiten und trotzdem war das zwischen ihnen einfach immer wieder unvermeidlich. Aber im Augenblick wollte er nicht mehr streiten. In wenigen Stunden könnte Amanda schon mit dem Rudel auf den Weg in Richtung Zufluchtsort sein, während er den entgegengesetzten Pfad einschlug, um sich Nicolai vorzuknöpfen. Ein paar seiner Leute würden ihn begleiten, und auch wenn von ihnen jemand fallen würde, wäre es ein tragischer Verlust. Aber nicht so tödlich, als wenn er seine Gefährtin verlieren würde. Das würde ihn umbringen.

„Ich liebe dich“, hauchte er ihr noch einmal gegen die Lippen, als er sie näher zu sich heranzog, um den Kuss zu intensivieren. Einmal noch, nur noch einmal wollte er diese Lippen in vollen Zügen besitzen, ehe er sie vielleicht nie wieder berühren würde. Ein Gedanke, der ihm schon jetzt verdammt wehtat.

Nach einer ganzen Weile hatten sie sich doch voneinander losreißen müssen.

Amanda fühlte sich bereits jetzt so, als würde sie jede Minute mehr von Nataniel trennen. Und doch musste sie es aushalten.

Sie wollte nicht theatralisch wirken, schon gar nicht vor den neugierigen Augen, die sie vor der Höhle sicher erwarten würden. Ob sie schadenfroh darauf warteten, dass der Streit zwischen Amanda und Nataniel in einer Trennung geendet hatte?

Um nicht noch weiter in eine absolut depressive Stimmung zu verfallen, versuchte Amanda nicht an Gefühle zu denken. Sie hatte Nataniel versprochen, sein Rudel in Sicherheit zu bringen. Das würde sie tun. Ob es den Rudelmitgliedern nun gefiel, oder nicht.

Nataniel hatte sie an der Hand durch die dunkle Höhle geführt, die jetzt, wo sie zu Fuß ging und nicht von ihm getragen wurde, nur noch weitläufiger wirkte. Krampfhaft versuchte Amanda nicht zu oft zu stolpern oder gar hinzufallen. Sie wollte hoch erhobenen Hauptes draußen ankommen und nicht mit aufgeschlagenen Knien wie ein kleines Kind.

Bereits aus einiger Entfernung konnte sie den Lichtschein von draußen sehen. Die Sonne war inzwischen schon ein Stück den Himmel hinauf geklettert und Amanda hob eine Hand über die Augen, um nicht zu oft blinzeln und ihre Augen zusammenkneifen zu müssen.

Irgendetwas kam in fast wahnsinniger Geschwindigkeit auf sie zu und allein die Tatsache, dass sie ihren Namen von einer bekannten Stimme hörte, ließ Amanda das Etwas auffangen, anstatt es abzuwehren. Und es hatte sich gelohnt, denn im nächsten Moment erkannte Amanda, was oder vielmehr wer ihr da in den Armen hing und sich so fest an sie drückte, dass Amanda fast die Luft wegblieb.

„Nele!“

Amanda strahlte mit der Sonne und mit Nele um die Wette, als sich ihre braunen Augen mit denen des kleinen Mädchens trafen.

„Du bist wieder da“, war alles, was Nele sagte, bevor sie sich wieder an Amanda drückte.

„Ja, bin ich. Und ich werde euch auch nicht mehr alleinlassen.“

Die Worte hatte sie nicht nur an Nele gerichtet, sondern dabei auch Nataniel angesehen, der immer noch neben ihr stand. Und sie meinte es so ernst, wie kaum etwas in ihrem Leben zuvor.

Nataniel betrachtete diese glückliche Wiedersehensszene, warf dabei aber auch einen flüchtigen Blick zu Neles Eltern hinüber.

Sie sahen nicht besonders froh darüber aus, wie sehr ihre Tochter an Amanda hing. Aber da war keine Abscheu in ihren Augen, sondern einfach nur Sorge.

Nataniel lächelte ihnen beruhigend zu, was diese etwas zu entspannen schien, danach richtete er seine volle Aufmerksamkeit auf die beiden Ladys an seiner Seite.

Nele so freudestrahlend zu sehen, war auch für ihn eine enorme Erleichterung. Hatte er doch noch nicht vergessen, wie traurig sie jedes Mal gewesen war, als er ihr erklären musste, dass Amanda vermutlich nie wieder zu ihnen zurückkam. Und nun wollte sie sogar bei ihnen bleiben? Für immer?

Bis zu diesem Zeitpunkt war für Nataniel noch nicht hundertprozentig klar gewesen, ob sie nicht doch irgendwann gehen würde. Auch wenn er es nicht geglaubt hatte, so war es auf jeden Fall etwas ganz anderes, auf diese Weise zu hören.

Deshalb nahm er Amanda mit Nele zusammen auch noch einmal in den Arm und küsste sie vor dem versammelten Rudel auf die Lippen, während er dem Mädchen mit seiner Hand durchs Haar streichelte.

In diesem Augenblick war das Gefühl voll und ganz zu einer Familie zu gehören, selbst wenn man seine Blutsverwandten getötet hatte, stärker denn je. Für ihn waren nicht nur das Rudel oder seine Pflegeeltern samt seinen dazugehörigen Geschwistern Familie, sondern nun auch Amanda. Sie war der erste Teil eines neuen engen Kreises familiärer Bande – seiner eigenen Familie.

„Ich lass euch zwei jetzt einmal alleine. Ihr habt sicher vieles nachzuholen und ich muss noch einige Dinge klären, bevor es losgeht.“

Nataniel drückte aufmunternd Amandas Hand und schenkte ihr eines seiner wärmsten Lächeln, die nur wenigen vorbehalten blieben. Danach drehte er sich um und verschwand zusammen mit Palia und ein paar älteren Rudelmitgliedern vom Platz. Die Anderen sollten sich derweil noch um die Vorräte kümmern, da sie auf ihrer Reise bestimmt nicht dazu kamen, stundenlang auf Beute zu lauern. Das würde einfach zu viel Zeit kosten.

Während seine 'Berater' sich schon einmal an den Ort begaben, wo sie in Ruhe alles besprechen konnten, hielt Nataniel Palia noch einen Moment lang am Arm zurück. Woraufhin sie sich fragend zu ihm herumdrehte.

Noch einmal sah er sich im Umkreis um, musterte jeden einzelnen Gestaltwandler, ehe sein Blick wieder auf die Pumadame fiel.

„Niela ist weg. Seit wann?“

Schon sein kühler Tonfall sagte ihr, dass sie hier rein mit dem Alphatier sprach, das sich um sein Rudel sorgte.

„Das letzte Mal habe ich sie gesehen, als du gestern mit Amanda ankamst. Danach war sie wie vom Erdboden verschluckt“, berichtete Palia ihm.

„Sie ist abgehauen.“ Keine Frage. Eine Feststellung.

„Ja. Und ich denke, du weißt auch, warum. Sie hatte Hoffnungen.“

Nataniel seufzte noch nicht einmal, sondern holte lediglich einmal tief Luft.

„Woher sie die nahm, weiß ich wirklich nicht. Aber das ist jetzt auch nicht wichtig. Sollte sie doch noch wieder zu der Gruppe hinzustoßen, lass sie mitgehen. Ich zwinge hier niemanden zu etwas, solange er uns nicht schadet. Wenn sie gehen will, soll sie das tun. Sie ist schließlich erwachsen.“

Mit diesen Worten machte er sich zusammen mit Palia auf den Weg zu den Anderen. Es wurde Zeit, die genaue Route zu planen und bestimmte Plätze für Zwischenstopps einzubeziehen.

Vor allem wollten sie eines vermeiden: Solange sie nicht an ihrem Ziel angelangt waren, sollten keine Menschen sie zu Gesicht bekommen. Sven würde später für jeden Einzelnen von ihnen eine neue Identität schaffen, was sein Rudel vor der Moonleague wieder eine Weile sichermachen sollte. Aber bis dahin war es einfach zu gefährlich, sich wieder der Zivilisation anzuschließen.

Amanda war nicht wirklich überrascht, dass Nataniel sich ihr so offensichtlich vor dem gesamten Rudel zuwandte. Das Streitgespräch hatte sie nur noch näher zusammengebracht und gerade die Geste, in der er sie mit Nele in den Arm nahm und ihr einen leichten Kuss gab, fühlte sich so an, als wäre an ihrer Beziehung nicht zu rütteln.

Mit einem Nicken und ebenfalls einem Lächeln ließ sie ihn verstehen, dass sie verstand. Sie würde die Zeit, bevor sie aufbrachen, noch nutzen, um ein wenig die Angst aus den Augen der Wandler verschwinden zu lassen.

Nataniel war Anführer des Rudels und Amanda gehörte zu ihm. Da sollten seine Rudelmitglieder keine Sorge haben, dass Amanda ihnen irgendwie schaden würde.

Sie neigte ein wenig den Kopf und sah Nele in die großen Augen, die mit der Sonne um die Wette strahlten.

„Ich freue mich wirklich, dich wieder zu sehen. Hm ...“

Mit einem verschwörerischen Lächeln senkte Amanda die Stimme und sah sich kurz so um, als wolle sie sichergehen, dass niemand lauschte.

„Ich hab unser Geheimnis nicht vergessen“, flüsterte Amanda, was Nele sofort dazu brachte, sich gespannt auf die Unterlippe zu beißen. Dabei sah der einzelne Schneidezahn weiß hervor. Am liebsten hätte Amanda die Kleine nie wieder losgelassen.

„Du hast auch nichts verraten, nicht wahr? Nicht einmal Nataniel.“

Nele schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Haare Amandas Gesicht streiften. „Gut. Ich auch nicht.“

Amanda war überrascht, dass Nele zu kichern anfing, und sah das Mädchen fragend an.

„Er hat dich geküsst.“

Jetzt musste Amanda mit Nele lachen, die sich sogar die kleine Hand vor den Mund hielt, was sie nur noch niedlicher wirken ließ.

Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, deshalb schwieg sie einfach und trug Nele zu ihren Eltern hinüber und reichte ihnen die Hand.

„Ich glaube, wir haben uns noch nie vorgestellt. Ich bin Amanda. Eine Freundin ihrer Tochter Nele.“

Neles Eltern nickten und versuchten sogar ein Lächeln, bevor sie Amandas Hand nahmen und sie schüttelten. Das fühlte sich fast so gut an, wie das Lächeln des kleinen Mädchens, das so lange auf Amanda gewartet hatte. Ja, sie würde diese Leute sicher hier wegbringen. Und das nicht nur, um Nataniels Bitte zu erfüllen.

Nachdem sie sich von Nele und deren Eltern verabschiedet hatte – allerdings mit der Zusicherung, dass sie sich zum Abendessen wiedersehen würden – versuchte Amanda sich, so gut es ging, nützlich zu machen.

Die meisten hatten wenig persönliche Dinge dabei, die verstaut werden mussten, aber Amanda bot an, dort zu helfen, wo ein paar starke Jäger ausgeschwärmt waren, um Beute für Vorräte zu machen.

Wer sich nicht helfen lassen wollte oder wer ihr feindselige Blicke zuwarf – was durchaus nicht selten vorkam – den ließ sie allein. Aber es gab doch einige Familien, die für ihre Hilfe dankbar waren. Immerhin gab es auch ältere Rudelmitglieder oder Mütter, die mit mehreren Kindern allein waren und daher eine helfende Hand durchaus zu schätzen wussten.

Nach einer Stunde fing Amandas Magen zu knurren an. Sie hatte noch kein Frühstück zu sich genommen und war etwas orientierungslos, was ihren eigenen Rucksack anging. Der musste entweder in der Höhle sein, wo sie übernachtet hatten oder noch an der Stelle stehen, wo sie abends mit Palia gesprochen hatte.

Amanda wusste es nicht mehr, aber im nächsten Moment stellte sich auch heraus, dass es egal war. Sie hatte der Löwin mit den drei Rabauken unter die Arme gegriffen, an die sie sich noch von ihrem ersten Aufenthalt erinnerte.

Jetzt saßen die Jungs einigermaßen ruhig in einer Höhle, aßen Trockenfleisch mit etwas Brot und die Löwin war so nett, auch Amanda etwas anzubieten.

Sie hatte noch nie Trockenfleisch zu sich genommen, war aber überrascht, dass es ihr doch recht gut schmeckte. Außerdem würde es sicher eine Weile vorhalten.

Vor dem Abendessen würden sie wahrscheinlich nicht mehr viel zu Essen bekommen. Amanda rechnete damit, dass Nataniel den Plan hatte, so bald, wie möglich, aufzubrechen.

Es dauerte wirklich lange und war verdammt ermüdend, eine Route anhand von Karten festzulegen. Hinzu kam auch noch die Tatsache, dass sie für mehrere Tage, wenn nicht sogar noch länger vorplanen mussten.

Sie konnten in ihrer Anzahl keine Verkehrsmittel verwenden. Sonst bräuchten sie mehrere Reisebusse. Aber Nataniel wollte seine Leute auch so schnell wie möglich in Sicherheit bringen, weshalb er sich dazu entschied, nur einen Teil der Strecke zu Fuß zurückzulegen. Zumindest so lange, bis sie weit weg von der Gefahrenzone waren, die diese Gegend darstellte.

Nataniel und Palia organisierten auch die Bewachung. Ein Teil der stärksten Rudelmitglieder würde er selbst mitnehmen, aber ein Großteil davon würde beim Rudel bleiben, um es im Notfall beschützen zu können.

Natürlich hatte er nicht vor, dass man sie erwischte, aber er kalkulierte lieber Probleme im Vorhinein ein, bevor sich dem der Clan ganz alleine stellen musste.

Schließlich konnten sie sich alle gemeinsam darauf einigen, dass sie sich in einer winzigen Kleinstadt, die sie bereits einige Tage vorher auskundschaften würden, als durchreisende Touristen ausgaben und sich dort zwei Tage lang niederließen.

In dieser Zeit könnte Sven – sein Freund in allen möglichen Menschenfragen – die nötige Anzahl Busse samt vertrauenswürdigen Fahrern besorgen. So, wie er seinen Freund kannte, würden selbst die Gestaltwandler sein.

Das war auch der beschränkte Zeitrahmen, in dem Nataniel mit seinen Leuten Zeit hatte, zu dem Rudel zu stoßen. Immerhin würde er sich ebenfalls zu Fuß auf den Rückweg machen müssen. Wenn er denn zurückkam.

Auch für diesen Fall hatte er vorgesorgt. Er nahm auch einen Geparden mit, ließ ihn aber nicht ganz in die Nähe von Nicolai kommen. Sollte irgendetwas passieren, würde dieser so schnell er konnte, die Neuigkeiten dem Rudel überbringen. So oder so, würde der Clan also erfahren, was passiert war.

Schließlich war alles besprochen und der Rat löste sich wieder auf, um sich den Familien zu widmen und um noch bei den letzten Vorkehrungen zu helfen.

In zwei Stunden wollten sie aufbrechen. Um vor Einbruch der Nacht noch ein gutes Stück der Strecke zu schaffen. Zwei Stunden also, bis er sich von Amanda verabschieden musste. Vielleicht sogar für immer.

Kein Wunder, dass er, trotz der guten Organisierung und Planung, absolut kein gutes Gefühl bei der Sache hatte.

Auch der Panther war unruhig, tänzelte in seinem Käfig ständig auf und ab und wollte es lieber gleich hinter sich haben. Damit diese Spannung endlich aus ihm weichen konnte, die sich immer mehr und mehr aufzubauen schien.

Nataniel fand Amanda dabei, wie sie einer alten Berglöwendame beim Packen half.

Da sie schon fast fertig waren, lehnte er sich an den borkigen Stamm eines Baumes und sah ihr dabei zu, wie sie sich für ihr gemeinsames Rudel einsetzte. Seine Augen beobachteten dabei jede einzelne ihrer Bewegungen. Wie sie der alten Dame ab und zu ein Lächeln schenkte, weil diese ihr ebenfalls sehr freundlich gesonnen zu sein schien.

So war das wohl mit dem Alter. Entweder man ist griesgrämig und senil, oder man fürchtet sich vor nichts mehr und bleibt auch dann noch freundlich und zuvorkommend, wenn einem das Leben bedroht wird.

Nachdem Amanda sich von der alten Dame verabschiedet hatte und sich offenbar nach weiterer Arbeit umsah, entdeckte sie ihn schließlich. Weshalb er sich vom Baumstamm löste und auf sie zukam.

„Keine Sorge, wir werden jemanden finden, der Ihnen beim Tragen hilft.“

Amanda wischte sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag die Hände an ihrer Hose ab und streckte sich leicht, während sie sich umsah. Bis jetzt war es nicht unbedingt anstrengend gewesen, aber sie musste trotzdem daran denken, dass sie alle ihre Kräfte noch brauchen würden. Egal, ob es nun an das lange Laufen ging, dass die meisten Wandler einfacher bewältigen würden, als Amanda selbst oder das Tragen des Gepäcks.

Viele würden in ihrer menschlichen Gestalt laufen müssen, um ihre Habseligkeiten mit sich nehmen zu können. Das würde ein verdammt langer Zug an Wandlern werden, den sie da in Sicherheit bringen mussten.

Um nicht betrübt zu wirken, da das im Moment das absolut falsche Zeichen an ihre Umgebung gewesen wäre, unterdrückte Amanda ein Seufzen und versuchte jemanden zu erspähen, dem sie weiterhelfen konnte. Stattdessen sah sie Nataniel, der sich von einem Baum löste und auf sie zukam. Amanda brachte nur ein kleines Lächeln zustande. Der Plan stand also, sie würden bald aufbrechen.

„Hast du einen Moment Zeit für mich?“, fragte er sie sanft und nahm sie auch schon bei der Hand, um sie ein Stück vom Lager wegzuführen.

Bei einem kleinen abseits gelegenen Bächlein angekommen, kniete er sich am Ufer hin und schöpfte sich frisches, kristallklares Wasser zuerst in sein Gesicht, um sich etwas zu erfrischen und trank dann in großen Zügen, bis sein Durst gestillt war.

In leicht behaglicher Position setzte er sich ins weiche Gras zurück und lehnte sich an einen großen Felsen.

„Wir haben zwei Stunden, dann geht es los.“

Wie sehr ihm diese Tatsache zu schaffen machte, konnte er zum Glück gut verbergen. Selbst wenn seine Stimme etwas farblos geklungen hatte. Aber Amanda musste nun einmal auch in die Pläne eingeweiht werden, und auch das würde etwas der kostbaren Zeit in Anspruch nehmen.

Als Nataniel ihr sagte, wie bald schon, begann es in Amandas Hirn zu rasen.

Zwei Stunden? Würden sie das überhaupt alles schaffen? Die Kinder würden noch etwas essen müssen und sie sollten über eine Reihenfolge nachdenken. Die schwächsten Mitglieder des Rudels sollten in die Mitte genommen werden ...

Amanda ließ sich neben Nataniel nieder und zählte ihm die Sachen auf, die ihr diesbezüglich eingefallen waren.

„Ich bin mir sicher, dass ihr alle mehr Erfahrung habt als ich. Wer ist dafür zuständig, die Gruppe in die richtige Richtung zu führen? Wir werden das Tempo an diejenigen anpassen müssen, die am langsamsten sind. Immerhin ist es sicherer, zusammenzubleiben. Gerade die Schwächsten müssen von den Stärkeren beschützt werden. Allerdings solltest du die besten Krieger mit dir nehmen.“

Sie sah Nataniel in die Augen. Er hatte bis jetzt noch gar nichts gesagt.

„Hast du die geringste Ahnung, wie groß Nicolais Rudel ist? Ihr dürft nicht in eine Übermacht hineinrennen.“

Krieg …

Das war das Wort, das ihm in den Sinn kam, als er Amanda zuhörte und zugleich an all die Vorbereitungen dachte. Als würde er einen gesamten Haushalt zusammenpacken, um die Familie in Sicherheit zu bringen, während er und einige andere Männer in die Schlacht zogen. Es war vielleicht in einem wesentlich kleineren Ausmaß als gewöhnlich, aber für ihn war es dennoch bitterer Ernst. Trotzdem ließ er sich davon nicht runterziehen. Er klang zwar nicht allzu enthusiastisch, aber auch sicherlich nicht wie ein reiner Schwarzdenker.

„Palia und ein paar der erfahrensten Mitglieder kennen den Weg. Sie werden sich mit dem Führen abwechseln. Natürlich beschützen wir die Schwächsten und halten uns an ihr Tempo. Mir ist an dem Wohl aller etwas gelegen. Immerhin sind wir nicht nur Tiere, die dem Recht des Stärkeren verfallen sind, sondern auch Menschen und somit Wesen mit Mitgefühl. Darum mach dir also keine Sorgen. Du wirst nicht dafür sorgen müssen, dass sich niemand unmenschlich verhält.“

Nataniel rieb sich den Nacken, während er das klare Wasser anblickte.

„Ich werde dir eine Handynummer aufschreiben. Sobald ihr die von mir vorgesehene Kleinstadt erreicht habt und du ein Telefon zwischen die Finger bekommst, rufst du sie bitte an. Sven ist einer meiner engsten Freunde und verdammt gut, was Computer, Organisationen und vor allem Identitätsfälschungen angeht. Sag ihm, dass dich 'Nate' schickt. Dann wird er dir glauben. Ab der Ankunft in der Stadt bleiben euch zwei Tage Zeit, um euch auszuruhen, bis es weiter geht. Bis dahin musst du Sven sagen, dass er dir Reisebusse besorgen soll, die euch abholen. Palia kennt ab dort den weiteren Weg, falls ich … in diesen zwei Tagen nicht wieder bei euch sein sollte.“

Nataniel schwieg einen Moment, bis er wieder die Kraft und den Willen hatte, weiterzusprechen.

„Ich nehme so viele Leute mit mir, wie ich entbehren kann, damit auch ihr geschützt seid.“

Wenn es zu wenige sein würden, wäre es das eben gewesen. Aber Nataniel würde sicher keinen seiner Leute in den sicheren Tod schicken. Vorher gab er sich lieber einer Niederlage preis und trat den Rückzug an. Allerdings wusste er nicht, ob das auch für ihn selbst galt. Doch das verschwieg er Amanda wohlweislich.

„Mach dich auf einen Fußmarsch von ungefähr einer Woche gefasst. Also schone deine Kräfte, so gut du kannst. Es gibt genug helfende Hände.“

Mit diesen Worten sah er sie wieder an. Besorgt darüber, sie könnte sich zu sehr für das Rudel einsetzen, während sie sich selbst keine Pause gönnte. Sie war zu selbstlos, als dass er glaubte, sie würde sich ausruhen, wenn sie es nötig hatte.

„Versprich mir bitte, dich nicht zu überfordern, okay?“

Er nahm ihre Hand und zog sie zu sich ins Gras. Seine Arme schlossen sich automatisch um sie, während sein Kopf gegen ihren lehnte.

Amandas Kiefer hatten sich fest aufeinandergepresst, während sie Nataniel zuhörte. Es hatte etwas von der Einsatzplanung, wie sie es bei der Moonleague gewöhnt gewesen war. Dort hatte sie immer Anweisungen von ganz oben bekommen. Immerhin hatten über ihr nur die Gründer, die Sammler 1. Klasse gestanden.

Mit Nataniels befehlsmäßigem Ton konnte Amanda in diesem Moment mehr anfangen, als wenn er an ihr Gefühl appelliert hätte. Aber das war so oder so nicht seine Art. Da waren sie sich ähnlich.

„Es war nicht so gemeint, dass ich dachte, ich würde bei unseren Leuten auf Unmenschlichkeit stoßen. Aber ...“

Sie sah ihn an und wusste, dass sie auf dem Gebiet, auf das sie hier geraten waren, mehr Erfahrung hatte als er.

„Hast du mal darüber nachgedacht, dass sie Angst bekommen könnten? Sie mögen alle Raubkatzen in sich tragen, aber das heißt nicht, dass sie zum Kämpfen geboren sind.“

Amanda seufzte und strich Nataniel die dunklen Haare aus der Stirn.

„Aber der Zusammenhalt wird bestimmt größer sein als jede Angst. Immerhin sind sie eine Familie.“

Auf Nataniels Anweisungen bezüglich Sven und der Reisebusse nickte Amanda nur. Zu der Andeutung, dass Nataniel zu diesem Zeitpunkt nicht bei ihnen sein konnte, wollte sie nichts sagen. Er hatte sich zwar gebremst, aber Amanda war nicht dumm. Sie wusste auch so, was er meinte. Er würde nur dann nicht mit den Anderen zu seinem Rudel zurückkehren, wenn er tot war. Wenn er den Kampf mit Nicolai verlieren sollte.

Amanda kannte die eisige Kälte, die sich bei dem Gedanken daran, dass Nataniel wirklich nicht zurückkommen würde, um ihr Herz legte. Aber sie würde dieses Gefühl nicht zulassen. Sich Sorgen um ihn zu machen, Angst um ihn zu haben, das war nur natürlich. Aber sie würde keine Trauer oder Ähnliches in ihr Herz lassen, bevor überhaupt etwas passiert war.

Amanda glaube zwar nicht an Vorsehung, aber sie wollte auch nicht irgendetwas heraufbeschwören, indem sie sich zu sehr in Gefühle von Verlust hineinsteigerte.

Daher ließ sie sich von Nataniel in die Arme ziehen und schloss die Augen, um seine Wärme und Nähe zu genießen.

„Ich werde auf mich aufpassen, mach dir keine Sorgen.“

Amanda befreite sich so weit von seinen Armen, dass sie sich umdrehen und ihn küssen konnte. Ihre Hände hielten ihn so fest, wie sie es nur vermochte, bevor sie von seinen Lippen abließ.

„Und du komm bloß heil zu mir zurück. Sonst bekommst du verdammt großen Ärger mit mir.“

Es klang nicht so leicht, wie es geplant gewesen war und ihr Lächeln misslang. Aber nicht einmal den Ansatz von Tränen ließ sie in sich hochsteigen.

Angst hatte hier wohl jeder auf seine Weise. Zum Glück mussten sich seine Leute eher Sorgen darum machen, ob sie ein gutes neues Zuhause fanden. Die Moonleague würde noch etwas brauchen, um sich von Amandas Schlag zu erholen. Bestimmt hatte sie Besseres zu tun, als unauffällig reisende Gestaltwandler zu jagen. Zumal sie absolut nicht wussten, wohin sie verschwunden waren. Dazu reichten auch ein paar Daten nicht aus.

Nataniel war daher auch überaus erleichtert, dass Amanda nicht mehr darauf bestand, mit ihm zu kommen. Sie in Sicherheit zu wissen, war im Grunde seines Herzes vorangehend vor allen anderen Gefühlen. Er hätte sich nicht auf das Kommende konzentrieren können, wenn er sie in Gefahr wüsste.

Als er ihre Worte hörte, die nicht einmal annähernd einer Drohung glichen, zog er sie dicht an sich heran und vergrub sein Gesicht an ihrer Halsbeuge. Leise flüsterte er ihr zu.

„Den bekomme ich doch sowieso, oder nicht? Immerhin habe ich das Schleckverbot missachtet, schon vergessen?“

Es klang auch nicht viel komischer, als Amandas Worte geklungen hatten, aber zumindest ließ es ihn vergessen, was auf ihn zukam. Denn viel mehr musste er an all die Momente denken, die hinter ihnen lagen.

Hätte man ihm am Anfang gesagt, dass Amanda und er einmal ein Paar werden würden, er hätte gelacht, bis sich die Balken bogen. Wie hätte er das auch glauben können?

Sie war so starrköpfig wie er und zugleich unterschieden sie sich total, aber dann wieder doch nicht. Ihre Eltern waren beide getötet worden, jeweils von der anderen Gruppe. Sie kämpften für das, woran sie glaubten und hatten dennoch nicht ihr Mitgefühl verloren oder gar die Fähigkeit zu lieben, trotz all der Verluste.

Im Grunde machte es keinen Unterschied, ob sie ein Mensch war oder er ein Gestaltwandler. Was machte das schon? Sie wären nicht das erste Mischlingspärchen und würden auch sicherlich nicht das letzte sein. Dafür war die Liebe einfach zu unberechenbar.

„Ich muss dir etwas gestehen“, begann er immer noch leise flüsternd, direkt in ihr Ohr zu hauchen.

„Weißt du noch, damals im Wald, als ich mich vor deinen Augen zum ersten Mal verwandelt habe?“

Nataniel löste sich etwas, um Amanda in die Augen zu sehen.

„Eigentlich war ich dir damals schon etwas schuldig, weil du mich von meiner Amnesie befreit hast. Der Schlag auf dem Kopf beim Autounfall hat mich völlig vergessen lassen, dass ich eigentlich auch ein Mensch bin. Erst mit deinem Schattentrick hast du mir wieder gezeigt, wie sich eine Wandlung anfühlt und mir somit meine Erinnerungen wiedergegeben. Damals konnte ich es nicht, aber jetzt danke ich dir dafür.“ Sanft verzog sich sein Mund zu einem Lächeln.

Nun musste Amanda tatsächlich lächeln. Aus einer Laune heraus biss sie Nataniel ins Ohrläppchen, als er ihre immer wiederkehrende Neckerei über das Schlecken erwähnte.

„Dafür wirst du noch die Quittung bekommen, verstanden? Das ist aber ein Versprechen und keine Drohung.“

Amanda konnte sich kaum vorstellen, wie sie die nächsten paar Tage ohne ihn durchstehen sollte. Dieser Geruch, der sie sich immer so sicher fühlen ließ, würde sie nicht umfangen, sie würde nicht in seinen Armen liegen können. Vielleicht nie wieder ...

Als Nataniel ihr für diese erste, für sie beide doch recht schmerzhafte Begegnung dankte, rollte doch eine einzelne Träne über Amandas Wange. Sie wischte sie erst weg, als sie ihr Kinn erreicht hatte, und lächelte Nataniel dann an.

„Ich liebe dich“, gestand sie ihm, anstatt direkt auf seine Worte zu reagieren. Gott, wie sie Abschiede hasste. Deshalb ging sie lieber, ohne dass es jemand mitbekam. Dann musste sie sich nicht mit diesen miesen Gefühlen auseinandersetzen, sondern konnte ignorieren, dass sie diejenigen, die sie gern hatte, vielleicht nicht wiedersehen würde.

Nataniel hatte das Geräusch vor Amanda wahrgenommen, denn sein Blick zuckte zu einem Punkt hinter Amanda. Sie drehte sich um und sah nur Palias blondes Haar hinter ihr herwehen, als sie Nataniel und Amanda wieder allein ließ.

„Es ist Zeit, was?“

Amanda löste sich von Nataniel und zog ihn mit sich auf die Füße. Sie standen sich gegenüber und keiner schien so genau zu wissen, was er sagen sollte.

„Wir sehen uns in ein paar Tagen.“

Der Abschiedskuss wurde lang und sofort danach riss sich Amanda von Nataniel los und lief zum Lager zurück, wo sie glücklicherweise gleich auf Palia traf und um Aufgaben bat, die ihr zugeteilt wurden.

Dass sie Nataniel nicht noch einmal zu Gesicht bekam, bevor sie schließlich aufbrachen, war nur gut so. Ansonsten hätte sie sich wahrscheinlich an ihn gekrallt und nicht mehr losgelassen, bis er sie mit sich nahm oder doch noch etwas derart Dummes tat, wie mit ihr wegzugehen, und das Rudel zurückzulassen.

Als sie sich zum letzten Mal küssten und danach trennten, war es, als würde man ihm das Herz herausreißen. Aber er war durch dieses Gefühl nur noch entschlossener, zu ihr zurückzukehren. Egal wie, er würde es tun. Selbst wenn es als verdammter Geist sein würde!

Nachdem er eine Weile nur so dagestanden und ihr hinterher gesehen hatte, machte er sich auf, um sich von seinen Leuten zu verabschieden. Erst wenn sie losgezogen waren, würde auch er sich mit den Männern aufmachen, um Nicolai und seinem Rudel gegenüberzutreten.

Wie schon zuvor bei Amanda war auch hier der Abschied nicht sehr lange, sondern lieber kurz und fast schmerzlos. Sie alle sprachen ihm gut zu und dass sie sich freuten, ihn schon bald wiederzusehen. Danach packten sie ihre Sachen und zogen unter Palias Führung los.

Amanda hatte er die ganze Zeit über nicht mehr gesehen, aber er war auch nie der Versuchung erlegen, sich nach ihr umzuschauen. Vielleicht hätte er danach gar nicht mehr gehen können.

Schließlich aber kam der Moment, an dem das Rudel zwischen den Bäumen verschwunden war und er sich zu dem einen Dutzend Männern umsah, das ihn begleiten würde.

Nataniel brauchte keine großen Reden zu schwingen. Die Entschlossenheit in ihren Augen, war mehr als er wollte. Sie würden nicht von seiner Seite weichen und das wusste er.

Also zogen sie sich ihre Kleider aus, ließen sie an einer Stelle in den Höhlen zurück, um sie eventuell auf ihrem Rückweg mitzunehmen, ehe sie sich wandelten.

Wie ein jagendes Rudel Wölfe liefen sie als eine Einheit durch den Wald. Lautlos und mit einem deutlichen Ziel vor Augen.

Jeder Herzschlag in seiner Brust galt Amanda und dem Rudel. Genauso wie jeder Atemzug es bis zu Letzt tun würde.

32. Kapitel

Der schwere Telefonhörer zitterte in Amandas Hand, die mit Kratzern und Dreck übersät war.

Auf der Seitenwand der Telefonzelle prangte ein riesiges, gespraytes Zeichen und im Inneren stank es nach Urin und Erbrochenem. Aber das konnte Amanda nur zu leicht ignorieren, wenn sie daran dachte, wie wichtig dieses Telefonat war.

„Hallo?“

Der Mann am anderen Ende der Leitung wirkte eher genervt als irritiert. Wenn er mit Technik so bewandert war, wie beispielsweise Clea, war ihm bestimmt die Nummer des öffentlichen Münzsprechers aufgefallen.

„Hallo. Hier spricht Amanda. Ich soll Ihnen sagen, dass ich im Auftrag von Nate anrufe.“

Sie konnte sich nur allzu gut daran erinnern, wie Nataniel sie angefahren hatte, als er ihr seinen Namen gesagt hatte. Sie solle ihn bloß niemals bei diesem kurzen Spitznamen rufen.

In der letzten Woche, die sie unterwegs gewesen waren, hatte Amanda fast ununterbrochen an Nataniel gedacht. Wie hätte es auch anders sein sollen? Er war unterwegs, um sich demjenigen zu stellen, der seinen Vater umgebracht hatte. Amanda wusste, dass Nataniel keine Ruhe geben würde, bis er seinen Vater gerächt hatte. Egal, ob er ihn tatsächlich gekannt hatte oder nicht.

Jetzt zitterte ihre Hand so stark, dass das Kabel, das den Hörer mit dem Apparat verband, gegen die Scheibe der Telefonzelle schlug.

Amanda wurde erst wieder aus ihren finsteren Gedanken gerissen, als der Mann ihr antwortete. Sie hatte Probleme, seinem Wortschwall zu folgen und hörte auch gar nicht richtig zu. Immerhin war sie nicht hier, um Fragen zu beantworten.

„Wir brauchen zwei Reisebusse. Mit Fahrern, die keine Fragen stellen. Ich gebe Ihnen die Adresse, wo sie uns abholen können. In zwei Tagen. Die Fahrer bekommen dann Anweisungen, wohin sie uns bringen sollen.“

Das Telefonat war danach schnell beendet und Amanda stieg über einen grünlichen Fleck auf dem Boden aus der Telefonzelle hinaus auf die Straße. Palia hatte dort gewartet. Das erste Mal, seit sie sich kannten, trug die Pumadame normale Kleidung, was sie aber keinesfalls weniger attraktiv erscheinen ließ.

Das konnten selbst die leicht verknoteten Haare, das eingetrocknete Blut über ihrer Lippe und der Dreck nicht verbergen. Amanda selbst sah ähnlich abgerissen aus und bei ihr kam noch die Müdigkeit dazu.

Sie waren eine Woche fast durchgehend gelaufen. Und spätestens nach zwei Tagen war Neid in Amanda aufgekommen. Selbst wenn sich die Wandler nur eine Weile in ihrer tierischen Form befanden, um sich mit dem Tragen des Gepäcks abzuwechseln, sparten sie riesige Mengen an Energie. Amanda konnte das nicht und man merkte ihr immer mehr an, wie viel ihr die Strecke abverlangte.

Gegen Ende, als sie auch noch von einem Regenguss überrascht worden waren, war Amanda eine Böschung hinunter gestürzt und hatte sich das Handgelenk verletzt. Das war nicht so schlimm gewesen, als hätte sie sich den Knöchel verstaucht, aber trotzdem hatte es ihre Laune mehr als verschlechtert.

Erst heute Nacht würden sie sich alle eine Pause gönnen. Sie hatten im Voraus ein paar Blockhütten und Wohnwägen im Holidaypark gemietet, in denen alle für zwei Nächte unterkommen konnten. Dort würde es auch nicht auffallen, wenn die Busse sie aufsammelten.

„Okay, ich nehme die erste Gruppe mit zum Campingplatz. Du kommst mit der nächsten in einer halben Stunde nach und dann hole ich den Rest unserer Leute.“

Palia nickte und die beiden Frauen machten sich auf den Weg zurück in den Wald, wo die anderen Wandler auf sie warteten.

Amanda war froh, ihnen gleich so gute Nachrichten übermitteln zu können. Das mit den Bussen würde klargehen. Sie brauchten sich also für zumindest zwei Tage keine weiteren Sorgen zu machen. Sie waren alle so weit gekommen, hatten sich durch dichtes Unterholz geschlagen, hatten dafür gesorgt, dass die Kinder in der Schlucht, die sie zu durchqueren hatten, nicht verletzt wurden und hatten es bis hierher geschafft. Von hier aus würde es nur noch eine Wahl werden. Wer würde sich in welcher Gegend niederlassen, um ein neues Leben dort anzufangen?

 
 

***

 

Bereits nachdem sie am zweiten Tag in ihrem Wohnwagen aufgewacht war, lagen Amandas Nerven blank.

Sie starrte auf den braunen Plastikvorhang, der die aufgehende Sonne nur ansatzweise daran hinderte, durch das Fenster zu scheinen.

Verdammt, wie sollte sie es noch einen Tag lang aushalten? Bereits am vergangenen Tag war sie auf Kohlen gesessen und hatte sich nur damit beruhigen können, dass er gesagt hatte, er würde am zweiten Tag zu ihnen stoßen. Heute war dieser Tag und Amanda war klar, dass sie keine Minute, die verging, ruhig ertragen würde. Nataniel konnte jeden Moment auftauchen oder eben nicht. Was, wenn er nicht ankam, bevor die Busse gegen Abend eintrafen? Sie würden nicht auf ihn warten können. Und was, wenn er ...

Wütend über sich selbst, und weil ihr Herz so schnell und schmerzhaft schlug, dass ihr beinahe schlecht davon wurde, setzte Amanda sich in ihrem Bett auf. Sie schlich zu der dünnen Pappschiebetür hinüber, hinter der sich die Nasszelle befand, und stellte die Dusche an. Das Wasser war noch nicht warm und Amanda konnte sich ein kleines Quietschen nicht verkneifen, als der eiskalte Wasserstrahl sie traf.

Als sie in ein Handtuch gehüllt vor die Küchenzeile trat und ein wenig Instantkaffee machen wollte, kam ihr Palia nackt entgegen. Die beiden teilten sich einen Campingwagen, da sie beide allein waren. Es hatte sich so ergeben und Amanda war froh über die Gesellschaft. Wenn Palia nicht wäre, würde sie wahrscheinlich jetzt schon die Wände hochgehen.

„Guten Morgen“, begrüßte Palia Amanda lächelnd und steckte zwei Scheiben Brot in den Toaster.

„Wir werden joggen gehen und danach werden wir uns mit der Aufteilung des Rudels auf die Busse beschäftigen. Außerdem müssen wir noch mit Sven sprechen, um bestätigen zu lassen, dass die neuen Identitäten fertig sind. Dann müssen sie verteilt werden ...“

Amanda lächelte.

„Danke.“

 

Seit unendlichen zwei Stunden hatten sie alles erledigt.

Amanda stand nicht still, sondern strich nervös auf dem Campingplatz und zwischen den Blockhütten herum.

Kurz hatte sie Nele gesehen und ihr ein wenig Schattengehen gezeigt. Amanda sah es als Übung an, den Wünschen des Mädchens zu entsprechen. Nele setzte fest, wo Amanda verschwinden und wieder auftauchen sollte. Die Kleine kannte wirklich keinerlei Furcht vor den Schatten, die Amanda nach jedem Gang umgaben. Am Anfang hatte Amanda Abstand von dem Kind gehalten und erwartet, dass Nele wegrennen würde. Aber sie war geblieben. Jetzt war sie bereits so weit, dass Amanda direkt neben ihr wieder auftauchen konnte.

Selbst der Gedanke an Nele konnte Amanda aber jetzt nicht mehr abhalten, hin und her zu tigern und sich die schlimmsten Szenarien auszumalen.

Immer wieder sah sie die Szene vor sich, wie der Wandler damals ihre Eltern angegriffen und ihren Vater verstümmelt hatte. Doch diesmal waren es nicht ihre Eltern, die mit der riesigen Katze rangen, sondern Nataniel.

In Amandas Innerem krampfte sich jedes Mal alles zusammen, wenn sie einem der Rudelmitglieder begegnete. Die meisten hatten ihre Meinung über Amanda anscheinend zum Besseren geändert. Was ihr aber jetzt überhaupt nicht weiterhalf. Im Gegenteil. Die eisigen Blicke wären ihr tausendmal lieber gewesen als das Mitleid und die Furcht, die sie jetzt in den Gesichtern ihrer Freunde erkennen konnte.

Als ihr gar nichts anderes mehr einfiel, setzte sich Amanda zu den Kindern an den Spielplatz des Campingplatzes und sah ihnen beim Spielen zu. Und doch wanderten ihre Gedanken immer wieder zurück auf den Weg, den sie gerade erst gekommen waren.

Vielleicht hatten Nataniel und die anderen Schwierigkeiten an der Schlucht. Vielleicht war einer von ihnen verletzt und sie mussten ihn tragen. Vielleicht ... Amanda versuchte, alle Zugänge zum Campingplatz zugleich im Auge zu behalten. Sie hatten bloß noch drei Stunden, bis die Busse kamen.

 
 

***

 

Das Mondlicht bahnte sich seinen Weg durch das Blätterdach und ließ mit seinem silbernen Licht unwirkliche Schemen auf dem Boden erkennen. Er diente ihnen als Lichtquelle und zugleich schützten die Schatten der Bäume sie vor einer Entdeckung.

Leise, kaum hörbare Laute von Pfoten, die auf dem Boden vor sich hinschlichen, waren zu hören. Hinter ihm, neben ihm und auch zwei Späher vor ihm.

Es waren ungefähr zweiundzwanzig geschmeidige Körper in allen möglichen Größen, Formen und Farben. Er war der Einzige, der vollkommen mit den Schatten verschmelzen konnte. Immerhin war er schwarz.

Dennoch war er der Lauteste der Truppe. Doch auch wenn Nataniel es zu verhindern versuchte, konnte er gegen sein Schnauben nichts unternehmen. Er brauchte so dringend Luft, wie er eine Pause brauchte. Trotzdem schleppte er sich unermüdlich auf drei Läufen weiter. Amanda … er wollte zu ihr. Nichts anderes hielt ihn noch auf den Beinen.

Um die Schmerzen und die Schwäche zu vergessen, versuchte er sich noch einmal in Erinnerung zu rufen, was passiert war, denn es war alles so unglaublich schnell gegangen.

Mitten im Reservat hatten sie Nicolais Rudel aufgespürt. Es waren ungefähr zwei Hand voll Gestaltwandler, die sich dort verborgen hielten. Zunächst hatte Nataniel an eine Falle gedacht, weil es nur so wenige waren und zugleich gab es einige unter ihnen, die ganz und gar nicht so aussahen, als wären sie zu kämpfen bereit, um ihr Revier und ihren Anführer zu verteidigen. Todesangst hatte er in ihren Augen gesehen und die unausgesprochene Bitte, ihnen zu helfen.

Für Nataniel war schnell klar geworden, sollte es wirklich zu einem Kampf der beiden Rudel kommen, würde jeder nur deshalb kämpfen, weil er um sein eigenes Leben fürchten musste. Zumindest was das andere Rudel anging.

Seine Männer standen immer noch geschlossen hinter ihm. Sie würden für alles kämpfen, was ihnen lieb und teuer war. Selbst wenn das hieß, gegen ihre ehemaligen Freunde und Nachbarn ins Feld zu ziehen.

Denn genau das waren sie doch. Sie kannten sich alle untereinander. Mit dem Unterschied, dass die einen zu große Angst gehabt hatten, sich einem Rudel ohne Führer anzuschließen, während Nicolai ihnen Schutz und Sicherheit versprach.

Andererseits gab es jene üblen Kreaturen, die sich nur zu gerne an den Habseligkeiten der anderen labten. Sie waren die brutalsten Gegner gewesen, gegen die Nataniel hatte ankämpfen müssen, nachdem er Nicolai besiegt hatte.

Nataniel konnte verstehen, warum sein Vater gegen den Tiger verloren hatte. Er war so viel jünger und trainierter, als er es gewesen war. Doch hierbei kam dem Panther und ihm zugute, dass Nicolai eine der kleinsten Tigerrasse angehörte, die es gab. Somit war der Kampf zwar schwierig, aber keinesfalls unmöglich gewesen. Denn auch er war jung und stark.

Zugleich war er aber auch um seine eigenen Leute besorgt. Weshalb Nataniel mit Nicolai einen Handel ausgemacht hatte. Sie beide würden alleine gegeneinander antreten. Der Gewinner bekam das Rudel des Verlierers. Wer verlor, konnte frei abziehen.

Nur kam die letzte Option gar nicht auf den Plan, denn Nicolai war so versessen darauf, sein Rudel weiterhin zu behalten und noch dazu Nataniels Leute hinzu zu bekommen, dass er so lange und erbittert kämpfte, bis dem Panther nichts mehr anderes übrig blieb, als eine der allzu seltenen Chancen zu nützen, um ihn mit einem Biss ins Genick zu töten.

Zwar hatte er dadurch seinen Vater gerächt, aber er fühlte sich keinen Moment lang besser deswegen. Töten konnte einfach nicht gut sein und dennoch ging das Morden weiter.

Die wenigen brutalen Mitglieder von Nicolai sahen sich nach dessen Tod dazu veranlasst, ebenfalls gegen Nataniel anzukämpfen, um sich nach dem Sieg über ihn, als neues Alphatier zu erheben. Nur hatten sie wohl nicht mit der Loyalität von Nataniels Männer und zugleich mit seiner eigenen Ausdauer gerechnet.

Ein langer und grausamer Kampf war es gewesen. Doch letzten Endes hatte Nataniel keine seiner Männer verloren, sondern sogar noch ein paar verängstigte Mitglieder hinzubekommen.

Sie sahen in ihm einen Führer, wie sein Vater es gewesen war und da nun die Quelle ihrer Angst getötet worden war, mussten sie nicht mehr fürchten, sich ihren Freunden anzuschließen.

Man hatte sie gerne wieder bei sich aufgenommen.

Dennoch blieb es erschreckend, wie ein derart unfähiger Anführer wie Nicolai es geschafft hatte, mit so wenigen Leuten so viel Angst und Leid zu verursachen. Hätte Nataniel schon früher davon erfahren, wäre er gleich gegen ihn zu Felde gezogen und vielleicht hätten sie dann nicht ihre Heimat aufgeben und eine neue Identität annehmen müssen.

Nataniel schwankte bedenklich und kam ins Taumeln, als ein anderer Jaguar ihn von der Seite her stützte und ihm somit wieder ins Gleichgewicht brachte. Dankbar schnaubte er Kai zu, den es auch einigermaßen erwischt hatte, aber er konnte wenigstens noch auf vier Pfoten laufen. Nataniel waren nur noch drei funktionstüchtige geblieben.

Ein gewaltiger Kratzer zog sich über seinen Rücken, mehrere über seinen Bauch und die Seite. Seine Flanke hatte es ebenfalls ganz schön erwischt und sein Schwanz war gebrochen, denn gegen Ende hin, hatte er einen unnatürlichen Knick und war schmerzhaft geschwollen.

Wenigstens den würde er in seiner menschlichen Form nicht mehr zu spüren bekommen. Aber es reichte ihm auch schon so.

Der Arm, den er sich schon einmal bei dem Autounfall verletzt hatte, blutete inzwischen nicht mehr so stark, aber dafür gab es eine saftige Fleischwunde dicht über dem Handgelenk. Dabei konnte Nataniel noch froh sein, dass Nicolai nicht die Chance gehabt hatte, ihn ihm ganz abzubeißen. Einen Moment lang hatte es sich tatsächlich so angefühlt, bis ein kräftiger Schlag gegen die Schnauze ihn wieder hatte befreien können.

Kein Wunder, dass ihm das eingerissene Ohr nicht einmal wirklich wehtat. Alles an ihm tat weh. Undefinierbar, was jetzt nun am Schlimmsten war.

 

Als schließlich der Morgen graute, brach Nataniel erschöpft zusammen und konnte seine völlig lahmgelegten Muskeln auch nicht mehr dazu bewegen, sich noch einmal für ihn einzusetzen. Dabei lag noch die Schlucht vor ihnen und das restliche Stück des Weges.

Zwar wollte er es nicht einsehen, aber nachdem sie nun seit der Trennung von ihrem Rudel keine einzige Sekunde lang geschlafen hatten, nur um sie bei ihrem Tempo am Ende nicht doch noch zu verpassen, würde ihnen im Augenblick nichts anderes übrig bleiben, als sich etwas zu erholen.

Nataniel hatte es vielleicht am Schlimmsten von allen erwischt, weil er sich am Verbissensten dafür eingesetzt hatte, dass niemandem etwas passierte, aber auch die anderen waren müde und brauchten eine Pause. Weshalb er sie ihnen schließlich gewährte, obwohl Kai ihm anbot, ihn durch die Schlucht zu tragen. Doch das wollte Nataniel nicht. Es würde noch mehr Verzögerung verschaffen, die sie nicht brauchen konnten.

 

Nach dem es kurz vor Mittag war, weckte Kai ihn mit einem Stupsen der Schnauze auf, so wie Nataniel es ihm befohlen hatte. Sie mussten weiter und zum Glück spielten seine Muskeln auch wieder mit, nachdem er ihnen eine Pause gegönnt hatte. Dennoch würde die Schlucht ein ganzes Stück an Mühsal abgeben, aber sie alle wurden durch die Spuren ihrer Familien angespornt, die sich überall auf ihrem Weg befanden.

Nataniel wurde allerdings nur von einer Spur wirklich zu unglaublichen Kräften angespornt. Dazu musste er lediglich Amandas Duft aufschnappen und schon humpelte er entschlossen weiter. Denn inzwischen waren sie so lange getrennt gewesen, dass nichts mehr von seinem Geruch an ihr haftete. Eine Tatsache, die ihm mehr zu schaffen machte, als seine Verletzungen. Immerhin war er nicht nur ein Alphatier, sondern auch ein verdammt dominantes Männchen, wenn es um seine Gefährtin ging. Der Panther konnte ihm in diesem Punkt nur zustimmen. Seine animalische Kraft war es, die ihm letzten Endes den Ansporn für die restliche Strecke gab.

 
 

***

 

Obwohl alles in ihm ihn dazu drängte, weiterzugehen, ließ er doch den ganzen Trupp am Waldrand haltmachen, um erst einmal zu sehen, wie die Lage aussah. Inzwischen war es bereits wieder dunkel geworden, dennoch konnte Nataniel genau sehen, dass die Reisebusse schon da waren und schon der Großteil seiner Leute in den Sitzen Platz genommen hatte.

Sie waren also gerade noch rechtzeitig gekommen.

Hätte Nataniel nicht geglaubt, dass sie es noch schaffen würden, er hätte den Geparden losgeschickt, um ihre Ankunft anzukündigen, doch auch dieser war von der Reise erschöpft, weshalb er ihm das nicht auch noch zumuten wollte, obwohl er es freiwillig angeboten hatte.

Sie alle mussten sich noch etwas mit dem Ausruhen gedulden. Immerhin hatten sie es noch nicht ganz hinter sich. Die letzte Etappe würden sie noch in den Bussen hinter sich bringen müssen, danach könnten sie einmal kurz durchatmen.

Da die ganze Gruppe weder Kleidung hatte, noch so aussah, als wären sie fotosüchtige Touristen, schickte Nataniel eine kleine Wildkatze los. Eines der neuen Mitglieder seines Rudels, aber die Frau war eine gute Bekannte von der verwitweten Löwin, weshalb man sie hoffentlich nicht angreifen würde, während sie versuchte, ihnen ihre Ankunft mitzuteilen.

Während die Wildkatze also unauffällig unterwegs war, verwandelten sich die Männer und auch Nataniel versuchte es. Aber es war unglaublich mühsam und schmerzvoll, weshalb er schließlich einfach nur mit geschlossenen Augen und heftig atmend nackt im Gras liegenblieb, während man ihn beschützend einkreiste und zugleich versuchte, die neuen Blutungen zu stillen, die er durch das Wandeln wieder ausgelöst hatte.

Verdammt, sterben würde er daran nicht, aber es war die Hölle, in der es nur einen Lichtblick gab – Amanda.

Er würde sie gleich wieder sehen. Hoffentlich war ihr nichts passiert.

 

Zum dritten Mal hatte sie sich jetzt schon verzählt und ermahnte sich zur Konzentration. Sie konnten nicht länger warten und Amanda hatte versprochen, die Wandler hier wegzubringen. Schließlich kam sie bei der ersten Sitzreihe an und nickte dem Fahrer zu.

„Vollzählig. Es kommt noch eine Dame zu ihnen, die wird Ihnen den Weg zeigen. Ich fahre mit ihrem Kollegen.“

Der Fahrer war ebenfalls ein Wandler. Nicht registriert, wie Amanda auf den ersten Blick festgestellt hatte. Manchmal wollte sie ihr Sammler-Hirn verfluchen. Aber so wusste sie zumindest, dass eine Gefahr weniger bestand. Auch über die Männer, die ihnen Sven geschickt hatte, würde zumindest die Moonleague das Rudel nicht aufspüren. Ein kleines, beruhigendes Detail, immerhin.

Amanda sprang die letzte Stufe aus dem Bus und wurde sofort am Arm gegriffen, noch bevor sie den Boden erreicht hatte. Überrascht starrte sie einen der Männer an, den sie in der vergangenen Woche nur flüchtig kennengelernt hatte.

„Thomas, alles in Ordnung? Was ...?“

Anstatt ihr zu antworten, zog der ältere Gepard, dessen Fell genauso von grauen Strähnen durchzogen war wie sein menschliches Haar, Amanda ein Stück herum und zeigte mit dem Kinn zum Waldrand.

Palia und die Krankenschwester ihrer Gruppe waren gerade im Laufschritt zu einer Lücke in den Bäumen unterwegs, wo Amanda etwas erkennen konnte.

Ob sie sich von Thomas losgerissen oder ob er einfach ihren Arm losgelassen hatte, wusste Amanda nicht. Sie rannte zu den dunklen Bäumen hinüber, wo sie Palia und die Luchsdame gerade verschwinden sah.

Ihre Schritte verlangsamten sich zuerst unmerklich, dann deutlicher, bis sie ganz stehenblieb und nur ihrem Atem zuhörte.

Der Wind frischte auf und ließ die Baumkronen rascheln, er trug bestimmt ihren Geruch zu den Leuten hinüber, die gerade angekommen waren.

Amanda fing an zu zittern und glaubte einen Moment in die Knie zu gehen, bevor sie sich wieder fing und langsam weiterging. Zwei der Männer von Nataniels Trupp zuckten herum und sahen so aus, als würden sie Amanda angreifen wollen. Menschengeruch.

Amanda reagierte weder auf die ausgefahrenen Krallen noch auf die anschließende Erleichterung und dann etwas, das sie nicht deuten konnte. Gott, lass es kein Mitleid sein!

Irgendein Knoten schien sich in Amandas Innerem gebildet zu haben, der weder ihr Herz schlagen noch sie atmen ließ. Die Krankenschwester hatte sich über Nataniel gebeugt, sodass Amanda sein Gesicht nicht sehen konnte. Selbst der Großteil seines Körpers wurde von der Frau und Palia, die neben ihr kniete, verdeckt. Und trotzdem konnte Amanda das Blut sehen.

Wie Nataniel es überhaupt hierher geschafft hatte, war ihr schleierhaft. Er schien aus allen möglichen Wunden eine Menge Blut zu verlieren und bewegte sich überhaupt nicht. Er lag so verdammt still da.

Palia hatte Amanda bemerkt und stand auf, um ihr Platz zu machen. Mit flehentlichem Blick sah Amanda ihre Freundin an, die nur lächelte.

Nur noch innerlich zitternd und aufgelöst, aber nach außenhin völlig ruhig und gefasst, sank Amanda neben Nataniel, der Luchsdame gegenüber, auf den Waldboden. Sie war sich noch nicht einmal sicher, ob sie seine Hand nehmen sollte oder ob sie ihm dadurch Schmerzen bereiten würde.

Die Luchsfrau schien sich als erstes mit der tiefen Wunde an Nataniels Schulter zu beschäftigen. Amanda hätte nicht sagen können, ob es die schlimmste Verletzung war. Sein Körper sah so aus, als würde er in Fetzen liegen und nur noch funktionieren, anstatt wirklich zu leben. Und doch war seine Haut warm, als Amanda sie mit ihren Fingerspitzen berührte.

Wie sie es schon oft getan hatte, schob sie Nataniel die Haare aus der Stirn, wobei ihre Finger eine blutige Spur auf seiner Haut hinterließen. Amanda fiel erst auf, dass sie weinte, als eine Träne auf Nataniels Wange tropfte.

„Hab ich nicht gesagt, du bekommst Ärgern, wenn du dich verletzen lässt?“, wisperte sie leise und vor tränenerstickter Stimme. Als sich Amanda kurz über die Augen wischte, hinterließ sie selbst auf ihrer Wange einen roten Streifen.

 

So kurz nach der Verwandlung war der Schmerz fast niederschmetternd. Darum verlor er auch für einen Moment das Bewusstsein, bis Amandas Geruch ihn wieder in die Realität zurückriss, wie es nichts anderes konnte. Er spürte ihre kühle Haut auf seinem Gesicht und etwas Feuchtes, das definitiv nicht von seinem Blut stammen konnte.

Seine Augen öffneten sich und blickten seine Gefährtin glasklar an. Obwohl er noch andere um sich herum spüren und im Augenwinkel auch sehen konnte, gab es in diesem Augenblick nur sie. Es brachte ihn unwiederbringlich zum Lächeln. Weshalb er seine Hand nach ihrem Gesicht ausstreckte und über ihre Wange streichelte. Hoffentlich verzieh sie ihm, dass er sie vollkommen beschmierte, immerhin war das seine fast abgebissene Hand, aber in ihrer Nähe war alles weniger schlimm.

Nataniel war so unsäglich erleichtert, sie wiederzusehen und bei sich zu wissen, dass er in diesem Augenblick glücklicher denn je war, obwohl er eigentlich anders hätte empfinden müssen.

„Wenn ich wieder gesund und wir alleine sind, freue ich mich schon auf den Ärger. Sei bloß nicht zu gnädig mit mir, ja?“

Seine Stimme war stärker, als sein Zustand vermuten ließ, aber das waren alles zwar teilweise tiefe, aber dennoch nur oberflächliche Verletzungen. Sein Körper würde sich schon in den nächsten Tagen sehr gut erholt haben. Gefahr bestand also keine mehr. Er hielt immerhin mehr aus als ein gewöhnlicher Mensch, und solange keine inneren Organe beschädigt worden waren, standen seine Überlebenschancen so hoch wie sonst auch.

Es ärgerte ihn, dass er Amandas Gesicht wieder loslassen musste, als die Luchsdame ihm die Hand verband, so wie sie es notdürftig mit dem Rest seines Körpers getan hatte.

Danach wollte er sogar schon selbst wieder aufstehen, um zu den Bussen zu gelangen, aber vor allem auch, um Amanda in die Arme zu schließen.

Keiner der Anwesenheit ließ das jedoch zu, also fügte er sich in sein Schicksal und ließ sich in eine große Decke wickeln. Inzwischen hatte man auch seine Männer versorgt und ihnen etwas zum Anziehen gegeben. Es waren bereits laufende Gespräche über die Ereignisse der vergangenen Tage im Umlauf. Bestimmt würde die ganze Geschichte sich bereits bis zu den letzten Mitgliedern vorgearbeitet haben, noch ehe sie alle im Bus saßen.

Da man ihm selbst als Alphatier seinen Willen nicht ließ, nahmen ihn zwei muskulöse Leoparden zwischen ihre menschlichen Körper und trugen ihn zu einem der Busse, dabei dicht gefolgt von Amanda. Aus Platzgründen legte man ihn ganz hinten in die letzte Reihe auf mehreren Sitzen ab. So dass auch Amanda noch Platz fand und die Luchsdame in der Nähe war, sollte sich irgendetwas an seinem Zustand verschlechtern.

Eine reine Sicherheitsmaßnahme, die in seinen Augen völlig unnötig war.

 

Sie fuhren erst ein paar Minuten lang, aber das reichte für Nataniel schon aus, dass er mit Amandas Hand an seinem Gesicht und somit ihrem Duft in der Nase einschlief.

So vollkommen fertig, wie er war, sollte das auch kein Wunder sein, obwohl er bis zuletzt dagegen angekämpft hatte. Sie jetzt zu verlassen, selbst wenn es nur das Gefängnis des erholsamen Schlafes war, war schwieriger, als er sich eingestehen wollte. Doch er hatte sie wieder. So konnte er nur darauf hoffen, dass sie nicht weg sein würde, wenn er wieder zu sich kam.

 

Die Anderen hatten sich anfangs immer wieder nach Nataniel umgedreht und ihn besorgt angesehen.

Sein Zustand war auch wirklich besorgniserregend, auch wenn Nataniel selbst sich das nicht eingestehen wollte. Er war noch immer am ganzen Körper mit seinem eigenen Blut beschmiert, auch wenn das meiste von den Verbänden, die man ihm angelegt hatte, verdeckt war.

Als er endlich eingeschlafen war und sein Atem langsam und gleichmäßig ging, sah Amanda aus dem Fenster. Es war zwar nicht so entspannend, wie selbst zu fahren, aber die vorbeiziehende Landschaft hatte trotzdem etwas Beruhigendes an sich. Die Sterne über ihnen leuchteten hell und zauberten Amanda ein Lächeln auf die Lippen, das sich nur noch verstärkte, als sie wieder Nataniel ansah.

Sie hatte ihn wieder. Natürlich hatte sie die ganze Zeit die Hoffnung nicht aufgegeben, aber sie hatte sich auch mehr Sorgen gemacht, als sie ihm gegenüber jemals zugeben würde. Erst jetzt, wo er so friedlich neben ihr in dem Bus schlief, der sein Rudel in die Freiheit bringen würde, fiel ihr auf, wie sehr sie sich bereits nach so kurzer Zeit mit ihm verbunden fühlte.

 
 

***

 

Die gesamte Fahrt über hatte Amanda aus dem Fenster gesehen und kein Auge zugetan. Sie war müde und ausgelaugt, aber ihr Körper wollte genauso wie ihr Geist, noch nicht zur Ruhe kommen. Erst wenn sie Nataniel einigermaßen sicher in einem Bett und an einem sicheren Ort wusste, würde sie auch abschalten können.

Sie war froh, als der Bus endlich in die Einfahrt eines riesigen Hotels einbog. Die Rezeption schien extra für sie alle geöffnet zu haben, und wenn Amanda den leeren Parkplatz richtig interpretierte, hatte Sven dafür gesorgt, dass hier niemand außer ihren Leuten übernachtete. Amanda grinste kurz. Sie würde diesen Sven gern einmal kennenlernen und ihn Clea vorstellen.

Die beiden Männer, die Nataniel in den Bus getragen hatten, wuchteten seinen Körper einigermaßen sanft in die Höhe und schafften es ihn ins Hotel zu bringen, ohne dass er aufwachte. Die Zimmer waren für sie vorbereitet, was bedeutete, dass sie ihn wirklich nur ins Bett packen mussten.

Amanda bedankte sich bei den beiden Männern und schloss die Tür leise hinter sich. Eine kleine Lampe auf dem Nachtkästchen tauchte den sauberen Raum in warmes Licht. Das Zimmer war hell und freundlich eingerichtet, mit wenig Schnickschnack und nur einem bunten Bild an der Wand.

Auf unnötig leisen Sohlen machte sich Amanda auf den Weg ins Bad, schnappte sich eine Schüssel und füllte lauwarmes Wasser hinein.

Sie war sich sicher, dass Nataniel nicht einmal aufwachen würde, wenn sie eine Kanone neben ihm zünden würde.

Sie brachte noch zwei Waschlappen und ein weiches Handtuch mit und begann Nataniel ein wenig von dem inzwischen eingetrockneten Blut zu befreien. Dabei ging sie vorsichtig und geduldig vor. Erst als die kleine Uhr auf dem Nachttisch bereits vier Uhr morgens anzeigte, wusch sie die Sachen notdürftig im Waschbecken aus, putze sich selbst die Zähne und legte sich dann völlig erledigt zu Nataniel ins Bett. Ihn zu umarmen wagte sie nicht, aber sie deckte ihn mit einem Leintuch zu und legte ihre Hand auf seine Schulter, die weniger mitgenommen aussah.

Sie würde ihn so lange schlafen lassen, wie er es nötig hatte. Sie waren alle nicht mehr auf der Flucht. Jetzt hatten sie endlich alle Zeit der Welt.

Der Gedanke machte Amanda so ruhig, dass sie endlich einschlafen konnte.

33. Kapitel

Die Sonne knallte ihm ins Gesicht, was ihn so unwiederbringlich weckte, als hätte man ihm einen Eimer voll kaltem Wasser übergekippt. Murrend drehte er sich von der Sonne weg und stieß dabei mit seinem Gesicht gegen Amandas Hand.

Leicht verwirrt und vor Schmerzen ächzend schlug er die Augen auf. Sofort musterte er argwöhnisch seine Umgebung, erkannte dann aber schnell die Hotelleinrichtung des 'Sunny Morning' Hotels.

Sie mussten also endlich ganz in der Nähe seines Zuhauses sein, denn die Hotelzimmer waren ihm allesamt vertraut, hatte er doch in seinen jungen Jahren schon die eine oder andere Raubkatze hier vernascht. Immerhin sahen hier die Zimmer sowieso fast alle gleich aus.

Als sein Blick wieder auf Amanda fiel, streichelte er zärtlich und vorsichtig ihre Wange. Sie schlief fest und war offenbar ebenso erschöpft, wie er sich fühlte, weshalb er sie so gut er konnte, näher an sich heranzog, sein Gesicht, wie schon so oft, nur zu gerne in ihrem Haar verbarg und schließlich wieder die Augen zumachte, um noch ein Bisschen zu schlafen.

 
 

***

 

Als Nataniel nackt im Bad vor dem großen Spiegel stand bemerkte er zwar, dass ihn wohl jemand bereits gewaschen hatte, dennoch waren seine Haare voller eingetrocknetem Blut und auch die Verbände waren mehr als vollgesogen.

Da Amanda auch am frühen Nachmittag noch schlief, wagte er es – vermutlich gegen jeden ärztlichen Rat – sich die Verbände wieder abzunehmen. Sie brachten ohnehin nicht mehr viel, mussten seine Wunden doch erst richtig gereinigt und dann mit sauberen Verbänden neu versorgt werden.

Wenn Amanda so nett war, würde sie das vermutlich wieder übernehmen. Sie musste inzwischen schon ziemlich bewandert darin sein, so oft, wie sie ihn inzwischen zusammengeflickt hatte.

Hoffentlich war nun endlich Schluss mit den ganzen Verletzungen. Die einzigen Kratzer, die er noch haben wollte, waren die von Amanda während ihres Liebesspiels. Alles andere sollte ihm bloß fern bleiben. Seine Haut sah ohnehin schon aus wie eine Patchworkdecke. Kaum noch eine Stelle, wo er nicht die eine oder andere Narbe trug. Trotzdem störte es ihn noch immer nicht wirklich. Solange er Amanda immer noch gefiel, war ihm alles egal.

Die schmutzigen Mullbinden warf Nataniel in den Abfalleimer, danach ließ er lauwarmes Wasser ins Waschbecken ein und begann sich noch einmal gründlich mit einem Waschlappen zu reinigen. Dreimal musste er das blutig gewordene Wasser erneuern, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war. Danach wusch er sich auch noch die Haare im Waschbecken und trocknete sie mit einem Handtuch ab.

Im Schrank hinter dem Spiegel fand er genau das, was er von diesem Hotel erwartete – Verbandszeug. Nicht nur kleine Pflaster oder Wundsalben, sondern eine Schere, Verbände, Tupfer und auch Klammern, um die Bandagen zu befestigen.

Nataniel musste lächeln, als er daran dachte, weshalb dieses Hotel so gut in diesen Dingen ausgestattet war. Immerhin war der Hotelführer ein Gestaltwandler. Ein Grizzlybär in all seiner Pracht. Somit waren die Zimmer nicht nur mit den üblichen Vorräten an Kondomen, sondern auch an Materialien für die Wundversorgung ausgestattet. Noch dazu waren die Zimmer sehr gut versichert gegen allerlei Schäden. Was bei den meisten Hotelgästen hier auch kein Wunder war. Es konnte hier manchmal ganz schön wild zu gehen. Dabei sprach Nataniel aus Erfahrung.

Nachdem er sichergegangen war, dass keine seiner Verletzungen wieder blutete, ging er nur mit einem Handtuch bekleidet zu Amanda ins Zimmer zurück, setzte sich neben sie aufs Bett und betrachtete sie, nachdem er per Telefon im Flüsterton ein anständiges Frühstück bestellt hatte. Immerhin hatte er seit mehreren Tagen nichts mehr gegessen.

 

Die Matratze bog sich ein wenig durch und Amanda fühlte Wärme neben sich, die sie wohl vorher vermisst hatte. Denn es zog sie genau auf diese Wärme zu und sie tastete mit ihrer Hand nach der Quelle.

Als sie auf weichen Stoff traf, runzelte sie zuerst die Stirn, bevor sie ein Auge öffnete. Schlagartig war sie wach und setzte sich so schnell auf, dass ihr schwindlig wurde. Aber ihre Besorgnis galt ganz Nataniel, der neben ihr auf dem Bett saß.

Amandas Stimme versagte immer wieder, weil sie so aus dem Schlaf hochgefahren war, trotzdem sprach sie schnell und besorgt.

„Kannst du nicht schlafen? Tut mir leid, dass ich nicht aufgewacht bin. Warum hast du mich nicht geweckt? Alles in Ordnung? Hast du Schmerzen? Wir können einen Arzt holen, wenn’s dir nicht gut geht!“

Amandas Puls schien sich vor Panik beinahe zu überschlagen.

Wie hatte sie nur schlafen und nicht bemerken können, dass er aufgestanden war? Aber als sie ihn nun prüfend und besorgt ansah, bemerkte sie, dass er sich wohl gewaschen und neu verbunden hatte. Woher er die Verbände hatte, wusste sie nicht, aber das war auch nicht wichtig.

Langsam beruhigte sich Amanda wieder und rückte ein Stück zur Seite, um Nataniel Platz zu machen. Nach Amandas Meinung sollte sich Nataniel wirklich noch etwas Ruhe gönnen. Immerhin hatte er gestern noch so ausgesehen, als wäre er dem Tod gerade so von der Schippe gesprungen.

 

Von Amandas heftiger Reaktion überrascht, blieb er einfach wortlos sitzen und ließ sie erst einmal ausreden, ehe er auch nur daran dachte, sie zu beruhigen. Verdammt, er hatte sich selbst im Spiegel gesehen, aber sah er für andere schlimmer aus, als er sich selbst wahrnehmen konnte?

Okay, ihm tat noch immer alles weh, als hätte er nicht nur einen gewaltigen Muskelkater, sondern teilweise zog und brannte es auch. Aber da war auch das altbekannte Jucken, das den Heilungsprozess anzeigte und immerhin, er hatte die Wunden in absolut frischem Zustand gesehen. Dagegen sahen sie jetzt wirklich schon gut aus. Er musste zwar noch vorsichtig sein, aber in Watte packen, brauchte ihn nun wirklich niemand. Das mochte er im Grunde ganz und gar nicht, weshalb er neben Amanda auf dem Bett sitzenblieb und sie stattdessen beruhigend anlächelte, obwohl sie ihm mit ihrer Geste klargemacht hatte, er solle sich wieder hinlegen.

„Ich hab uns Frühstück bestellt. Genug für uns beide, also wenn du was essen willst …“

Ihre ganzen Fragen ignorierte er einfach. Dafür gab er sich lieber damit zufrieden, ihr einen Kuss auf die Lippen zu hauchen und wieder ihre Hand zu nehmen. Inzwischen roch sie schon wieder etwas mehr nach ihm, aber lange nicht so sehr, wie er es sich wünschen würde. Dazu hätte es schon etwas mehr gebraucht, als Küsse und Händchenhalten.

Es klopfte leise an die Tür und die Stimme eines Jungen war zu hören, der das Frühstück ankündigte.

„Amanda, wärst du so nett, die Tür aufzumachen? Ich glaube nicht, dass ich mich so blickenlassen will.“

Nataniel sah demonstrativ an sich herab. Außerdem war er nicht sicher, ob er den Pagen kannte, der ihnen da das Essen brachte. Im Augenblick wollte er noch keine vertrauten Gesichter sehen. Seine Eltern sollten von ihm persönlich erfahren, dass er wieder da war und nicht aus zweiter oder gar dritter Hand.

 

Amanda nickte und sprang mehr oder weniger aus dem Bett. Erst als sie mit nackten Füßen auf dem hellen Teppich stand und ebenfalls an sich herabsah, stellte sie fest, dass sie sich so auch nicht vor dem Pagen zeigen sollte.

Der Slip war zwar hübsch, aber das hieß ja nicht, dass ihn jeder sehen durfte.

Hinter der Tür an einem Haken hingen zwei flauschige, weiße Bademäntel, von denen Amanda sich einen schnappte, ihn sich überwarf und schließlich mit einem Lächeln die Tür öffnete.

Vor ihr stand ein lächelnder junger Kerl in einer roten Uniform, hinter einem Wägelchen, auf dem drei große Platten unter Metalldeckeln standen. Daneben eine Thermoskanne und zwei Tassen sowie eine kleine Vase mit einer einzelnen Blume darin.

„Guten Tag, Miss. Wo soll ich ihr Essen hinstellen?“

Amanda warf einen Blick über ihre Schulter und wandte sich dann mit freundlichem Gesichtsausdruck an den jungen Pagen. Sie wollte ihn nicht weiter ins Zimmer lassen, weil Nataniel sich noch niemandem zeigen wollte. Also griff sie, statt den Zimmerkellner hereinzubitten, nach ihrer Jeans, die über einen Stuhl hing, und zog einen Geldschein heraus, den sie dem Jungen in die Hand drückte und sich bedankte.

„Ich werde mich selbst darum kümmern. Vielen Dank.“

Es war etwas knifflig die Tür über den Wagen hinweg zu schließen und dabei weder die kleine Vase umzuwerfen oder einem vorbeigehenden Hotelgast doch noch einen guten Einblick in den Bademantel zu gewähren. Wobei das wahrscheinlich egal gewesen wäre. Immerhin war nur ihr Rudel hier und die würden sich nichts aus Amandas nacktem Anblick machen. Die meisten wären bestimmt eher überrascht, dass sie sich den Bademantel übergeworfen hatte.

Es klapperte leise, als Amanda das Wägelchen auf das große Bett zuschob und sich dann über die drei Deckel beugte. Sie ließ ihre Hände über den beiden äußeren Griffen schweben und sah Nataniel mit einem freudigen Lächeln an.

„Welche Platte wählen Sie, mein Herr? Sie haben die freie Wahl“, sagte sie grinsend.

Das Aroma, das aus der leicht geöffneten Thermosflasche aufstieg, ließ ihr Herz höherschlagen. Nataniel hatte an sie gedacht und gleich eine riesige Portion Kaffee bestellt.

 

Wachsam sah er Amanda dabei zu, wie sie dem Pagen entgegenkam und ihn dann gleich mit einem Trinkgeld wegschickte. Zum Glück hatte sie vorher noch einen Bademantel angezogen. Ob verletzt oder nicht, hätte der Kerl sie nur in Unterwäsche gesehen, wäre er ziemlich ungemütlich geworden. Das war auch noch so ein Thema, bei dem sie vielleicht eine Krise bekommen würden. Seine verdammt gewaltige Eifersucht.

Mit dem Unterschied zu einigen menschlichen Geschlechtsgenossen würde er dabei nicht einmal im Traum daran denken, handgreiflich gegenüber seiner Gefährtin zu werden. Umso übler konnte es für den Typen werden, der ihr dabei zu nahegekommen war. Ob nun gewollt oder nicht. Da machte er nur selten einen Unterschied, sofern es für ihn offensichtlich war.

Aber dagegen hatte Amanda dieses Mal immerhin vorgebeugt und schnell war es das Essen, um das sich seine Gedanken drehten.

„Wie wär’s, wenn du gleich alle Deckel abnimmst und zusiehst, dass ich dir nicht alles wegfuttere? Den Rest übernehme dann schon ich.“

Grinsend sah er sie dabei an, ohne sich auch nur einen Zentimeter von der Bettkante zu rühren, um sich etwas zu Essen zu nehmen. Was für ihn bedeutete, dass sie hier eindeutig wichtiger war, als jedes Lebensmittel im Raum.

Noch hatten sie nicht die Zeit gehabt, über alles zu sprechen, was vorgefallen war und wenn es nach Nataniel ging, würde er auch gerne über vieles schweigen, doch, noch bevor er sie seinen Pflegeeltern vorstellen konnte, müssten sie noch einige Dinge besprechen.

Bestimmt würde ihm Palia auch weiterhin eine große Hilfe sein, was die Verteilung der möglichen Aufenthaltsorte für die nähere Zukunft der anderen Rudelmitglieder anging. Sven hatte da sicher auch noch das eine oder andere mitzureden. Bis jetzt schien es zumindest den Anschein zu haben, als wäre er noch immer einer der Besten seines Fachs. Somit musste Nataniel sich um ein paar Dinge weniger Sorgen machen, dennoch hatte er ein paar Dinge von Nicolai erfahren, die ihn verdammt beunruhigten. Dem würde er früher oder später nachgehen müssen.

Im Augenblick jedoch wollte er sich etwas erholen und seinen gewaltigen Hunger stillen. Was das Frühstück anging, war er kein Risiko eingegangen und hatte gleich alles bestellt, was auf der Speisekarte zu finden war. Weshalb er sich Orangensaft einschenkte, Amanda eine große Tasse Kaffee eingoss und sich dann gleich mit den Fingern über die Blaubeerpfannkuchen hermachte.

„Daran könnte ich mich gewöhnen“, gestand er ihr zwischen zwei Bissen. „Morgens neben dir aufwachen und dann so richtig ausgiebig frühstücken.“

Sein Lächeln war echt und ungetrübt, auch wenn er absichtlich alles vermied, was an ihre derzeitige Lage erinnerte. Immerhin waren sie Flüchtlinge in einem Hotel. Das konnte man noch so schön reden.

Nachdem er seinen gröbsten Hunger gestillt und Amanda sich ihrer Tasse Kaffee gewidmet hatte, begann er für sie ausgewählte Fruchtstücke zurechtzumachen. Orangenschnitten, Apfelspalten, Bananenscheiben. Das alles fütterte er ihr häppchenweise mit den Fingern, damit sie wieder einmal eine ordentliche Portion Vitamine zu sich nahm.

Nach dem ganzen Fleisch würde es ihn nicht wundern, wenn sie zu den Vegetariern wechselte. Das würde sich zum Glück bei seinen Pflegeeltern ändern. Sie hatten zwar eine Rinderfarm aber auch selbst angebautes Gemüse und alte Obstgärten. So wurde jeden Tag auf ausgewogene Ernährung geachtet, auch wenn sie in ihrer tierischen Gestalt Fleischfresser waren.

 

Es tat richtig gut, nach der Zeit im provisorischen Lager und der langen Wanderung einmal wieder frisches Obst zu essen. Noch dazu, wenn es mit so viel Bedacht dargereicht wurde.

Amanda genoss jeden einzelnen Happen, den Nataniel ihr in den Mund steckte, und kaute ausgiebig, um jedes bisschen Geschmack auszukosten.

„Ja, da kann ich dir nur zustimmen. Vor allem, wenn jemand anders das Frühstück macht.“

In diesem Moment dachte Amanda zum ersten Mal daran, wie schwierig es für Nataniels Mutter gewesen sein musste und es immer noch war, ein so großes Frühstück auf den Tisch zu bringen, dass es Nataniel jedes Mal sattmachen konnte. Das erschien Amanda als ziemlich große Herausforderung. Wenn sie daran dachte, wie leer ihr Kühlschrank zu Hause immer gewesen war, weil sie kaum mehr als einen Kaffee und ein wenig Müsli zu sich nahm, bevor sie in die Zentrale fuhr. Bei ihr wäre Nataniel verhungert oder vorher vermutlich streikend abgehauen.

 

Schließlich gesättigt und zufrieden lag er wieder neben Amanda im Bett und streichelte gedankenverloren über ihren Arm. Nataniel zog Kreise darauf, fuhr unsichtbaren Linien nach und genoss es, beständig ihren Duft in der Nase zu haben, den er am allermeisten vermisst hatte.

Weshalb er sich schließlich so hinlegte, dass sein Ohr an ihrer Brust lag und er mit einer Strähne ihres blonden Haares vor seinen Augen spielen und immer wieder daran riechen konnte.

„Ich liebe dich …“, flüsterte er leise und schloss zufrieden die Augen für einen Moment.

Es fühlte sich so richtig an, diese Worte zu sagen, auch wenn er früher nie ein Vertreter vom ständigen Gebrauch genau dieses Satzes gewesen war. Eigentlich hatte er nie einer seiner Freundinnen gesagt, dass er sie liebte. Gemocht ja. Aber lieben? Jetzt, wo er die Bedeutung wirklich kannte, war alles andere nur eine absolut billige Imitation davon gewesen. Nicht zu vergleichen mit dem kostbaren Original.

Das Leben war manchmal wirklich noch für Überraschungen gut. Er und eine menschliche Frau. Wer hätte das gedacht.

 

Als er es sich neben ihr im Bett gemütlich gemacht hatte und mit ihren Haaren spielte, sah Amanda noch einmal Nataniels Körper entlang. Es war wirklich erstaunlich, wie schnell er sich erholte.

Gestern hatte er noch so ausgesehen, als würde er an Blutverlust sterben müssen. Heute zeigten zwar die Bandagen noch, dass er schwer verletzt worden war, aber die kleineren Kratzer und Risse hatten sich bereits geschlossen und heilten gut. Genauso wie die blauen Flecken und Prellungen, die bereits so aussahen, als wären sie einige Wochen und nicht nur wenige Tage alt.

Die drei Worte, die er in einem versonnenen Ton ausgesprochen hatte, holten Amandas Blick sofort wieder zu Nataniels Gesicht zurück. Es tat so gut, es zu hören, auch, wenn sie bis jetzt keinen Grund gehabt hatte, daran zu zweifeln, dass er sie liebte. Er war zu ihr zurückgekommen. Das war für Amanda Beweis genug.

„Ich liebe dich auch“, sagte sie und kraulte seinen Nacken und zu seinen weichen Haaren hinauf.

So gut sich das hier im Moment anfühlte, so genau wusste Amanda auch, dass sie nicht ewig hierbleiben konnten. Keiner der Wandler würde die Hotelzimmer auf Dauer zahlen können und außerdem war es wichtig für die Familien, jeweils ein anständiges Zuhause zu finden.

Es wunderte Amanda ohnehin, dass noch niemand an die Zimmertür geklopft und nach Nataniel gefragt hatte. Entweder dachten seine Rudelmitglieder, dass er sehr viel Ruhe brauchte oder sie hatten alles allein einigermaßen unter Kontrolle. Solange sie nicht gestört wurden, war Amanda relativ egal, warum. Sie wollte die Zeit mit Nataniel allein so lange genießen, wie sie andauerte. Denn irgendwie hatte sie das Gefühl, dass das nicht besonders lange der Fall sein würde. Noch hatten sie das Ganze nicht vollkommen durchgestanden. Es gab noch so viel zu tun und zu organisieren. Und dann?

„Sag mal ...“, begann sie etwas zaghaft.

„Was willst du tun, wenn das alles hier endlich in geordneten Bahnen läuft?“ Wollte er zurück zu seiner Pflegefamilie, bei der er bis zum Tod seines leiblichen Vaters gelebt hatte?

Irgendwann würden sie sich darüber unterhalten müssen, was aus ihnen wurde. Und Amanda würde darüber nachdenken müssen, was sie selbst tun wollte. Immerhin musste sie eine Arbeit finden, irgendwie Geld verdienen und das am besten, ohne der Organisation in die Hände zu fallen, die sich irgendwann unter Garantie wieder erholen würde.

 

Mit einem völlig anderen Gefühl im Bauch schlug er die Augen wieder auf und starrte die Decke an, während seine Finger immer noch unablässig über Amandas Locken streichelten.

„Die Frage ist wohl nicht, wenn, sondern wann alles in geordneten Bahnen verläuft. Ich bin mir sicher, dass wir innerhalb der nächsten Tage für jede der Familien eine Bleibe finden werden. Ich weiß, dir ist das vermutlich nicht bekannt, aber diese Stadt hier wird hauptsächlich von unregistrierten Gestaltwandlern bewohnt. Sie ist so klein und unscheinbar, dass man nicht auf die Idee käme, ein ganzes Nest hier zu haben. Vor allem, weil die Bewohner auch auf große Flächen des umliegenden Landes verteilt sind.“

Ein Grund, wieso er so sicher aufgewachsen war, ohne auch nur in geringster Gefahr einer Registrierung zu schweben. Sein wirklicher Vater hatte hier einen wirklich guten Platz zum Leben ausgesucht und die Bewohner auch mit dem nötigen Wissen zum Überleben ausgestattet.

Wer die Menschen hier sah, wusste erst dann, dass er einem Gestaltwandler gegenüberstand, wenn dieser es so wollte. Für gewöhnliche Menschen, die ohnehin nicht an ihre Existenz glaubten, war das ein Kaff wie jedes andere. Vielleicht mit etwas raueren Sitten, aber ansonsten alles andere als interessant.

„Ich werde mich hauptsächlich nicht darum kümmern müssen, dass jeder einen Platz zum Leben findet, bestimmt wird das Palia für mich übernehmen können. Viel eher muss ich dafür sorgen, dass es hier sicher bleibt und dass das Rudel eine bessere Ordnungsstruktur erhält. Diejenigen Gestaltwandler, die dieses Land bereisen, sollten sich bei uns ausweisen und anmelden. Ich will nicht noch einmal riskieren, dass hier jemand Ärger macht. Immerhin gibt es genug Einzelgänger auf der Welt, die nur zu gerne einmal Unruhe stiften oder auf andere Dinge aus sind. Bis ich das alles in den Griff bekommen habe, möchte ich mit dir zu meiner Pflegefamilie gehen.“

 

„Hört sich nach einem ganzen Stück mehr Arbeit an. Na ja, Geduld zu üben ist bestimmt auch nicht schlecht.“

Er wollte also tatsächlich zu seiner Pflegefamilie zurück. Das konnte Amanda nachvollziehen, auch wenn sie nie so etwas wie eine richtige Familie gehabt hatte. Der Gründer, bei dem sie mit Eric aufgewachsen war, hatte sie beide zwar in sein Haus aufgenommen, war aber nie da gewesen und hatte Amanda und ihren kleinen Bruder oft einfach mit in die Zentrale genommen, um sie dort an irgendeinen Kollegen abzuschieben.

Es musste schön sein, eine Familie zu haben, zu der man gern zurückkehrte. Allerdings war die Frage, was diese Familie von Amandas Erscheinen halten würde?

Irgendwie fühlte sich Amanda gerade bei einer so engen kleinen Familie noch unsicherer als in dem Wandlerrudel. Aber auch das würde sie sicherlich durchstehen. Immerhin wollte sie bei Nataniel sein. Da würde sie eben auch über ihren Schatten springen und sich dem Urteil seiner Lieben stellen.

 

Nataniel drehte sich so zu ihr herum, dass er ihr Gesicht sehen konnte. Damit er sich nicht zu sehr anstrengen musste, schob er sich ein Kissen unter den Oberkörper und legte auch seinen Kopf teilweise darauf.

„Wir müssen außerdem auch etwas gegen die Moonleague unternehmen. Ich weiß, wir können sie sicherlich nie vollkommen besiegen, aber es muss noch bessere Methoden geben, durch ihr Netz zu schlüpfen, um wenigstens unser Rudel in Zukunft vor ihnen schützen zu können. Außerdem haben wir da ein Problem.“

Okay. Jetzt kam definitiv die Stelle, die ihm am unangenehmsten war und die er gerne noch ein bisschen weiter hinausgeschoben hätte. Aber das durfte er nicht. Amanda musste es wissen, auch wenn er es vor den meisten anderen Mitgliedern ihres Clans verschweigen würde.

Sein Gesicht wurde hart und ein leicht wütender Ausdruck erschien in seinen Augen, war aber nicht auf Amanda gerichtet.

„Ich habe mit Nicolai zwar hauptsächlich gekämpft, aber bei den kurzen Gesprächen, die wir führten, konnte ich herausfinden, dass er die Identität des Clans nicht verraten hat. Er hat das Naturschutzgebiet eigentlich nur sehr selten verlassen, genauso wie seine Leute und er kannte auch keinerlei Verbindung zur Organisation. Was das angeht, glaube ich ihm sogar.“

Was bedeutete, sie waren dem Verräter noch immer nicht auf die Schliche gekommen. Eine Tatsache, die Nataniel sehr beunruhigte, waren sie doch ganz schön viele Leute, die zu verdächtigen wären.

 

Seine nächsten Worte hätten sie von den Füßen gefegt, wenn sie nicht bereits gelegen wäre. Entsetzt riss Amanda die Augen auf und biss wütend die Zähne aufeinander.

Sie musste nicht nachfragen, ob Nataniel sicher war. In seinen ernsten, eisblauen Augen konnte sie sehen, dass er sicherer nicht sein konnte.

Ihr entkam ein derber Fluch, für den sie sich auch nicht entschuldigte und am liebsten hätte sie irgendetwas gegen die gegenüberliegende Wand geworfen.

Dann war alles umsonst gewesen?

Sie waren immer noch in Gefahr, dass jemand sie wieder an die Moonleague verraten konnte?

„Um die Organisation können wir uns schon irgendwie kümmern.“

Amanda hatte Kontakte und würde nur die Wahrheit über die Herodes-Aktion verbreiten müssen, um weitere Sammler auf ihre Seite zu ziehen.

Sie überlegte fieberhaft, wo sie anfangen könnte. Am besten wäre es sicher mit Eric und Clea Kontakt aufzunehmen und herauszubekommen, wie die Dinge in der Hauptstadt standen.

 

Nataniels Seufzen wurde durch das Kissen gedämpft, in das er frustriert sein Gesicht vergrub. Amanda hatte natürlich Recht. Gegen die Organisation würden sie schon etwas unternehmen können, aber das sicherste Versteck half nichts, wenn sie immer noch einen Maulwurf in ihren eigenen Reihen hatten.

Dummerweise hatte Nataniel aber keinerlei Anhaltspunkt darüber, wer es sein könnte.

Inzwischen kannte er jedes Mitglied des Rudels persönlich und glaubte sogar, sie ziemlich gut zu kennen. Keiner war unter ihnen, dem er einen Verrat zutrauen würde. Sie alle hatten mehr oder weniger ihre Gründe, sich verdeckt zu halten. Jeder besaß noch etwas, was ihm lieb und teuer war. Sie würden niemals einen solchen Vertrauensbruch begehen! Er konnte es einfach nicht glauben.

„Es hilft nichts. Ich muss mit Palia reden. Vorerst können wir nur möglichst viele Sicherheitsvorkehrungen treffen. Ich vertraue ihr, so wie Eric ihr vertraut hat. Sie und wir beide werden die Einzigen sein, die jeden einzelnen Aufenthaltsort der kleinen Familiengruppen kennen. Die anderen müssen sich dem beugen. Vorerst gibt es also keine Nachbarschaftstreffen!“

Hoffentlich würden sie so die Gefahr in einem überschaubaren Bereich halten. Wenn es jemanden erwischte, dann wenigstens nicht alle. So wenig ihm das auch gefiel, es ging nun einmal nicht besser.

Nataniel raffte sich vom Bett auf und grabschte nach dem Hoteltelefon.

Mit fliegenden Fingern tippte er Svens Nummer ein, um diesen noch um ein paar weitere Gefallen zu bitten. Zum Glück hing sein Freund sehr an dem Schutz ihrer Rasse, sonst wäre er vielleicht nicht so schnell dazu bereit, sein eigenes Leben für fremde Gestaltwandler zu riskieren.

 

Etwas beruhigt legte er den Hörer wieder auf und ging dann im Zimmer auf und ab.

Nataniel hatte mit Sven noch über ein paar Einzelheiten gesprochen. Zusätzliche Identitäten für die Neuankömmlinge, wie weit der Verkauf der alten Häuser bereits im Gange war, Immobiliendaten dieser Gegend, um neue Grundstücke über gefälschte Namen zu erwerben, damit alles absolut geheim blieb.

„So wie es aussieht, herrscht noch Chaos auf den Servern der Moonleague. Aber wie es scheint, sind sie dabei, den Schaden einzugrenzen, und wenn sie auch nur annähernd so arbeiten wie Sven, dann haben sie auch genug Sicherungskopien sämtlicher Daten. Die Aktuellsten vielleicht nicht vollständig, aber bestimmt den Großteil aller ihnen bisher zur Verfügung stehenden Informationen.“

Am Fenster blieb er schließlich stehen, schob den Vorhang etwas zur Seite und sah hinaus. Sie waren wohl in einem der obersten Stockwerke, der Höhe nach zu urteilen. Auf den Straßen vor dem Hotel war alles so weit ruhig. Nichts Ungewöhnliches. Immerhin gab es hier keinerlei Attraktionen, die fremde Touristen wie magnetisch anziehen würden. Es war einfach nur eine gute Gegend, um sich zu erholen. Für Insider natürlich.

„Sven kommt in ungefähr einer Stunde und bringt uns frische Kleidung. Außerdem hat er einen Leihwagen besorgt. Ich werde bis dahin noch rasch mit Palia reden und mit den einzelnen Familien, um ihnen das nächste Vorgehen zu erklären. Wenn du willst, kannst du ruhig noch Nele besuchen gehen. Du wirst sie vermutlich eine Weile nicht mehr sehen können. So wie all die anderen.“

Nataniel konnte nicht sagen, ob er nun erleichtert sein sollte, dass er wenigstens nicht mehr Tag und Nacht auf eine ganze Gruppe aufpassen musste, oder ob er es ohne sie überhaupt aushalten konnte. Er wusste, sie waren inzwischen halbwegs in Sicherheit. Jeder von ihnen würde seine Handynummer bekommen für den Fall, dass es Probleme gab.

Bis dahin würden sie sich vermutlich ohnehin lieber erst einmal um ihre eigene kleine Familie kümmern. Für die Kinder war das alles bestimmt nicht so leicht. Es war gut, wenn sie alle einmal ein bisschen zur Ruhe kamen. Auch wenn Nataniel sicher nicht die Möglichkeit dazu hatte.

Doch erst einmal wollte er mit Amanda zu seinen Pflegeeltern fahren. Bestimmt machten sie sich schon große Sorgen. Vor allem, da sein Dad darüber Bescheid wusste, dass er keinen Urlaub machte, sondern ihn der bittere Ernst des Lebens eingeholt hatte. Ob und wie viel er seiner Mom bereits erzählt hatte, wusste Nataniel nicht, aber er hatte seinen Urlaub schon seit mehreren Wochen überschritten.

Das passte nicht zu ihm, weshalb sie sich bestimmt auch schon gefragt hatte, was los sei und weshalb er sich nicht mehr gemeldet hatte.

Selbst wenn er also nicht das dringende Bedürfnis hätte, wieder einmal zuhause zu sein, so müsste er dorthin, um seiner Familie die Sorgen zu nehmen.

„Es wird alles gut werden“, hauchte er leise gegen die Fensterscheibe, mehr um sich selbst zu beruhigen, als dass er es zu Amanda gesagt hatte.

Doch schließlich drehte er sich zu ihr herum und ließ seinen Blick auf ihr ruhen. Sie sah erschöpft aus und als hätte sie etwas Gewicht verloren. Die Wanderung musste sehr anstrengend für sie gewesen sein.

Erst jetzt fiel ihm die leichte Schwellung ihres Handgelenks auf.

Mit drei großen Schritten war er bei ihr, nahm ihr Handgelenk vorsichtig zwischen seine Hände und hob es etwas an, um es besser sehen zu können.

„Du bist verletzt.“

Er sah sie halb vorwurfsvoll halb besorgt an. Weil sie es ihm nicht gesagt hatte. Natürlich hatte sie das nicht getan. Sie war immerhin keine zerbrechliche Frau und dennoch konnte er nicht dagegen ankämpfen, genau das immer wieder in ihr zu sehen. So stark und doch ein Mensch. Das würde er nie vergessen.

Sanft hauchte er ihr einen Kuss auf die Schwellung, ehe er sie in seine Arme zog und einfach nur festhielt.

In den letzten Tagen hatte er geglaubt, das nie wieder tun zu können. Irgendetwas hätte passieren können und all seine Träume und Hoffnungen wären gestorben. Nie hätte er geglaubt, dass ihm einmal so viel an dem Wohl eines Menschen liegen könnte. Doch das tat es.

 

Bereitwillig ließ Amanda sich in Nataniels Arme ziehen. Geduldig hatte sie ihm zugehört und sich ihre Gedanken gemacht. Vor allem darüber, was er über die Moonleague und deren neuerlichen Aufschwung gesagt hatte. Sehr vorsichtig, um keine seiner zahlreichen Verletzungen zu belasten, legte Amanda ihre Hände auf seine Seite.

„Nicht nur du hast einen Computerfreak als Freund. Mach dir keine Sorgen. Du und dein Rudel, ihr seid sicher. Die Zahlen auf deiner Haut sind nirgendwo in den Computern der Organisation wieder zu finden. Es ist so, als hätten sie dich nie gefunden.“

Dass es in Amandas Fall anders war, sprach sie nicht laut aus.

Sie war bereits als Kind gekennzeichnet und registriert worden. Selbst wenn sie die Nummern aus allen Speichern der Moonleague gelöscht hatte, war sie als Person zu sehr mit der Organisation verwoben, um nicht mehr gefunden werden zu können.

Leise seufzte sie gegen Nataniels Hals.

Unter Umständen würde ihre Anwesenheit das Rudel und auch Nataniel und seine Familie gefährden. Die beste Lösung wäre es gewesen, dass Amanda in den Untergrund ging. Um sich selbst und alle, die Kontakt mit ihr gehabt hatten, zu schützen. Sie würde mit Nataniel darüber sprechen müssen. Aber noch waren sie alle sicher. Allzu schnell würde sich die Organisation von diesem Schlag nicht erholen. Vormachen wollte sich Amanda allerdings auch nichts. Die Moonleague würde den Schuldigen finden und bestrafen wollen.

„Meinst du, Sven kann mir auch ein Kartenhandy besorgen? Ich würde mich gern bei Eric melden. Er weiß gar nicht, was passiert ist.“

 

„Es ist auch dein Rudel“, hauchte er ihr gegen das Haar, während er daran dachte, dass er vielleicht, was die Daten anging, so tun konnte, als hätte die Organisation ihn nie erwischt. Aber das Zeichen auf seinem Körper würde er nicht loswerden und zugleich konnte er auch niemals die Stunden in Gefangenschaft vergessen. Sie hatten sich ihm eingebrannt und zugleich ein bisschen weiter seine Persönlichkeit zu dem gemacht, die sie nun war. Spurlos war das Ganze also sicherlich nicht an ihm vorübergezogen.

Doch all das sagte er Amanda nicht. Stattdessen strich er ihr noch ein letztes Mal durch die blonden Locken, ehe er sich von ihr löste und in einen Morgenmantel seiner Größe schlüpfte.

„Natürlich bekommst du ein Handy. Sven bringt es nachher gleich mit meinem mit. Wir müssen immerhin die Möglichkeit haben, Kontakt zu halten, selbst wenn uns nur zwei Zimmer trennen sollten. Mach dir deshalb also keine Sorgen.“

Im Spiegel neben der Tür prüfte er noch einmal, wie viel man von seinen Verletzungen trotz des Morgenmantels sehen konnte. Das Ergebnis stimmte ihn zufrieden. Er sah damit nicht allzu derangiert aus.

„Ich mache mich jetzt auf den Weg zu Palia, um mit ihr die weiteren Schritte zu besprechen. Du solltest in der Zwischenzeit Nele besuchen gehen. Wir treffen uns dann wieder hier.“

Er warf schnell einen Blick auf die Nachtischuhr neben dem Bett.

„Sagen wir in einer Dreiviertelstunde. Dann dürfte Sven auch nicht mehr lange auf sich warten lassen.“

Nataniel hatte schon die Hand auf dem Türgriff, als er sich zu Amanda herumdrehte und sie ansah. Sein Blick sagte nicht viel, außer dass er sie nur ungern alleine ließ und hoffte, sie so bald wie möglich wiederzusehen. Selbst die paar Minuten wollte er nicht von ihr getrennt sein, aber was sein musste, musste eben sein. Er konnte es nicht ändern.

„Du wirst doch hier sein, oder?“, wollte er dann doch noch einmal leise und etwas unsicher wissen.

Würde sie ihn denn überhaupt einmal verlassen, um etwas Dummes zu tun? Nataniel konnte nicht sagen, warum er immer noch diese unbestimmte Angst davor hatte, sie könnte einfach verschwinden. Vielleicht weil sie schon einmal gegangen war, um ihn zu verlassen? Aber das war damals doch etwas ganz anderes gewesen. Jetzt waren sie aus seiner Sicht und bestimmt auch aus ihrer, zusammen. Ein Paar sozusagen, auch wenn das nur eine dürftige Bezeichnung für die Beziehung zwischen seiner Gefährtin und ihm war. Sie war sein Leben, selbst wenn sich Amanda dessen gar nicht bewusst war.

 

Ihr Blick wanderte ebenfalls zur Uhr und etwas überrascht, stellte Amanda fest, dass es schon Nachmittag war. Gut, sie war bis kurz vor Morgengrauen wach gewesen, hatte dann doch einigermaßen lange geschlafen. Dann noch das ausgedehnte Frühstück. Trotzdem fühlte es sich so an, als wären ihr ein paar Stunden des Tages einfach verloren gegangen.

Durch die späte Uhrzeit einigermaßen beflügelt, sprang Amanda motiviert aus dem Bett und bemerkte Nataniels sorgenvolle Frage nicht als solche. Sie warf ihm ein warmes Lächeln zu, bevor sie sich über ihre Kleider beugte und sie prüfend durchsah.

„Aber klar. Dreiviertelstunde. Wir sehen uns dann.“

Die Hose und der Pulli standen wirklich fast von selbst vor Dreck. Zwar hatte Amanda die Kleidung auf dem Campingplatz notdürftig ausgebürstet und auch einmal kurz mit Handseife ausgewaschen, aber die Wanderung war ihnen trotzdem anzusehen.

Der eine Ellenbogen des Wollpullovers war völlig aufgetrennt, die Hose hing an vielen Stellen in Fetzen, und seit sie sich gestern um Nataniel gekümmert hatte, waren auch noch ein paar Blutflecken dazugekommen.

Wahrscheinlich würde sie sich stark zurückhalten müssen, nicht Svens Füße zu küssen, wenn er mit sauberen Sachen für sie hier ankam. Und mit einem Handy.

Hoffentlich hatte Clea die Gruppe gut erreicht und sie waren alle einigermaßen sicher aufgehoben. Amanda konnte sich vorstellen, dass die Moonleague in der Hauptstadt merkbar gewütet hatte, auf der Suche nach demjenigen, der den Hauptrechner sabotiert hatte. Viele Menschen hatten Clea eigentlich zu danken und jetzt musste Amandas Freundin im Untergrund leben, wie so viele andere, die es nicht verdient hatten.

Flammen loderten in Amandas Bauch hoch, die sie stocksteif dastehen ließen, bis sie sich wieder gefangen hatte. Sie musste etwas unternehmen. Die Moonleague durfte nicht weiter bestehen. Der Computercrash musste erst der Anfang gewesen sein.

Mit ernsten Gesichtszügen und einem neuen Ziel vor Augen, zog Amanda sich an und atmete ein paar Mal tief durch, bevor sie sich auf den Weg zum Zimmer von Nele und ihren Eltern machte.

Sie klopfte deutlich an und bekam auch fast sofort Antwort. Allerdings erzählte Neles Mutter, dass die Kleine mit zwei Leopardenjungen nach draußen zum Spielen gegangen war. Also folgte Amanda dem langen Gang zum Aufzug und dann hinunter ins Foyer, bis auf den Rasen hinter dem großen Gebäude, wo sie die Kinder sofort an dem kleinen Teich entdeckte.

Nele beugte sich gerade über die Wasseroberfläche und schien von irgendetwas sehr fasziniert zu sein.

Wie sich herausstellte, als Amanda auf sich aufmerksam gemacht und sich ein wenig mit den Kindern unterhalten hatte, sollten Frösche in dem kleinen Teich zu finden sein. Allerdings hatten die Jungs, die selbsternannterweise großartige Froschfänger waren, bis jetzt kein Glück gehabt.

Kurz vor der verabredeten Zeit, nahm Amanda Nele zur Seite und sprach ruhig mit ihr. Es sollte keine wirkliche Abschiedsszene werden, aber es tat ihr doch im Herzen weh, dass sie die Kleine nun eine Weile nicht sehen konnte.

„Ich werde deinen Eltern meine Telefonnummer geben. Dann kannst du mich jederzeit anrufen, ja?“

Die beiden umarmten sich lange und Amanda lächelte Nele hinterher, bis die Kleine wieder in die Froschjagd vertieft war.

Wieder in ihrem Hotelzimmer fiel Amanda auf, dass die Reste vom Frühstück weggeräumt worden waren und auch das Bett war gemacht.

Ziemlich flinkes Personal, das musste man neidlos zugestehen. Das Bad war ebenfalls geputzt und Amanda freute sich schon unwahrscheinlich auf eine ausgiebige Dusche und die frische Kleidung. Hoffentlich ließ Sven nicht mehr lange auf sich warten.

Um das Bett nicht mit ihren Klamotten zu beschmutzen, setzte sich Amanda in einen Sessel ans Fenster und sah hinaus, während sie auf Nataniel wartete.

 
 

***

 

Das Gespräch mit Palia verlief wie zu erwarten gut. Sie war wirklich eine kompetente und vor allem sehr sorgfältige Frau, in allem, was sie tat. Sie hatte bereits ebenfalls mit Sven telefoniert und auch schon mit dem Großteil ihres Rudels gesprochen, um ihnen die nächsten Sicherheitsvorkehrungen zu erklären. Außerdem würde sie sich darum kümmern, dass keiner von ihnen zu lange im Hotel wohnen musste, während Nataniel und Amanda zu seinen Pflegeeltern fuhren.

Die Pumalady verstand nur zu gut, dass er dringend eine Pause brauchte, weil sie es schon nicht gut geheißen hatte, dass er bereits wieder im ganzen Hotel herumlief. Da er jedoch der Boss war, musste sie sich mit jeglichen Kommentaren zurückhalten.

Damit auch sie sich eine kleine Auszeit gönnen konnte, versprach er ihr, sich um die restlichen Mitglieder zu kümmern, die sie noch nicht aufgesucht hatte.

Auch diese Gespräche verliefen recht gut. Alle waren froh, wieder eine Dusche und ein weiches Bett zu besitzen. Weshalb sie nichts dagegen hatten, ein Weilchen noch im Hotel verbringen zu müssen, bis jeder von ihnen ein neues Heim hatte.

Es gab nicht allzu viel Auswahl an Immobilien, aber bestimmt würde sich das Rudel untereinander einig werden, wer wo wohnen würde. Diejenigen, die wirklich nichts fanden, hatten Nataniels Erlaubnis auch weiter wegzuziehen, solange sie ihm über jedes Zusammentreffen mit fremden Gestaltwandlern sofort Bescheid gaben.

Das würde schon alles irgendwie klappen. Daran hatte Nataniel keine Zweifel. Es war eben alles nur eine Frage der Organisation und darin schien Palia vollkommen in ihren Fähigkeiten aufzugehen.

 

Nataniel war schon etwas spät dran, was den Zeitpunkt anging, den er mit Amanda ausgemacht hatte. Weshalb er sich auch beeilte und im Flur fast mit Sven zusammengekracht wäre, der gerade aus dem Fahrstuhl gekommen war.

„Was zum –?“, fluchte der kleine Blondhaarige los, als ihm beinahe seine Notebooktasche runtergefallen wäre, die er gerade noch so hatte auffangen können. Sein aufkommender Wortschwall verstummte jedoch, als er mit seinen giftgrünen Augen in dem blassen Gesicht an Nataniels groß gewachsener Gestalt hochblickte, bis sein Freund den Kopf sogar in den Nacken legen musste.

„Pünktlich wie ein Uhrwerk“, lobte Nataniel seinen Kumpel und nahm ihm die beiden Plastiktüten ab, die dieser in der anderen Hand hielt. Aus Erfahrung wusste er, dass Sven es nicht ausstehen konnte, wenn man sein Baby anfasste.

„Nataniel? Mann, mit was haben die dich denn gefüttert? Spinn ich, oder bist du seit unserer letzten Begegnung noch um weitere zehn Zentimeter gewachsen?“

Svens ungläubiges Gesicht brachte Nataniel zum Grinsen. Er hatte ganz vergessen, dass er zwar immer wieder mit Sven telefoniert, ihn aber schon seit einigen Jahren nicht mehr persönlich gesehen hatte. Trotzdem glaubte er nicht, dass er in dieser Zeit gewachsen war. Es war einfach zu lange her, dass sie sich gesehen hatten.

„Reine Einbildung. Du warst eben schon immer ein Winzling.“

Aber was Sven an Körpergröße fehlte, machte er mit seinem IQ wieder weg. Man sollte den 1,65 m großen Mann bloß nicht unterschätzen. Er mochte vielleicht kein Raubtier in sich tragen, aber wenn es hart auf hart kam, konnte man immer auf ihn zählen. So wie in diesem Augenblick.

„Ja, ja. Wenigstens halte ich meinen Schädel nicht in zu dünne Luft“, konterte Sven schlagkräftig wie eh und je. Ehe er seinen Laptop schulterte und endgültig in den Flur trat.

„Also, nimmst du mich jetzt mit auf dein Zimmer, oder soll ich gleich hier auspacken? Du weißt doch, ich hab nichts gegen einen Quickie in aller Öffentlichkeit.“

„Darauf wette ich“, gab Nataniel wissend zurück und schob seinen blondhaarigen Freund dann ein Stück den Gang entlang, bis er Amandas und sein Zimmer erreicht hatte und mit der Schlüsselkarte die Tür öffnete. Doch anstatt seinen Freund gleich reinzulassen, steckte Nataniel seinen Kopf kurz ins Zimmer, um die Lage zu checken. Als er Amanda in einem Sessel sitzen und auf ihn warten sah, öffnete er die Tür weiter, um auch seinen Freund hereinzulassen. Danach schloss er sie hinter ihnen.

„Amanda darf ich vorstellen, Sven. Sven, das ist Amanda.“

Nataniel machte eine entsprechende Handbewegung, ließ dann aber sogleich den Inhalt der beiden Tüten auf das Bett fallen.

Was Svens Geschmack anging, konnte man wirklich nicht meckern. Er kannte Nataniel ziemlich gut. Jeans, ein hellblaues Shirt und dazu noch eine langärmlige Lederjacke in Beige.

„Hi, Amanda. Wir hatten ja schon einmal das Vergnügen miteinander zu telefonieren.“

Sven reichte Amanda seine Hand, ehe er auch schon einen Platz für sein Baby suchte. Offensichtlich hatte er sich für den kleinen Tisch samt Stuhl am Fenster entschieden, denn dort ließ er die Laptoptasche runter und begann sie zu öffnen.

„Also, ich habe die wichtigsten Nummern bereits in den Handys eingespeichert. Eure gegenseitigen Nummern findet ihr jeweils unter der Kurzwahltaste 1. Wenn’s ganz schnell gehen soll. Außerdem habt ihr einen Internetzugang und könnt nicht aufgespürt werden.“

Er reichte sowohl Nataniel auch Amanda ein Handy und startete dann seinen Laptop.

„Ich hab die Pläne mit, die du haben wolltest, Nataniel. Es gibt mehr als genug Grundstücke zu erwerben. Das sollte also kein Problem sein. Und weil hier in diesem Kaff auch so viel los ist, sind die Preise wirklich spottbillig.“

„Danke, Sven.“

Nataniel reichte Amanda die frischen Klamotten und flüsterte ihr „Ladys first“ zu, während er in Richtung Bad nickte und ihr ein warmes Lächeln schenkte.

 

Amanda drückte die Hand des blonden Mannes kurz und lächelte.

Dass Sven sich gleich an die Arbeit machte und ihnen die Handys in die Hand drückte, gefiel Amanda. Es hatte etwas Aufgeräumtes, das ihr bei dem ganzen Durcheinander, das sie hier organisieren sollten, als sehr hilfreich erschien.

Ein wenig wehmütig besah sich Amanda das kleine weiße Handy, das in ihrer Hand ruhte. Es erinnerte noch nicht einmal annähernd an ihren luxuriösen PDA, auch wenn es mehr zu können schien, als man von außen vermuten würde.

Internetzugang, recht gute Kamera und die wichtigsten Nummern bereits eingespeichert. Wie nebenbei hielt Amanda das Telefon hoch und schoss ein Foto von Nataniel im Profil, der gerade Sven dabei beobachtete, wie der seinen Laptop anschloss. Amanda speicherte das Foto zu Nataniels Kurzwahl und legte das Handy dann auf dem Bett ab.

Sie warf nur einen kurzen Blick in die Tüte mit den Klamotten, die Nataniels Freund für sie besorgt hatte, und verschwand dann im Badezimmer.

Dort schälte sie sich aus ihren zerschlissenen Klamotten und betrat erst einmal die Duschkabine. Während sie auf die richtige Temperatur des Wassers wartete, band sie sich die Locken hoch, damit ihre Haare nicht nass wurden. Amanda duschte wirklich nur kurz, um sich zu waschen und stand dann in ein Badetuch gehüllt vor dem großen Spiegel, die Plastiktüte mit den Klamotten vor sich im Waschbecken.

Das Erste, was sie herauszog, war ein Unterwäscheset in Schwarz, das ihr beinahe die Röte ins Gesicht trieb. Es bestand mehr oder weniger nur aus Spitze, und als Amanda kurz prüfend die Finger hineinsteckte, konnte sie sogar die Linien auf ihrer Handfläche erkennen.

Ihr entkam ein erleichtertes Seufzen, als sie sah, dass dieser Hauch von Nichts zumindest die richtige Größe hatte.

Da war sie jetzt aber wirklich auf den Rest von Svens Einkauf gespannt. Aus der Plastiktüte förderte Amanda ein ebenfalls schwarzes, eng geschnittenes Oberteil und eine dunkelblaue Jeans hervor. Glücklicherweise war beides eher sportlich geschnitten und würde mit den Wanderschuhen einigermaßen zusammenpassen. Hätte das restliche Outfit der Unterwäsche entsprochen, wäre sich Amanda vorgekommen, als würde sie Schaulaufen.

Als sie die Haare wieder aufgebunden und sie ein wenig frisiert hatte, fand sie sich im Spiegel zwar ein wenig blass, aber durchaus ansehnlich.

Ihre alten Klamotten ließ Amanda einfach neben dem Mülleimer im Bad liegen und kam frisch in das Zimmer zurück, um sich der Beratung der beiden Männer anzuschließen.

 

Kaum das die Badezimmertür hinter Amanda zugegangen war, drehte sich Sven mit einem nur zu vertrauten Gesichtsausdruck zu Nataniel herum, der gerade den Morgenmantel öffnete, um sich die frischen Klamotten anzuziehen. Er mochte es zwar gern gemütlich, aber der Morgenmantellook war nun wirklich nicht sein Stil.

„Bist du dir wirklich sicher, was sie ... Scheiße, Nataniel, was ist denn mit dir passiert? Hast du dich schon wieder mit dieser Bärin eingelassen, oder was?“, zischte Sven entsetzt, was bei ihm schon etwas heißen wollte. Normalerweise brachte den Typen nichts so schnell aus der Fassung.

„Kein Bär. Ein Tiger, ein Leopard und wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, war sogar ein Puma dabei und ja verdammt, ich bin mir sicher, was Amanda angeht.“ Nataniel klang nicht gerade erfreut über Svens Frage, was seine Skepsis Amanda gegenüber anging. Dennoch zog er sich in aller Ruhe die Jeans vorsichtig über die Verbände und streifte sich ganz sachte das Shirt über den Kopf. Diese Bewegung tat besonders weh, dennoch konnte er sich einen Laut verkneifen.

„Sollte sie dann nicht von dem flotten Vierer wissen, den du da gehabt hast? Ich meine, du fällst auf wie ein bunter Hund“, gab Sven nun wieder etwas entspannter zu bedenken. Der Kerl musste sich aber auch immer viel zu schnell wieder erholen. Wo blieb denn da der ganze Spaß?

„Sven, halt die Klappe. Du weißt genau, dass das keine Frauen waren und ich hab auch absolut keinen Bock, mich ausführlich über dieses Thema mit dir zu unterhalten. Ich weiß ja, dass es dir komisch vorkommen muss, weil gerade ich mit einem Menschen zusammen sein will, aber was dich betrifft, hatte ich ja auch nie Probleme, oder irre ich mich da?“

Um Svens missgelaunte Miene nicht länger mit ansehen zu müssen, hing Nataniel den Morgenmantel wieder auf, zog sich auch noch die Lederjacke über und zog aus Amandas Rucksack seine Socken und Turnschuhe, die er vor ewig langer Zeit dort drin verstaut hatte.

„Das ist doch was vollkommen anderes. Ich bin immerhin ein Gestaltwandler, sie nicht. Darum geht’s mir auch gar nicht. Ich wollte nur sichergehen, dass du keinen Fehler machst. Du musst dir doch selbst im Klaren darüber sein, wie schwierig eine Beziehung mit einem Menschen ist“, grummelte der Blondhaarige, während er sich wieder seinem Bildschirm zuwandte und irgendetwas eintippte.

Leicht genervt aber trotzdem gelassen drehte Nataniel sich wieder herum und setzte sich auf die Kante des Bettes, wo er sowohl einen Blick auf den Bildschirm als auch auf Svens Miene hatte.

„Irgendwie kommen wir schon klar damit. Unterschätze Amanda nicht. Sie hat mehr auf dem Kasten, als du ihr zutraust. Sie ist so anders, als diese schwächlichen Menschenfrauen.“

Und trotzdem wieder nicht, aber das würde er Sven sicherlich nicht auf die Nase binden, da dieser ohnehin schon viel zu neugierig war. Weshalb er das Thema auch langsam satthatte. Immerhin wusste er selbst, dass es nicht einfach war. Selbst wenn sie schon ein paar der ersten Hürden überwunden hatten. Die Sache mit dem Sex und dem Panther war wirklich ein ganz schönes Stück gewesen, aber sie hatten es doch überstanden, oder etwa nicht? Viel schlimmer konnten doch wohl die anderen Dinge auch nicht sein. Hoffte er zumindest.

„Aber wolltest du mir nicht eigentlich was zeigen? Immerhin bist du nicht zum Vergnügen hier. Unterhalten können wir uns später auch noch. Jetzt will ich Resultate sehen.“

Sven blickte Nataniel erneut skeptisch und zugleich musternd an. Offenbar war ihm der dominante Tonfall seines Freundes nicht entgangen.

„Was bin ich froh, dass ich nicht in deinem Rudel bin. Das würde mir noch fehlen, vor dir zu kuschen.“

Er schüttelte seinen blonden Haarschopf und Nataniel schwieg wohlweislich auf diese Aussage. Sven meinte es nicht unbedingt so, wie er es gesagt hatte. Im Grunde wollte er damit einfach nur ausdrücken, dass er Nataniel zwar als ein Alphatier ansah, aber sich ihre Freundschaft dadurch nicht ändern würde.

Gerade, als er Nataniel die Grundstückspläne zeigte, kam Amanda aus dem Badezimmer.

Sofort hoben sich die Köpfe der beiden Männer in ihre Richtung und Nataniels spezieller Alphatiergeruch wurde merklich stärker, als er sie sah. Woraufhin Sven die Nase rümpfte und irgendetwas von wegen „Typisch Raubkatze“ murmelte, ehe er seinen Blick wieder auf den Bildschirm richtete. Nataniel hingegen lächelte sie an, als könne er nicht fassen, was für ein Glück er doch hatte. Was ja auch stimmte.

 

In der nächsten Stunde besprachen sie die Grundstücke, die für sein Rudel in Frage kamen, da nicht jedes weit genug von der Stadt weg und gut genug geschützt lag. Danach kamen noch die Details der Grundstücksverkäufe ins Spiel. Da Nataniel bereits mit jeder einzelnen Familie gesprochen hatte, war es kein Problem mehr, die Immobilien über anonyme Quellen zu verkaufen und das Geld auf die jeweils neu angelegten Konten zu überweisen, die Sven zu den neuen Identitäten eröffnet hatte. Es würde also niemand leer ausgehen, und da die Grundstückspreise hier so billig waren, war der Neuanfang auch sicher kein allzu großes Problem.

Nachdem auch das geklärt war, packte Sven zusammen, um sich mit Palia zusammenzusetzen. Die genauen Details würden die beiden alleine besprechen, wo Nataniel und Amanda zum Glück nicht zugegen sein mussten.

Sven hatte bereits alles zusammen, als er noch etwas aus seiner Hosentasche hervor kramte.

„Hier, der Schlüssel für das Leihauto. Es ist der schwarze Pick-up auf dem Kundenparkplatz. Gib mir einfach Bescheid, wenn du ihn nicht mehr brauchst, ich werde bis dahin einfach so lange die Rückgabefrist immer wieder verlängern.“

Nataniel fing die Schlüssel auf und drehte sie zwischen seinen Fingern.

„Danke. Hast was gut bei mir.“

„Ach, Quatsch. Ich zieh’s dir einfach vom Konto ab“, meinte Sven grinsend und wandte sich dann an Amanda.

„Hat mich gefreut, dich auch mal persönlich kennenzulernen.“

Er schüttelte ihr wieder die Hand und beugte sich dann verschwörerisch etwas zu ihr.

„Pass bloß auf, was diesen überdimensionierten Kater angeht. Der ist bissig.“

Er zwinkerte ihr zu, schnappte sich seine Tasche, ignorierte Nataniels Knurren und machte sich mit einem fröhlichen „Tschüss“ aus dem Staub, bevor der Panther wirklich noch einmal nach ihm schnappen konnte.

„Dämlicher Fischfresser!“, zischte Nataniel ihm noch nach, obwohl die Tür schon ins Schloss gefallen war.

 

Amanda sah Sven schmunzelnd hinterher.

Wenn sie an die Unterwäsche dachte, die der Mann für sie ausgesucht hatte, konnte sie eigentlich nur davon ausgehen, dass der Blonde wollte, dass Nataniel ein wenig an ihr herumknabberte. Seltsamer Typ, aber doch irgendwie sympathisch.

Mit dem Fluch, den Nataniel seinem Kumpel hinterherschickte, konnte Amanda nichts anfangen. Aber da sie sich schon, seit sie Sven nun endlich gesehen hatte, fragte, was er für ein Tier in sich trug, hielt sie sich nicht länger zurück.

„Was ist denn Svens Tier? Wenn ich mal so neugierig sein darf. Er scheint ja offensichtlich einer anderen Art anzugehören als du.“

Amanda setzte sich aufs Bett und drehte ihr neues Handy ein paar Mal zwischen den Fingern, während sie Nataniels neues Outfit in Augenschein nahm. Die Lederjacke war vielleicht etwas viel hier im Hotelzimmer, aber ansonsten konnte man an Svens Wahl nicht meckern. Man hätte fast die Verbände unter dem hellen Shirt und der Hose vergessen mögen, wenn man Nataniel so sah.

Kurz entschlossen erhob sich Amanda erneut und ging auf Nataniel zu, nahm seine Hände und streichelte mit ihren Daumen seine Handrücken.

„Wie geht’s dir eigentlich?“

Bestimmt hatte ihn das heute schon hundertmal jemand gefragt, aber Amanda wollte wirklich wissen, wie Nataniel sich fühlte. Immerhin hatte er noch gar nicht darüber gesprochen, was genau während des Kampfes mit Nicolai passiert war. Nataniel hatte den Mörder seines Vaters getötet. Soviel stand außer Frage. Aber damit war sicher auch nicht so leicht fertig zu werden. Auch wenn Nataniel nach außen hin wie der gefasste Anführer wirkte und alles im Griff zu haben schien, wollte Amanda nicht, dass er das, was passiert war, einfach überging. Sonst würde es ihn nur noch lange verfolgen und ihm unnötig Kräfte rauben.

Andererseits konnte es sein, dass Nataniel nicht darüber reden wollte. Noch nicht. Vielleicht wollte er erst vollkommen zur Ruhe kommen und sich bei seiner Pflegefamilie wieder heimisch und sicher fühlen, bevor er sich mit dem beschäftigte, was er getan hatte. Hatte tun müssen. Amanda wusste es nicht, aber sie wollte gern für ihn da sein, wenn er sie brauchte.

 

Sofort war er besänftigt, als Amanda seine Hände ergriff und darüber streichelte.

Er hatte nicht übertrieben, als er ihr erzählt hatte, zu was alles Gefährtinnen fähig waren. Sein Gemüt war nun auf jeden Fall beruhigt und er fühlte sich wieder heimelig wohl in seiner Haut, trotz der ganzen Stellen, die höllisch wehtaten.

Doch wie Katzen, zeigte auch er nicht, wenn ihm etwas wehtat, es sei denn, es war so schlimm, dass er es gar nicht mehr aushielt. Doch dem war zum Glück nicht so. Er würde es überleben, heilten seine Verletzungen doch in rasender Geschwindigkeit.

„Sven ist ein Fischotter. Ich weiß eigentlich auch nicht so genau, wie wir es beide so lange miteinander aushalten konnten. Aber wir waren schon Freunde seit der Grundschule, als ein paar Bärenkids ihn verprügelten. Hab mich dazwischen geworfen. Nicht, dass ich gewonnen hätte, aber das gemeinsame Zusammenflicken hinterher hat irgendwie verbunden.“

Nataniel lächelte, als er daran zurückdachte. Sein erster Kampf, seine ersten Narben. So etwas vergaß man nicht so leicht.

Sanft nahm er Amandas Hände zwischen seine, hauchte einen Kuss darauf, ehe er sie sich um den Hals legte und seine Arme um ihren Körper schlang.

„Ich weiß, das klingt jetzt verdammt kitschig, aber es stimmt trotzdem. Wenn ich bei dir bin, geht’s mir gut“, schnurrte er leise gegen ihre Lippen.

Sein Kuss war sanft, etwas zurückhaltend, weil er gerade alles andere als seine vollen Kräfte zur Verfügung hatte und trotzdem voller Zärtlichkeit.

Wie immer war es schwer, sich von ihren Lippen zu lösen, aber nun, da alles geklärt war, wollte er keinen Moment länger warten, bis er seine Familie endlich wieder sah. Außerdem war er total gespannt darauf, was Amanda von ihnen halten würde.

„Bereit, dich meiner Verwandtschaft zu stellen?“, fragte er daher neckend, während er ihren Rucksack wie gewohnt schulterte, sich dann aber als Strafe ein kräftiges Ziehen in der Schulter einfing, woraufhin er den Rucksack wie einen nassen Lappen wieder fallenließ.

Leise vor sich hin grummelnd, legte er sich den Riemen vorsichtig auf die andere Schulter und steckte sein eigenes Handy in die Hosentasche.

„Dieses Mal fahre aber ich“, kündigte er mit dem Stolz eines Mannes an, der auf große Autos stand, obwohl dem kein bisschen so war. Aber er versuchte damit, ja auch lediglich seine eben gezeigte Schwäche zu übertünchen. Amanda musste nicht erfahren, dass er sich nicht so gut fühlte, wie er vielleicht aussah.

34. Kapitel

Während sie aus der Stadt hinausfuhren, veranstaltete er für Amanda so eine Art Reiseführung. Er zeigte ihr die Schule, die er besucht hatte, das Restaurant, wo er in den Sommerferien immer gejobbt hatte, wenn er einmal von der Farmarbeit befreit war, um sich noch etwas zusätzlich zu verdienen. Auch die einen oder anderen Geheimtipps zum Spaß haben, konnte er ihr ausführlich schildern.

Was das anging, hatte Nataniel wirklich nie etwas anbrennen lassen. Er war ständig mit seinen Freunden in der Gegend herumgezogen, hatte Blödsinn angestellt und gehörte dennoch zu der Sorte, die meistens ihre Hausaufgaben gemacht und ihren Eltern gehorcht hatten.

Er war immer fleißig gewesen, was die Arbeit auf der Ranch anging, da er schon von klein auf die nötigen Energien und die Stärke mitgebracht hatte.

Nataniel hatte keine Scheu, Amanda all das zu erzählen. Er selbst konnte sich nicht vorstellen, wie es für sie sein musste, ohne die Dinge aufzuwachsen, die für ihn ganz selbstverständlich waren.

Was die ganz schön wilden Abenteuer mit einigen Frauen in dieser Stadt anging, verschwieg er Amanda eigentlich alles. Nicht etwa, weil er Angst hatte, sie könne es ihm übelnehmen oder wäre gekränkt deswegen, sondern weil es einfach absolut nicht mehr wichtig war. Sie war nun sein Abenteuer und das hoffentlich für immer. Amanda mochte vielleicht keine Krallen und Reißzähne haben, aber dafür besaß sie Eigenschaften, die seine Verflossenen nie haben würden.

Noch während sie auf einer endlos lang wirkenden Straße geradeaus fuhren, zeigte er ihr die vom Weiten sichtbaren, mit Wäldern bewachsenen Hügel und Felder, die bereits zum Besitz seiner Pflegeeltern gehörten. Es waren unglaublich viele Hektar und noch dazu wunderschönes, fruchtbares Land.

Sie fuhren über eine Brücke, unter der sich ein kleiner Fluss immer wieder durch die Landschaft schlängelte und auch am Haus seiner Pflegeeltern vorbei floss, was Amanda natürlich noch nicht wissen konnte.

Ab und zu sah man große Rinderherden auf den Weiden grasen, aber natürlich waren das noch lange nicht alle.

Als sie schließlich an einer großen Pferdekoppel vorbei und durch eine Baumallee hindurchfuhren, erreichten sie das große, zwischen mehreren Kiefern stehende Holzhaus.

Ein gutes Stück entfernt und durch den Fluss getrennt, stand der große Pferdestall. Die Rinder waren grundsätzlich immer nur auf den Weiden und brauchten somit kein Dach über dem Kopf.

Hinter dem Haus erstreckten sich die Obstgärten mit den alten, dennoch mit köstlichen Früchten behangenen Bäumen. Auch der große Gemüsegarten lag hinter dem Haus und dahinter erstreckte sich ein riesiger Wald, in dem Nataniel schon oft in seiner tierischen Gestalt durch die Gegend gestrichen war.

Von der großen Kieseinfahrt ging gegenüber dem Pferdestall ein kleiner Pfad ein Stück durch den Wald entlang. Dort lag Nataniels kleines Reich.

Es war eine kleine Blockhütte, nicht einmal annähernd so groß, wie das Haupthaus, aber er lebte schon seit seinem neunzehnten Lebensjahr dort. Weshalb er auch niemals behauptet hätte, bei seinen Eltern zu wohnen. Früher war das eine Unterkunft für Sommerarbeiter gewesen, aber seit er mithalf, waren die meisten von ihnen überflüssig geworden.

Schließlich parkte er den Wagen vor dem gut gepflegten Familienhaus, mit den vielen bunten Blumen vor den Fenstern und stellte den Motor ab.

Sofort kamen Tiffany und Claire bellend angelaufen.

Wie immer waren die zwei Border Collies lauter als gefährlich. Aber darum ging es auch. Sie waren zuverlässige Wachhunde. Mehr als anschlagen brauchten sie auch nicht, den Rest übernahm grundsätzlich die Familie, falls jemand Ärger machen wollte oder sich heimlich anschlich.

Sie waren bestimmt die einzige Ranch in der Gegend, die behaupten konnten, dass weder wilde Hunde, noch Bären ihr Vieh gerissen hatte, was wieder deutlich zeigte, was für Vorteile so ein Gestaltwandlerleben mit sich brachte.

Kaum, dass Nataniel die Tür des Wagens geöffnet und sich von den Hündinnen ausgiebig begrüßen hatte lassen, wurde auch schon die antike Holztür zum Haus aufgerissen und ein kleiner zehnjähriger Junge mit hellbraunen Haaren und goldenen Augen kam herausgerannt.

„Groooooßer Bruuuuder!“, schrie Kyle vor Freude strahlend, als er sich auch schon gewandt wie eine Katze vom Boden abstieß und sich Nataniel in die Arme warf, um wie ein Äffchen an ihm hängen zu bleiben, ohne mit den Füßen den Boden zu berühren.

Nataniel musste sich in diesem Augenblick einen gewaltigen Schmerzenslaut verkneifen, aber er wollte seinen kleinen Bruder nicht beunruhigen. Weshalb er Sven im Geiste noch einmal für die Lederjacke dankte, die den Sprung etwas gedämpft hatte. Er unterdrückte den Schmerz, so gut es ging, ehe Nataniel seine Arme um den schlaksigen Körper schlang und somit etwas seine Schulter entlastete.

„Na, alles klar bei dir?“

Kyle ließ ihn wieder los und grinste ihn überglücklich an. Der Kleine hatte schon immer sehr an ihm gehangen. Wortwörtlich.

„Du bist schon wieder gewachsen. Sag Mom, sie soll dich nicht mit so viel Kraftfutter vollstopfen, sonst machst du mir bald noch Konkurrenz.“

Nataniel wuschelte seinem kleinen Bruder durch die Haare, der sich über die Worte seines großen Bruders freute und sich das breite Grinsen dabei gar nicht mehr verkneifen konnte.

„Wo bist du so lange gewesen?“, wollte der Kleine aus großen Augen wissen, ehe dieser Amanda bemerkte. Doch bevor Nataniel seiner Gefährtin Kyle vorstellen konnte, kam auch schon ein großgewachsener, muskulöser Mann mit demselben honigfarbenem Haar wie Kyle über die Brücke geritten und brachte den fuchsbraunen Wallach mit einem leichten Schenkeldruck vor ihnen zum Stehen.

„Dad“, begrüßte Nataniel seinen Vater nun etwas ernster, denn auch dessen Miene war alles andere als freundlich, als er sich leichthin vom Rücken des großen Tiers schwang und direkt auf seinen Sohn zustürmte, als wäre er eine Dampfwalze auf Kollisionskurs.

Doch anstatt gewalttätig zu werden, was man anhand des Gesichtsausdrucks eigentlich vermuten hätte müssen, nahm er seinen Sohn herzlich an die Brust.

Herzlich ging bei Gestaltwandler auch meistens mit kräftig einher, weshalb Nataniel nun wirklich ein „Autsch“ nicht mehr unterdrücken konnte. Sofort ließ sein Dad ihn wieder los.

Prüfend sah dieser ihn an, fischte ihm die schwarzen Stirnfransen aus dem Gesicht, um die neue Narbe über Nataniels Auge besser sehen zu können. Mehr brauchte er auch nicht zu wissen.

„Darüber reden wir später noch“, versprach sein Dad ihm, begann aber nun warm zu lächeln und drückte ihn daraufhin noch einmal. Dieses Mal jedoch ganz vorsichtig.

„Ich bin froh, dass du endlich wieder da bist, mein Sohn. Deine Mutter hat mir die Hölle heißgemacht!“

„Das habe ich dann ja wohl auch zurecht. Wie du aussiehst, Nataniel! Mit wem hast du dich jetzt schon wieder geprügelt? Ich wusste doch, dass du und dein Vater etwas vor mir verheimlichen. Konntest du nicht wenigstens einmal anrufen?“

Der sanfte, aber zugleich besorgte Tonfall seiner Mutter ließ ihn sich umdrehen.

Sie stand groß und schlank im Türrahmen. Ihr Haar war zu einem langen Zopf bis zu ihrem Hintern geflochten. Sie trug ein weißes Leinenkleid, das hervorragend zu der Bräune ihrer Haut passte und in ihren Armen hielt sie ein kleines Berglöwenbaby. Lucy hatte es also tatsächlich geschafft, sich endlich das erste Mal zu verwandeln.

Anstatt groß auf die Worte seiner Mutter einzugehen, kam er auf sie zugeeilt und schloss sie sanft in seine Arme.

„Tut mir leid, Mom.“

Wie immer schien sie klein und zerbrechlich in seinen Armen. Auch ihr Haar war wie goldbrauner Honig, aber das war nicht das einzige Merkmal, durch das er sich deutlich von seinen Pflegeeltern unterschied. Er war auch um einiges größer und kräftiger. Aber das hatte hier noch niemanden gestört.

Die Schultern seiner Mutter bebten, doch als er sich wieder von ihr löste, hatte sie gerade die Träne weggewischt, die sich davonstehlen wollte. Weshalb sie ihm auch einen kleinen Klaps auf die Schulter gab.

„Wehe, du bleibst noch einmal so lange weg, ohne dich zu melden“, drohte sie liebevoll, während ihre Finger das kleine schnurrende Knäuel in ihren Armen kraulte. An Nataniel vorbei erspähte sie Amanda.

„Nanu? Wen hast du denn da mitgebracht?“, fragte sie neugierig und mit einem gewissen Lächeln, weil Nataniel noch nie Frauenbesuch mit nach Hause gebracht hatte.

„Oh.“ Nataniel zuckte zusammen. Bei dem ganzen Andrang hatte er Amanda doch tatsächlich einen Moment lang vergessen. Was er sofort damit wieder gut machte, dass er zu ihr ging und einen Arm um sie legte, um noch deutlicher zu machen, wie sehr sie zusammengehörten.

Leider war der Geruch an ihr nur sehr schwach, aber seine Familie hatte auch Augen im Kopf. Das Strahlen in Nataniels Augen konnte sie nicht übersehen, als er Amanda jedem einzeln vorstellte.

„Das ist meine Mom Mary. Das kleine Schnurrmonster in ihrem Arm ist meine Schwester Lucy.“

Seine Mutter nickte Amanda lächelnd zu.

„Der stramme Bursche hier heißt Kyle.“ Kyle grinste Amanda an. „Hi.“

„Zu guter Letzt das Familienoberhaupt – Steve. Und das hier ist Amanda – meine Gefährtin.“

Ein merklicher Ruck ging durch die Körper seiner Eltern. Sein kleiner Bruder Kyle wusste noch nicht genau, was das heißen sollte und Lucy war ohnehin gerade damit beschäftigt, ihre Pfote zu lecken. Weshalb es sie noch weniger kümmerte.

Sein Vater wusste wohl nicht so recht, was er von der ganzen Sache halten sollte. Immerhin wussten die Anwesenden auf den ersten Atemzug, dass Amanda ein Mensch war. Aber bei seinem Vater kam hinzu, dass er auch noch mehr Hintergrundinformationen über Nataniels Verbleib hatte als der Rest seiner Familie. Das machte ihn gleich automatisch noch skeptischer. Dennoch ging er zu Amanda und reichte ihr seine große Hand, während er freundlich lächelte.

„Freut mich, Sie kennenzulernen.“

„Mich ebenfalls“, mischte sich Nataniels Mom mit ein und auch sie reichte Amanda die Hand.

„Ihr beiden seht müde aus. Wollt ihr euch vielleicht etwas ausruhen, oder vorher lieber etwas essen? Nataniel, du hast eindeutig ein paar Kilo verloren. Ich weiß wirklich nicht, was du angestellt hast, aber wenigstens das lässt sich schnell wieder ändern.“

Wie auf Stichwort meldete sich bei ihm auch schon der Hunger, was seiner Mutter natürlich nicht entgangen war.

„Na kommt rein ihr beiden. Das Essen ist gleich fertig. Kyle, deck schon mal den Tisch, während dein Vater das Pferd in den Stall bringt, und wascht euch die Hände vor dem Essen.“

 

Die Landschaft, durch die sie eine Weile gefahren waren und die Nataniel, als das Land seiner Familie auswies, war wirklich wunderschön. Es wunderte Amanda nicht im Geringsten, dass er hier glücklich aufgewachsen war. Mit so viel Platz und frischer Luft konnte es einem Kind doch nur gut gehen.

Als sie vor dem Haus seiner Eltern hielten und die Hunde an den schwarzen Wagen heran gerannt kamen, zog sich Amanda so gut sie konnte von der Bildfläche zurück.

Das wurde ihr keine Sekunde später noch durch den Jungen erleichtert, der aus dem Haus gerannt kam, um Nataniel überschwänglich zu begrüßen und ihn anzuspringen. Bei Nataniels kurzem Zusammenzucken machte Amanda reflexartig einen Schritt nach vorne, doch sie brauchte ihn nicht zu stützen.

Schon jetzt konnte sie sehen, wie gut es ihm tat, zu Hause zu sein. Offensichtlich hatte er seine Begleiterin schon vollkommen vergessen, denn er stellte sie seinem kleinen Bruder nicht vor. Das konnte allerdings auch an dem Mann liegen, der soeben zu der Willkommensszene gestoßen war.

Was Amanda sofort auffiel, war das Gespür und die Verbundenheit des Reiters zu seinem Pferd. Es sah so aus, als brauche der Mann seinem Reittier nur mit einem winzigen Druck seines Beins zu befehlen, stehenzubleiben.

Nataniels Pflegevater war zwar ein Stück kleiner, aber trotzdem noch beeindruckend groß und vor allem nicht weniger breitschultrig als sein Sohn. Außerdem strahlte er eine gewisse Lebenserfahrung aus, die ihn härter erscheinen lassen konnte und die Nataniel noch fehlte.

Der Mann gefiel Amanda sofort. Auch deshalb, weil sie wusste, dass er ihr einen Heidenrespekt würde einflößen können, wenn er es denn wollte. So eine Vaterfigur wünschte sich wohl jedes Kind.

Außerdem war Nataniel anscheinend auch noch mit dem Bild einer Mutter gesegnet, die gerade mit einem kleinen Kätzchen auf dem Arm aus dem Haus kam.

Ihre Stimme war warm und samtig und stellte fast das Gegenteil zu dem etwas rauen Bass von Nataniels Vater dar. Überhaupt schien Nataniels Mutter von feiner Art zu sein, wobei sie aber auf keinen Fall zerbrechlich wirkte.

Sie war auf eine natürliche Weise schön und strahlte gleichzeitig sehr viel Kraft aus.

Amanda ließ ihren Blick einmal über die versammelte Familie und Nataniel in deren Mitte schweifen und lächelte.

Ja, hier gehörte er hin.

Es war seltsam so etwas aus ihrer Position zu sehen, als jemand, der seine eigene Familie früh verloren hatte und der Elternersatz für einen kleinen Bruder hatte sein müssen. Es war einfach so ... perfekt.

Fast fühlte sich Amanda von dem warmen Gefühl, das die Familie zwischen einander verströmte und der Willkommensfreude richtig wohl. Das verflüchtigte sich allerdings schlagartig, als Amanda die Reaktion von Nataniels Eltern sah.

Ihr selbst war nicht sehr wohl dabei, dass Nataniel sie gerade seine 'Gefährtin' genannt hatte.

Hatte er ihr nicht beschrieben, was es mit dieser Bezeichnung auf sich hatte? Das kam einer menschlichen Ehe gleich und jetzt lernte Amanda ihre Schwiegereltern kennen. Und die waren unverkennbar nicht gerade begeistert.

Amanda fühlte richtig, wie ihr Lächeln gleichzeitig mit ihrer Haut erblasste. Ihr Fluchtinstinkt schlug so intensiv hoch, dass es bloß gut war, dass Nataniel seinen Arm um sie gelegt hatte. Außerdem hatte er die Autoschlüssel. Amanda konnte den Wagen aber kurzschließen ...

Erstaunt schüttelte Amanda die große, kräftige Hand von Nataniels Vater, die seiner Mutter und dann noch die seines kleinen Bruders, bevor sie von Nataniel ins Haus geschoben wurde.

Drinnen war es angenehm kühl und gemütlich eingerichtet.

Sobald man das Haus betrat, stand man in einem großen Raum, an dessen Wänden Bücherregale standen und auch ein relativ alt wirkendes Klavier. Außerdem gab es zwei nicht zueinander passende Sessel und eine große Couch. Alles um einen kleinen Tisch gruppiert, der aus einem riesigen Baumstamm geschnitzt und dann poliert worden war.

Amanda sah sich um und versuchte so gelassen zu wirken, wie sie konnte. Natürlich misslang die Aktion, als ihr wieder bewusst wurde, dass jeder Anwesende genau riechen konnte, wie nervös sie war.

Das brachte Amanda nur noch mehr ins Schwitzen.

Gerade hier, in den vier Wänden von Nataniels Familie, kam sie sich wieder einmal wie ein schwacher Mensch vor.

Gefährtin?!

Seine Eltern würden Nataniel diese Dummheit schon ausreden, und wenn nicht bald etwas passierte, das ihr die Panik nahm, würde Amanda sie dabei noch tatkräftig unterstützen.

„Möchten Sie vielleicht was trinken, Amanda?“

Nataniels Mutter stand hinter der Küchenzeile, die hinter einer offenen Theke an das Wohnzimmer anschloss, und lächelte warm.

„Ja, Wasser wäre gut, danke.“

Amanda beobachtete bewundernd, wie die Frau Wasser aus einem Krug in mehrere Gläser schüttete, ohne das Berglöwenbaby in ihrem Arm dabei zu stören oder gar fallenzulassen. Denn die kleine Lucy war anscheinend gerade richtig aufgewacht und regte sich spielerisch in der schützenden Umarmung ihrer Mutter.

Um sich nicht bedienen zu lassen, kam Amanda Mary entgegen und nahm ihr das Glas ab. Dabei wanderte ihr Blick automatisch auf Nataniels kleine Schwester.

Das Schmusekätzchen blickte Amanda mit riesigen Augen entgegen und rührte sich kein Bisschen.

Vielleicht machte ihr der Menschengeruch Angst. Immerhin war sie bestimmt noch nie mit einem Menschen in Kontakt gekommen.

Vielleicht machte Amanda einen großen Fehler, aber es geschah ganz automatisch, dass sie ihre Finger langsam zu Lucys Schnauze ausstreckte, um die Kleine daran riechen zu lassen. Das tat diese auch sehr ausgiebig, bis sie blitzschnell ihre kleinen Pfoten um Amandas Hand schlang und einmal in ihre Hand biss.

Es war nicht fest und zwickte nur leicht.

Amanda vermied es, ihre Hand zurückzuziehen, weil sie Lucy nicht noch mehr erschrecken wollte, und wurde im nächsten Moment dafür belohnt. Der kleine Berglöwe schnurrte mit neu erwachtem Enthusiasmus los und leckte über die Stelle, in die sie gerade gebissen hatte.

Na, wenn das Amanda nicht bekannt vorkam. Ein breites Lächeln kam auf ihr Gesicht und sie stupste an Lucys Nase, bevor sie sich ihrem Klammergriff entwand.

Kyle war bereits mit Tischdecken fertig, was Amandas Magen auf den Plan rief. Sie hatten zwar spät gefrühstückt, aber es war für ihren ausgehungerten Körper anscheinend nicht genug gewesen.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Mary?“

Nataniels Mutter lächelte und drückte ihrem Mann das Baby in den Arm, bevor sie sich daran machte, riesige Mengen Essen aus dem Kühlschrank auf Servierplatten zu häufen.

Amanda wurde nur dazu abgestellt, das Ganze dann zum Tisch zu tragen und irgendwo einen Platz dafür zu finden. Nachdem das gemeistert war, versammelten sich alle und nahmen an dem großen Holztisch Platz.

Erst jetzt, da die Blicke aller wieder auf Nataniel und ihr ruhten, wurde Amanda wieder nervös.

Am liebsten hätte sie unter dem Tisch seine Hand genommen, aber das kam ihr kindisch und albern vor. Trotzdem tat Amanda es nur deshalb nicht, weil sie vor Nataniels Eltern nicht das Bild des schwachen Menschen bestätigen wollte.

Gott, sie kam sich wirklich vor, wie auf dem Prüfstand. Was musste sie sich auch nicht nur irgendeinen Wandler, sondern auch noch ein Alphatier aussuchen?

Amandas Blick wanderte kurz zu Nataniels Gesicht und sofort wusste sie wieder warum.

Sie lächelte und ihr Herz schlug eine Spur schneller.

 

Nataniel ließ Amanda keine Sekunde aus den Augen, während er seinem kleinen Bruder beim Tischdecken half.

Natürlich bekam er wie alle anderen mit, wie nervös sie war. Doch das war nur zu verständlich, weshalb auch niemand etwas sagte. Was das anging, konnte er sich voll und ganz auf seine Eltern verlassen. Das wäre nicht das erste Mal, dass sie mit einem Menschen zu tun hätten, und würde auch sicherlich nicht das letzte Mal sein. Denn zu ihrer Überlebensstrategie gehörte es nun einmal dazu, sich anzupassen und einfach zu versuchen, so menschlich zu wirken, wie nur möglich.

Weshalb es Kyle auch verboten war, sich im Haus zu verwandeln, oder irgendwo draußen, wo ihn schnell jemand entdecken könnte. Lucy war da die Ausnahme. Sie konnte es noch nicht kontrollieren. Aber sollte wirklich einmal menschlicher Besuch eintreffen, der keinerlei Ahnung von der Existenz von Gestaltwandlern hatte, würde sie einfach derweil in ihrem Bettchen bleiben müssen.

Apropos, seine kleine Schwester schien Amanda ausnehmend gern zu haben. Sie hatte sie schon auf ihre Weise markiert, was doch wohl nur als ein gutes Zeichen zu werten war.

Allerdings erinnerte es Nataniel daran, dass seine Eltern ihm wohl nicht wirklich vollkommen zu glauben schienen, was die Ernsthaftigkeit seiner Gefühle für Amanda anging. Sie roch zwar nach ihm, aber eben nur so, wie jeder andere Mensch nach ihm riechen würde, den er ein paar Mal mehr angefasst hatte.

Ganz anders als die Bindung zwischen seinen Eltern. Der Duft der beiden war meistens immer sehr deutlich als das anzusehen, was er bedeutete. Nämlich, dass sie zusammengehörten.

Noch etwas, was Nataniel Amanda noch nicht erzählt hatte.

In den 'Ehen' von Gestaltwandlern ließ der Sex mit der Zeit nicht nach, sondern kam in den meisten Fällen sogar noch erhöhter vor als vor einer Bindung. Natürlich spielte dabei auch das Alter mit der Zeit eine Rolle, aber wenn jemand noch so jung war wie seine Pflegeeltern, konnte man in keinem Haus mit dünnen Wänden leben.

Man bekäme fast jede Nacht etwas zu hören, nicht selten auch am Tag.

Als sie schließlich alle am Tisch saßen und für gewöhnlich nun die heiklen Fragen gestellt wurden, welche die Betroffenen am liebsten vermeiden würden, war Nataniel dankbarer denn je, dass er hier nicht mit einer normalen Familie am Tisch saß. Denn natürlich wurden Fragen gestellt, aber da seine Eltern und zu einem gewissen Grad auch sein Bruder sehr deutlich spürten, dass es da Dinge gab, über die Nataniel im Moment nicht reden wollte, waren es leichte Fragen. Zum Beispiel: Wie die Fahrt hierher so war? Wie lange Nataniel und Amanda sich schon kannten? Ob ihr die Gegend gefiel?

Im Gegenzug versuchte Nataniel auch den Frageschwall zu unterbinden, in dem er seine Mom über Lucys Entwicklung ausfragte.

Offenbar verwandelte sich seine Schwester nun alle paar Tage in die jeweils andere Gestalt zurück, was seine Mutter etwas nervte, weil sie dann immer die Milchpumpe verwenden musste, wenn Lucy mal wieder scharfe Zähnchen besaß und seine Mutter nicht einsah, sich zum Stillen ebenfalls in ein Tier zu verwandeln. Immerhin wollte sie seine Schwester nicht zu sehr verwöhnen. Gerade in diesem heiklen Alter musste die Verwandlung immer wieder angeregt werden, weil die Kinder sonst versucht waren, dem Schmerz dadurch zu entgehen, dass sie einfach nicht mehr die Gestalt wechselten. Doch je öfter sie es taten, umso leichter wurde es. Lernen war eben nicht immer einfach.

„Ich hab vor einer Woche ganz alleine zwei Bisamratten erlegt!“, verkündete Kyle seinem Bruder stolz zwischen kaltem Roastbeef und einem Bissen Kartoffelpüree.

Daraufhin musste Nataniel natürlich in das Gespräch einhaken und sich die näheren Details erzählen lassen, auch wenn sie ihn in Wahrheit nicht so sehr interessierten. Aber er hatte seinen kleinen Bruder lange nicht mehr gesehen, weshalb er froh war, dem unermüdlichen Redeschwall wieder einmal zuhören zu können.

Während also Kyle mit reden beschäftigt war, versuchte Nataniel das Auftreten seiner Familie aus fremden Augen zu sehen.

Ihm fiel auf, wie oft sie sich gegenseitig berührten. Kyle zum Beispiel strich ihm immer wieder über den Arm, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Sein Vater saß sogar Schulter an Schulter mit seiner Mutter, während jeder der beiden verschiedene Speisen auf dem Teller hatte und damit den jeweils anderen Partner fütterte, als wäre es das natürlichste der Welt.

Ab und zu kicherten seine Eltern über ein paar zugeflüsterten Zärtlichkeiten, woraufhin verliebte Blicke folgten, ehe sie sich wieder vollkommen auf Nataniel konzentrierten und ihm und Amanda ein warmherziges Lächeln schenkten. Auch wenn er in den Augen seiner Mutter sehen konnte, dass ihr nicht entgangen war, wie viel Abstand zwischen ihm und Amanda bestand und dass er sie weder fütterte, noch sonst irgendwie berührte.

Es war nicht so, dass Nataniel nicht wollte. Gerne hätte er sie sogar auf seinen Schoß gezogen, um ihr kleine Leckerbissen zwischen die Lippen zu schieben. Aber sie war ein Mensch. Er wusste nicht, wie weit sie mit so etwas klarkam, weshalb er nichts anderes tun konnte, als seinen Blick immer wieder zu ihr schweifen zu lassen, sie anzusehen und ihr ein Lächeln zu schenken, als gehöre sie alleine zu seiner ganz persönlichen Welt.

Irgendwann, als sie es schadlos bis zum Dessert geschafft hatten, fing Lucy in ihrer Wiege zu jammern an. Erst war es nur ein Fiebsen, dann ein Wimmern und schließlich weinte sie aus vollem Leibe mit der Stimme eines Babys.

„Oh, oh. Da hat sich wohl wieder jemand verwandelt“, meinte Nataniels Mutter leichthin.

„Jetzt kann ich ihr wenigstens wieder Windeln anlegen.“

Gerade als sie aufstehen wollte, nutzte Nataniel die Chance um Amanda und sich von noch möglichen unangenehmen Gesprächen zu befreien. Wenn er über alles reden wollte, dann bitte alleine. Amanda musste nicht von allem etwas mitbekommen, außerdem wusste seine Mutter noch immer nicht, was vorgefallen war. Auch wenn ihr sicherlich der Blutgeruch an seinem Körper nicht entgangen war.

„Lass nur, Mom. Ich kümmere mich schon darum. Amanda? Willst du Lucy mal als nacktes, unbehaartes Baby sehen?“

Er schnappte ihre Hand, zum ersten Mal an diesem Abend, und zog sie hoch. Es war inzwischen schon finster geworden und bestimmt war Amanda genauso müde wie er. Heute wollte er sich keinen Gesprächen mehr stellen. Sie garantiert auch nicht. Weshalb er zusammen mit Amanda zu der Babywiege ging, in der Lucy noch immer wie eine Sirene heulte und seine kleine Schwester vorsichtig hochnahm. Er schlang die weiche Decke um ihren nackten Körper und trug sie aus dem Zimmer, während er Amanda noch immer nicht losließ.

Im ersten Stock legte er das inzwischen wieder etwas beruhigte Strampeltier im Badezimmer auf eine Wickelmatte, um der kleinen Lucy nicht nur ein paar Windeln umzuschnallen, sondern ihr auch gleich einen Strampelanzug anzuziehen.

 

Sie waren alle wirklich furchtbar nett.

Amanda beantwortete die Fragen von Nataniels Eltern, erzählte ein wenig mehr – zumindest so viel, wie sie bedenkenlos erzählen konnte – und bemühte sich ihre Nervosität einigermaßen abzulegen. Aber das war nicht unbedingt einfach. Hier ging es so anders zu, als Amanda es seit dem Tod ihrer Eltern gewohnt war.

Die Familienmitglieder schenkten einander so viel Aufmerksamkeit, dass Amanda von Zeit zu Zeit erstaunt das Kauen vergaß und sich immer wieder selbst daran erinnern musste, dass sie eigentlich gerade aß.

So viel geballte Zuneigung, die auch noch vor allen anderen gezeigt wurde, war wirklich Neuland für Amanda und sie fühlte sich, als würde sie sich selbst immer mehr ausschließen.

Die Blicke von Mary entgingen Amanda nicht im Geringsten, und wenn man die beiden Paare verglich, konnte Amanda die Sorge der Mutter nur zu gut verstehen. Immerhin verhielten sich Nataniel und sie nicht unbedingt so, wie man es von Verliebten erwarten würde.

Konnte Amanda wirklich Fehler machen, indem sie nichts tat? Um einen kleinen Seufzer zu verbergen, tupfte sie sich mit einer der großen Stoffservietten den Mund ab und atmete einmal tief durch.

Das hier war eine ganz andere Herausforderung, als es das Rudel gewesen war. Dort hatte Amanda nur darauf achten müssen, Nataniel nicht vor allen anderen zu nahe zu kommen, um ihnen nicht das Gefühl zu geben, dass sie hinten anstehen mussten. Hier schien genau das Gegenteil von ihr verlangt zu werden.

In den Augen von Nataniels Familie musste Amanda wirklich wie ein Eisbrocken wirken, weil sie sich nicht an ihm hängte. Aber obwohl sie kurz daran dachte, es zu tun, kam es ihr nicht richtig vor. Sie wusste nicht einmal, ob genau das von ihr erwartet wurde oder etwas völlig anderes. Oder vielleicht erwartete auch niemand irgendetwas von ihr, weil sie schon durch ihr Menschsein durch die Prüfung gefallen war.

Setz dich nicht selbst so unter Druck!, versuchte sich Amanda zu ermahnen. Niemand hatte Forderungen an sie gestellt. Alle waren freundlich. Noch gab es keinen Grund zur Panik, außer, dass sie so gern einen guten Eindruck auf Nataniels Familie gemacht hätte und genau das gerade den Bach hinuntergehen sah.

Obwohl die Stimmung nicht schlecht war – eigentlich ganz im Gegenteil – war Amanda Lucy und Nataniel gleichermaßen für den Ausweg dankbar.

Bereitwillig ließ sie sich von ihrem Platz hochziehen und folgte Nataniel in den ersten Stock und dort ins Badezimmer.

Sie konnte sich nicht recht entscheiden, ob sie die kleine Lucy in ihrer menschlichen oder ihrer Berglöwengestalt mehr zum Anbeißen fand. Die Kleine zauberte Amanda ein Lächeln aufs Gesicht, als sie mit ihren winzigen Fingern ihre Hand ergriff und an ihrem Zeigefinger herumnuckelte.

„Ich hoffe, es war nicht zu schlimm für dich“, meinte Nataniel plötzlich.

Überrascht sah Amanda zu ihm hoch.

„Nein, ganz und gar nicht. Ich ...“

Etwas frustriert ließ sie den Kopf hängen und sah Lucy an, die beinahe einschlief, während sie Amandas Finger als Schnullerersatz verwendete.

„Ich fühle mich nur so, als würde ich alles falsch machen. Deine Familie ist so herzlich und nett. Irgendwie komme ich mir vor, als ... als sollte ich auch freundlicher und netter sein. Das tun, was eine Wandlerin an meiner Stelle tun würde.“

Amandas Stimme war leise geworden und sie lehnte sich vorsichtig an Nataniels Seite, wobei sie schutzsuchend seinen Arm um sich legte und seine Hand streichelte.

„Wahrscheinlich ist das alles, nur selbstausgedachter Blödsinn, aber ich wollte einen guten ersten Eindruck hinterlassen. Und mir kommt es so vor, als wäre es mir nicht unbedingt geglückt.“

Lucy schien eine gleichzeitig beruhigende und hypnotische Wirkung zu haben. Vielleicht lag es aber auch an Nataniels Wärme und seinem Geruch, der in Amanda immer Wohlbehagen auslöste, dass sie auf einmal unglaublich schläfrig wurde.

Am liebsten hätte sie sich auf der Stelle auf dem flauschigen Badezimmerteppich zusammengerollt und hätte einen Monat lang durchgeschlafen. Da sie das nicht konnte oder zumindest nicht tun würde, hielt sie sich nur die Hand vor den Mund, um ein Gähnen zu verstecken und blinzelte müde mit den Augen.

 

Da Amanda Lucy so gekonnt zum Einschlafen bewegte, war es für Nataniel leicht, ihr den Strampelanzug über zu streifen, da sie so brav stillhielt. Danach nahm er das kleine Baby hoch und legte es für einen Moment Amanda in die Arme. Das Ergebnis verfehlte auf keinen Fall seine Wirkung.

Nataniels Herz schien heißer als die Sonne zu glühen, als er Amanda mit seiner kleinen Schwester im Arm sah.

Es war ein wunderschönes, harmonisches Bild. Wie konnte sich Amanda überhaupt darüber Sorgen machen, dass sie etwas falsch machte? Wenn Nataniel an ihrer Stelle wäre, er hätte es garantiert geschafft, alles zu verbocken, aber sie hielt sich wirklich gut.

Während Amanda Lucy in den Armen wiegte, räumte Nataniel die Babysachen weg.

„Mach dir bitte nicht zu viele Gedanken darüber, was du tun sollst und was nicht. Ich liebe dich, wie du bist und nicht wie andere dich vielleicht gerne hätten. Du musst dich für mich nicht verbiegen und verstellen. Sei einfach, wie du dich am wohlsten fühlst, hab aber bitte auch keine Scheu, mich zu fragen, wenn dir etwas seltsam vorkommt. Es gibt immerhin viele Dinge, die du garantiert noch nicht über uns Gestaltwandler weißt, eben weil du noch nie diese Art von Kontakt mit uns hattest.“

Nataniel schlang den Arm um sie und führte sie zusammen mit Lucy über den Flur durch eine Zimmertür, an der ein kleiner Berglöwe aus Holz hin und her baumelte.

Lucys Kinderzimmer war früher auch einmal seines gewesen. Danach das von Kyle und nun eben das von dem jüngsten Nachwuchs.

Nach Kyles Geburt hatte man noch nicht viel ändern müssen. Doch seit Lucy hier schlief, waren die Wände in weiblicheren Farbtönen verziert. Auch die Babydecke war von einem wärmenden Gelb, wohingegen Nataniels von einem leuchtenden Rot gewesen war. Er hatte diese Farbe damals sehr geliebt. Hatte ständig seine Decke im Mund, bis er sie so zu Tode gelutscht hatte, dass kein Nähversuch seiner Mom sie mehr hatte retten können.

„Hier. Leg sie ins Bettchen. Sollte sie doch noch einmal hungrig werden, wird Mom sich schon um sie kümmern.“

Nataniel hatte zu flüstern begonnen, da seine kleine Schwester die Augen geschlossen hatte. Bestimmt war sie bereits auf dem besten Weg ins Land der Träume.

Nachdem Amanda das Baby in das selbst gebaute Holzbettchen gelegt hatte, deckte Nataniel sie gründlich zu und schlang dann abermals einen Arm um Amanda. Seinen Kopf lehnte er gegen ihren, während er seine kleine schlafende Schwester betrachtete.

„Irgendwie eine gute Idee. Findest du nicht? Komm. Lass uns ‚Gute Nacht‘ sagen. Danach zeige ich dir mein eigenes kleines Reich.“

 

Nataniels Mom räumte gerade die Essensreste weg, während Kyle seinem Vater beim Abwasch half. Es war ein für Nataniel sehr vertrautes Bild und ließ ihn wieder lächeln. Er hatte dieses Gefühl sehr vermisst. Wie sehr, wurde ihm dadurch erst jetzt klar.

„Lucy liegt bereits im Bett und schläft. Wir werden ihrem Beispiel folgen“, verkündete Nataniel und versuchte dabei ein Gähnen zu unterdrücken. Sofort ließ seine Mutter die Käseplatte stehen und kam auf ihren Sohn zu.

„Tut das. Ihr seht auch wirklich müde aus.“

Sie lächelte fürsorglich, ehe sie zuerst Nataniel umarmte, ihm einen Kuss auf die Stirn gab und sich dann an Amanda wandte.

„Es war wirklich nett dich kennenzulernen, meine Liebe. Sag einfach bescheid, wenn du noch etwas brauchen solltest. Bis dahin wünsche ich euch beiden eine gute Nacht.“

Nataniel überraschte es nicht wirklich, dass seine Mutter auch Amanda kurz umarmte, ehe sie sich lächelnd von ihr löste. Das gemeinsame Abendessen hatte nicht nur aus einem Sie ein Du gemacht, sondern wohl noch mehr gelockert.

Wenigstens war sein Dad nicht gar so überschwänglich, sondern klopfte ihm nur ganz sachte auf die Schultern und wünschte ihnen beiden ebenfalls eine gute Nacht.

Kyle war noch kürzer angebunden, aber so war er nun einmal.

Schließlich waren sie endlich wieder an der frischen Luft, weshalb er Amanda wieder dicht an sich heranzog.

„Also, ich weiß ja nicht, was du für einen Eindruck hast, aber ich bin mir sicher, dass dich meine Eltern mögen.“

 

Ob es nun die kleine Lucy war oder die Tatsache, dass sie gleich ins Bett gehen würden, war Amanda nicht klar, aber auf jeden Fall schienen ihre Augenlider bereits Tonnen zu wiegen, als sie die Holztreppe wieder hinunter in den Wohnraum ging.

Wieder bot sich ihr ein familiäres Bild und eigentlich wollte Amanda, trotz ihrer Müdigkeit, ihre Hilfe anbieten. Da kam ihr Nataniel jedoch zuvor, indem er mitteilte, dass sie ins Bett verschwinden würden.

Erst als sie draußen vor dem Haus standen, wurde Amanda wirklich klar, wie herzlich man ihr gerade eine gute Nacht gewünscht hatte. Nataniels Mutter hatte sie sogar umarmt. Und doch … Nataniel riss sie mit seiner Feststellung aus ihren inzwischen ziemlich langsamen Gedankengängen. Ein wenig zuversichtlicher als zuvor im Bad, lächelte sie ihn an, sagte aber nichts dazu.

 

Obwohl es schon fast stockfinster war, führte er sie zielgerichtet und mit Bedacht den Pfad zwischen den Bäumen entlang.

Vor der kleinen Blockhütte angekommen, tastete er über dem Türbalken nach dem Schlüssel und sperrte die Tür auf.

Sofort schlug ihm der wohlvertraute Geruch seiner eigenen Behausung entgegen.

Es war eine Mischung aus ihm selbst, getrockneten Kräutern, frischen Kiefernnadeln und dem Öl, mit dem das Holz der Wände, den Böden und der Decken eingelassen war.

Als er das Licht anknipste, wurde alles in einen warmen Schein gehüllt. Auf den ersten Blick wirkte es wie ein einziger großer Raum. Mit einer gemütlichen und sehr großen Couch, einer eigenen kleinen Küchenzeile, die er eigentlich nur für kleine Snacks benutzte, einem Esstisch, einem Fernseher, Regalen voll mit Büchern, DVDs und seinen alten Computerspielen.

Hinter einem mit rotem Stoff bezogenen Paravent stand das große Holzbett gut verborgen, vor den ersten Blick und daneben lag eine große Fensterfront mit einer Terrassentür.

Er mochte es nun einmal sehr, wenn er im Bett lag, und durch das Fenster den Fluss zwischen den Bäumen hindurch schlängeln sah. Notfalls hatte er relativ blickdichte Vorhänge zum Schließen. Auch wenn er das eigentlich nie tat.

Neben der Küche war noch eine Tür, wo er sein kleines, aber gut ausgestattetes Badezimmer hatte. Zwar ohne Badewanne, aber dafür mit einer großen Dusche. Immerhin war er auch ein großer Mann.

„Fühl dich wie zu Hause“, flüsterte er ihr leise zu, ehe er Amanda einen Kuss gegen ihre Schläfe hauchte.

 

Der Weg, den Nataniel sie entlang führte, lag im Dunkeln. Natürlich brauchte er keine Lampe, um den Weg zu finden. Seine gute Nachtsicht erübrigte die Beleuchtung. Amanda musste ihm – einmal mehr – relativ blind folgen. Aber diesmal war der Pfad eben und gleichmäßig und sie schaffte es, ohne jedes Stolpern oder Zögern an der kleinen Hütte anzukommen. Der Mond war eine winzige Sichel. In zwei Tagen würde es Neumond sein.

Amanda hörte einen Schlüssel im Schloss und dann sprang die Tür vor ihr auf. Nataniel schob sie in das kleine Haus und schaltete das warme Licht ein.

Zunächst sah Amanda sich um. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Eigentlich hatte sie sich darüber, wie Nataniels 'Reich' aussehen mochte, noch gar keine Gedanken gemacht. Es hatte ein wenig von einer typischen Junggesellenbude, da nirgendwo irgendwelche Blumen standen oder auch nur ein Bild an der Wand hing. Das brauchte er bei dieser Aussicht auch bestimmt nicht. Das Bücherregal, in dem DVDs, CDs, Bücher und Zeitschriften in einer für Amanda nicht erkennbaren Ordnung standen, hatte seinen ganz eigenen Charme. Insgesamt hatte Nataniel es wirklich sehr gemütlich und vor allem geräumig.

Auf Nataniels Angebot hin, sich wie zu Hause zu fühlen, küsste Amanda ihn auf die Wange.

„Das werd ich.“

Sie sah ihn an und ging um ihn herum, damit sie sich gegenüberstanden.

Amanda war nicht entgangen, dass Nataniel sich immer wieder etwas schonend bewegt hatte, um seine Verletzungen nicht zu sehr zu belasten. Er war hier bestimmt einigermaßen ausgestattet.

Nach den Worten seiner Mutter und den Narben auf seinem Körper konnte man davon ausgehen, dass das nicht die ersten tieferen Kratzer und Bisse waren, die er versorgen musste.

Mit beiden Händen schob Amanda sein Shirt ein wenig hoch und musterte prüfend den Verband, der zum Vorschein kam.

Auf den ersten Blick war kein Blut zu sehen, aber bis jetzt waren die Wunden nicht wirklich richtig behandelt worden. Amanda wäre wohler gewesen, wenn sie zumindest die Kleineren hätte desinfizieren können.

„Darf ich mich ein wenig um deine Verletzungen kümmern? Ich weiß, dass sie unglaublich schnell heilen, aber sie machen mir trotzdem Sorgen.“

Sie wollte sich selbst davon überzeugen, dass die Wunden sich sauber schlossen und sich nicht doch noch entzündeten. Bei Nataniel hätte sie äußerlich wahrscheinlich viel zu spät bemerkt, wenn er Fieber bekommen hätte.

 

Als Amanda sich vor ihn stellte und ihm das Shirt hochziehen wollte, zuckte er automatisch etwas zurück. Hielt dann aber still, weil er doch wusste, dass sie vorsichtig sein würde. Außerdem konnte er von ihren Berührungen ohnehin nie genug bekommen.

„Wenn du dafür nicht schon zu müde bist? Ansonsten können wir das auch ruhig auf Morgen verschieben. Ich werde es bestimmt überleben.“

Zwar lächelte er leicht amüsiert, löste sich dann aber von Amanda, um sich auf dem Weg zum Bad schon einmal die Lederjacke auszuziehen, die er über einen der Barhocker hängte, die an der Theke standen.

Im Badezimmer selbst war auch alles so aufgeräumt, wie er es verlassen hatte. Nataniel gehörte vielleicht nicht zu den superordentlichen Männern, aber wenn er wusste, dass er bald verreisen würde, machte er grundsätzlich sauber, damit alles in Ordnung war, wenn er wieder Heim kam.

Gerade an Abenden wie diesem wollte er schließlich nicht noch den ganzen Müll wegräumen müssen, der im schlimmsten Fall vielleicht auch noch pelzige Füße bekommen hatte.

Im Bad warf er sein Shirt in den leeren Wäschekorb und holte eine große Schachtel aus einem der Regale. Sie hatte ungefähr die Größe eines durchschnittlichen Umzugskartons und war bis zum Rand voll mit der feinsten Erste-Hilfe-Ausstattung, die man für den normalen Hausgebrauch von Gestaltwandlern finden konnte.

Zurück bei Amanda stellte er den Karton auf dem hölzernen Couchtisch ab und legte den Deckel zur Seite.

„Es müsste alles da sein, was du brauchst und ein bisschen mehr. Immerhin glaube ich nicht, dass du mich gleich operieren willst.“

Dieses Mal grinste er tatsächlich amüsiert. Zwar fühlten sich die Schmerzen keinesfalls komisch an, aber das war nun einmal Gestaltwandlerhumor.

Nachdem er sich gesetzt hatte, begann er mit einer Schere schon einmal die Verbände durchzuschneiden.

Am Rücken klebten sie etwas fest, weshalb er sie dort noch einfach so lose hängen ließ, bis sich Amanda darum kümmern würde. Den Rest machte er sich jedoch selbst ab und unterzog sich gleich einer genauen Prüfung.

Die Kratzspuren waren allesamt schon recht gut verschlossen, bis auf die am Rücken, die wohl durch die Umarmungsorgien etwas gelitten hatten. Aber alles nicht allzu schlimm. Wie schon gesagt, er würde es überleben und in ein paar Tagen könnte er sich bestimmt schon wieder uneingeschränkt bewegen.

Das Einzige, was wirklich noch nicht sehr gut aussah, war die Bisswunde an seiner Hand. Sie begann auch sofort wieder leicht zu bluten, als er den Verband abnahm. Aber da hätte Amanda sie frisch nach dem Kampf sehen sollen. Da war er sich noch nicht einmal sicher gewesen, ob Nicolai ihm mit seinen Zähnen nicht irgendwelche wichtigen Venen durchtrennt hatte, so stark hatte die Wunde geblutet. Dagegen sah sie jetzt schon sehr schön aus. Fleischig und saftig, aber keinesfalls mehr wie eine undefinierbare Fleischmasse.

 

Okay, sie durfte sich über nicht allzu viele Sachen wundern, aber jetzt hatte Nataniel sie doch etwas kalt erwischt.

Die Größe seiner Verbandskiste war wirklich beeindruckend – oder war erschreckend eher das Wort, das Amanda gebrauchen würde?

Während Nataniel sich selbst, so gut es ging, von seinen Verbänden befreite, ging Amanda zur Küchenzeile hinüber, öffnete ein paar Schränke und fand schließlich eine Schüssel, die sie mit lauwarmem Wasser füllte. Zunächst nässte sie die Mullbinden etwas an, die noch an seinem Körper hafteten, damit sie sie einigermaßen schmerzlos entfernen konnte. Amanda hatte gleich den Mülleimer von unter der Spüle mitgebracht, um allen Abfall darin verschwinden zu lassen. Das wurde nach einer Weile des Abwaschens, Desinfizierens und Verbindens eine ganze Menge Müll.

Nataniels Handgelenk hatte es wirklich schlimm erwischt, aber entgegen Amandas Befürchtung schien nichts zu eitern oder auch nur ungewöhnlich Hitze abzugeben, was auf eine verdeckte Infektion hätte schließen lassen.

Als sie jeden kleinen Riss, Biss und Kratzer versorgt hatte, stand sie auf und sah Nataniel auffordernd an. Der schien im ersten Moment gar nicht zu kapieren, was sie von ihm wollte.

Mit einem kecken Lächeln deutete sich ein kurzes Nicken an.

„Hosen runter.“

Jetzt war Nataniels Blick so erstaunt, dass Amanda lachen musste. Sie beugte sich zu ihm hinunter, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf die Lippen, bevor sie ihn tadelnd ansah.

„Leider nicht das, was du denkst, mein Schmusekater. Ich befürchte, die Verletzungen beschränken sich nicht nur auf die obere Hälfte deines Körpers.“

Sie half ihm hoch und sah ihm dabei zu, wie er sich von der Jeans befreite, bevor sie sich wieder seiner Verletzungen annahm. Allerdings waren es hier auffällig weniger als an seinem Torso. Sie mussten also beide wenig Geduld aufbringen, bis Amanda ihn zufriedenstellend versorgt hatte.

Bevor sie sich ganz aufrichtete, konnte sie sich einen winzigen Kuss auf seine Hüfte nicht verkneifen. Etwas müde lächelte sie Nataniel schließlich an.

„Alles klar, du darfst jetzt offiziell schlafen gehen.“

Ein Gähnen zeigte, dass sie selbst liebend gern mit ihm ins Bett gehen wollte. Bloß noch kurz Zähne putzen, sich ein wenig Waschen und dann nichts mehr tun, als sich ausruhen.

 

Während Amandas Behandlung wurde Nataniel noch ruhiger, als er es heute ohnehin schon war. Immerhin musste er sich sehr darauf konzentrieren, stillzuhalten, während Amanda ihm die Wunden reinigte, desinfizierte und neu verband.

Ihm kam dabei kein Laut über die Lippen, aber hätte sie ihm ins Gesicht gesehen, wäre ihr aufgefallen, wie blutleer sie waren, weil er sie so fest aufeinanderpresste.

Er war wirklich kein Jammerlappen, aber das hier war schon ganz schön heftig. Als es dann um sein Handgelenk ging, musste er sogar den Kopf wegdrehen, um Amanda sein schmerzverzerrtes Gesicht nicht zu zeigen. Das stärker werdende Zittern seines Körpers konnte er jedoch nicht unterdrücken.

Umso überraschter war er darum, als sie ihm befahl, die Hosen runterzulassen. Tatsächlich war er einen Moment lang so verwirrt, dass er gar nicht begriff, was sie von ihm wollte. Was sie allerdings mit ihren nächsten Worten klarmachte.

Zwar würde er es nie zugeben, aber in diesem Augenblick war er erleichtert, dass sie lediglich auch die Wunden an seinen Schenkeln und auch die paar Kratzer auf seinem Hintern versorgen wollte. Im Augenblick wäre nämlich seine Einsatzbereitschaft völlig unmöglich gewesen.

Leicht zittrig zog er also die Jeans aus und warf sie über die Couchlehne. Natürlich hatte er wie immer keine Unterwäsche getragen, aber das störte ihn im Augenblick weniger denn je. Mit all den Verbänden am Körper fühlte er sich auf gewisse Weise sogar angezogen.

Obwohl er sich nach Amandas fürsorglicher Behandlung nun wieder sauberer und erfrischter fühlte, tat ihm doch alles erneut ziemlich weh, weshalb er tatsächlich nur einfach in sein Bett und eine Runde schlafen wollte.

„Danke, fürs Verarzten.“

Sanft küsste er ihre Lippen.

„Dein Rucksack ist noch im Auto, aber im Schrank hinter dem Badezimmerspiegel findest du alles, was du brauchst.“

Mit diesen Worten betrachtete er die Schachtel etwas skeptisch und entschied einfach nur den Deckel daraufzulegen. Im Augenblick hätte er sie nicht mehr tragen können, weshalb er einfach nur den Müll wegräumte, und sein Bett bezog, während Amanda im Bad war.

Danach stellte er die rote Lavalampe auf dem Nachttisch an und schaltete das große Licht aus. Mit dem Gesicht zur Glasfront gerichtet, legte er sich völlig erschöpft und leise ächzend ins Bett. Die Decke konnte er gerade noch bis über seine Hüften ziehen, da war er auch schon eingeschlafen, obwohl er gerne noch auf Amanda gewartet hätte.

 

Es war nicht das erste Mal, dass Amanda sich in einem fremden Badezimmer für die Nacht fertigmachte. Immerhin hatte sie schon vorher einmal bei einem Mann übernachtet. Aber das hier war etwas anderes. Amanda betrachtete sich eingehend im Spiegel und rief sich noch einmal in Erinnerung, was sie gerade getan hatte.

Gefährtin ...

Ihre Lippen formten das Wort, allerdings entkam ihr dabei kein Ton.

War sie das wirklich? Nataniels Gefährtin?

Langsam schob sie ihr Oberteil hoch und zog es schließlich über ihren Kopf, um es auf den Rand des Waschbeckens abzulegen. An ihrem Bauch, unter dem schwarzen BH, waren noch immer die inzwischen verheilten Bisswunden des Geparden zu sehen.

Nein, schwach war sie nicht. Sie hielt sogar einiges aus, was sie wohl ein paar Mal bewiesen hatte, seit Nataniel und sie sich kannten. Aber würde das reichen? Amanda war sich sicher, dass Nataniels Familie das endgültige Urteil über seine neue Eroberung noch nicht gefällt hatte. In diesem Moment hätte sie sehr interessiert, mit wem sie da alles konkurrierte. Oder auch nicht.

Mit einem kleinen Seufzer sah Amanda zur Badtür hinüber und überlegte, ob sie sich darauf gefasst machen sollte, Kratzer an der Wand hinter Nataniels Bett zu sehen. Oder am Bettrahmen.

Ihr Seufzer war so schwer, dass er sie wieder in die Wirklichkeit zurückholte. Sie führte sich lächerlich auf.

Als sie endlich aus dem Bad kam, musste sie sich in dem einigermaßen dunklen Raum erst einmal zurechtfinden. Glücklicherweise zeigte ihr die rote Lavalampe auf dem Nachttisch den Weg. Amanda knipste sie aus, als sie sich neben Nataniel aufs Bett gesetzt hatte.

Dass er bereits eingeschlafen war, konnte Amanda ihm nicht verdenken. Sie war so müde, dass sie kaum noch die Augen offenhalten konnte. Also kuschelte sie sich so eng, wie sie es sich aufgrund Nataniels Verletzungen erlauben konnte, an ihn und sah nur einen Moment aus dem Fenster, bevor sie neben ihm einschlief.

35. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

37. Kapitel

Es war schwierig zu erklären, aber heute fühlte sich Amanda schon viel wohler in ihrer Haut, als sie mit Nataniels gesamter Familie am Tisch saß. Vielleicht lag es daran, dass Lucy die gesamte Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich und von Amanda wegzog. Die Kleine saß auf Steves Schoß und versuchte sich alles zu greifen, was auch nur annährend in ihre Nähe kam. Gerade versuchte Nataniels Vater seine Tochter daran zu hindern, dass sie sich die Gabel von der Schinkenplatte griff.

"Habt ihr beiden denn gut geschlafen?", wollte Nataniels Mutter freundlich wissen.

Amanda warf Nataniel einen kurzen Blick zu und streichelte automatisch seinen Oberschenkel unter dem Tisch. Sie würde nur für sich selbst antworten. Dass Nataniel eine unbequeme Nacht hinter sich hatte, wusste sie nur zu gut, aber genauso klar war ihr, dass er noch nicht über seine Verletzungen sprechen wollte. Sonst hätte er es schon getan.

"Sehr gut, danke. Der Fluss und das Rauschen der Bäume hat wirklich eine beruhigende Wirkung. Ich habe seit meinem zehnten Lebensjahr mitten in der Hauptstadt gelebt. Da gab es nie eine derartig entspannende Geräuschkulisse."

Nach einer winzigen Pause fügte sie hinzu: "Vielleicht lag es auch an mir. Manche Menschen halten ja Straßenlärm auch für beruhigend…"

Sie warf Nataniels Eltern ein Lächeln zu, das erwidert wurde.

"Wo warst du, bevor du zehn wurdest?", wollte Kyle wissen.

Amanda legte ihre Hand um den gelb-grün gestreiften Kaffeebecher und sah den blonden Jungen an.

"Außerhalb der Stadt. In einem kleinen Vorort. Dort war es auch schön grün. Aber so wirklich kann ich mich nicht mehr daran erinnern."

"Warum seid ihr in die Stadt gezogen?"

Nun spürte Amanda Nataniels Hand auf der ihren, die immer noch auf seinem Bein lag. Amanda lächelte ihm sanft zu, weil sie seinen Blick sah, der besagen wollte, dass sie diese Frage nicht beantworten musste.

"Meine Eltern sind gestorben. Mein Bruder und ich sind zu einer Pflegefamilie gekommen, die in der Stadt gewohnt haben."

Kyle sah so aus, als könne er sich nicht vorstellen, wie es wäre, wenn seine Eltern sterben würden. Er sah ungläubig zwischen beiden hin und her, bevor er sich wieder Amanda zuwandte. Aber er stellte keine weiteren Fragen mehr, sondern biss nachdenklich in sein Brot und kaute darauf herum.

Vielleicht hatte er vor, später noch genauer nachzuhaken. Amanda würde ihm seine Fragen beantworten, wenn er welche hatte. Es schien ihr fast so, als hätte sie in letzter Zeit irgendwann, ohne es zu wissen, Frieden mit sich selbst geschlossen, was dieses Thema betraf.
 

Während Nataniel versuchte, sich auf Vieles, nur nicht auf seine durchdrehenden Hormone zu konzentrieren, bemerkte er allerhand Dinge, die ihm sonst vermutlich eher weniger aufgefallen wären. Der Frühstückstisch war wie immer mit Essen nur so überladen und bei den Mengen die er täglich verdrückte, war das auch kein Wunder. Er war hier eindeutig der stärkste Esser, aber darüber hatte sich noch nie jemand beschwert.

Das Geschirr seiner Pflegeeltern war für das alltägliche Familienleben bunt durcheinander gewürfelt. Es gab verschieden farbenreiche Muster, Formen und Farben. Sollten sie doch einmal einen Anlass für eine Feier haben, wurde das ‚gute Geschirr‘ hervor geholt. Aber Nataniel waren die unterschiedlichen Stücke ohnehin viel lieber. Sie hatten einfach viel mehr Charme, eben weil sie einzigartig auf diesem Tisch waren.

Er war sich auch bewusst, dass Amanda und er heute dichter als gestern zusammen saßen. Ihre Schultern berührten sich zwar nicht, aber fast und manchmal, wenn einer von ihnen ein Stück mit dem Messer kleiner Schnitt oder sich einen Bissen in den Mund schob, berührten sich sachte ihre Ellenbogen. Dabei konnte er nicht sagen, was sich heute geändert hatte. Überhaupt schien die Atmosphäre eine gänzlich andere zu sein als gestern noch.

Es war nicht nur Amanda, die neben ihm kein bisschen mehr nervös zu sein schien. Auch an seinen Eltern hatte sich etwas geändert. Würde er sie nicht so gut kennen, wäre es ihm vermutlich nicht aufgefallen. Aber er hatte das Gefühl, als hätten sie sich zu irgendetwas entschlossen.

Gestern waren sie herzlich und freundlich gewesen, wie sie es immer zu Gästen waren. Heute spürte er irgendwie eine Bindung in der Luft hängen, als würde der gesamte Tisch zusammen gehören. Wie eine große, fröhliche Familie. Es war wirklich merkwürdig, aber beschweren konnte er sich darüber auf keinen Fall.

Hoffentlich änderte sich dieses traute Zusammensein nicht, wenn er erst einmal mit seinem Dad gesprochen hatte. Natürlich hatte er noch immer nichts gesagt, was Nataniel dazu veranlasst hätte, unangenehme Fragen beantworten zu müssen. Dabei konnte sicherlich jeder, bis auf Amanda, Kyle und Lucy an ihm das Alphatier riechen und auch erkennen. Vielleicht nicht so ausgeprägt, wie es mitten unter seinen Leuten gewesen wäre, aber sicherlich deutlich spürbar. Trotzdem wurde kein Wort darüber verloren. Wofür er sehr dankbar war.

Während er also erst einmal seinen gewaltigen Hunger zu bändigen versuchte, lauschte er andächtig dem Gespräch zwischen Amanda und seiner Mutter. Wie immer, wenn sein Vater Lucy auf dem Schoß sitzen hatte, fütterte seine Mutter ihren Mann wie nebensächlich, damit er beim Essen nicht zu kurz kam. Zwar hatte Nataniel hier den größten Appetit, aber auch sein Dad konnte ganz schöne Portionen verdrücken.

Als seine Mom Amanda und ihn fragte, wie sie denn geschlafen hatten, spürte er überraschend Amandas Hand über seinem Oberschenkel streicheln. Sie sah ihn dabei kurz an, ehe sie zu einer Antwort ansetzte, aber für ihn hatte es den Eindruck, als würde sie diese Geste nicht hundertprozentig bewusst ausführen, sondern eher wie nebenbei. Kein Wunder, bei den Intimitäten, die sie vor weniger als einer halben Stunde noch ausgetauscht hatten.

Wie immer verursachte ihm eine von Amandas Berührungen dieses wohlvertraute Prickeln im Nacken und zugleich war da dieses sehnsuchtsvolle Ziehen in seinem Unterleib, auf das er auf keinen Fall einging, sondern sich stattdessen nur noch mehr auf das Gespräch konzentrierte.

Kyle schien wirklich ein Talent dafür zu entfalten, unangenehme Situationen herauf zu beschwören. Denn mit seinen Fragen lenkte er das Gespräch in eine Richtung, die nicht nur Nataniel ein unwohles Gefühl im Magen verursachte. Bestimmt musste das auch für Amanda schwierig sein. Er hatte nicht vergessen, was sie ihm über den Tod ihrer Eltern erzählt hatte. Wie seltsam musste es doch für sie sein, nun hier als einziger Mensch inmitten von Gestaltwandlern am Tisch zu sitzen.

„Das tut mir wirklich leid für dich, Amanda.“, beteuerte seine Mom in einem angemessen traurigem Tonfall und ließ dann ihren Blick zu Nataniel gleiten. Auch sein Vater sah ihn an.

Bevor irgendjemand auch nur noch einen einzigen Satz zu dieser Sache sagen konnte, wobei Nataniel sehr genau spürte, dass in den Blicken seiner Eltern eine unausgesprochene Frage lag, übernahm er selbst das Gespräch und lenkte es in eine vollkommen andere Richtung.

„Gibt es eigentlich irgendetwas Neues über die Ranch zu berichten?“, wollte er mit Entschlossenheit wissen, worauf sein Dad natürlich sofort ansprang. Wenn es um die Ranch ging, konnte er Stundenlang reden, hielt sich aber meistens zurück, wenn sie Gäste hatten.

„Während du weg warst, haben wir eine Hand voll neuer Pferde erworben. Ich bin mir allerdings noch nicht so sicher, wie gut wir sie für die Arbeit einsetzen können. Bis jetzt hatte ich nicht die Zeit, sie dementsprechend zuzureiten. Ich hoffe, das kannst du in nächster Zeit einmal für mich übernehmen. Außerdem müssen sie noch ‚gewöhnt‘ werden.“

„Sicher doch.“, erklärte sich Nataniel sofort einverstanden, da er ohnehin nicht vorhatte, schon morgen wieder abzureisen. Außerdem war er ziemlich geschickt darin, auch das störrischste Pferd zu zähmen und es ‚einzugewöhnen‘. Was nichts anderes bedeutete, als dass sie die Tiere auch auf ihre Raubkatzengestalt prägten und ihnen zumindest die Furcht vor seiner eigenen Familie nahmen. Denn es kam immer wieder einmal vor, dass es nötig wurde, sich während der Arbeit zu verwandeln, um Situationen zu meistern, bei denen andere den Verlust von Vieh im Kauf nehmen würden. Aber auch wenn hier tausende von Hufen über die Erde wanderten, so lag ihnen doch an jedem einzelnen Tier etwas. Der Verlust eines von ihnen, wurde nie auf die leichte Schulter genommen. Es ging hierbei nicht ums Geld, sondern einfach darum, dass Nataniel und seine Familie ebenfalls auf ihre Weise Tiere waren. Man lebte einfach in einem vollkommen anderen Bezug zu diesen Wesen.

Allerdings würde er seinem Vater später erklären müssen, dass er zumindest in den nächsten Tagen sich nicht zu sehr anstrengen konnte.

Zum Glück verlief der Rest des Frühstücks wieder in vollkommener Harmonie. Es wurde sogar immer wieder einmal herzlich gelacht, wenn es besonders ausgelassen zuging.

Nataniel hätte sich fast einbilden können, den Tisch erleichtert aufatmen zu hören, als das meiste Essen darauf verschwunden war. Eine Weile nippten sie noch an ihren Getränken herum. Für Amanda natürlich guten Kaffee und er selbst trank soeben die letzten Reste seiner heißen Schokolade aus. Danach war das Frühstück offiziell beendet.

Alle halfen noch fleißig mit, den Tisch leer und alles in die Küche zu räumen, bis der kritische Zeitpunkt nun endgültig gekommen war, als Nataniels Dad ihm die Hand auf die Schultern legte und ihn mit einem Blick ansah, der nicht unmissverständlicher sein konnte.

Offiziell lautete die Erklärung natürlich anders. Steve wollte seinem Sohn die neuen Pferde zeigen, während seine Frau Amanda das Baby in die Hände legte, um ihre eigenen für den Abwasch frei zu haben. Kyle verkrümelte sich ohnehin wortlos, um seinen eigenen Pflichten nachzugehen. Womit sich die Versammlung fast schon in flüssiger Bewegung auflöste.

Im Normalfall hätte Nataniel Amanda einfach mitgenommen, um auch ihr einmal einen Einblick über die Ranch zu geben. Aber da sie sowieso wusste, was jetzt anstand, streichelte er ihr entschuldigend in zärtlicher Geste über die Wange, ehe er sich von den beiden Frauen und seiner kleinen Schwester verabschiedete und seinem Dad folgte, um das unausweichliche Gespräch zu führen.
 

Sie platzte fast vor lauter unausgesprochenen Fragen, aber da sie Amanda nicht das Gefühl geben wollte, jetzt da die beiden Männer nach draußen gegangen waren, würde ein Verhör stattfinden, musste sich Mary auch weiterhin zurück halten. Wenigstens waren ein paar ihrer Sorgen seit heute Morgen gemildert.

Gestern hatte sie Zweifel daran gehabt, wie eng die Bindung zwischen Nataniel und Amanda wohl sein konnte, wenn man es ihnen kaum ansah. Doch Steve und sie hatten sich darauf geeinigt, dass es vielleicht nur deshalb so wenig offensichtlich erschien, weil Amanda nicht zu ihrer Art gehörte. Sie war ein Mensch und somit in einigen Dingen anders als Gestaltwandler. Das könnte auch Nataniels Zurückhaltung erklären.

Als die beiden jedoch heute Morgen zu Tisch gekommen waren, verließen Marys diesbezügliche Sorgen sie. Amanda roch nun deutlicher nach Nataniel und zugleich hatte sie einen Hauch von weiblicher Erregung an sich haften.

Hätte sie Kyle vielleicht doch noch später zu ihnen schicken sollen? Mary wurde das Gefühl nicht los, sie hätte die beiden bei etwas gestört, aber alleine dass es so sein könnte, ließ ihr das Herz leichter werden. Vielleicht zeigten es die beiden nicht so deutlich in Worten und Gesten, aber man las die Zuneigung immer deutlicher in ihren Augen, wenn man nur genau hin sah und das hatte sie heute mehr als nur einmal getan.

„Erzähl doch einmal, Amanda.“, begann sie freundlich lächelnd, während sie Wasser zum Spülen einließ.

„Wie kommst du damit zurecht, so mitten unter Gestaltwandlern zu leben? Ich kann mir vorstellen, dass einige unserer Bräuche und Sitten fremdartig auf dich erscheinen müssen.“

Während sie das fragte, wanderten einen kurzen Moment lang, ihre Gedanken zu ihrem Mann und Nataniel. Sie wusste ganz genau, dass sie in diesem Augenblick ein Gespräch führten, das sehr viele Aufschlüsse bieten würde. Allerdings würde ihr Mann ihr danach auch erklären müssen, was Nataniel nun wirklich in der Zeit seiner langen Abwesenheit getrieben hatte. Denn wie ein zurückgekehrter Urlauber sah er absolut nicht aus. Ganz im Gegenteil. Die Narbe über seinem Auge sah so aus, als wäre die Verletzung tief gewesen. Außerdem hatte sie gestern noch deutlich Blut an ihm riechen können und ihr war aufgefallen, dass ihr Sohn sich vorsichtiger bewegte als sonst. Irgendetwas stimmte da nicht und heute würde sie sich nicht mehr damit zufrieden geben, dass das eine Sache zwischen ihrem Mann und Nataniel war. Herrgott noch mal, immerhin war es ihr Sohn, um den es ging und sie machte sich wirklich ernsthaft Sorgen!

„Ich hoffe doch sehr, dass sich Nataniel anständig benimmt. Ich weiß, wie sich die Männer meiner Art verhalten können. Weshalb ich mir etwas Sorgen um dich mache. Gerade Alphatiere können sehr temperamentvoll werden. Da schaltet das Gehirn einfach einmal ab. Scheu dich also bitte nicht, etwas zu sagen, solltest du einmal einen Rat diesbezüglich brauchen. Ich bin gerne für dich da.“

Und das meinte sie mit ganzem Herzen. Nataniel hatte noch nie so viel Zuneigung für eine Frau gezeigt. Ob Mensch oder Gestaltwandler, Amanda war in Marys Augen ein Segen. Es wurde Zeit, dass ihr Sohn jemanden fand, der zu ihm gehörte. Denn obwohl sie ihn wie ein eigenes Kind bei sich hatten aufwachsen lassen, so war doch deutlich immer der Unterschied zu spüren gewesen. Amanda schien mit ihrer Andersartigkeit wunderbar zu Nataniel zu passen. Sie beide schienen sich auf eine Weise zu verstehen, zu der Mary keinen Zugang hatte. Aber das war auch nicht wichtig.
 

Amanda fand des faszinierend, wie schnell ihr die kleine Lucy in die Arme gelegt wurde. Immerhin hatte sie weder eigene Kinder, noch sonderlich große Erfahrung mit Babys, geschweige denn welche, die sich jeder Zeit und ohne Vorwarnung in einen Berglöwen verwandeln konnten. Aber Lucy war ein ruhiges, ausgeglichenes Kind und sah Amanda lediglich etwas erstaunt an, bis diese für die Kleine ein paar Grimassen zog und somit ihr Lächeln gewann.

Mit einem Schnuller zwischen den Lippen war Lucy so selig, dass Mary sich wohl so weit fühlte, mit ihrer Befragung anzufangen. Es fühlte sich nicht wie ein Verhör an, denn es war auch nicht als solches gedacht, aber Amanda musste trotzdem vorsichtig damit sein, was sie sagte. Nataniels Familie hatte eine derart entspannende Wirkung auf sie, dass sie selbst glaubte, Gefahr zu laufen, sich zu verplappern. Immerhin wollte sie sicher nicht unnötig früh damit herausrücken, für wen sie gearbeitet hatte, bei wem sie aufgewachsen war und aus welchen Gründen sie Nataniel ursprünglich kennen gelernt hatte.

Lächelnd lehnte Amanda sich gegen die Küchenzeile, um Mary ansehen zu können, während diese abspülte und sie miteinander sprachen.

"Ehrlich gesagt ist es ein wenig verunsichernd. Es ist das erste Mal, dass ich in so einer Situation bin."

Da sie nicht genau sagte, welche Situation sie meinte, war sie umso ehrlicher. Sie war zwar schon mit vielen Gestaltwandlern zusammen gewesen – in Nataniels Rudel – aber so wie die Dinge lagen, konnte sie genau das nicht erzählen. Und dass es das erste Mal war, dass sie die Eltern von einem ihrer festen Freunde kennen lernte, wollte sie nicht erzählen.

"Aber es ist auf keinen Fall so, dass ich mich bei Gestaltwandlern nicht wohlfühlen würde. Es ist nur…"

Amanda versuchte ihre Gefühle in Worte zu kleiden, die für Nataniels Mutter ausreichend waren. Da sich das verdammt schwer machen ließ, lachte sie schließlich nervös auf.

"Ihr alle wisst, wann ich nervös bin, ohne dass ich etwas sage. Ihr seht mir an oder könnt riechen, wenn ich Angst habe oder andere Gefühle. Ich kann vor euch nichts verbergen, was es mir leichter machen würde, den Eindruck einer selbstbewussten Frau aufrecht zu erhalten, die dein Sohn völlig überraschend mit nach Hause gebracht hat, nachdem er wochenlang verschwunden war."
 

Mary hörte Amanda ganz genau zu. Sie konnte sich selbst kaum vorstellen, wie sie sich fühlen würde, wäre die Situation umgekehrt. Als Mensch ganz alleine unter Gestaltwandlern würde sie selbst sicher ganz schön das Flattern bekommen. In diesem Sinne war Amandas Leistung ganz schön beeindruckend.

„Ach, Amanda. Mach dir wegen dem was wir wahrnehmen bloß keine Gedanken. Wir Gestaltwandler nehmen unsere Umwelt anders wahr, als die Menschen. Hätten wir nicht so gute Sinne, ich wüsste nicht, wie wir zurecht kämen. Ich meine, auf mich wirken die meisten Menschen wie Profipokerspieler, wenn ich nur nach dem ginge, was sie mir an Emotionen zeigen. Schon so manches Mal hat die Nase meines Gefährten uns vor einer Abzocke bewahrt. Was das angeht, sind die Verhältnisse wohl fast ganz ausgeglichen.“

Mit einem leisen Klirren legte Mary das Besteck ins Wasser, um es etwas einzuweichen, während sie mit ihren Worten fortfuhr. Immerhin wollte sie Amanda diese Unsicherheit nehmen, auch wenn Mary sie sehr gut verstehen konnte. Auch sie hatte ein paar Unsicherheiten den Menschen gegenüber. Das war aber völlig normal.

„Denke es dir doch einfach einmal so: Einigen Menschen fällt es sicher leicht, ihre Gefühle hinter einer Maske zu verbergen, da wir Gestaltwandler es aber untereinander gewöhnt sind, ständig die Gefühle der anderen mitzubekommen, verstecken wir sie grundsätzlich nicht. Natürlich haben wir auch Geheimnisse untereinander, aber es bleibt jedem selbst überlassen, wie viel er uns mitteilen möchte und genau aus diesem Grund können uns Menschen umso leichter durchschauen, wenn wir nicht besonders aufpassen.“

Einen Moment lang herrschte Stille, dann schenkte sie Amanda über ihre Schulter hinweg ein vertrautes Lächeln.

„Unter uns beiden gesagt, meiner Meinung nach muss man schon Einiges an Selbstbewusstsein besitzen, wenn man sich als Mensch mitten unter Raubtiere wagt. Meine Bewunderung hast du dafür auf jeden Fall.“

Sie drehte sich wieder zu dem schmutzigen Geschirr herum und seufzte leise, als ihr die nächsten Worte etwas leiser entkamen.

„Außerdem bin ich froh, dass du mir Nataniel wieder nach Hause gebracht hast.“

Sie hatte sich wirklich gewaltige Sorgen gemacht, aber da ihr Mann ihr nicht hatte verraten wollen, warum Nataniel so lange weg geblieben war, hatte sie sich nur darauf verlassen können, dass einer der beiden Männer wenigstens klug genug sein würde, ihr in einem Notfall alles mitzuteilen. Aber selbst dabei hatte sie sich nicht sicher sein können.
 

Amanda senkte ihren Blick und bemerkte, dass sie zur Beruhigung angefangen hatte, Lucys Bauch leicht zu streicheln. Die Kleine nuckelte an dem hellblauen Schnuller und wie am vergangenen Abend fielen ihr schon wieder die hübschen, großen Augen zu.

"Ich liebe Nataniel. Er ist ein wirklich toller Mann…"

Diesmal konnte Amanda weder Mary noch Lucy ansehen, als sie weitersprach.

"Es ist schwierig und kompliziert, weil wir so verschieden sind. Ich weiß nicht, ob er mehr von mir erwartet, als ich erfüllen kann."

Ihr Blick haftete an einem Windspiel, das sich an der Terrassentür leicht bewegte und sacht klingelte. Es sah beruhigend aus, auch wenn Amanda alles andere als ruhig war, während sie hier stand, neben Nataniels Mutter und mit seiner kleinen Schwester in den Armen und ihr Herz für Amandas eigene Verhältnisse viel zu sehr ausschüttete.

"Nataniel und ich hatten dieses Thema schon einmal. Ich bin nur ein Mensch. Und ich werde auch nie mehr sein."

Jetzt sah Amanda Mary wieder in die Augen. Die Frau mit dem langen Zopf hatte aufgehört zu spülen und sich zu ihrem Gast umgedreht. Ihre Augen ruhten wohlwollend auf Amanda. Mary sah so freundlich und offen aus, dass Amanda sie am liebsten umarmt hätte.

"Wahrscheinlich bin ich zu ehrlich… Ich will das hier alles nicht versauen, aber…" Nun entkam ihr ein Seufzer und obwohl Amanda befürchtete, dass der nächste Satz dazu führen würde, dass sie genau das tat – das Verhältnis zu Nataniels Eltern zu versauen, bevor es überhaupt wirklich entstanden war – redete sie weiter.

"Ich habe eure Reaktion gesehen, als Nataniel mich als seine Gefährtin vorgestellt hat. Ich habe gesehen, dass es ein Schock für euch beide war. Und das kann ich verstehen."

Scheiße. Hör doch auf zu reden!

"Ich habe mir selbst schon überlegt, dass ich nie dem entsprechen kann, was eine Wandlerin für ihn sein könnte. Und wie du sagtest, noch dazu ist er ein Alphatier…"

Völlig hilflos hielt sich Amanda an Marys Blick fest, der immer noch warm auf der jungen Frau ruhte. In Amandas Hals bildete sich ein dicker Kloß und sie fühlte ein Brennen in ihrer Brust.

"Und trotzdem hoffe ich, dass es gut gehen wird."

Mehr bekam sie nicht heraus, obwohl sie gern noch so viel mehr gesagt hätte. Aber Amanda war wieder eingefallen, mit wem sie hier eigentlich sprach. Sie hatte wirklich nicht die geringste Ahnung von Beziehungen. Weder was Männer, noch was Familien betraf.

Das altbekannte Prickeln ging durch ihre Fußsohlen und Amanda hätte Mary am liebsten das Baby in die Arme gedrückt, um sich draußen in den Wagen zu setzen und einfach vor der gesamten Situation zu flüchten.
 

Als Amanda Mary gestand, dass sie Nataniel liebte, wurde es ihr ganz warm ums Herz, während ihre Hände in ihrer Arbeit innehielten und sie sich schließlich zu der blonden Frau herum drehte.

Ihr Lächeln war warm, fast schon glücklich und leicht sentimental. Aber es hatte einfach so ehrlich geklungen und Mary fühlte ganz genau, dass es Amanda auch wirklich ernst war. Sie liebte ihren Sohn wirklich, so wie er sie liebte. Das war nicht mehr zu übersehen.

Wie sehr sich Mary doch wünschte, dass diese Bindung funktionieren möge, aber es war, wie Amanda es schon festgestellt hatte, nicht leicht, gerade weil sie unterschiedlicher Rassen angehörten. Zwar war Nataniel auch ein Mensch, aber Amanda fehlte das Tierische. Vielleicht würden die beiden immer spüren, dass sie da etwas vermissten, das nie da sein konnte. Und doch hatten nicht auch Menschen Instinkte, Triebe und manchmal auch so etwas wie einen sechsten Sinn?

„Es überrascht mich nicht, dass dir unsere Reaktion auf Nataniels so deutliche Bekanntgabe, nicht entgangen ist. Aber ich glaube, du hast unsere Überraschung fehlinterpretiert, Amanda.“

Mary trocknete sich ihre Hände an der Schürze ab, die sie sich umgebunden hatte und trat auf die blonde Frau zu. In ihrem Blick lag genau das, was sie fühlte. Ehrlichkeit, herzliche Wärme und zugleich das Gefühl, als würde Amanda bereits von dem Moment an, da Nataniel ihnen offenbart hatte, dass sie seine Gefährtin sei, zu ihrer Familie gehören.

„Natürlich waren wir auch darüber verwundert, dass gerade ein Mensch es geschafft haben soll, einen Wildfang wie unseren Sohn an sich zu binden. Aber vor allem überraschte uns die Tatsache, dass er dich ohne große Umschweife als seine Gefährtin vorgestellt hat. Ich kenne Nataniel. Alles was er sagt, meint er sehr ernst. Es war also nicht einfach nur ein dahingesagtes Wort und nach seiner langen Abwesenheit hätten wir nun wirklich nicht damit gerechnet, dass er mit einer Gefährtin nach Hause kommt. Ich meine-“

Mary machte eine etwas hilflose Geste mit den Händen und ließ ihren Blick durch die Küche gleiten, aber auch die konnte ihr nicht die richtigen Worte geben.

„Ich meine, er hat noch nie eine Frau mit nach Hause gebracht.“, gestand sie schließlich, dabei nicht sicher, ob das jetzt gut oder schlecht war.
 

Amanda hielt Lucys kleinen Körper sanft an sich gedrückt. Das Baby strahlte so viel Hitze aus, dass sie selbst Nataniels Körperwärme um Einiges übertraf. Als wäre Amanda nicht schon warm genug. Die ganze Situation nahm sie so sehr mit, dass sie das Gefühl hatte, ihr würde, auch ohne den kleinen Hochofen in ihren Armen, gleich der Schweiß ausbrechen. Eigentlich hätte sie beruhigt sein sollen. Nataniels Eltern waren nicht deswegen so erstaunt gewesen, weil sie Amanda ihres Sohnes nicht würdig hielten, sondern weil er sie mit seiner Eröffnung einfach völlig überrumpelt hatte. Dabei hätte Amanda sich das denken können. Sie musste doch nur daran zurückdenken, was Nataniel für einen Eindruck auf sie gemacht hatte, als sie sich kennen gelernt hatten. Ein Kerl, der sein Ego vor sich hertrug, um jede halbwegs attraktive Frau damit k.o. zu schlagen.

Dass er noch nie eine Frau mit auf die Ranch gebracht hatte, konnte Amanda kaum glauben.

Wahrscheinlich hatte er sie bloß schon vor dem Morgengrauen wieder dort abgeladen, wo er sie aufgegabelt hatte. Amanda würde sich bestimmt nicht der Vorstellung hingeben, sie sei die Erste, mit der er seine kleine Hütte teilte. Aber zumindest schien sie die Erste zu sein, die er seinen Eltern vorstellte. Das war laut seiner Mutter schon allein eine verdammt große Sache und dann stellte er Amanda auch noch als seine Gefährtin vor. Da wären Amanda an Stelle von Mary und Steve wahrscheinlich mehr als die Kinnlade herunter gefallen.
 

Mary wusste sehr genau, dass Nataniel alles andere als unschuldig war, aber was sollte eine Mutter schon großartig dazu sagen können? Er war im besten Alter, hatte unermüdliche Energien durch seinen Panther und zugleich trug er das Potential eines Alphatiers in sich, was zusätzlich für heftigere Gefühle sorgte.

Sie hielt in ihren Gedanken sowie auch körperlich inne. Die Wucht der Erkenntnis, ließ ihr schwindeln, weshalb sie sich an der Spüle abstützen musste. Bisher war ihr nicht klar gewesen, was genau so anders an Nataniel gewesen war, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatte vermutet, es würde an Amanda liegen. Doch da hatte sie sich wohl deutlich geirrt, denn nun wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass Nataniel nicht nur das Potential eines Alphatiers in sich trug, sondern es nun auch ausstrahlte. Was bedeutete, dass er es erkannt und akzeptiert hatte. Aber wie-?

Ihr Blick fiel auf Amanda.

War Nataniel nur aus reinem Zufall auf seine verborgenen Fähigkeiten gestoßen, oder bewusst darauf hingeführt worden? Wenn Letzteres zustimmte, würde er vermutlich das mit seiner wirklichen Familie wissen. Warum Steve und sie ihn bei sich aufgenommen hatten. Und dabei stellte sich nun auch die Frage: Hatte Nataniel seinen richtigen Vater kennen gelernt? War er deshalb solange weggeblieben?

Mary versuchte ihr rasendes Herz zu beruhigen, während sie mit geschlossenen Augen ein paar tiefe Atemzüge machte. Selbst wenn Nataniel seinem Vater begegnet war, so würde er in Marys Augen doch immer noch ihr Sohn bleiben. Das konnte ihr niemand nehmen und nur alleine darauf kam es ihr an. Er gehörte zu ihrer Familie. Punkt.

Als sie wieder hoch blickte, konnte sie deutlich Amandas Verunsicherung sehen. Kein Wunder, es hatte sie selbst ganz schön überrumpelt, weshalb sie jetzt auch entschuldigend lächelte.

„Tut mir leid, meine Liebe. Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen. Alles wieder in Ordnung. Mir war nur erst jetzt klar geworden, wie sehr Nataniel doch das Alphatier ausstrahlt. Es hat sich wohl wirklich viel getan, während seiner Abwesenheit.“
 

Oh ja, Nataniel hatte seiner Mutter Einiges zu beichten.

Mit sanfter und hoffentlich beruhigender Stimme, versuchte Amanda zu antworten, ohne Nataniels Geheimnisse preiszugeben.

"Ja, er hat sich verändert. Sogar in der Zeit, die ich ihn kenne. Aber in Grunde ist er der Selbe geblieben."

Als sie Mary, die Amanda bereits nach so kurzer Zeit so gern hatte, immer noch nervös und besorgt ansah, fügte Amanda hinzu: "Und er freut sich im Moment einfach nur, zu Hause zu sein. Bei seiner Familie."

Das zauberte Mary immerhin ein Lächeln aufs Gesicht, auch wenn es ihren Gedankengang, der sich wohl gerade in ihre aufbäumte, um sie völlig aus dem Takt zu bringen, sicher nur wenig beruhigen konnte.

Amanda ginge es nicht anders. Aber sie wusste, dass Nataniel sich gerade mit seinem Vater über alles unterhielt. Und so, wie sie Mary einschätzte, würde sie alles erfahren, sobald sie mit einem von den beiden oder zusammen mit ihnen allein war. Die Männer konnten sich auf eine echte Standpauke gefasst machen. Zu Recht, wie Amanda fand. Hätte Nataniel Amanda etwas Derartiges verschwiegen, könnte er sich durchaus mit dem Fell über den Ohren wiederfinden.
 

„Weißt du was? Das restliche Geschirr kann warten. Ich finde, ein Spaziergang an der frischen Luft, kann uns sicherlich nicht schaden. Bestimmt hattest du noch nicht die Gelegenheit dir unsere Ranch anzusehen.“ Entschlossen nahm Mary die Schürze ab und hängte sie an den kleinen Haken neben der Terrassentür. Danach nahm sie Amanda die inzwischen schlafende Lucy aus den Armen, um sie in ein babysicheres Weidenkörbchen direkt neben dem Schmetterlingsflieder in den Garten zu legen, damit auch sie während des Schlafs etwas frische Luft tanken konnte.

Mit einem fröhlichen Lächeln hakte sich Mary bei Amanda unter, ehe die beiden Frauen ihre Führung starteten.
 

Da Mary ihre kleine Tochter derart selbstverständlich in dem Weidenkörbchen schlafen ließ, um Amanda eine kleine Führung zu geben, machte sie sich keine weiteren Sorgen darüber. Außerdem gingen sie nicht allzu weit weg. Sie würden Lucy auf jeden Fall hören, wenn sie anfangen sollte zu weinen. Und Kyle war auch noch irgendwo in der Nähe.

"Ihr Grundstück ist wirklich wunderschön.", gab Amanda ehrlich beeindruckt zu, als die beiden Frauen einen kleinen Trampelpfad zu einem Teil des Gartens hinunter gingen, in dem ein paar Gemüsebeete gepflegt wurden. Im oberen Teil, direkt hinter dem Haus, gab es vor allem Blumen, einen kleinen Teich und einen Pavillon, mit Bänken. Davor stand ein Grill, der so aussah, als wäre er von der Familie in regelmäßiger Benutzung.

Amanda lächelte, weil sie sich die ausgelassene Stimmung bei einer Grillfeier sehr gut vorstellen konnte. Ob oft Freunde von Nataniels Eltern hier vorbei kamen?

"Leben eigentlich viele Wandler in der Nähe? Habt ihr viel Kontakt mit euren Nachbarn oder seht ihr kaum einen Menschen? Ich frage nur, weil ich mir sehr gut vorstellen kann, dass in eurem einladenden Haus immer reges Treiben herrscht."

Es hätte Amanda wirklich eher überrascht, wenn Nataniels Familie kaum Freunde gehabt hätte, die immer mal wieder zu Besuch kamen.

Dass es inzwischen so viele Wandler in der Nähe gab – Nataniels Rudelmitglieder – ließ Amanda unerwähnt. Aber Palia und ein paar andere würden sich bestimmt gut mit Nataniels Eltern verstehen.

Bei dem Gedanken an Palia, kam Amanda Eric in den Sinn. Sie hatte ihren Bruder immer noch nicht angerufen. Lediglich auf dem Campingplatz hatte sie aus einer Telefonzelle Kontakt mit ihm aufgenommen, ihm aber mehr oder weniger nur erzählt, dass sie am Leben war. Genauso wie Eric ihr das Gleiche von sich und Clea versichert hatte. Wenn Amanda so darüber nachdachte, hatte Eric nicht besonders glücklich geklungen. Vielleicht würde sie doch länger mit ihm sprechen müssen, als vermutet.
 

„Nun ja, eigentlich hätte ich gerne mehr Besuch, aber die Arbeit steht keinen Tag still, weshalb es nur im Winter halbwegs ruhig zugeht. Aber dafür feiern wir ein paar Mal im Jahr mit den umliegenden Ranchern Feste zu gegebenen Anlässen. Das ist immer ein riesiger Aufwand, aber es waren bisher immer unvergessliche Augenblicke.“

Mary lächelte verträumt, als sie an die Feiern zurückdachte und die vielen guten Bekannten, die sie meistens zwar nur zu solchen Anlässen traf, aber dafür war das Wiedersehen umso herzlicher.

„Und um deine Frage zu beantworten, es gibt hier einige Wandler in der Gegend. Ich bin sogar bereit, zu behaupten, dass es mehr Gestaltwandler als Menschen hier gibt. Weshalb das Leben hier auch sicher leichter für unsere Rasse ist, als anderswo. Hier greift jeder dem anderen unter die Arme, wenn es denn nötig ist und in der Klinik ist sogar ein Gestaltwandler Oberarzt. Was Vieles erleichtert. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwierig es ist, einem menschlichen Arzt klar zu machen, dass man kein hohes Fieber hat, sondern eigentlich nur wegen einer gebrochenen Zehe gekommen ist, um sie gerade zu biegen, bevor sie schief verheilt.“

Inzwischen hatten die beiden Frauen den Rundgang durch den Garten hinter sich gebracht und waren wieder bei der Terrasse angekommen, wo Mary die schlafende Lucy aus dem Körbchen nahm und sich so an die Hüfte setzte, dass das Baby in Ruhe weiter schlafen konnte, Mary aber nach Einigerzeit keine Probleme mit dem Halten bekam.

Es war der Griff einer Mutter, die schon mehr als nur ein Baby wie ein eigenes Körperteil an sich herum getragen hatte. Als Nataniel noch so klein gewesen war, sah die Sache noch ganz anders aus. Er hatte für Vieles herhalten müssen, was den elterlichen Lernprozess anging, aber es schien ihm nie wirklich etwas ausgemacht zu haben. Kaum zu glauben, dass er jetzt größer als sein Vater war.

Wie schnell doch die Zeit verging.

„Ich will dich eigentlich nicht zulange aufhalten. Aber ich denke, es kann nicht schaden, wenn wir einmal nach den Männern sehen. So wie ich meine beiden kenne, ist das sicher kein verkehrter Gedanke.“

Mary grinste Amanda von der Seite her an, ehe sie die blonde Frau zu den Ställen führte, wo sie ihre beiden Männer vermutete.
 

Es war für Amanda etwas ganz Neues auf einer Farm zu sein. Als Kind hatte sie in einem Vorort gelebt, in einem kleinen Haus mit einem Garten, in dem ihr Vater eine Schaukel und einen Sandkasten für die Kinder gebaut hatte. Aber sie war noch nicht einmal auf einem Bauernhof gewesen, geschweige denn auf einer riesigen Farm wie dieser.

Es fühlte sich so an, als wäre sie in einem Film. Vor allem, als Mary zu den Ställen hinüberging und Amanda ihr über den sandigen Platz und durch das Gebäude folgte, dass nach Pferd roch, war ihr ein wenig seltsam zumute.

Als wären hier Arbeitsstiefel, Jeans und T-Shirt angemessener gewesen als Amandas enge Hose und das dunkle Oberteil.

Sie würde bei Gelegenheit in die Stadt fahren und sich ein paar Anziehsachen besorgen. Schließlich wollte sie nicht immer in den gleichen Klamotten und vor allem nicht in der gleichen Unterwäsche herumlaufen.

Clea sollte ihre Konten inzwischen aufgelöst und umdisponiert haben, so dass Amanda wieder an ihr Geld kam, ohne wegen der Moonleague in Verfolgungswahn ausbrechen zu müssen.
 

***
 

Während sein Dad unruhig im Raum auf und ab tigerte, saß Nataniel inzwischen ruhig auf einem Strohballen und sah ihm beim Hin- und Herlaufen zu. Kein Wunder dass sein Vater so aufgebracht war. Eine Geschichte wie die von Nataniel bekam man schließlich nicht jeden Tag zu hören.

Zuerst hatte er damit begonnen, ihm von dem Raben mit der Botschaft seines Erzeugers zu erzählen. Wie er sich auf den Weg gemacht hatte und dann angefahren wurde.

Die Amnesie und Amandas Rolle bei seiner Erinnerung dabei, verschwieg er ohne schlechtem Gewissen. Alles musste sein Dad wirklich nicht wissen, besonders wenn es darum ging, seine Gefährtin zu beschützen. Weshalb er sie und die Moonleague auch kein einziges Mal in einem Satz erwähnte. Überhaupt erwähnte er Amanda so gut wie gar nicht. Stattdessen berichtete er ausführlich, wie er schließlich zu seinem Rudel geführt wurde und dass er von da an das Potential in sich erkennen und annehmen konnte. Es war alles fast wie automatisch gegangen. Da war das Rudel seines Vaters, das ihn als Anführer haben wollte und hier war er, als geborenes Alphatier. Eine Gleichung die auch als solche aufgegangen war.

Nataniel erzählte seinem Dad auch von der Flucht vor dem feindlichen Rudel und von dem Verrat an seinem eigenen. Noch immer wusste er nicht, wer ihre Identitäten nun verraten hatte, aber solange er noch keinen besorgten Anruf von einem seiner Mitglieder bekommen hatte, machte er sich noch zu keine großen Sorgen deswegen. Wer weiß, vielleicht war es auch die Besitzerin des B&B gewesen, die auch schon Amanda verraten hatte. Immerhin musste die Frau auch sehr viel gewusst haben, war sie doch ebenfalls einmal ein Teil des Rudels seines Vaters gewesen und seither war sie auch nicht wieder aufgetaucht.

Der Kampf mit Nicolai und die Reise in diese Gegend hatte Nataniels Geschichte abgerundet. Nun saß er schweigend hier und wartete auf eine andere Reaktion seins Dads, als stille Beinarbeit. Denn seit er zu erzählen begonnen hatte, war Steve sehr schweigsam geworden.

Letzten Endes betraf ihn das alles gar nicht, aber natürlich konnte man die Sorgen eines Vaters nicht so einfach abstellen. Wie erst seine Mutter darauf reagieren würde, wollte sich Nataniel in diesem Moment gar nicht vorstellen. Aber das würde er garantiert seinem Dad überlassen. Noch einmal diese Rede halten, würde er nicht durchziehen können. Er hatte wirklich anderes im Kopf.

Schließlich, als wäre seinem Dad der Sprit ausgegangen, blieb er stehen und sah Nataniel von oben bis unten an.

„Ich hoffe, du verstehst, dass das Ganze nicht sehr leicht für mich ist, Nataniel. Ich meine, du gehst weg und lässt uns im Glauben, du seiest auf einer Gruppenreise und kommst zurück als Alphatier, mit einem ganzen Sack voller neuer Narben und zugleich einer Ausstrahlung, als wärst du um einige Jahre reifer geworden. Nimm es mir nicht übel, aber so leicht lässt sich das für mich nicht verdauen. Erst recht nicht, da du auch noch eine menschliche Gefährtin mitbringst. Ich meine, nichts gegen das Mädchen, aber wie kam es eigentlich dazu?“

Kaum dass es um Amanda ging, versteifte sich Nataniel und er sprang mit einem Satz von dem Strohballen, um sich in seiner vollen Größe aufzurichten, womit er seinen Vater immerhin ein paar Zentimeter überragte.

„Sie hat mir mehrmals das Leben gerettet. Selbst wenn dem nicht so wäre, könnte ich dich das gleiche mit Mom fragen. Woher wusstest du, dass sie deine Gefährtin ist? Ich weiß nicht, wie es genau dazu kam, aber das es so ist, lässt sich für mich nicht leugnen. Mehr muss ich auch nicht wissen.“

Er liebte Amanda mehr als sein Leben. Daran gab es einfach keine Zweifel mehr.

Für einen langen Augenblick sah Steve seinen Sohn, überrascht über die offen ausgestrahlte Autorität von diesem, nachdenklich in die Augen. Als könne er nicht fassen, wen er da vor sich hatte. Doch schließlich fing sich sein Dad wieder und er begann breit zu lächeln.

„Verdammt noch mal, Nataniel. Du bist wirklich erwachsen geworden. Dass ich das noch erleben darf!“

Ein unstimmiges Knurren war alles, was er von seinem Sohn erntete, bis sich auch Nataniel ein Lächeln nicht mehr verkneifen konnte.

„Wolltest du mir nicht noch die neuen Pferde zeigen?“, fragte er schließlich, um das Gespräch nun endgültig zu beenden. Immerhin hatte er es endlich überstanden.
 

***
 

Der Stall war wirklich groß und bot Platz für gut zwanzig Pferde, auch wenn nicht alle Boxen belegt waren. Doch obwohl Mary in jedem Winkel suchte, fand sie weder Nataniel noch ihren Mann, weshalb sie Amanda schließlich an den Pferdeboxen links und rechts entlang führte, um auf der anderen Seite des Stalls wieder ins Freie zu treten, wo die Koppel lag und ein kleiner eingezäunter Bereich, der mit Sand ausgestreut war. Dort ritten sie für gewöhnlich die Pferde zu.

„Ah, da sind sie. Ich wusste doch, dass sie nicht weit weg sein konnten.“

Mary deutete auf ihren Mann, der auf dem Rundholzzaun saß und in das Innere, des Auslaufs blickte. Nataniel konnte sie nirgends sehen, weshalb sie vermutete, dass er sich gerade mit einem der neuen Pferde beschäftigte.

Hoffentlich nicht mit diesem schwarzen Monster, dessen weiße Fesseln beinahe schon verhöhnend elegant wirkten.

Das Tier war kaum zu halten gewesen, als es auch nur den schwachen Geruch von Steve aufgefangen hatte. Dabei hatte er sich vorher sogar extra noch geduscht, um wirklich nicht nach Raubkatze zu riechen, aber manche Pferde spürten das einfach von Vornherein. Dennoch wollte ihr Mann ihn unbedingt kaufen, auch wenn er zur Arbeit selbst wohl nicht viel taugen würde, wenn man sich nicht auf ihn verlassen konnte.

Als sie näher kamen, entkam Mary ein resignierter Seufzer. Natürlich war es der Hengst. Welches Pferd auch sonst? Nataniel hatte wirklich noch nie etwas gegen Herausforderungen gehabt, so schien ihr.

„Und wie macht er sich?“, wollte sie von ihrem Mann wissen, der erst jetzt bemerkt hatte, dass die Frauen zu ihm gestoßen waren. Er musste wirklich ganz schön abgelenkt gewesen sein.

Nataniel nahm ihre Anwesenheit daher erst recht nicht zur Kenntnis. Immerhin sah der Hengst alles andere als ruhig aus. Er scharrte unruhig mit dem rechten Vorderhuf im Sand, hatte die Ohren zurückgelegt und begann dann wieder nervös hin und her zu tänzeln. Obwohl Nataniel nichts anderes tat, als wenige Meter vor dem Tier zu stehen und ihn anzusehen. Das jedoch mit großer Konzentration.

„Wer? Unser Sohn oder der Hengst?“, fragte Steve zurück.

„Beide.“

„Die anderen drei Pferde hat er sich schon in den Boxen angesehen. Er fand dieses Mal sogar, dass ich eine gute Wahl mit den Tieren getroffen habe. Du weißt ja, wie kritisch er bei solchen Sachen immer ist.“

Mary machte ein zustimmendes Geräusch.

„Und was hat er zu dem Hengst gesagt?“, hakte sie nach. Immerhin war das Tier nicht billig gewesen.

„Bis jetzt noch nicht viel. Er wollte ihn sich erst einmal richtig ansehen, aber das hat der Hengst natürlich nicht zugelassen, weshalb wir ihn hier heraus gebracht haben. Jetzt zieht er seine Pferdeflüsterernummer durch. Ich frag mich immer wieder aufs Neue, wie er das schafft. Dabei mache ich nicht wirklich etwas anders als er.“

„Muss wohl an seiner Ausstrahlung liegen.“

Den kleinen Seitenschlenker konnte sich Mary nicht verkneifen, doch ihr Mann ging leider nicht darauf ein, sondern sah wie gebannt auf die Szene vor sich, als sich etwas innerhalb der Umzäunung tat.

Nataniel hatte sich anscheinend nicht gerührt, aber der Hengst brach auf einmal aus, während er Staub hoch wirbelte. Ihr Sohn folgte dem Tier nicht, hielt aber immer Augenkontakt zu ihm, bis es sich wieder beruhigt hatte. Erst als der Hengst wieder leicht nervös, aber offensichtlich auch etwas neugierig im Sand scharrte, rührte sich Nataniel und ging zwar langsam, aber in gemessenen Schritten auf den Hengst zu. Ohne groß Umschweife zu machen.

Das war der Punkt, an dem Mary jedes Mal glaubte, die Tiere würde ihn entweder anfallen oder wieder weglaufen, doch überraschenderweise blieben sie alle einfach stehen. Als könnte Nataniel sie mit seinem bloßen Blick bannen.

Als er schließlich dicht vor dem großen Tier stand, hob er seine Hand etwas an, aber nicht weit. Eine Weile schien nichts zu geschehen, doch plötzlich senkte der Hengst seinen Kopf und drückte seine Nüstern gegen Nataniels Handfläche, um deutlich dessen Geruch aufnehmen zu können.
 

Nataniel war erleichtert, als der Hengst endlich auf ihn zukam. Er hatte schon geglaubt, das Tier wieder weggeben zu müssen, weil es sich gar so sträubte, obwohl es schon von Menschen zugeritten und eingewöhnt war. Aber das konnte sich in der Nähe von Gestaltwandler immer ändern. Er wusste das aus Erfahrung.

Aber woran es auch lag, in den meisten Fällen begannen die Tiere ihm zu vertrauen. Sie waren skeptisch wie neugierig. Das war etwas, mit dem er arbeiten konnte. Nachdem die Skepsis überwunden war, kam die Neugierde und die brachte schließlich den Hengst dazu, Nataniels Hand zu berühren, um ihn so leichter wittern zu können. Es würde zwar noch ein gutes Stück Arbeit bedeuten, das Tier an seinen Panther zu gewöhnen, aber zumindest für den Moment hatte er ihn unter Kontrolle, weshalb er ihn schließlich am Geschirr nahm und beruhigend den warmen Hals tätschelte und streichelte, während er ihm leise Worte zuflüsterte.

Erst als er sich mit dem Hengst auf den Weg zum Tor machte, bemerkte er die angewachsene Zuschauermenge. Sofort erschien ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen, als er Amanda erblickte. Das Wort richtete er jedoch zuerst an seinen Dad.

„Gib ihm einen Namen, eine Box und was zu Fressen. Meinen Segen hast du für den Hengst.“

Mit diesen Worten drückte er seinem Vater die Führungsleine in die Hand und klopfte sich dann den Staub von seinen Handflächen, ehe er neben Amanda trat.

„Wenn du nichts dagegen hast, werde ich die Führung später fortführen. Jetzt will ich erst einmal unter die Dusche.“, teilte er ihr mit.

Kein Wunder, erstens roch er nach Pferd. Zweitens schwitzte er unter den Verbänden ganz schön, auch wenn es angenehme Temperaturen waren und drittens wollte er seinen Eltern die Zeit geben, um sich zu unterhalten.
 

Amanda stand neben Steve und Mary und sah Nataniel dabei zu, wie er das Pferd zu zähmen versuchte. Ihr waren diese großen Tiere immer völlig uninteressant vorgekommen. Schön zwar und mit einem Hauch von Freiheit, wenn man es beherrschte, sie zu reiten, aber eben nicht besonders. Das schien Nataniels Familie und auch er selbst, anders zu sehen. Es war ein durchaus beeindruckendes Schauspiel, Nataniel dabei zuzusehen, wie er das Tier beruhigte und schließlich an seinen Vater abgab. Amanda erwiderte Nataniels leichtes Lächeln und ging neben ihm her in Richtung seiner Hütte.

"Hast du mit deinem Dad alles geklärt?"

Sie sah zu ihm auf, um gleich an seinen Gesichtszügen erkennen zu können, ob das Gespräch gut oder schlecht verlaufen war.

Es klang egoistisch, aber Amanda hätte auch gern gewusst, wie viel Nataniel seinem Vater von ihr und der Organisation erzählt hatte. Sie würde ungern ein böses Erwachen erleben, wenn sie zum Abendessen erschien und man ihr – nur verständliche – Abneigung entgegen brachte. Und doch wollte sie Nataniel nicht drängen.
 

„Ja, ich habe meinem Dad so weit alles erzählt, was die Angelegenheiten um das Rudel anging. Die Moonleague habe ich nur am Rande erwähnt und du brauchst dir auch keine Sorgen zu machen, was deine Rolle dabei angeht. Alles erzähle ich meinem Vater wirklich nicht. Es geht ihn nichts an, was du getan hast, bevor wir uns trafen. Meiner Ansicht nach ist das Vergangenheit und zu jenem Zeitpunkt waren sie es, die dir ein neues Leben gegeben haben, nachdem jemand meiner eigenen Rasse dein Altes zerstört hat.“

Wenigstens in diesem einen Punkt konnte er nichts gegen die Moonleague sagen. Sie hatten Amanda zu der gemacht, die sie nun war. Wäre es anders, er hätte sie vermutlich nie getroffen. Eine Tatsache, die er sich nicht vorstellen konnte. Ohne sie in sein altes Leben zurückkehren? Beides war nicht mehr möglich. Es hatten sich neue Kapitel aufgetan. Egal ob Nataniel nun wollte oder nicht.
 

"Ich habe mit deiner Mom geredet. Sie ist wirklich nett. Wir konnten ein paar Missverständnisse aus dem Weg räumen."

Unvermittelt hielt Amanda an und nahm Nataniels Hand. Er roch nach Pferd und sah ein wenig angestaubt aus. Ließ der Dreck auf seinen Wangen seine Augen etwa noch intensiver erscheinen, als es sonst der Fall war?

In einer fast unschuldigen Bewegung stellte Amanda sich auf die Zehenspitzen, schlang ihre Arme um Nataniels Hals und küsste ihn. Ob er verstand, wie sehr sie ihn liebte? Dabei verstand sie selbst nicht, warum ihr Herz gerade jetzt so wahnsinnig stark danach verlangte, es ihm zu zeigen, sich zu vergewissern, dass er das Selbe fühlte und vor allem, dass er sie nie verlassen würde.

Amandas Kuss war lang und als sie ihn beendete, sah sie Nataniel in die tiefen, eisblauen Augen. Am liebsten hätte sie ihn nie mehr losgelassen, aber sie brauchte keine Angst zu haben, dass er ihr hier einfach davon lief. Daher ließ sie ihn wieder los und begleitete ihn bis vor die Tür seiner Hütte, bevor sie abermals stehen blieb.

"Während du duscht, würde ich gern in die Stadt fahren, ein paar Klamotten und andere Dinge besorgen und Eric anrufen. Ist das ok? Oder möchtest du mit in die Stadt kommen? Wenn du was brauchst, kann ich es dir auch gern mitbringen."
 

Als Amanda fortfuhr, wollte er gerade fragen, was für Missverständnisse das denn gewesen seien, doch da hielt sie plötzlich an, so dass er aus dem Tritt kam und von ihrer Hand wieder zurück gezogen wurde, als sie die seine ergriff.

Positiv überrascht nahm er zur Kenntnis, wie sie ihre Arme um seinen Nacken schlang, sich an ihn drückte und ihn küsste. Ein Kuss und bei ihm brannten die Sicherungen für logisches Denken durch.

Instinktiv und zugleich aus dem Drang heraus, seinen Besitzanspruch geltend zu machen, umschlang er sie mit seinen Armen, zog sie so eng an sich heran, wie es ihm möglich war und zugleich beugte er sich etwas herab, damit sie sich nicht so nach ihm ausstrecken musste.

Kaum dass er ihre Lippen berührt und seine Zunge um ihre geschlungen hatte, begann für ihn deutlich fühlbar sein ganzer Körper zu vibrieren. Von der Sohle bis zu den Haarspitzen baute sich ein deutliches Prickeln in ihm auf und brachte damit seinen Puls sofort innerhalb weniger Sekunden zum Rasen.

Es war ihre Fruchtbarkeit. Sie rückte mit jeder Stunde näher und ließ seinen Körper schon mit der kleinsten Berührung auf Hochtouren laufen. Irgendwie war es ein gutes, aber auch zugleich ein absolut störendes Gefühl, weil es ihm den Panther näher, als dem klaren Verstand brachte. Ein Ringen, das schon einmal zu Komplikationen geführt hatte und obwohl er wusste, dass er sich zurückziehen sollte, konnte er es nicht. Stattdessen ließ er das herumwirbelnde Testosteron im Blut sich immer weiter entfalten, bis er glaubte, sich noch nie ‚Paarungsbereiter‘ gefühlt zu haben, als in diesem Moment.

Zum Glück sah er schon leicht verschwitzt und verstaubt aus. Auch der dominierende Geruch nach Pferd verdeckte, seine eigenen körperlichen Anzeichen sehr gut, aber er würde es nicht mehr lange vor sich herschieben können.

Amanda sollte wirklich erfahren, was hier los war, bevor wieder etwas völlig Unvorhergesehenes passierte. Aber irgendwie brachte er die Worte nicht über seine Lippen. Stattdessen musste er mit aller Gewalt gegen den Drang ankämpfen, sie nach ihrer Frage nicht gleich ins Haus zu sperren.

„Nein!“, entkam es ihm trotzdem etwas zu laut. Weil sie vorhatte, alleine in die Stadt zu fahren. Wo überall männliche Gestaltwandler herum liefen.

Einige seiner Kumpel waren wahre Frauenhelden. Die Ladys lagen ihnen zu Füßen, wenn sie nur von ihnen angelächelt wurden. Wie konnte er Amanda da alleine raus schicken?!

Eifersucht, ungezähmte Dominanz und Revierinstinkte lasteten tonnenschwer auf ihm und zugleich schienen sie ihn zu beschimpfen, als er seinen zu lauten Ausruf mit sanft ausgesprochenen Worten abmilderte: „Ich meine: Nein, ich brauche nichts. Aber wenn du gute Kleidung für gutes Geld einkaufen willst, so kann ich dir ‚Susans Fashion Boutique‘ empfehlen. Sie macht auch tolle Beratung, falls du darauf Wert legen solltest…“

Oh Mist! Entfuhr es ihm in Gedanken, als ihm einfiel, wer Susan alias ‚die Viper‘ war. Zwar hatte er sie schon Monate nicht mehr gesehen und auch davor war ihr Verhältnis nur noch rein freundschaftlich gewesen, aber trotzdem hätte er sich am Liebsten für seine Worte auf die Zunge gebissen.

Sie war eine seiner Bettgefährtinnen in seiner Jugendzeit gewesen. Sex mit einer Frau, die eine Schlange in sich trägt, war wirklich nicht zu verachten, was die Stellungen anging, aber verdammt noch mal. Im Augenblick hätte er jede Minute von dieser Zeit ausgelöscht, wenn er gekonnt hätte.

Amanda als seine Gefährtin dorthin zu schicken, kam ihm ziemlich falsch vor. Aber er konnte das Gesagte nicht mehr rückgängig machen und wenn er mitkam, würde er sicherlich eine Situation herauf beschwören, die alles andere als angebracht war.

Von dem Verlangen hin und her gerissen, bei Amanda zu sein, um auf mögliche Rivalen zu achten und der Angst davor, genau dadurch eine Katastrophe auszulösen, ließ er schließlich doch die eher praktischere Seite gewinnen.

Shopping war nicht unbedingt sein Ding, auch wenn er für Amanda wirklich alles tun würde. Selbst Stundenlang durch Kaufhäuser zu wandern und ihre Tüten zu schleppen. Er würde es mit Freuden hinnehmen. Aber sie wollte auch noch ihren Bruder anrufen und bestimmt täte ihm selbst auch etwas Abstand gut, um von seinem Hormonstau etwas runter zu kommen. Seine Jeans wurde ohnehin bald gesprengt, wenn das so weiter ging.

„Fahr nur alleine, wenn du willst. Ich habe das Handy immer dabei, falls es Probleme geben sollte.“, meinte er schließlich etwas künstlich.

Hatte Amanda eigentlich eine Ahnung, wie schwer es ihm fiel, DAS zu sagen? Alles in ihm wehrte sich dagegen, sie gehen zu lassen, als würde er sie nie wieder sehen. Aber es war einfach lächerlich, so etwas zu denken.
 

Überrascht von Nataniels augenscheinlich übertriebenem Ausruf, zog Amanda die Augenbrauen in die Höhe. Was das 'nein' jetzt genau heißen sollte, erklärte er dürftig im nächsten Satz, aber für Amandas Ohren klang das nicht gerade überzeugend.

Schon den ganzen Tag über war etwas an Nataniel gewesen, das Amanda nicht richtig einordnen konnte. Er schien sich nicht anders zu verhalten als sonst, aber irgendetwas lag in der Luft, das Amandas Alarmglocken schrillen ließ.

Es fühlte sich fast so an, als würde Nataniel ihr etwas verschweigen.

Sobald sie an den Morgen zurückdachte, seine leicht hilflose Geste, als wäre ihm schwindelig, sah sie ihn prüfend an. Er wäre doch hoffentlich nicht so dumm, eine schwere Verletzung vor ihr geheim zu halten. Was, wenn er doch schlimmere Wunden davon getragen hatte, als man äußerlich sehen konnte?

Horrorszenarien von inneren Blutungen, Entzündungen und noch Schrecklicherem stiegen in Amandas Vorstellung, wobei sie versuchte irgendein Zeichen zu erkennen, das auf etwas Derartiges hindeuten könnte. Und dann fiel ihr ein, wo sie hier waren.

Vor Amanda könnte Nataniel eine vermeintlich tödliche Wunde geheim halten. Aber nicht vor seiner Familie. War es denn nicht so?

Sofort beruhigte sich Amanda wieder und erst jetzt stellte sie fest, dass sich ihr gesamter Körper vor Sorge verkrampft hatte. Sie lockerte sich leicht und brachte sogar ein Lächeln zustande, als Nataniel ihr die Boutique empfahl und ihr schließlich sagte, dass er jederzeit erreichbar sei.

"Ok, ich werde nicht lange weg sein."

Nachdem sie ihm einen kurzen Abschiedskuss gegeben hatte, fügte sie noch hinzu: "Und du weißt, dass für mich das Gleiche gilt. Ich bin hoffentlich nicht umsonst die eins in deinem Kurzwahlspeicher."

Mit einem Zwinkern war sie verschwunden und bald mit dem Leihwagen auf dem Weg in die nahegelegene Stadt. Während sie durch Wälder fuhr, die sich auch dann nur wenig lichteten, als bereits das Ortsschild sie willkommen hieß, sang Amanda einen Song im Radio lautstark mit und trommelte den Takt auf dem Lenkrad.

Ob es allein an Nataniel lag oder seiner freundlichen Familie, der allgemeinen Umgebung oder der Tatsache, dass sich Amanda seit Langem endlich einmal absolut frei fühlte, war egal. In diesem Moment war sie einfach nur absolut fröhlich.

38. Kapitel

Die Frau mit den raspelkurzen, dunklen Haaren und den fast schon schmerzhaft grünen Augen, war sofort auf Amanda zugekommen und hatte ihre Hilfe angeboten. Schon auf den ersten Blick, den Amanda durch den Laden geworfen hatte, war klar gewesen, dass sie hier fündig werden würde.

"Ich bin heute Ihr Glücksgriff. Sie dürfen mir eine ganze Garderobe verkaufen. Ich brauche alles. Angefangen bei der Unterwäsche, bis hin zu den Schuhen."

Die Dunkelhaarige lachte und breitete in einer einladenden Geste die Arme aus, um ihren gesamten Laden einzuschließen.

"Wo möchten Sie anfangen?"

Die beiden Frauen entschieden sich von der Haut nach außen zu arbeiten und fingen dementsprechend bei der Unterwäsche an.

Amanda suchte sich drei Sets heraus, die sie farblich ansprachen. Die Verkäuferin sah sich das Ergebnis kurz durch eine Lücke im Vorhang der Umkleidekabine an und brachte Amanda dann Alternativen.

Schlussendlich landeten sechs BHs und die dazu passenden Slips an der Kasse. Weiter ging es zu Oberteilen, dann Hosen und Röcken, bis Susan schließlich ein Paar Schuhe und zwei Paar Stiefel über die Kasse zog. Der Betrag ließ Amanda noch nicht einmal die Sinne schwinden, wie sie es bei der Auswahl vermutet hatte.

Sie bedankte sich und ging mit Tüten beladen erst einmal zum Wagen zurück, bevor sie sich zu einem geeigneten Ort zum Telefonieren umsah.

Ihr fiel ein großes Restaurant ins Auge, dessen Schild eine Gartenterrasse versprach. Genau das Richtige, befand Amanda und rannte über die Straße.

Der Garten war genau nach Amandas Geschmack. Vier alte Bäume standen darin, die Schatten spendeten und von kleinen Tischen mit bunten Tischdecken umgeben waren. Was Amanda außerdem entgegen kam, war die Tatsache, dass gerade sehr wenig Betrieb herrschte.

Niemand würde sich um das Telefongespräch kümmern, dass eine wildfremde blonde Frau an einem schönen Nachmittag im Garten des Restaurants führte.

Zufrieden ließ Amanda sich trotzdem am Rande der Rasenfläche an einem der kleinen Tische nieder und wartete mit dem Telefonat so lange, bis die große Tasse dampfenden Kaffees vor ihr stand.

„Ja?“

Schon bei diesem einen Wort schaltete Amandas Hirn auf Alarmbereitschaft. Noch unterdrückte sie jegliche Gefühle von Sorge oder Misstrauen, denn ihr kleiner Bruder konnte nicht wissen, dass sie es war, die ihn da anrief. Sven hatte ihr das Handy gegeben und wahrscheinlich konnte Amanda froh darüber sein, dass Eric bei der fremden Nummer überhaupt abgenommen hatte.

„Eric, ich bin’s. Amanda.“

„Hey Amanda! Alles in Ordnung? Wo bist du? Sind alle in Sicherheit?“

Amanda seufzte erleichtert. Das hörte sich doch schon viel mehr nach ihrem Bruder an. Aber so gut es sich anfühlte, mit ihm zu reden, so sehr strengte es Amanda auch an, ihre Geschichte ausführlich zu erzählen. Sie wollte natürlich nicht alles preisgeben, was passiert war. Vor Eric hatte Amanda so gut wie keine Geheimnisse, aber deswegen wollte sie mit der Beziehung zwischen ihr und Nataniel trotzdem nicht gleich am Anfang herausplatzen. Das war im Gegensatz zu der Rettung des Rudels und dem Sieg Nataniels über Nicolai nebensächlich.

Und doch konnte es sich Amanda nicht verkneifen ihrem kleinen Bruder zumindest über die Tatsachen aufzuklären.

"Ich bin mit Nataniel bei seinen Eltern. Sie haben eine große Farm und er lebt in einem kleinen Haus auf dem Grundstück. Er hat bei dem Kampf mit Nicolai Einiges abbekommen und muss sich erstmal ausruhen."

"Aber nicht nur deshalb willst du bei ihm bleiben. Um ihn zu ... pflegen."

Die Gänsefüsschen waren bei dem letzten Wort deutlich herauszuhören. Amanda rollte die Augen, konnte dabei ein Grinsen aber nicht unterdrücken.

"Nein, nicht nur deshalb. Wir sind..."

Es war das erste Mal, dass Amanda ihre Beziehung zu Nataniel vor jemandem definieren sollte. Was sollte sie Eric denn sagen? Dass sie Nataniels Gefährtin war? Also per definitionem so etwas wie seine Ehefrau?

Eric würde sich erstens schlapp lachen und zweitens fühlte sich dieser Gedanke für Amanda einfach zu gewichtig an, als dass sie ihn ihrem einzigen noch lebenden Familienmitglied so nebenbei am Telefon mitteilen können.

"Wir sind zusammen."

"Das mag dich überraschen, Amanda, aber ich dachte es mir."

Sie lachten beide und Amanda fühlte sich noch gelöster als schon bei der Fahrt in die Stadt. Einen Moment lang hatte sie sogar vergessen, dass es Eric vermutlich nicht so schön hatte wie sie.

Amanda hatte keine Ahnung, wie der "Untergrund" in der Hauptstadt tatsächlich aussah, aber sicher hatte es wenig mit einem Garten unter Bäumen und Kaffeetrinken zu tun. Beinahe bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie es sich hier so gut gehen ließ, während Eric und Clea vielleicht bereits von der Organisation verfolgt wurden.

„Eric, wie ist es bei euch?“

Sie wollte die Moonleague nicht beim Namen nennen, aber dass es ihr darum ging, hatte Eric sofort verstanden. Sie hörte ihn die Luft zischend einsaugen und seine Stimme wurde düster.

Schlagartig hatte sich die Stimmung verändert und es hätte Amanda nicht im Geringsten gewundert, wenn sich über ihr ein Gewitter aus heiterem Himmel zusammen gebraut hätte. Da konnten Erics nächste Worte sie nur milde beruhigen.

„Clea ist in Sicherheit. Aber mit dem Chaos, das ihr bei der Organisation ausgelöst habt, ist hier Einiges anders geworden. Amanda…“

In ihrem Magen bildete sich ein harter Kloß, weil sie wusste, dass nach diesem Anfang nichts Gutes folgen konnte.

Amanda musste vor sich selbst zugeben, dass sie die Konsequenzen ihres Tuns nicht bis zum Ende durchdacht hatte. Zu dem Zeitpunkt, als sie die Server der Moonleague lahmgelegt hatte, war ihr nur daran gelegen, die Wandler zu schützen, die an die Organisation verraten worden waren, und Nataniel. Amanda hatte wenig darüber nachgedacht, was sonst noch passieren konnte. Es waren gute Absichten gewesen, die sie zu ihren Schritten bewogen hatten, aber das was Eric ihr erzählte, ließ ihr gleichzeitig heiß und kalt werden.

„Etwas scheint sich bei der Moonleague zusammen zu brauen. Noch versuchen sie die Daten, die ihr zerstört habt, wieder zusammen zu setzen. Wir haben keine Ahnung, wie lange sie brauchen werden, um sich zu erholen. Aber sobald wir es so weit kommen lassen, wird die Hölle losbrechen. Da bin ich mir sicher.“

„Was genau meinst du damit?“

„Amanda, sie wissen, dass du es warst. Und sie wissen, dass du die Daten der Wandler gelöscht hast. Es wird für die Moonleague so aussehen, als wären sie von denjenigen sabotiert worden, die sie am meisten fürchten.“

Sofort verstand Amanda, was Eric ihr damit klarzumachen versuchte.

„Scheiße.“, flüsterte sie mehr in die Welt hinaus, als in das kleine Telefon an ihrem Ohr.

„Mehr als das. Wenn sie es geschickt anstellen, können sie sich selbst zu Märtyrern machen und zur allgemeinen Jagd auf Gestaltwandler aufrufen. Die Menschen werden ihnen folgen, Amanda. Unsere Art ist nun mal schwach und ängstlich.“

Um Amanda herum schien auf einmal ein luftleerer Raum entstanden zu sein. Sie fühlte sich, als gäbe es keinen Sauerstoff, den sie atmen konnte.

„Eric…“

„Amanda, wir haben viele, die uns helfen können. Aber niemand war so lange bei der Organisation, wie du und ich. Wir und Clea sind diejenigen, die wirklich etwas über die Moonleague wissen…“

Es herrschte Schweigen und in Amandas Kopf rasten die Gedanken so schnell, dass sie nicht wusste, welchen sie zuerst aussprechen sollte.

Mit ihrer Unüberlegtheit hatte sie alles nur noch schlimmer gemacht. In ihrem Versuch einige Wandler zu retten, hatte sie vielleicht die gesamte, verdeckte Gemeinschaft dieser Art gefährdet.

Amandas Fingerspitzen legten sich auf ihre Lippen, weil sie versuchte, die Übelkeit hinunter zu kämpfen, die sich in ihr zusammen braute.

Ihre Antwort war ein einziges Wort, aber ihre Stimme war fest und strahlte aus, dass sie es todernst meinte.

„Ich bin in drei Tagen da.“

Amanda machte sich nicht einmal die Mühe, der Kellnerin zu winken, sondern knallte das Geld für den Kaffee auf den kleinen Tisch und stand auf. Gerade wollte sie sich von Eric verabschieden, als er sie gerade noch unterbrach.

„Amanda! Clea sagt, dass die Computer frühestens in ein paar Wochen einsatzbereit sein werden. Vorher kann die Moonleague gar nichts tun. Lass‘ dir Zeit. Lass‘ euch beiden ein wenig Zeit.“

„Ich melde mich, sobald ich in der Stadt bin.“, antwortete Amanda nur und legte auf. Dann begann sich die Welt wieder zu drehen und zugleich auf Amanda einzustürzen.

Was hatte sie nur getan?
 

***
 

Nataniel sah ihr noch nach, als sie mit dem Leihwagen wegfuhr. Alles in ihm verkrampfte sich bei dem Anblick und zugleich war er des Atmens nicht mehr fähig. Erst als seine verletzte Hand heftig zu pochen begann, merkte er, wie fest er seine Hände zu Fäusten geballt hatte. Verdammt, manchmal hasste er es wirklich, ein Gestaltwandler zu sein.

Aber so sehr er es auch zu leugnen versuchte, der Panther in ihm würde niemals schweigen, ohne dass er ihn ganz von sich trennte und dann war er nicht mehr als ein fleischlicher Roboter, dessen einzigen Gefühle aus logischem Denken bestanden.

„Lerne einfach, damit zu leben.“, ermahnte er sich selbst, ehe er bereits damit anfing, in dem er wieder ruhig zu atmen begann und sich dann mit Gewalt von dem Anblick der leeren Einfahrt los riss, um sich zu waschen und für seine Gefährtin wieder frisch und sauber zu sein, wenn sie zurückkam.

Dennoch löste sich der beißende Knoten in seinem Magen nicht auf, selbst während er sich darauf konzentrierte, die Verbände von seiner Haut zu schälen, um sich wieder einmal gründlich reinigen zu können.

Selbst in den paar Stunden, seit Amanda ihn versorgt hatte, waren seine Verletzungen schon wieder sprunghaft verheilt, als hätte er Wochen dafür Zeit gehabt. Die Kratzer waren nur noch rote Linien auf seinem Rücken, Brustkorb, Oberschenkel und Oberarmen, während der Biss an seiner Hand sich in wulstigen Narben äußerte, die in allen möglichen Rot-, Blau- und Lilatönen leuchteten. Trotzdem war er ziemlich empfindlich an den verletzten Stellen, weshalb er das Wasser nur lauwarm einstellen und diese nur indirekt dem Wasser aussetzen konnte. Aber wenigstens war er wieder zu einer Dusche fähig, die er auch lange und ausgiebig dazu nutzte, von seinen hochlodernden Gefühlen herunter zu kommen.

Im Endeffekt hatte es nicht viel gebracht, denn je länger Amanda fort war, umso unruhiger, hektischer und unkonzentrierter wurde er.

Alle möglichen und unmöglichen Szenarien spielten sich in seinem Kopf ab, bis er glaubte, seine sich überschlagenden Gedanken würden noch ein Blutgerinnsel in seinem Hirn verursachen.

Schließlich saß er lediglich in einer halbherzig übergezogenen Jeans vor dem Wecker neben seinem Bett und starrte den offenbar gelähmten Minutenzeiger an, da dieser sich so langsam bewegte, dass es einfach nicht normal sein konnte.

Wäre Nataniel nicht von diesen ganzen Gefühlen so überrumpelt gewesen, er wäre vermutlich einfach zu seiner Pflegefamilie gegangen, hätte sich mit ihnen noch etwas unterhalten, während er auf Amanda wartete und seine Eingeweide sich nicht so anfühlten, als würde jemand seine Klauen hinein schlagen. Vermutlich hätte er Lucy auf seinem Schoß gehalten, während Kyle ihm eine seiner Erlebnisse in den vergangenen Wochen ausführlich und sehr bildhaft geschildert hätte. So hätte es sein sollen, aber dem war nicht so.
 

***
 

Wäre Eric mit ihr im Auto gesessen, hätte er einmal mehr die Gelegenheit dazu gehabt, Amanda darauf hinzuweisen, dass es keine Ungeduld der Welt rechtfertigte, Gefahr zu laufen, den Wagen um den nächsten Baum zu wickeln.

Mit knirschenden Zähnen brachte sich Amanda nicht nur dazu langsamer zu werden, sondern sogar auf halber Strecke mitten im Wald an den Seitenstreifen zu fahren und kurz durchzuatmen.

Was sollte sie tun? Gerade erst war sie mit Nataniel zusammen einigermaßen zur Ruhe gekommen. Vor weniger als zwei Tagen hatte sie noch daran gezweifelt, dass er überhaupt noch am Leben war und sie ihn je wiedersehen würde. Auch jetzt wurde ihr das Herz noch schwer, wenn sie daran zurückdachte.

Das Bild seines scheinbar leblosen, zerschundenen Körpers auf dem Waldboden stach ihr so stark ins Gedächtnis, dass Amanda zusammenzuckte. Und jetzt sollten sie schon wieder in neue Gefahren rennen?

Eric hatte natürlich Recht. Amanda würde zurückgehen müssen, um der Moonleague oder was immer sich aus dem Häufchen Chaos letztendlich erheben würde, gegenüber zu treten. Immerhin hatte sie das Ganze so weit aus der Bahn geworfen, dass die Möglichkeit bestand, alle Wandler zu Zielscheiben gemacht zu haben.

Bei der bloßen Vorstellung schien Amanda den Boden unter den Füßen erneut zu verlieren und sie war froh, dass sie bei dem Schwindelgefühl, das sie ergriff, nicht wirklich am Steuer saß.

Sie musste in die Stadt zurück. Ursprünglich hatte sie doch sowieso vorgehabt mit Eric in den Untergrund zu gehen und mit ihm dafür zu sorgen, dass sie Wandler ihre Freiheit bekamen. Dann würde sie das jetzt eben tun. So wie sie es vorgehabt hatte, bevor… Bevor Nataniel wieder aufgetaucht war.

Frustriert lehnte Amanda sich gegen die dunkle, heiße Tür des Wagens und starrte auf die Tannennadeln um ihre Füße.

Was sollte sie Nataniel sagen? Die Idee ihn zu verlassen, selbst auf Zeit, um diese Sache zu erledigen, schien Amanda selbst körperlich zerreißen zu wollen. Gerade vor ein paar Stunden hatte sie sich nicht vorstellen können, ihn nur loszulassen. Und jetzt wollte sie gehen. Musste gehen, um den Schaden zu begrenzen, den sie angerichtet hatte. Und sie konnte beim besten Willen nicht verlangen, dass er mit ihr ging.

Sein Rudel brauchte ihn, um sich hier eine neue Heimat aufzubauen. Amanda konnte und würde diesen Leuten ihren neu gefundenen Anführer nicht entreißen. Und doch machte ihr der Gedanke, ohne Nataniel zurückzugehen mehr Angst, als alles Andere.

Amanda hatte sich selbst drei Tage gegeben.

Wenn es nach Clea und Eric ging, dann hatte sie notfalls auch noch länger Zeit. Normalerweise war Amanda niemand, der so etwas vor sich her schob, aber sie hatte Nataniel gerade jetzt endlich einigermaßen für sich allein.

Sie wollte ihn unter keinen Umständen sofort wieder hergeben oder auch bloß eine Auseinandersetzung mit ihm riskieren. Dazu würde es früh genug kommen und unausweichlich.

Wie Mary gesagt hatte, waren Menschen Meister darin, ihre Gefühle zu verbergen. Und Amanda übte schon mehr als 16 Jahre ihres Lebens. Sie würde Nataniel erst davon erzählen, wenn es absolut notwendig war. Verdammt noch mal, sie hatte sich ein paar friedliche, sorgenfreie Tage mit ihm mehr als verdient!
 

Kaum dass er auch nur den Hauch eines Autos in der Ferne hörte, kam er sprunghaft auf die Füße, durchquerte mit wenigen Schritten den Raum und wollte gerade die Tür aufreißen, als ihm einfiel, wie derangiert sein Oberkörper aussah und dass er sich unmöglich so den Blicken seiner Familie aussetzen konnte. Doch es waren letztendlich nicht so sehr die Verletzungen gewesen, die ihn dazu brachten, sich noch rasch ein Shirt über den Kopf zu ziehen, sondern die schwarzen Linien auf seiner Haut, die so unverkennbar schwerwiegend wie ein düsteres Omen waren.

Sauber, mit feuchten Haaren und mit deutlich summendem Körper stand er da, als hätte er sich, seit Amanda weggefahren war, nicht bewegt.

Sein Herz klopfte schneller, als er den Wagen schließlich näher kommen sah.
 

Als sie in die Einfahrt einbog, stand er bereits vor der Tür seiner Hütte und wartete auf sie. Gerade weil es so aussah, als hätte er sich seit ihrer Abfahrt keinen Zentimeter bewegt, traf Amanda sein Anblick bis ins Innerste.

Es sah so aus, als würde er nirgendwo anders als hierher gehören und gleichzeitig war sich Amanda sicher, dass er immer auf sie warten würde. Egal wohin sie ging. Und vielleicht sogar egal, ob sie je wieder zurückkommen würde.

Sie gab sich kaum mehr als ein paar Sekunden, um ihr geschultes Lächeln aufzusetzen, ihre Einkaufstaschen zu packen und aus dem Wagen auszusteigen. Nataniel war auf sie zugekommen und Amanda drückte ihm ein paar der vollen Papiertaschen aus der Boutique in die Hand.

"Na, wie war die Dusche? Ich war jedenfalls erfolgreich, wie du siehst."

Sie küsste ihn wieder kurz auf den Mund.

"Danke für den Tipp mit dem Laden."
 

Ohne großartig auf den Inhalt der Einkaufstüten zu achten, umschlang er samt Einkäufe seine geliebte Gefährtin, als hätten sie sich Tage lang nicht mehr gesehen, anstatt nur der wenigen Stunden.

Aber für ihn hatte es sich einfach viel zu lange angefühlt und erst jetzt, da er ihren warmen, weichen Körper wieder an seinem spürte, ließen die Klauen von seinen Eingeweiden ab.

Instinktiv sog er Amandas Duft ein. Füllte mit dem lebensspendenden Aroma seine Lungen, bis der Sauerstoff ihm ins Blut über ging und jede einzelne seiner Nervenzellen abermals ansprangen, um dem unbewussten Lockruf der Natur zu folgen.

Wären da nicht seine Sorgen und dieser seltsam bittere Nachgeschmack auf seiner Zunge gewesen, er hätte sich kaum noch zurückhalten können. Aber gerade weil er froh darüber war, Amanda wieder zu haben und somit nicht sofort wieder in einer sehr deutlichen Aussprache mit ihr enden wollte, konnte er seine Triebe halbwegs zur Seite schieben. Zumindest im Moment.

Er lächelte sanft zurück, ehe er ihr leise ins Ohr schnurrte, wie sehr er sie vermisst hatte. Danach ließ er von ihr ab, um die erworbenen Neuheiten nicht noch weiter zu zerquetschen.

„Als erfahrener Jäger möchte ich sofort deine neue Beute begutachten.“, scherzte er mit einem zufriedenen Grinsen, während er sich Gedanken darüber machte, was zur Hölle er nur mit sich anstellen sollte.

Entweder wurde es tatsächlich von Stunde zu Stunde schlimmer, oder er wurde wahnsinnig.

Hatte er sich diesen komischen Geschmack auf seiner Zunge nur eingebildet, oder war da tatsächlich eine nicht zu deutende Unternote in Amandas Duft gewesen? Bitter, säuerlich und so abstoßend wie kaltes Metall?

Er musste es sich eingebildet haben. Denn den einzigen Duft, den er nun an ihr wahrnehmen konnte, war der welcher sein Blut so deutlich in Wallung versetzte, dass er mehr Hitze auszustrahlen schien als für gewöhnlich.

Außerdem konnte er langsam nur noch an Sex denken. Eine Tatsache die sich immer schwerer verbergen ließ, je schlimmer das Bedürfnis danach wurde.

Lerne, damit umzugehen!, wies er sich abermals zurecht. Aber wie konnte er das, wenn er noch nie etwas derart Vergleichbares gespürt hatte?

Amanda war sich bestimmt noch nicht einmal im Klaren darüber, dass sie so kurz vor ihrem Eisprung stand, wie er vor der absoluten Verzweiflung.

Nataniel konnte nur noch darauf hoffen, dass ihn die Vorführung der Einkäufe ablenken würde.

Weder wollte er seiner Gefährtin, seine irrsinnigen Sorgen während ihrer Abwesenheit zeigen, noch ihr mitteilen, dass es für ihn im Augenblick nichts Erotischeres oder Erregenderes gab, als ihren absolut unwiderstehlichen Duft. Und doch widerstand er immer noch der Versuchung, die zum Greifen nahe war.

In seiner Hütte angekommen, fragte er vielleicht etwas ungewöhnlicher Weise, ob sie gerne ein Glas kalter Milch hätte, während er sich selbst einen großen Becher davon einschenkte, um seine Finger mit irgendetwas zu beschäftigen und um zugleich seine Nase mit dem kalten Frischeduft der Milch abzulenken.

Er brauchte einen kühlen Kopf, wenn er Amanda langsam auf das unvermeidliche Gespräch vorbereiten wollte und zugleich war er der Versuchung erlägen, es solange hinaus zu zögern, wie es ihm möglich war. Nur Gott wusste, wie lange das noch sein würde. Er schien von Kopf bis Fuß in Flammen zu stehen, während jedes seiner Moleküle nach Sex schrie!

Ein Grund mehr, wieso er an der offen im Raum stehenden Küchentheke mit den Barhockern stehen blieb, um sich dort die Einkäufe von Amanda zeigen zu lassen. So hatte er wenigstens das Möbelstück zwischen ihr und seinem mehr als nur bereitwilligen Fleisch.
 

Wieder einmal war Amanda froh, dass sie ihre Gefühle nicht nur vor Anderen verstecken, sondern sie auch in sich selbst erfolgreich hinunter kämpfen konnte. Spätestens als Nataniel sie fast übertrieben glücklich an sich zog, um sie zu umarmen und ihr ins Ohr zu schnurren, weil er sie so vermisst hatte, hatte Amanda das Gefühl in seinen Armen schmelzen zu müssen.

Sofort war da ein Stechen in ihrem Inneren, das sich einen besonders empfindlichen Punkt ihres Herzens herausgesucht zu haben schien. Es fühlte sich so an, als müsse Amanda in noch winzigere Einzelteile zerspringen, als wenn sie sich in den Schatten auflöste.

Sie wollte ihn nicht verlassen müssen.

Alles in ihr sträubte sich dagegen und nach den wenigen Schritten bis zu seiner Hütte, hatte sich der Sturm in Amandas Innerem ihrem Willen beugen müssen. Noch würde sie nicht daran denken. Drei Tage konnten eine lange Zeit sein, wenn sie es bloß schaffte, sie zu genießen.

Das Glas Milch lehnte sie dankend ab, denn selbst die wenigen Schlucke Kaffee, die sie vorhin zu sich genommen hatte, schienen in ihrem Magen ein Rumoren auszulösen, das nichts Gutes verhieß.

Amanda trat einen Schritt zurück und sah sich die aufgereihten, bunten Tüten auf dem Bett an, die ihre neue Garderobe enthielten.

Über ihre Schulter hinweg grinste Amanda Nataniel an und ließ ihre Hände wie bei einer Geisterbeschwörung über die offenen Tüten schweben.

"Ich finde, wir sollten es dem Zufall überlassen, was ich dir wann zeige. Je nachdem, was die Tüte hergibt, bekommst du vorgeführt."

Ohne eine Antwort von Nataniel abzuwarten, der seltsamerweise auf Abstand an der Küchentheke stand, schloss Amanda die Augen und griff in eine Tüte links von sich. Was sie herauszog war ein weinrotes Oberteil und die schwarzen Schuhe, die sie als letztes ausgesucht hatte.

Ein prüfender Blick zeigte, dass sich keines der kleinen Teilchen Unterwäsche mehr in der Tasche versteckte, die nach der Vorführung des Inhalts auf dem Boden landen würde.

"Na, aber nur in Oberteil und Schuhen kann ich dir auch nicht vor der Nase rumlaufen."

Nataniel antwortete nicht und Amanda ignorierte das Geräusch des Glases, das etwas hart auf der Küchentheke abgestellt wurde.

Stattdessen kramte sie in den anderen Taschen nach dem Rock zum Oberteil und fand schließlich auch eine kleine Tasche in einer anderen Tasche, in die Susan ihr die Unterwäsche gepackt hatte.

Amanda legte die Klamotten auf dem Bett ab und zog ihre erste und zweite Wahl aus der kleinen Tüte hervor. Sie ließ nur beide Slips an jeweils einem Zeigefinger baumeln, als sie sich schelmisch grinsend umdrehte.

"Du hast die Qual der Wahl. Was möchtest du zuerst sehen?"
 

Als würde ihm etwas wahnsinnig Wichtiges entgehen, wenn er auch nur einmal blinzelte, war sein Blick auf Amandas Gestalt gerichtet und verfolgte zugleich mit bereits bedrohlich überspannten Nerven jede Einzelne ihrer Bewegungen.

Immer wieder musste er sich ermahnen, dass er drohte, sich völlig daneben zu benehmen, wenn er sich nicht noch stärker zusammen riss.

Vergessen war bereits die Zeit ihrer Abwesenheit, die er doch eigentlich dazu hatte nützten wollen, wieder von dem vielen Testosteron herunter zu kommen, das nun von seinem Herzen durch seinen ganzen Körper gepumpt wurde und jeder einzelnen Pore zu entströmen schien.

Nachdem Amanda auch noch locker daher redete, sie könne ja schlecht nur in einem Oberteil und Schuhe vor ihm auftreten, lagen seine Nerven vollkommen blank, während ein fast schon kreischender Laut in seinem Kopf erklang, als würde jemand seine Krallen an einer Schultafel schärfen.

Der Panther war vollkommen außer sich, weshalb Nataniel auch das Glas mit der fast leer getrunkenen Milch abstellen musste, sonst hätte er es zwischen seinen Fingern zermalmt.

Verdammt noch mal, gleich liefen seine Hormone Amok und selbst die Tatsache, dass er seine Hüfte schmerzhaft fest gegen das harte Holz presste, um eine andere Art von Härte daran zu hindern, seine Kleidung zu sprengen, hinderte seinen Körper nicht daran, völlig durchzudrehen, als Amanda ihm die beiden Slips zur Auswahl hin hielt.

Nataniel spürte, wie er zu beben anfing, das Summen und Brüllen in seinem Körper immer größer wurde und damit verbunden ihm auch der Schweiß ausbrach.

Er konnte bereits spüren, wie die ersten Tropfen die Furche zwischen seinen angespannten Schulterblättern hinab liefen, um der Linie seines Rückens zu folgen, bis sie auf den Bund seiner viel zu engen Jeans trafen.

Hinzu kamen seine feuchten Handflächen, die er fest um jeweils einen der massiven Messinggriffe geschlungen hatte, die zu den Schubladen der Kücheneinrichtung gehörten.

Das Holz knackte unter der unsachten Gewalteinwirkung, genauso wie seine Zähne knirschten, als er seine Kiefer fest aufeinander presste, um ein sexuell angeheiztes Knurren wieder hinunter zu schlucken, das so ganz und gar nichts mehr mit logischem Verstand zu tun hatte.

„Rot.“, schnurrte er nach einer langen Überlegungspause fast schon lockend und deutete auf den linken Slip, während er das ‚R‘ lasziv über seine Zunge rollen ließ.

Er konnte nichts dagegen machen. Amandas Duft vernebelte ihm so vollkommen den Verstand, dass er nicht mehr verhindern konnte, den Gefühlen Ausdruck zu verleihen, die in ihm hoch kochten. Im Augenblick waren das Gefühle wie sinnlich, heiß und absolut bis aufs äußerste erregt.

Auch wenn er das nicht zugeben wollte und noch immer zu unterdrücken versuchte, so wurden die körperlichen Anzeichen dafür immer offensichtlicher. Während die Aussicht auf ein nüchternes Gespräch mit jeder weiteren Sekunde schwand.

Er wollte, nein, musste bei Amanda sein, in ihr sein, um dem Lockruf ihres Körpers Folge zu leisten, der inzwischen so laut in seinen Gehirnwindungen und jede einzelne seiner Zellen pulsierte, als hätte man ihm die Botschaft eingebrannt.

Nur allein die Tatsache, dass er die Luft anhielt, machte es ihm möglich, seinen Blick auf das Milchglas zu senken, um Amanda die Möglichkeit zu geben, sich die ausgewählten Stücke anzuziehen. Selbst wenn alles in ihm danach schrie, ihr sofort die Kleider vom Körper zu fetzen, um sich nicht länger gegen den Ruf der Natur zu sperren.

Das Holz um die Messingriffe herum knackte noch lauter und begann zu splittern, als er seinen Griff festigte. Nataniel war so, als würden Wellen purer Sinnlichkeit von Amanda ausgehend durch den Raum fahren und sich an ihm brechen, was ihn leicht schwanken ließ.

Ach. Du. Heilige. Scheiße! Es konnte nicht mehr schlimmer werden. DAS war unmöglich! Aber wenn er es in Worte fassen müsste, würde Nataniel glauben, der ideale Zeitpunkt rückte wie in einem wilden, ungezähmten Vorspiel heiß und niederringend näher.

Wie war es nur möglich, dass Amanda diese gewaltige Supernova in ihrem Körper nicht spüren konnte, die sich schon bald in einen Sog verwandeln würde, dem er nicht mehr entkommen konnte?
 

Amanda warf einen Blick auf den roten Slip in ihrer Hand und ließ den Anderen wieder in die kleine Tasche gleiten. Nataniels Tonfall hatte ihr ein kleines Schmunzeln auf die Lippen gezaubert, das sie noch weniger abstellen konnte, als sie ihn sich genauer ansah.

Er schien vollkommen angespannt und der Röte seiner Wangen nach zu urteilen, konnte es nur entweder einen sehr guten oder einen sehr schlimmen Grund dafür geben.

Letzteres schloss Amanda aus, weil ihr aufgefallen war, dass Nataniel die Verbände an seinen Oberarmen entfernt hatte und die Kratzer dort wirklich schon ziemlich gut aussahen.

Sein schwer verletztes Handgelenk hatte er immer noch mit Mull umwickelt, aber das war auch sicher nötig. Amandas Meinung nach grenzte es an ein Wunder, dass er es überhaupt so gut benutzen konnte.

Was tat er da überhaupt?

Dem Geräusch nach zu urteilen, tat es den Schubladen jedenfalls nicht sonderlich gut und was das arme Milchglas ihm getan hatte, dass es diesen starren Blick verdiente, konnte Amanda sich auch nicht vorstellen.

Sie schnappte sich die Klamotten vom Bett, legte die rote Unterwäsche oben auf und zog sich zumindest hinter den Paravent zurück, um sich nicht direkt vor Nataniel umzuziehen. Während sie sich von ihrem Oberteil befreite, es über den Holzrahmen der Trennwand warf und sich weiter auszog, versuchte sie sich von ihren eigenen schweren Gedanken abzulenken.

"Ich hab gesehen, dass du deine Verbände abgenommen hast. Sehen die Wunden schon überall so gut aus?"

Die Hose landete mitsamt schwarzer Spitzenunterwäsche auf dem Dielenboden, bevor sich Amanda auch vom letzten Stück Stoff befreite, um sich neu einzukleiden.

"Heute Morgen hab ich mir schon ein bisschen Sorgen um dich gemacht. Es machte den Eindruck, dir sei schwindelig geworden. Geht's dir denn besser?"

Die Kleider passten wie angegossen, aber gerade als Amanda sich die Bluse zuknöpfen wollte, hörte sie zwei kurz aufeinander folgende Geräusche. Eins kam von der Küchenzeile, wo Nataniel gerade noch gestanden hatte, das Nächste war schon sehr viel näher bei ihr.

"Nataniel?" Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen linste Amanda um den Holzrahmen herum.
 

Sein Blick hatte nicht lange auf dem völlig banalen Glas mit der Milch geruht. Kaum, dass Amanda eine Bewegung gemacht hatte, war sein Kopf wieder in die Höhe geschossen und ihrem Körper gefolgt, der sich nun hinter der Trennwand bewegte.

Der Paravent war nur sehr dünn, so dass er teilweise die Silhouetten der Gegenstände dahinter erkennen ließ, da das Licht der Terrasse als Gegenbeleuchtung mitspielte. So entging ihm auch Amandas Körper nicht und dass sie sich dahinter auszog.

Seine Pulsfrequenz erklomm ungeahnte Höhen.

Als sie ihr Oberteil über die Trennwand hing und durch den leichten Luftzug der Duft des Kleidungsstück noch intensiver zu ihm herüber geweht wurde, brach er unversehens die Messinggriffe in seinen Händen vollkommen vom Holz ab. Das war einfach zu viel.

Sofort ließ er das Metall los, das klirrend zu Boden fiel, als sich auch schon seine Füße wie automatisch bewegten. Er schien keinerlei Kontrolle mehr über sie zu haben. Genauso wenig wie er auf Amandas Fragen hatte antworten können. Er konnte nur noch an eines denken – Sex!

Geschmeidig, lautlos und sich seines kraftvollen Körpers deutlich bewusst, fühlte er sich wie der prächtige Jaguar, der sich ebenso hinter der menschlichen Fassade wand, wie der Mann.

Seine Kleidung schien ihm zu eng und zu heiß zu sein. Sie rieb an seiner hyperempfindlich gewordenen Haut, als könne er jede einzelne Faser wie Schleifpapier auf sich spüren und ihn dadurch nur noch mehr reizte. Er konnte es nicht länger ertragen. Weder den Versuch, sich Amandas Lockruf zu entziehen, noch die einschnürenden Klamotten am Leib, die ihm in diesem Augenblick so unnütz vorkamen, wie sonst was. Also befreite er sich mit Gewalt von seinem Shirt. Packte es einfach mit seinen zitternden Fingern und riss es sich mit einer einzigen Bewegung herunter.

Das reißende Geräusch nahm er mit einem zufriedenen Knurren wahr, doch es war schnell vergessen, nachdem er die Fetzen zu Boden gleiten hatte lassen und nun dicht vor dem Paravent stand, um den Amanda in diesem Moment lugte.

Ein Blick in ihre Augen, ein Atemzug von ihrem Duft und es war endgültig um ihn geschehen.

Mit einer geschmeidigen Bewegung schob er die Trennwand etwas zur Seite und trat zugleich näher an die Quelle dieser gewaltigen Anziehungskraft, die so stark wie die Naturgesetze zu sein schien.

Nataniels Arme schlossen sich um den kühlen Körper seiner Gefährtin.

Er schob Amanda seinen vollkommen angespannten Brustkorb etwas weiter entlang nach oben, um leichter zu ihren Lippen zu gelangen und küsste sie mit einer derartigen Hitze, wie sie es noch nicht von ihm kannte und auch ihn selbst irgendwo im letzten Winkel seines verbliebenen Verstandes noch überraschte.

Der Geschmack ihrer Lippen explodierte in seinem Mund und zugleich blähten sich seine Nasenflügel bei dem köstlichen Duft ihrer Haut, bis ihm fast schwindlig wurde.

Nun konnte er nichts mehr gegen das erotische Knurren machen, das seiner Kehle entkam, als er Amanda mit ihrem Rücken zwischen den Einkaufstüten auf das massive Bett drängte.

Der Holzrahmen gab einen leisen Laut von sich, als er auch sein Gewicht darauf verlagerte, aber er hörte es nicht. Er sah einfach nur noch rot.

Ein halb geschlossenes, rotes Oberteil. Rote Lippen. Rote Unterwäsche, wie er wusste und auch das in ihm drängende Verlangen kam der Farbe Rot ebenfalls gleich.

Es war ein Leichtes sein Becken zwischen Amandas Beine zu drängen und dadurch den Rock ihre Oberschenkel entlang nach oben zu schieben, bis er sich um ihre Hüfte bauschte.

Der süße, marternde, lockende und unwiderstehliche Geruch wurde intensiver. Nataniel stöhnte lustvoll gequält gegen Amandas Lippen. Die Supernova würde gleich explodieren. Genauso wie der letzte Rest seines Nervenkostüms, das ohnehin kaum noch als solches durchging.

39. Kapitel

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40. Kapitel

Wohlig schnurrend nahm Nataniel zur Kenntnis, wie eng sich Amanda an ihn drückte. Er mochte es sehr, sie so bei sich zu spüren, weil es ihm das Gefühl gab, sie wäre ihm genauso gerne auf diese Weise nahe, wie er es bei ihr empfand.

Trotzdem musste er wohl schon ziemlich weit weggedämmert sein, weil er das Meer riechen konnte. Ein schwacher Hauch von Salzwasser, vermischt mit Amandas blütengleichem Duft, für den es dennoch keinen Namen gab. Aber seine erlahmenden Sinne spürten auch noch etwas anderes.

„Ich will nicht … dass du traurig bist.“, seufzte er flüsternd mehr unbewusst, als wirklich bei klarem Verstand. Es war lediglich der Ausdruck für die Signale, die seine Sinne von Amanda empfangen konnten.

Das kaum merkliche Zittern. Ihre seltsame Atmung, die Art, wie sie sich an ihn klammerte, als würde sie Schutz suchen oder als hätte sie Angst, er könne einfach verschwinden.

Es hätte ihn beunruhigen sollen, aber dafür war sein Verstand schon viel zu weit abgedriftet. Er schmeckte lediglich den schalen Nachgeschmack einer Bitterkeit auf seiner Zunge.

„Hoffe … du bist mir nicht böse ... wegen dem Überfall…“, nuschelte er weiter, ehe er sich etwas mit ihr auf die Seite legte und sein Gesicht in das duftende Kissen vergrub.

Er war so verdammt müde.

„Ruf der Natur…“, hauchte er kaum noch hörbar, ehe seine Atmung sich vertiefte, seine Arme sich noch ein bisschen besitzergreifender um Amanda schlangen und er schließlich vollkommen fertig einschlief.
 

Weitere Tränen flossen ihr übers Gesicht, als Nataniel sagte, er wolle nicht, dass sie traurig sei.

Eigentlich hätte es sie trösten sollen, dass er noch nicht einmal in ihr Gesicht sehen musste, um zu verstehen, was los war. Aber genau diese Reaktion machte Amanda einmal mehr klar, dass sie bei Nataniel schwach war. Vor keinem Anderen hätte sie ihre Gefühle so stark gezeigt und kein Anderer hätte sie so schnell und vage aufnehmen können.

Trotz seiner Müdigkeit, die ihn dazu brachte, die Augen geschlossen zu halten, konnte er Amanda mit Leichtigkeit auf die Seite rollen und sie in seine Arme ziehen.

Wie Nataniel sein Gesicht in dem dicken, weichen Kissen vergrub und leise vor sich hin redete, brachte Amanda sogar zum Lächeln.

Leicht irritiert schüttelte sie bei seinem Kommentar den Kopf und wischte sich die salzigen Spuren vom Gesicht, bevor sie Nataniels Wange küsste.

"Ich bin dir nicht böse.", flüsterte sie ganz leise, bevor sie sich neben ihn kuschelte und ihm beim Schlafen zusah.
 

Irgendwann musste die Müdigkeit auch Amanda übermannt haben, denn als sich Nataniel im Schlaf bewegte, schlug sie überrascht die Augen auf.

Draußen schien noch die Sonne, aber sie stand eindeutig so tief, dass es bereits abends sein musste.

Vorsichtig hob Amanda Nataniels Arm, den er immer noch um sie gelegt hatte, ein wenig an und drehte ihm den Rücken zu, um über die Terrasse auf den Fluss sehen zu können.

Es verrann immer mehr kostbare Zeit und doch tat es ihr kein Bisschen leid, dass sie sie in Nataniels Armen und in seinem Bett verbracht hatte. Ihre Finger spielten mit seinen, während Amanda darüber nachdachte, wie sie ihm die Sache beibringen sollte.

Am meisten Sorgen machte ihr, dass es nicht seiner Natur entsprechen könnte, sie ihre eigenen Entscheidungen treffen zu lassen. Würde es das Ende der gesamten Beziehung bedeuten, wenn Amanda ging und Nataniel entschied hier zu bleiben?

Für Amanda musste es nicht so sein. Sie konnte fortgehen und wieder zu ihm zurückkehren. Oder er konnte nachkommen, wenn sein Rudel sich heimisch genug fühlte und Nataniel nicht mehr allzeit bereit neben seinem Handy schlafen musste. Aber würde es dazu je kommen?

In tiefen Gedanken rückte Amanda an den Rand des Bettes, setzte sich auf und schwang die Füße aus dem Bett. Sie stützte ihr Gesicht in ihre Hände, um weiter nach draußen zu sehen.

Ihr größtes Problem lag mit darin, wann sie es Nataniel sagen sollte. Es wäre unfair gewesen, ihn in dem Glauben zu lassen, dass alles in Ordnung war, bis sie eines Morgens aufstand, um ihm mitzuteilen, dass sie zurück musste. Andererseits war Amandas Angst viel zu groß, er könnte sich deswegen gegen sie entscheiden und sie müsste sogar früher und noch dazu mit gebrochenem Herzen in die Stadt fahren. So, wie sie es schon einmal getan hatte.

Ein Seufzen schüttelte ihren Körper, während Amanda die Augen schloss und ihr Gesicht in den Händen vergrub.
 

Nataniel kam langsam wieder zu sich, als etwas seine Fingerspitzen berührte, sie anstupste, über seine Knöchel fuhr und streichelte. Was jedoch nicht gleich hieß, dass er sofort hell wach war. Viel mehr musste er sich aus dem zähen Nebel seines Schlafes befreien.

Seine Augen waren bleischwer, genauso wie sich sein ganzer Körper anfühlte. Als hätte er in jedem einzelnen Muskel eine Verspannung.

Erst als Amanda von ihm abrückte und er ihren Körper nicht mehr an sich spüren konnte, gelang es seinem Verstand, sich aus der klebrigen Masse der Erschöpfung zu befreien und wieder mit der Arbeit anzufangen.

Nataniel lächelte, als er die Augen aufschlug, weil er genau wusste, dass er dann seine Gefährtin sehen würde. Er lächelte sogar noch, als sich deutlich ein unangenehmes Gefühl in ihm zu regen begann.

Metallisch, schal und bitter lag es ihm auf der Zunge. Selbst seine Nase ließ sich nicht täuschen. Es konnte unmöglich Einbildung sein, dass er sowohl den süßen, lockenden Duft ihres Körpers wahrnahm, sowie die Beimischung von etwas, das er eigentlich nicht benennen wollte. War es tatsächlich Traurigkeit?

Nataniel konnte es nicht sagen und vor allem konnte er sich keinen Reim darauf machen. Aber er begann langsam zu erfassen, dass etwas nicht stimmte. Vielleicht war es nur etwas völlig Banales, aber gerade wenn es Amanda betraf, betraf es auch ihn.

Wenn er also nicht nur von ihrem Geruch ausginge, so würde auch ihre Pose viel für sich sprechen. Das Lächeln war wie weggewischt.

Leise ächzend stemmte er sich hoch und stellte dabei fest, wie viel an Geschmeidigkeit er verloren hatte.

Es lag hauptsächlich daran, dass er so lange ruhig gelegen hatte, aber normalerweise war das Problem mit ein paar Streckübungen behoben. Nur dieses Mal glaubte er nicht, dass es nur daran lag. Was im Augenblick auch vollkommen unwichtig war. Stattdessen kroch er über die Matratze auf Amanda zu, kniete sich hinter sie und schlang seine Arme um ihren Körper, während er seine Brust von hinten an ihren Rücken schmiegte.

Sein Kopf lag neben dem ihren auf ihrer Schulter, wobei sich ihre Haarfarben vermischten und einen interessanten Look ergaben. Beschützend hielt er sie fest, sagte eine Weile gar nichts, weil ihm einfach nicht die richtigen Worte einfallen wollten, aber dafür bekam er immer deutlicher mit, das etwas nicht stimmte. Als würde der Kontakt mit Amandas Haut ihm Informationen übermitteln, die selbst sein Geruchssinn nicht wahrnehmen konnte. Es fühlte sich tatsächlich wie ein so genannter sechster Sinn an. Oder einfach nur Intuition.

„Ich sage dir mein Geheimnis und du erzählst mir deines. Was hältst du davon?“, flüsterte er leise dicht an ihrem Ohr. Nataniel konnte einfach nicht direkt fragen, ob Amanda etwas bedrückte. Er wusste es zwar, aber dennoch fürchtete er sich vor der Antwort. Was auch immer es war, eigentlich wollte er es gar nicht wissen.
 

Seine Bewegungen hatten sich auf die weiche Matratze übertragen und Amanda hatte sehr wohl mitbekommen, dass Nataniel wach geworden war. Trotzdem brachte sie nicht dir Kraft auf, einfach so zu tun, als ob nichts wäre und sich lächelnd wieder zu ihm zu legen.

Obwohl sie ihr Gesicht aus ihren Händen hob, öffnete Amanda die Augen zunächst nicht, sondern ließ sich einfach von Nataniels Armen, seiner Wärme und seinen inzwischen so vertrauten Geruch umfangen. Ihr Atem ging einigermaßen gleichmäßig, hatte aber immer noch dieses unverkennbare, leise Raspeln an sich, dem auch mehrmaliges Schlucken nichts anhaben konnte.

Endlich brachte Amanda es fertig ihre Augen aufzuschlagen und Nataniel ins Gesicht zu sehen, als er ihr diesen Vorschlag unterbreitete.

Ihre Hand streichelte seinen Arm hinauf, während die andere ihre Finger mit seinen verschränkte. In diesem Augenblick hatte Amanda wirklich nicht die geringste Ahnung, was passieren würde, wenn sie das sagte, was ihr seit ein paar Stunden so auf der Seele lastete. Wäre sie überhaupt fähig irgendetwas zu bewerkstelligen oder irgendjemandem zu helfen, wenn Nataniel ihr seine Zuneigung entzog?

Wie gern hätte Amanda jetzt einen Scherz bereit gehabt, um die Situation in die Sphäre zu ziehen, die schon öfter zu einer Entladung der Gemüter zwischen ihnen beiden geführt hatte.

Dann hatten sie sich zwar gestritten, aber immer wieder hatten sie sich zusammen gerauft und etwas Positives daraus gewonnen. Immerhin wusste sie seit der verbalen Auseinandersetzung in der Höhle, dass ihre Liebe zu Nataniel auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber gerade jetzt wollte Amanda nichts einfallen, das dieses Gespräch mit einer gewissen Leichtigkeit begonnen hätte. Dafür hatte sie viel zu viel Angst davor, was am Ende stehen könnte.

Sämtliche Kraft schien aus ihrem Körper zu weichen, weil Amanda sie dazu brauchte, ihren Mund zu öffnen und Nataniel zu erzählen, was passiert war.

"Du weißt doch, dass ich Eric anrufen wollte.", begann sie, ehe sie sich auch zum Rest durchrang.

Amanda schilderte ihren Besuch in dem Restaurant, das Telefongespräch und die Panik, die sie bei Erics Bericht ergriffen hatte.

"Nataniel, es fühlt sich so an, als wäre es meine Schuld, wenn die Organisation aus dieser Sache mit neuer Macht zurückkommt und den Gestaltwandlern das Leben zur Hölle macht."

Es schmerzte fast körperlich, sich von seinen Armen zu lösen und ihm in die blauen Augen zu sehen.

"Ich habe Eric versprochen, dass ich in die Stadt zurückgehe, um ihnen zu helfen. Niemand kennt die Strukturen der Moonleague so gut wie er und ich. Wenn wir verhindern wollen, dass etwas Schreckliches passiert, bleibt mir nichts Anderes übrig, als..."

Amandas Körper zuckte leicht, weil sie Nataniel umarmen wollte. Sie wollte sich an ihn schmiegen, um zu hören, zu fühlen, dass es eine Lösung gab. Dass sie nicht für immer von ihm getrennt sein musste. Aber sie hielt sich zurück und wartete mit starrem Blick nur auf das Urteil, das Nataniel über die Situation fällen würde.

Amanda fühlte sich, als würde der Boden unter ihr schwanken und war sich auf einmal peinlich bewusst, dass sie beide nackt nebeneinander saßen. Angst und Traurigkeit schienen sie beinahe zu überschwemmen, während sie versuchte diesem eisblauen Blick standzuhalten.

Was hätte Amanda alles dafür gegeben, Nataniel genauso lesen zu können, wie er sie.
 

Hätte Amanda ihm eine brutale Ohrfeige mit einem Schlagring verpasst, die Wirkung hätte nicht heftiger ausfallen können.

Nataniel war schockiert. Mehr als das, er war unfähig sich zu bewegen, während nur nach und nach die Informationen in sein Gehirn rieselten.

Vollkommen ausdruckslos sah er sie an, als würden selbst seine Gesichtszüge nicht wissen, wie sie jetzt reagieren sollten. Zumindest seine Gesichtsfarbe schien sich für aschfahl entschieden zu haben, als ihm regelrecht schlecht wurde und sich ein gewaltiger Knoten in seinem Magen bildete.

Es war vielleicht besser so, dass Amanda sich von seiner Umarmung befreite und auf diese Weise deutlich etwas auf Abstand ging. Sonst hätte sie den plötzlichen Temperatursturz seines Körpers garantiert mitbekommen. Ihm war auf einmal eiskalt.

Noch immer vollkommen fassungslos, sank er auf seine Fersen zurück und versuchte zu begreifen, was das alles für sie beide bedeutete, während er Amanda in die Augen blickte.

Wenn das alles wirklich wahr war, dann war nicht nur sein eigenes Rudel in Gefahr, sondern alle Gestaltwandler auf dieser Welt.

Würde die Moonleague ihre Existenz öffentlich machen, könnten sie gleich einpacken. Sie waren zwar keine Werwölfe oder sonstige Bestien aus Märchen und Legenden, aber der Großteil der Menschheit würde glauben, dass sie eine Gefahr darstellten und verdammt, wenn man sie bedrohte, würde das auch zutreffen. Keiner von ihnen würde sich freiwillig dem Tod oder der Gefangenschaft aussetzen. Erst recht nicht, wenn sie Familie hatten.

Der Gedanke an Familie brachte ihn zu gleich auf die nächste verbale Keule, die ihm Amanda über den Schädel gezogen hatte, so dass seine Schläfe schmerzhaft pochte und sein Herz gegen die Umklammerung einer unsichtbaren Macht tapfer ankämpfen musste, die es zu zerquetschen versuchte.

Er begann am ganzen Körper zu zittern, als er sich des Ausmaßes bewusst wurde, was das alles noch für sie bedeuten könnte.

Irrwitziger Weise fiel ihm gerade in diesem Moment ein, dass er wieder einmal mit seiner Vermutung recht behalten hatte. Am liebsten hätte er niemals diese Dinge erfahren, aber das hätte ihn nicht davor schützen können. Auch wenn er nicht gewollt hatte, er hatte es erfahren müssen.

Auch wenn er nicht geglaubt hatte, dass er jemals noch ein Wort an dem Knoten in seinem Hals vorbei schieben konnte, beendete er Amandas Satz doch ohne Stocken oder Aussetzer, jedoch völlig ohne seine Gefühle dort hinein zu legen.

„…als dass du dich in Gefahr begibst, dein Leben erneut für eine andere Art aufs Spiel setzt und als wäre das noch nicht genug, wirst du mich verlassen.“

Sein Ton beinhaltete keinerlei Fragen. Es waren alles Feststellungen.

Um seine Rasse zu beschützen, würde sie ihr Leben riskieren. Selbstlos wie sie war, war sie sich zwar der möglichen Konsequenzen bewusst, würde es aber trotzdem durchziehen.

Amanda wusste, dass er nicht so einfach sein Rudel verlassen konnte, um sie zu begleiten. Auch wenn er das auf der Stelle tun würde, sehe er einen Vorteil darin. Aber er kannte sich weder mit der Moonleague aus, noch wäre er Amanda in diesem Fall eine große Hilfe. Er hatte nicht ihr Organisationstalent, ihre Mittel und Wege, ihre Verbindungen, ihr Können was Waffen anbelangte und schon gar nicht ihre Fähigkeiten. Was das anging, war er nur ein Wilder mit Klauen und Schwanz. In der Großstadt völlig ungeeignet.

Aber verdammt noch mal, musste das dann bedeuten, dass er auf die Gnade des Schicksals hoffen und auf ihre wohlbehaltene Rückkehr warten musste? Wie könnte er auch nur daran denken, sie in Gefahr zu wissen, während er weit weg war, um das Rudel zu beschützen und nicht sie?

„Wenn du stirbst, sterbe ich auch.“

Das war letztendlich das Endergebnis seiner Gedankengänge und zugleich hatte es sogar etwas Tröstliches. Denn es würde ein Ende aller Leiden bedeuten, sollte er sie wirklich im Kampf zwischen der Organisation und seiner eigenen Art verlieren. Kein Zweck könnte jemals dieses Mittel heiligen. Amandas Tod wäre zugleich der Untergang seiner Welt. Egal wie der Kampf ausging.
 

Jedes seiner Worte stach in ihr Herz, wie es seine Krallen nicht hätten besser fertig bringen können.

Es lag keine Wut, keine Angst in seiner Stimme und gerade dass seiner Aussage jegliche Emotion fehlte, machte sie umso schneidender.

In dem verzweifelten Versuch die Tränen aufzuhalten, die sich in ihren Augen sammelten und ihr den Blick bereits verschleierten, presste Amanda ihre bebenden Lippen kurz fest aufeinander.

Sie wollte ihn doch gar nicht verlassen!

Aber Amanda verstand natürlich, dass es sich für Nataniel wie Verrat anhören musste. Ihr Herz schien sich zu verkrampfen und kein Blut mehr durch ihre Adern zu pumpen. Allein um alles noch schmerzhafter zu machen, klopfte es schwer und nachdrücklich in Amandas Brust, als wolle es zerspringen.

Wie ein Häufchen Elend sank sie in sich zusammen. Vor Nataniel konnte sie ihre sonst so glänzende Rüstung und gespielte Stärke nicht aufrechterhalten.

"Ich hatte gehofft…"

Amanda konnte nicht weiter sprechen. Ihre Stimme war ohnehin so dünn, dass es sie nicht gewundert hätte, wenn Nataniel sie gar nicht hörte.

Ja, was hatte sie denn entgegen allen Wissens gehofft? Dass er mit ihr kommen würde? Ohnehin war Amanda klar, dass die Stadt nicht Nataniels Welt war. Und es war nicht seine Schlacht, die dort geschlagen werden würde. Es war Amandas Fehler und sie versuchte froh darüber zu sein, dass Nataniel gar nicht den Ansatz machte, sich in diese Sache hinein ziehen zu lassen. Ja, das war das Einzig Gute, das Amanda an der Situation sehen konnte. Nataniel würde hier bleiben, wo er sicher war und wo sich jemand um ihn kümmerte. Seine Familie würde ihn beschützen und umsorgen, wie er es mit dem Rudel tun würde, wenn es ihn brauchte.

Amanda straffte sich und schaffte es wieder in Nataniels Augen zu sehen. Ihre eigenen flackerten immer noch verletzlich und angespannt, aber mit neuer Kraft, die sie aus dem Gedanken zog, dass ihm nichts passieren würde. Sie selbst musste nur genau das Richtige tun - Die Moonleague aufhalten.

"Ich habe nicht vor zu sterben.", sagte sie leise aber mit fester Stimme.

Ein grimmiger und entschlossener Ausdruck trat kurz auf ihr Gesicht, bevor er von etwas ganz Anderem abgelöst wurde.

Zurückhaltend und vorsichtig berührte sie mit ihren Fingerspitzen seine Wange und schrak fast zurück, als sie spürte, wie ungewöhnlich kalt seine Haut war.

"Es wird alles gut gehen. Sobald die Moonleague endgültig ausgeschaltet ist, komme ich zu dir zurück."

Eine eiserne Stille legte sich über sie beide, während Amanda jedes schwere Wort zuerst auf ihre Zunge legte, damit es ihr nicht doch noch entkommen konnte.

"Wenn du mich dann noch willst."
 

Er konnte sich nicht bewegen, konnte noch nicht einmal richtig atmen. Wie hätte er sie dann berühren und an sich ziehen können, obwohl er es bei ihrem Anblick so gerne getan hätte? Was war es, was sie gehofft hatte?

Amanda sprach es nicht aus und Nataniel konnte nicht danach fragen. Zum Teil, weil er sich noch immer wie betäubt fühlte und auch, weil sich Amandas Blick so schlagartig änderte.

Entschlossenheit lag nun darin und das Feuer, das er schon immer in ihr gesehen hatte. Niemals würde diese Frau kampflos aufgeben. Sie besaß so viel Stärke, wie es selbst vielen Gestaltwandlern nicht zu Teil war. Irgendwann würde er sie darauf hinweisen. Vielleicht zu einer Zeit, wo sie es als Neckerei ansah und nicht diesen bitter ernsten Geschmack verursachte.

Als sie sein Gesicht berührte, zuckte er überrascht etwas zurück. Ihre Hand war warm, nicht kühl. Was bedeutete, dass sie zum ersten Mal seit sie sich kannten, mehr Hitze ausstrahlte, als er. Kein Wunder bei dem Eisklumpen, der ihm schwer im Magen lag.

Einen Moment lang gab er sich dem Gefühl ihrer Wärme an seiner Wange hin, schmiegte sein Gesicht mit geschlossenen Augen hinein, ehe sich auch der Ausdruck in ihnen veränderte, als er sie wieder aufschlug.

Hoffnungen waren gut und schön, aber er konnte Amandas Optimismus nicht teilen. Wie ihre Chancen genau aussahen, verstand er noch weniger als sie. Immerhin musste Amanda wenigstens schon so etwas wie einen Plan haben. Sie kannte sich mit der Organisation aus, er war lediglich einer ihrer Gefangenen gewesen. Wenn jemand besser wusste, wie das hier enden würde, dann war es Amanda. Und obwohl Nataniel ihr vertraute, konnte er sich nicht auf diese Hoffnung einlassen, die ihre entschlossenen Worte in ihm zu wecken drohte. Viel mehr wollte er sich auf Taten verlassen. Es wurde Zeit sein volles Potential auszuschöpfen. Nicht umsonst hatte ihm die Natur diese Fähigkeiten gegeben. Aber darüber würde er sich später Gedanken machen, wenn er wieder zu klaren Gedankengängen fähig war.

Im Augenblick saß der Schock noch zu tief, um mit gesunder Distanz an die Sache heran zu gehen.

Amandas Berührung war ein Anfang gewesen, der seinen Körper wieder dazu anregte, seine Starre fallen zu lassen. Weshalb er auch endlich nach ihr greifen und sie an sich ziehen konnte.

„Ich werde dir einmal eine Liste schreiben, was die Definition von ‚Gefährtin‘ Wort für Wort beinhaltet. Vielleicht wird dir dann einmal klar, dass ich mich immer an dich gebunden fühle.“

Selbst wenn sie es eines Tages anders sehen würde.

Amanda war ein Mensch. Für sie gab es Freiheiten aus einer Bindung wie dieser heraus zu kommen, wie es sie für ihn nie geben würde. Sein Herz könnte es nicht zulassen.

Eine Weile hielt er sie so fest, streichelte ihre nackten Rücken und kraulte durch ihr Haar, während er über diese beschissene Situation nachdachte. Keinen Moment der Ruhe war ihnen vergönnt, oder zählten dazu etwa auch die wenigen Tage? Was waren schon Tage im Gegensatz zu einem ganzen Leben?

„Wie viel Zeit bleibt uns noch?“, wollte er daher wissen oder auch nicht. Aber besser, er war wenigstens auf den Zeitpunkt vorbereitet, wenn er sich schon nicht auf seine Reaktion einstellen konnte. Vermutlich drehte er vollkommen durch, sobald sie weg wäre und so sehr es ihn auch quälte, er war dennoch auch körperlich daran gebunden, auch auf sein Rudel zu achten und zuerst für dessen Sicherheit zu sorgen, ehe er irgendetwas anderes tun konnte. Selbst wenn es bedeutete, dass er eine Führerrolle ernannte, sollte ihm etwas passieren.

Wenigstens diese Angelegenheiten sollte er regeln, um sein Rudel nicht Plan- und Führerlos zurück zu lassen. Es könnte sonst wieder zersplittern und dann wäre die Arbeit seines Vaters vollkommen umsonst gewesen. Genauso wie dessen Tod.
 

Es schien Amanda, als würde zumindest die Wärme wieder in Nataniels Körper zurückkehren, nachdem er sie eine Weile an sich gedrückt und über ihren Rücken gestreichelt hatte.

Umso kälter wurde ihr selbst, als er die Frage stellte, die sie am wenigsten beantworten wollte. Es hörte sich so endgültig an – schlimmer noch, es könnte so endgültig werden.

Obwohl Amanda viel mehr danach gewesen wäre, sich an seine Brust zu schmiegen und leise an seine Haut zu nuscheln, damit er sie vielleicht gar nicht verstand, löste sich Amanda ein Stück von ihm und sah in Nataniels eisblaue Augen.

Dass die Moonleague aufgehalten werden musste, war eine Tatsache, an der es nichts zu rütteln gab. Aber Eric hatte ihr mehr Zeit geben wollen. Ihr Bruder war so klug und so gnädig gewesen, ihr und Nataniel mehr als die drei Tage zu lassen, die sie selbst festgesetzt hatte. Aber sie kannte ihren kleinen Bruder.

Wenn sie länger als diese drei Tage brauchte und die Stadt schon dabei war, bis auf die Grundmauern nieder zu brennen, erst dann würde er fragen, ob sie nicht doch schneller zur Hilfe kommen könnte.

Nataniel war Amandas Welt, aber Eric war immer noch derjenige, den sie als ihre Familie betrachtete. Sie würde ihn immer beschützen und das nicht nur, weil sie es ihrem Vater damals versprochen hatte.

"Sie erwarten mich in drei Tagen."
 

Drei Tage also…

Das war viel zu wenig. Aber Nataniel war sich auch darüber im Klaren, dass selbst ein Monat nicht ausgereicht hätte, um die Zeit mit Amanda ausgiebig zu nützen. Es würde nie genug Zeit dafür bleiben.

Und was nun? Sie konnten die nächsten drei Tage nicht einfach so tun, als wäre alles in Ordnung und ihren Spaß haben. Nataniel selbst konnte die Chance nützen, um sich noch weiter zu erholen, aber seine gute Laune, endlich wieder Zuhause zu sein, war vollkommen dahin.

Wie er seine Stimmung seinen Eltern erklären sollte, war ihm ebenfalls ein Rätsel. Immerhin hatte er bei dem Gespräch mit seinem Dad darauf geachtet, die Moonleague so weit wie möglich heraus zu halten. Wie präsent sie nun wirklich war, wollte er seinen Eltern nicht mitteilen. Zumindest noch nicht, solange es sie nicht persönlich betraf. Was es durchaus in Zukunft tun könnte.

Wie sehr er das alles doch hasste!

„Entschuldige mich, Amanda. Ich … will mich gerne duschen und anziehen, danach besorge ich uns was zu Essen. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich habe heute keine Lust, mit meinen Eltern zu Abend zu essen.“

Seine Stimme klang etwas neben der Spur. Als wären sein Gedanken ganz wo anders und das waren sie ja auch. Er musste sich immer noch von dem Schock erholen. Gut, wenn er dafür ein paar Minuten alleine verbringen konnte. Zwar hatten Amanda und er nur noch so wenig Zeit, aber diese paar Minuten musste er einfach für sich alleine haben. Also ließ er sie ganz los, ohne auf ihre Antwort eingegangen zu sein und stand auf.

Mit leicht schwankendem Gang und tief in Gedanken versunken, schlurfte er ins Bad und zog die Tür hinter sich zu.

Erst als er unter dem heißen Wasserstrahl stand, der seine Haut beinahe versengte, wurde ihm langsam etwas wärmer und zugleich konnte er endlich den Panther ungestört vor sich hin winseln lassen. Der Schmerz war nur schwer zu ertragen, aber das Nichts-Tun-Können noch schlimmer.

Wie sollte das alles bloß enden? Er wusste es wirklich nicht.
 

Was konnte Amanda anderes tun, als Nataniel loszulassen und leicht zu nicken, als er aufstand und sie allein ließ?

Kaum einen Augenblick später hörte sie das Rauschen der Dusche und bemerkte erst jetzt, dass ihr Blick fest auf die Tür gerichtet war, die Nataniel zwischen ihnen geschlossen hatte.

Zitternd und mit bleischweren Gliedern stand Amanda schließlich vom Bett auf und ging um den Holzrahmen herum, zu den Tüten, die überall auf dem Boden verteilt lagen.

Die neuen Kleidungsstücke waren teilweise herausgefallen oder hingen noch halb auf dem unteren Teil der Matratze. Wie in Trance hob Amanda jedes einzelne Stück auf, faltete es sorgsam zusammen, suchte sich eine Jeans, ein grünes Top und Unterwäsche heraus. Alles zog sie über, ohne wirklich hinzusehen oder darüber nachzudenken. Nicht nur ihr Körper, sondern auch ihr Verstand fühlte sich wie betäubt an. Als würde sie nur noch funktionieren, weil sie es musste.

Langsam richtete Amanda sich auf und war mit wenigen, leisen Schritten bei der Terrassentür, die sie öffnete, ehe sie im Holzrahmen stehend hinaussah.

Würde es ab jetzt so sein? Sie war noch nicht einmal von Nataniel getrennt und doch hatte Amanda bereits jetzt das Gefühl, als würde sie jegliche Empfindung in sich auslöschen, wenn sie ihn verließ.

Mit einem tiefen Atemzug beschloss sie, dass das vielleicht gar keine so schlechte Sache war. Die guten Emotionen wie ihre Liebe, waren gut bei Nataniel aufgehoben. Vermutlich würde Amanda sie dort, wo sie hinging und in den Situationen, die auf sie warteten, ohnehin nicht brauchen können.
 

Schon kurz nach dem er die Dusche wieder verlassen und sich frische Sachen angezogen hatte, machte sich Nataniel auf den Weg, um ihnen etwas Abendessen zu besorgen.

Es gab im Grunde ohnehin nicht mehr viel zu diesem unverdaulichen Thema zu sagen, weshalb er auch nicht dem Gefühl nachgab, noch einmal darüber reden zu wollen. Stattdessen tat er etwas, das er in seinen Teenagerjahren öfters getan hatte. Er nutzte seine raubtierhaften Eigenschaften, um sich klammheimlich in die Küche seiner Mom zu schleichen und etwas zu Essen zu stehlen.

Natürlich hätte er auch ganz normal die Tür benutzen können. Aber er wollte heute niemanden mehr sehen. Amanda war die Einzige, die er im Augenblick in seiner Nähe ertragen konnte, jetzt da seine Gefühle so gefährlich nahe an der Schmerzgrenze zum Durchdrehen lagen.

Um auch für weitere Ungestörtheit zu sorgen, hinterließ er seiner Mom einen Zettel mit einer kurzen Nachricht darauf, dass sie bereits gegessen hatten und sich heute nicht mehr blicken lassen würden. Danach machte er sich mit seiner Beute aus dem Staub.

Das Abendessen selbst lief wie zu erwarten ungewohnt schweigend ab. Natürlich ließ sich der Drang, etwas zu sagen, das alles nur noch schlimmer machen könnte, kaum bändigen. Doch Nataniel schluckte seine Worte hinunter.

Im Grunde war er ohnehin völlig hin und her gerissen, zwischen dem enorm starken Gefühl, Amanda nie gehen lassen zu können, es aber zu müssen. Zumindest solange, bis er das Rudel in Sicherheit wusste. Sehr erschwerend hinzu kam auch noch die Tatsache, dass er natürlich immer noch mit ihrer Fruchtbarkeit zu kämpfen hatte, die von Stunde zu Stunde zunahm.

Seine angeschlagene Psyche war insofern ganz nützlich, dass er im Augenblick absolut keine Lust auf Sex hatte und somit seinen permanenten Zustand der körperlichen Anspannung leichter bekämpfen konnte, als es vor diesem schmerzlichen Gespräch der Fall gewesen war.

Nach dem Essen entschieden sie sich relativ früh ins Bett zu gehen. Nataniels Körper brauchte jede Ruhe, die er ihm gönnen konnte und so wie die Dinge standen, würden sie ohnehin lange brauchen, bis sie einschlafen konnten. Zumindest seine Gedanken waren so aufgewühlt und wirr, dass er lange Zeit einfach nur mit geschlossenen Augen wach da lag und gedankenverloren seine Finger durch Amandas Haar streicheln ließ.

Zwar lag sie neben ihm im Bett, so dass sie seine Wärme bestimmt deutlich spüren konnte und auch nur die Hand leicht auf die Seite schieben musste, um ihn zu berühren, aber irgendwie schaffte er es nicht, sie an sich zu ziehen und fest zu halten. Er hatte das Bedürfnis danach, aber … je näher er ihr war, umso stärker war der Glaube daran, dass er eine Trennung von ihr nicht würde ertragen können. Nicht nur, weil seine Triebe Amok laufen würden, wenn er sie in dieser Zeit ihres Körpers alleine unter andere Gestaltwandler ließ, sondern weil sein Herz nur für sie zu schlagen schien und wenn sie nicht mehr hier war, was für einen Antrieb hatte es dann noch?

So aufgewühlt wie er war, wunderte es ihn letzten Endes doch, dass er schließlich in einen tiefen und traumlosen Schlaf glitt, der aber auf keinen Fall von einem angenehmen Gefühl begleitet wurde. Zum Glück wurden ihm bildhafte Darstellungen dieser quälenden Gefühle erspart.
 

Eigentlich hatte Amanda damit gerechnet, dass sie keinen Bissen hinunter bekommen würde. Viel zu belastend war die Stimmung, die zwischen ihr und Nataniel seit diesem Gespräch herrschte. Dennoch schien ihr Körper bei dem Anblick des Essens, das er gebracht hatte und spätestens nach dem ersten Bissen, ein sehr starkes Hungergefühl zu entwickeln.

Amanda kaute bedächtig jeden Bissen und überlegte sich, wie es weitergehen sollte. Vielleicht hätte sie Nataniel doch nicht so früh von ihrem Plan erzählen sollen. Dann wäre es zwischen ihnen unbelasteter abgelaufen, sie hätten ihre Blicke über die Küchentheke hinweg nicht gemieden und würden nicht miteinander umgehen, als wären sie aus dünnem Glas.

Bereits jetzt fühlte sich Amanda so bedrückt, dass sie sich weder vorstellen wollte, noch konnte, wie es in drei Tagen sein würde. Natürlich würde sie nicht zusammenbrechen. In ihrem Leben hatte sie schon ganz andere Sachen durchgestanden. Und doch war sich Amanda nicht sicher, dass sie es ohne einen Gefühlsausbruch hinter sich bringen konnte. Oder noch schlimmer, dass sie alle Gefühle völlig hinunter schlucken und mit ihrer Emotionslosigkeit Nataniel noch mehr verletzen würde.

Als sie auf dem Rücken neben Nataniel in seinem Bett lag und starr an die Decke blickte, versuchte Amanda sich zu beruhigen.

Es war immer wichtig und notwendig einen Plan auszuarbeiten. Hätte sie in diesem Moment, in dem sie Nataniels Körper warm neben sich und seine Finger in ihrem Haar spüren konnte, eine Pro- und Kontraliste erstellt, wie sie es normalerweise gern tat, wäre sie nie gegangen. Ihr Gehirn schien absolut nicht zu funktionieren. Es wurde von Amandas Herz nicht nur übertönt, sondern hatte sich mit ihm dazu verschworen, die Entscheidung, die sie getroffen hatte, nur noch schlimmer aussehen zu lassen.

Mit dem drohenden Gefühl der Einsamkeit schloss Amanda die Augen. Sie konnte nicht sagen, ob Nataniel noch wach war oder bereits schlief. Seine Hand bewegte sich schon eine Weile nicht mehr. Jedenfalls hatte er offensichtlich nichts dagegen, dass Amanda schließlich doch seine Nähe suchte, um einzuschlafen.

41. Kapitel

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42. Kapitel

Amanda saß am Frühstückstisch und brachte es beim besten Willen nicht mehr fertig, das Theater aufrecht zu erhalten.

Die letzten beiden Tage waren schön gewesen. Irgendwie hatten Nataniel und sie es – auch mit unbewusster Hilfe seiner Familie – geschafft, Amandas Abreise zu verdrängen. Doch jetzt, wo sie mit jeder Minute immer deutlicher näher rückte, schmerzte jedes Lächeln und jeder freudige Satz, der gewechselt wurde.

Alles in Amanda sperrte sich davor, fröhlich zu wirken, wo sie sich doch selbst das Herz in zwei Stunden herausreißen musste, um es hier zu lassen, wo es hingehörte.

Zum wiederholten Male bot Mary Amanda die Schinkenplatte an, obwohl sie schon beim ersten Mal dankend abgelehnt hatte. Nataniel blickte neben ihr stur in den Becher mit seiner heißen Schokolade und war schon seit dem Aufstehen zu kaum einem Wort zu bewegen gewesen.

In den Augen seiner Eltern konnte Amanda Sorge lesen.

Ihre Hand ruhte mit Nataniels Fingern verschränkt auf ihrem Oberschenkel. Wäre es anders gewesen, hätte sie sich vor aufgestauten Gefühlen wahrscheinlich gar nicht auf dem Stuhl halten können. Schon die Nacht war von zerreißenden Gefühlswechseln geprägt gewesen. Amanda hatte sich an Nataniel geschmiegt wie ein Ertrinkender an die rettende Schiffsplanke. Aber auch das hatte die Zeit nicht zum Stehen gebracht.

Unerschütterlich schritt sie voran, bis Amanda gegen Morgengrauen zusammengerollt neben Nataniel eingedöst war. Beim Hochschrecken hatte ihr selbst das leid getan. Es schien wie vergeudete Zeit, obwohl sie nichts Anderes hätte tun können.

"Wir wollen heute auf den Markt fahren. Es ist eine Art Festivität, wo es auch Essensbuden gibt und die größten Gemüse und die besten Zuchttiere ausgezeichnet werden. Ihr kommt doch mit, oder? Wir denken schon seit einiger Zeit darüber nach uns noch ein paar Tiere anzuschaffen. Nataniel, du willst doch sicher bei der Auswahl ein Wörtchen mitreden."

"Das ist eine gute Idee."

Amanda sah Steve in die Augen und drückte Nataniels Hand. Sein Vater kaute sein Rührei mit Speck, während er mit offenem Blick auf die Antwort wartete.

Dass er mit seinem Vorschlag irgendeine Reaktion hervorgerufen hatte, schien ihn einigermaßen zu erleichtern.

"Aber leider werde ich nicht mitkommen können."

Dass Marys Blick nun sogar erschrocken wirkte, ließ Amanda ihren eigenen auf ihren leeren Teller senken. Sie musste tief Luft holen, bevor sie wieder aufblicken und weiter sprechen konnte.

"Ich muss in die Hauptstadt. Es hat sich ein Problem mit … meinem früheren Arbeitgeber aufgetan. Im Moment versucht mein Bruder fast allein damit fertig zu werden und noch länger kann ich ihn das nicht tun lassen."

Es hörte sich wirklich harmlos an. Als würde Amanda nur in die Stadt fahren, ein paar Papiere unterzeichnen, vielleicht zu einem Meeting fahren, sich ein wenig herumstreiten und dann mit einer saftigen Abfindung zurückkommen. Aber selbst Kyle schien den Bluff durchschaut zu haben. Mit großen Augen sah er Amanda und dann Nataniel an. Man konnte förmlich spüren, dass er etwas sagen wollte, aber entgegen seiner sonstigen Art, hielt er den Mund.

Dafür übernahm diesmal Mary die Arbeit, es Amanda noch schwerer zu machen.

"Wann wirst du denn wiederkommen?"
 

Das Essen schmeckte wie in Wasser aufgeweichtes Pappmaché, ließ sich so schwer kauen, wie uralter Kaugummi und beim Schlucken musste er jedes Mal besonders darauf achten, das Ganze – einmal mühsam hinunter gewürgt – nicht gleich wieder hochkommen zu lassen.

Es war nicht nur sein Magen, der sich ständig auszuwringen versuchte, sein Herz machte dabei ebenfalls mit und von seinen Lungen wollte er gar nicht erst anfangen. Es fühlte sich an, als würde ihm ein übergewichtiger Elefantenbulle auf dem Brustkorb hocken und dabei auf und ab wippen, während sein eigener Panther ihm die Krallen in die Eingeweide schlug und darin herum wühlte.

Nataniel hatte das Gefühl, jeden Moment auseinander zu brechen. Alleine Amandas Hand in seiner hielt ihn aufrecht, aber mehr schaffte auch sie nicht. Sein Gehirn hatte sich schon längst aus dem Tischgespräch ausgeklinkt, wobei zum Glück niemand zu erwarten schien, dass er sich einbrachte. Es war wohl offensichtlich, dass er sich an diesem Morgen nicht gut fühlte. Was natürlich die Untertreibung des Jahrhunderts war.

Nataniel starb an diesem Tisch immer wieder kleine Tode, nur um sich erneut lebendig und zumindest körperlich vollkommen gesund, wieder am Leben vor zu finden.

Erst als Amandas Stimme neben ihm zu Wort kam, schaltete sich sein Gehirn wieder ein und er hörte zu, was sie zu sagen hatte.

Dezent und gekonnt umging sie die volle Wahrheit ohne zu lügen. Erst jetzt sah er sich die Gesichter seiner Eltern genau an, um ihre Reaktion auf das Gesagte zu überprüfen.

Fast schon mit einem Schock musste er feststellen, dass sie überaus besorgt aussahen und das vermutlich nicht nur, weil Amanda ihnen mitteilte, dass sie abreisen würde. Sehr bald sogar.

Nein, sie wussten sehr genau, dass etwas nicht stimmte. Waren sich dabei aber auch im Klaren, dass keiner von beiden, weder Amanda noch Nataniel mit dem wahren Problem herausrücken würden. Weshalb sie das Offensichtliche auch nicht aussprachen, wobei seine Mutter versuchte, wenigstens ein paar Informationen aus ihnen beiden heraus zu kitzeln.

Als sie fragte, wann Amanda denn wieder kommen würde, erbleichte er noch mehr, als er ohnehin schon an Farbe verloren hatte und zum ersten Mal seit Beginn des Frühstücks ergriff er das Wort.

„Ich habe noch Einiges zu erledigen, was das Rudel angeht. Rechnet also nicht damit, dass ich in nächster Zeit nach Hause komme.“, gab er tonlos von sich, ehe er sich an Amanda wandte.

„Du kannst mich doch sicher in der Stadt absetzen, ehe du weiter fährst, oder?“

Damit gab er seinen Eltern nicht nur etwas anderes zum Knabbern, sondern als er schließlich auch noch aufstand, sich für das Frühstück bedankte und Amanda mit aus dem Raum zog, machte er alle weiteren Fragen auch so gut wie unmöglich.

Eine Sekunde länger in Anwesenheit seiner Familie und er wäre wirklich wie ein Kartenhaus unter einem Luftzug zusammen gebrochen. So aber steuerte er mit Amanda an der Hand auf Lucys Zimmer zu, um sich von seiner kleinen Schwester zu verabschieden. Denn auch er würde heute gehen müssen, um seine eigenen Pflichten zu erfüllen. Immerhin war er körperlich betrachtet wieder vollkommen geheilt, auch wenn es sich ganz und gar nicht so anfühlte.

Als er seine kleine Schwester aus dem Bettchen hob, die ruhig und vor sich hin strampelnd wach dagelegen hatte, legte er sie sich auf die rechte Schulter und schmiegte sein Gesicht mit geschlossenen Augen an ihren warmen Körper.

Einen Moment lang vergaß er, dass noch jemand anderes im Raum war und gab sich einfach dem tröstlichen Duft des kleinen Babys hin. Puder, Creme und ein unvergleichliches Aroma wie warmes Karamell, der von ihrem Köpfchen ausging. Zudem auch die unglaubliche Ruhe, die von diesem kleinen Wesen ausging und auf ihn übergriff.

In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass selbst wenn aus dieser Nacht mit Amanda kein neues Leben hervorgegangen war, so gab es doch genug andere kleine Wesen, für die sich der Kampf lohnen würde, sofern sie es schafften, deren Zukunft sicherer zu gestalten. Seine eigene Schwester sollte einmal friedlich als das aufwachsen können, was sie nun einmal von Natur aus war und immer sein würde.
 

***
 

Der Abschied von Lucy hatte ihm gut getan. Er war nun gefasster, ruhiger und entschlossener. Denn wenn alles gut lief, würde er Amanda bald nachreisen und dann konnten sie wenigstens Seite an Seite kämpfen, was zwar nicht weniger gefährlich, aber doch zumindest tröstlich war. Bis dahin würde er wieder im Hotel wohnen. Nicht etwa, weil die Fahrt von hier in die Stadt ein unnötiger Aufwand war, um sich mit Palia und ein paar der anderen treffen zu können, sondern weil er es nicht ertragen könnte, alleine in seinem Bett schlafen zu müssen, wo Amandas Geruch doch noch in jeder Faser seiner Bettwäsche hing.
 

Die Fahrt in die Stadt war damit verstrichen, dass Amanda Nataniel so viel von ihren Plänen erzählt hatte, wie sie bis zu diesem Zeitpunkt wusste. Sie würde ihm den Wagen überlassen und mit einem der Langstreckenbusse bis zum Rand der Hauptstadt fahren.

Das Ticket hatte ihr Clea auf dem Handy übermittelt, damit niemand von der Organisation ihr Auftauchen über irgendwelche Kreditkarten oder den Ticketschalter zu früh mitbekam. Am Busbahnhof würde Eric sie in Empfang nehmen und sie ins Hauptquartier des Untergrunds bringen.

Wo sich dieses genau befand, wusste Amanda selbst nicht. Sie hatte es über die Handyverbindung nicht besprechen wollen.

"Sobald ich eine sichere Leitung erwischen kann, rufe ich dich an."

Nataniel hatte die ganze Zeit über so wenig gesagt, wie am Frühstückstisch. Seinen Seesack auf dem Schoß behandelte er wie einen Puffer, um immer wieder seine Krallen darin zu versenken, wenn er dachte, Amanda würde es nicht bemerken.

Sie wusste nicht genau, ob es sie beruhigen oder noch trauriger machen sollte, dass es ihm offensichtlich so schlecht ging wie ihr selbst.

Auf dem Parkplatz des Hotels hielten sie an und Amanda griff sich ihre paar Habseligkeiten von der Rückbank. Der neue Rucksack war nicht so groß wie Nataniels Gepäckstück, aber so wie sie Eric kannte, war auch eher leichtes Reisen angesagt, sobald sie die Stadt erreicht hatte.

Um den Abschied so kurz und schmerzlos wie möglich zu halten, war Amanda so losgefahren, dass der Bus in zehn Minuten um die Ecke am Busstop halten würde.

Sie hatten wenig Zeit und Amanda war es lieber, wenn sie es hier hinter sich brachten.

Vorsichtig stellte sie ihren Rucksack ab und ging ohne Zögern auf Nataniel zu, um ihre Arme um ihn zu schlingen.

"Mach dir nicht zu viele Sorgen, ok?"

Sie war diejenige, die ging. Also sah Amanda es als ihre Pflicht, Nataniel nicht mit zu viel Schmerz im Herzen zurück zu lassen. Egal was sie über das wusste, was sie eventuell erwarten könnte, sie würde schweigen und so viel gute Miene zum bösen Spiel machen, wie sie es nur konnte. Trotzdem konnte sie das Glitzern in den Augenwinkeln nicht verbergen, als sie in Nataniels eisblaue Augen blickte.

Ihre Kehle schnürte sich zu und allein ihr Herzschlag schien ihr die Luft zu nehmen. Amanda hätte jedem sofort geglaubt, der ihr gesagt hätte, dass sie tot umfallen würde, sobald sie Nataniel loslassen musste.

Und dennoch geschah es nicht. Sie küssten sich. Versicherten, dass sie sich anrufen würden. Der Bus kam und Amanda stieg ein.

Die ältere Dame, die neben ihr saß, reichte ihr ein geblümtes Stofftaschentuch, als das Ortsschild hinter dem Bus in die Ferne rückte und Amanda sich endlich erlaubte die Tränen rauszulassen, die sie seit drei Tagen zurückgehalten hatte.
 

Als der Bus um die Ecke verschwand und Amanda sein Herz, seine Seele und so wie es sich anfühlte, auch sein Leben mit sich nahm, drehte Nataniel sich auf dem Absatz herum, stieg in den Wagen und fuhr los. Er stellte das Gefährt auf dem Gästeparkplatz des Hotels ab, ließ sein Gepäck im Auto und drückte den Knopf für die Zentralverriegelung.

Sein Weg führte ihn nicht in das große einladende Gebäude, sondern darum herum, direkt in den Wald der dahinter lag. Während er auf dem Waldrand zuging, stopfte er die Autoschlüssel in die Gesäßtasche seiner Jeans und als er schließlich die ersten Reihen der Bäume hinter sich gebracht hatte, blieb er wie angewurzelt stehen.

Seine Augen waren auf einen Punkt fixiert, den nur er sehen konnte und so wie sein Körper erstarrt war, schien er nicht einmal zu atmen. Doch das änderte sich langsam aber sicher. Erst waren es flache Atemzüge, dann wurden sie immer tiefer und tiefer, bis man den Eindruck gewann, als würde er trotz der vielen Luft einfach ersticken.

Der Schmerz in seiner Brust flammte so überraschend intensiv auf, dass es ihm beinahe die Tränen in die Augen trieb, die trotz der eisblauen Farbe lichterloh zu brennen schienen. Zumindest fühlten sie sich so an.

Sie war fort. Amanda hatte ihn verlassen. Vielleicht nicht für immer, aber selbst wenn er wüsste, sie käme schon morgen wieder, die Qualen ihres Verlusts hätte es ihm niemals nehmen können.

Wie glühendes Feuer brannte der Schmerz durch seine Adern, während sein Herz sich anfühlte, als würde es bei jedem Schlag gegen einen Ring aus Stacheln ankämpfen. Nataniels Gefühle zerrissen ihn. Wortwörtlich.

Schon während er zu laufen anfing, hatte er sich sein Shirt abgestreift, seine Hose geöffnet und hinunter gestrampelt. Danach konnte die Explosion seines Körpers niemand mehr aufhalten.

Als er wieder auf dem Boden aufkam, gruben sich seine Pranken mit den voll ausgefahrenen Krallen tief in den weichen Waldboden und gaben ihm den Halt für noch größere Sprünge, um noch schneller und tiefer in den Wald zu gelangen, bis er glaubte, jeder einzelne Muskeln in seinem Körper müsste vor Erschöpfung ins Koma fallen.

Obwohl seine Lunge wie nach einem Säurebad brannten, brüllte er tobend wie die Bestie, die er war, seinen Schmerz in die Stille hinaus, so dass es jedes Tier im Umkreis von einigen Kilometern in die Flucht geschlagen hatte.

Irgendwann – die Dämmerung brach herein – lag er nackt und wie ein Fötus zusammen gerollt im Dreck. Nachdem er endlich alles was sich in ihm aufgestaut hatte, heraus gelassen hatte, selbst all die ungeweinten Tränen in seinem Leben, fühlte er sich wieder dazu in der Lage, aufzustehen und zurück zu gehen, um sich den Problemen zu stellen.

Der Gedanke, je schneller er sie löste, umso eher könnte er zu Amanda zurückkehren, war dabei sein einziger Antrieb. Denn im Grunde war ihm das Rudel in diesem Augenblick vollkommen egal. Er hatte nicht deswegen so getobt, sondern alleine wegen seiner Gefährtin.
 

***
 

Die beiden Motorräder schlängelten sich hintereinander durch den dichten Feierabendverkehr. Immer wieder ertönte erbostes Hupen und Wutausbrüche entluden sich in wilden Beschimpfungen, die allerdings an den Helmen der Fahrer abprallten oder überhaupt nicht zu ihnen durchdrangen.

Die grüne Kawasaki bewegte sich hinter dem schwereren schwarzen Motorrad her durch die Hochhausschluchten der Innenstadt, über das von Brücken durchzogene Villenviertel, dessen Bauten über dem glitzernden Wasser auf Pontons schwammen und fast wieder hinaus bis zum Yachthafen.

Hier waren die in den Himmel strebenden Glas- und Betonbauten flachen, rein praktischen Lagerhallen gewichen. Solche Gebäude zogen sich den Großteil der Halbinsel entlang, bevor das Gelände in einem bewachsenen Hügel anstieg, um anschließend wieder ins Meer abzufallen.

Die Reichen und Superreichen hatten sich für ihre weißen Schiffe die schönere Hälfte der Landzunge ausgesucht, die allerdings weniger Zugang zum Stadtkern bot. Den hatten die kleinen Fähren und selbst die Transportschiffe, die sich in die Bucht hineindrängen mussten, um am Dock anlegen zu können.

Kräne hievten die letzten Container an Land, bevor in einer guten halben Stunde die Feierabendsirene ertönen würde. Der Gestank von Schmieröl, Abgasen und Schiffsdiesel lag wie eine klebrige Schicht über dem flimmernden Beton, auf dem die Fahrt nun verlangsamt wurde.

Nach mehrmaligem Abbiegen, sah ein Container wie der andere aus. Mochte er auch ein anderes Firmenlogo tragen oder von anderer Farbe sein, jede weitere Reihe führte bloß noch weiter in ein Labyrinth aus Stahl, in dem man sich auf jeden Fall verlaufen konnte.

Die Motorengeräusche hallten von den hoch aufgetürmten Metallwänden wider, bis der Fahrer der führenden Maschine an einer völlig unauffälligen Stelle anhielt. Nichts schien anders zu sein, als all die anderen Gabelungen und Kreuzungen zuvor.

Eine Lache, auf der Öl in Regenbogenfarben schimmerte, warf ein Abbild des schwarzen Stiefels zurück, der sich auf den Boden senkte, um das Gleichgewicht von Fahrer und Motorrad zu halten. Im Leerlauf knirschte das schwere Gefährt auf dem schmutzigen Boden und die Hitze schien sich drückend auf das schwarze Leder der beiden Gestalten zu legen, die sich lediglich durch Nicken ein Signal zu geben schienen.

Anstatt abzusteigen, schoben sie beide die inzwischen verstummten Motorräder auf einen besonders verrosteten Container zu. Die Verriegelung hing locker in den Scharnieren und bloß ein metallisches Kratzen im Inneren, ließ die Ankömmlinge kurz innehalten.

Mit einem unüberhörbaren Ächzen schwang die breite Tür zur Seite und ließ nichts als Schwärze im Bauch des Metallcontainers erkennen, die bereitwillig die beiden Fahrer und ihre Maschinen umfing.
 

Eine lange Neonröhre hing schief in einer Halterung an der Decke und schaffte es nicht ganz, den rechteckigen Raum zu erhellen. Das bläuliche Licht ließ die Gesichter der Anwesenden bleich erscheinen und ihre sorgenvollen Blicke waren wie in ihre Gesichtszüge gemeißelt.

Sie waren zu acht, Männer und Frauen zu gleichen Teilen, aber die Menschen waren eindeutig in der Minderzahl. Amanda blickte gerade aus auf die Projektion an der Leinwand vor ihnen und folgte nur halbherzig Cleas Ausführungen.

"Die Akten der Rudel sind gelöscht worden. Aber eben nur diese. Auf das gesamte Netzwerk und die Backup-Dateien konnten wir in dieser kurzen Zeit keine Rücksicht nehmen. Wir haben so viel zerstört, wie wir konnten, aber mit den richtigen Mitteln, werden sie den größten Schaden innerhalb der nächsten Wochen behoben haben."

Eigentlich hätte sich Amanda auf die Diagramme, Bilder und Erläuterungen konzentrieren sollen. Das hier war wichtig. Ihre nächsten Schritte sollten abhängig von den Möglichkeiten und Reaktionen der Moonleague geklärt werden. Was war passiert? Wie ging die Organisation vor? Was konnte man dagegen tun? Die einzigen drei Fragen, die im Moment in Amandas Hirn eine Rolle spielen sollten. Und doch taten sie es nicht.

Ihr Blick wurde von der Leinwand abgelenkt wie Metallspäne von einem Magneten. Sie konnte die dunklen Augen auf sich ruhen spüren. Ihre Nackenhärchen stellten sich bei diesem intensiven Gefühl halb warnend, halb neugierig auf, während Amanda das Bedürfnis hinunter kämpfte, nervös auf dem unbequemen Klappstuhl hin und her zu rutschen.

"Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch einmal wiedersehen würden."

Mit dieser Begrüßung hatte er ihr die Hand entgegen gehalten und sie mit festem Griff geschüttelt, während Amanda ihm sprachlos ins Gesicht gestarrt hatte. Er hatte sie nicht gefragt, ob sie sich an ihn erinnern konnte. Es wäre lächerlich zu glauben, dass sie ihn je vergessen würde.

Natürlich blitzten ihr jetzt die dunklen Augen unter den fast weißen Wimpern entgegen, als Amanda leicht den Kopf neigte, um über den Tisch, quer durch den provisorischen Konferenzraum zu sehen.

Amanda hatte schon damals vermutet, dass sein Blick nur deswegen so stechend war, weil seine weißblonden Haaren den Gegensatz zu diesen dunkel schimmernden Perlen seiner Iris so intensiv machten. Selbst die gebräunte Haut und die kleinen Fältchen in den Augenwinkeln konnten daran nichts ändern.

Jetzt hoben sich seine Mundwinkel zu einem schmalen Lächeln, während seine Augen wissend glänzten. Oder bildete sich Amanda das nur ein? Er war kein Wandler. Er konnte sie nicht lesen.
 

***
 

"Du hättest es mir sagen sollen."

Eric stand neben Amanda im Schatten eines großen Krans auf dem Dach eines Containerstapels und suchte den Horizont ab. Amanda kannte ihren Bruder zu gut, um ihm im Moment seine Ruhe und Gelassenheit abzukaufen.

"Ich konnte nicht."

"Was soll das bitte heißen?"

"Er ist auch erst gestern hier angekommen. Ich war schon unterwegs, als ich davon gehört habe, dass jemand mit seinem Namen zu uns gestoßen ist."

Amandas Finger fühlten das immer noch warme Metall unter ihren Fingern, die an dem bröckeligen Lack zupften.

"Warum hast du mir nicht zumindest das gesagt?"

Ihre Stimme war ruhig und wirkte gefasst. Amanda war schon immer eine gute Schauspielerin gewesen. Auch vor Eric, der sie immerhin in dieser Welt besser kannte, als jeder Andere. Einmal von Nataniel abgesehen, dem allerdings das jahrelange Zusammenleben mit Amanda abging.

"Ich konnte doch nicht sicher sein, dass er es ist. Es gibt mehr als einen Seth Gregory, denkst du nicht?"

"Nur einen wie ihn."

Eric seufzte tief, wandte seinen Blick aber nicht seiner Schwester zu, sondern suchte weiter den Hafen nach irgendetwas Verdächtigem ab. Die Wachen, die in der Nacht den Containerdock im Auge behielten, waren allein zur allgemeinen Beruhigung aufgestellt worden. Im Ernstfall würde die Moonleague viel zu schnell und viel zu zahlreich hier ankommen, als dass die wenigen Mitglieder des Untergrunds, selbst bei langer Vorwarnung, sich hätten angemessen verteidigen können. Ihre Chance war es, wenn nötig, so schnell und unauffällig wie möglich zu verschwinden. Allerdings war es möglich, dass die Organisation Klasse 5 Sammler als Späher schicken würde. Um denen zu entgehen oder sie gegebenenfalls auszuschalten, überwachten einige der Mitglieder die direkte Umgebung des Hauptquartiers.

In dieser Nacht hatte Amanda sich freiwillig gemeldet, um ungestört und ohne die Gefahr neugieriger Ohren mit Eric sprechen zu können. Der setzte sich nun ein Fernglas an die Augen und ließ seinen Blick einmal quer über die Hafenkante vor ihnen schweifen.

Der zunehmende Mond glitzerte als Spiegelbild auf dem aufgewühlten Wasser. Wenn sie Glück hatten, würde bald der erlösende Regen ein wenig Kühlung für Mensch und Gemüt bringen. Die Hitze der letzten Wochen lastete vor allem in den Metallcontainern auf Mensch und sogar Maschine.

Cleas neu entworfenes Reich in der untersten Reihe, direkt am Boden, war der einzige Ort, an dem sie so etwas wie eine Klimaanlage installiert hatten. Amanda hatte das große Glück sich immer unauffällig dort aufhalten zu können. Was ihr allerdings nachts in ihrer winzigen Koje nichts brachte, als sie sich in wehmütigen Träumen und völlig ausgelaugt hin- und herwarf. Wenn das so weiterging, würde sie schnell so kaputt sein, dass sie dem Untergrund gar nichts mehr nützte. Auch wenn Seth hier war.

"Vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass er gekommen ist. Immerhin ist er..." Unwirsch unterbrach Amanda seinen Wortschwall, indem sie sich von dem Container abstieß und ihm das Fernglas entriss.

"Wir sollten eine Runde machen. Hier ist nichts los."

Hinter Amandas Rücken hob Eric in einer gequälten Geste abwehrend die Hände. In diesem Zustand konnte man nicht mit Amanda reden. Eingeschnappt war sie einfach unerträglich und dieser Seth würde es verdammt schwer haben, an sie heran zu kommen. Wenn da nicht dieses Ass in seinem Ärmel wäre, hätte Eric ihm keinerlei Chance eingerechnet, dass Amanda auch nur ein Wort mit ihm wechseln würde.
 

***
 

Dicke, heiße Dampfschwaden waberten im Raum um ihn herum, als er aus der Duschkabine stieg. Weshalb er auch den Spiegel mit der Hand abwischen musste, um sich selbst darin erkennen zu können … oder auch nicht.

Er hatte dunkle Schatten unter den Augen, seine Haut war bleich und obwohl er sich jeden Tag gründlich rasierte, schien selbst der Bartschatten immer präsent zu sein, was früher nie der Fall gewesen war. Es musste einfach an dem starken Kontrast zu seiner weißen Haut liegen.

Seine Augen wirkten uralt und von einer Erschöpfung gezeichnet, die nichts mit einem körperlichen Empfinden zu tun hatte. Sein Geist, seine Seele waren so müde und obwohl er jeden Tag mit Amanda telefonierte, ihre Stimme ihn kurzzeitig immer wieder neu zum Leben erweckte, waren es doch die Stunden ohne sie, die ihn letzten Endes restlos materten. Außerdem fror er. Ständig. Selbst jetzt überzog eine Gänsehaut seinen ganzen Körper, obwohl er gerade noch unter brühend heißem Wasser gestanden hatte.

Hätte man ihm einmal gesagt, der Verlust einer Gefährtin könnte einen auf der Stelle umbringen, hätte er das niemals geglaubt. Aber es war klar, wenn schon die bloße Abwesenheit von Amanda ihn so zurichtete, was würde dann passieren, wenn er zum Beispiel eine Nachricht von ihrem Tod empfangen würde? Sofortiger Herzstillstand?

Wäre durchaus möglich. Oder ein Schlaganfall. Lungenversagen. Nierenkolik und nicht zu vergessen, die gute alte Methode. Die Sache einfach selbst in die Hand zu nehmen und an der Mündung einer Waffe zu knabbern.

Da Amanda zum Glück jedoch lebte, raffte er sich trotz der schlaflosen Nächte jeden Morgen auf, um mit Palia und dem Rat alle möglichen Punkte der Sicherheit ihres Rudels durchzugehen.

Inzwischen hatten sie Freiwillige auftreiben können, die sich für die Grenzbewachung dieser Gegend einsetzten. Keiner konnte die Leute dafür bezahlen, dass sie Tag und Nacht abwechselnd stundenlang auf eine Straße starrten und nach Verdächtigen Ausschau hielten. Aber letzten Endes war es doch die immer noch drohende Gefahr, die jeden mit Familie dazu brachte, seinen Teil zum Wohl des Ganzen einzubringen.

Weshalb die Familie eine so treibende Kraft war, spürte Nataniel jeden Tag aufs Neue. Gerade weil er sich einsam, isoliert und seinen natürlichen Instinkten vollkommen ausgeliefert fühlte.

Seine animalische Seite in ihm verstand bis heute nicht, weshalb er Amanda hatte gehen lassen. Kein Gestaltwandler, der auch nur annähernd bei gesundem Verstand war, würde seine Gefährtin der Gefahr aussetzen, in die er Amanda übergeben hatte. Selbst wenn es nicht ihr Leben war, das auf den Spiel gestanden hätte, es gäbe noch so viele andere Faktoren, die seine Gefühle förmlich zum Kreischen brachten. Männer. Konkurrenten. Die Möglichkeit, dass sie vielleicht schwanger war, ohne es selbst zu wissen. Oder etwas, das ihre Gefühle für ihn ändern könnte. Unwiederbringlich.

Mit einem deutlich frustrierten Knurren trocknete er sich mechanisch ab, packte sich so gründlich in Klamotten ein, als würde draußen ein sibirischer Winter herrschen und machte sich dann auf den Weg zu der Versammlung. Das Frühstück ließ er wie immer ausfallen. Genauso wie das Mittagessen. Lediglich zu Abend zwang er sich etwas rein, ohne es zu schmecken, damit sein Magen wenigstens über Nacht etwas zu tun hatte, während er vollkommen müde, aber trotzdem hell wach im Bett lag und nur an die eine dachte, bei der er nicht sein konnte. Denn es gab noch so viel zu besprechen, bevor er auch nur den Gedanken an einen Aufbruch zulassen konnte.
 

***
 

Dieses Lächeln schien ihm ins Gesicht gemalt zu sein. Jedes Mal, wenn Amanda ihren Blick in Seths Richtung schweifen ließ, sah er sie so an. Als würde er nur auf einen ersten Schritt von ihr warten. Na, da würde er lange warten. Immerhin. Bloß weil er...

"Entschuldige."

Der derbe Fluch in Amandas Kopf schien dafür gesorgt zu haben, dass sie sich an ihrem Salat verschluckte und heftig husten musste. Es trieb ihr die Tränen in die Augen, als sie versuchte, den Hustenreiz zu unterdrücken, bis er ihr ein erlösendes Glas Wasser hinhielt.

Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte sich Seth an den Tisch, an dem Amanda ihr Mittagessen einnahm.

Sie musste ihm zugute halten, dass es auch der einzige Tisch in dem kleinen Speiseraum war, an dem noch ein Platz frei war.

"Ich weiß, es ist direkt, aber hättest du heute Nacht Zeit?"

Sein Lächeln wurde breiter und sogar ein verschwörerisches Zwinkern flog Amanda über den Tisch entgegen.

Er hatte sie schon einmal gefragt. Heute Morgen, direkt nachdem Amanda mit Nataniel telefoniert hatte und aus Frust auf dem Weg zum Joggen gewesen war. Oder Motorrad fahren. Oder sonst irgendetwas, um sich davon abzulenken, dass sie nicht bei ihm war.

"Du bist ganz schön hartnäckig.", war ihre einzige Antwort, während sich ihre Gabel etwas zu nachdrücklich, um kein Hinweis zu sein, in eine Tomate bohrte.

"Nur weil ich weiß, dass du nachgeben wirst."

Kam ihr dieses Ego vielleicht irgendwie bekannt vor?

43. Kapitel

Amanda hatte nachgegeben.

Seit mehr als einer Woche taten sie das hier jede Nacht. Wie er sie letztendlich überredet hatte, wusste sie nicht mehr. Vielleicht war es tatsächlich nur überschäumende Neugier gewesen. Neugier auf jemanden, der sie verstand. Der wie sie war. Und selbst wenn es am Anfang schwierig gewesen war, den prüfenden Blicken der Anderen zu entgehen, selbst Eric seinen Triumph nicht zu gönnen, dass er es doch gleich gewusst hatte.

Irgendwann hatten Amanda und Seth es einfach zu einer Regel gemacht, die erste Wache zu übernehmen. Sobald die Sonne untergegangen war, hatten sie draußen auf den Containern gesessen, auf das glitzernde Meer und die dahinter liegende Stadt gesehen.

"Es sieht friedlich aus, findest du nicht?", hatte er sie irgendwann gefragt. Amanda hatte ihm Recht geben müssen. Auf diese Entfernung schien es fast lächerlich, dass die Menschen mit den Wandlern in der Metropole zusammen lebten, ohne es zu wissen. Dass sie das Anderssein ihrer Nachbarn, Kellner oder Versicherungsvertreter nicht sahen oder nicht sehen wollten.

Jeden Abend gingen sie ohne Sorgen in ihre Betten. Und doch könnte die Organisation all das zerstören. Ebene 1 konnte den Frieden zerstören, wenn es die Gründer wollten.

Amandas Fingerspitzen kribbelten leicht von der Anspannung, die schon seit ihrer Ankunft auf ihr lastete. Natürlich war allen klar, was ihre Rolle in dieser Situation war. Warum es so wichtig war, dass Amanda hier war, um sie zu unterstützen. Jedem hier war klar, dass sie das Chaos erst ins Rollen gebracht hatte. Und zu Amandas Verwunderung, bewunderten sie viele dafür, was sie getan hatte. Aber damit gab man ihr noch mehr Verantwortung in die Hände.

Jeder hoffte darauf, dass Amanda eine Lösung finden würde. Sie hatte ein ganzes Rudel beschützt, ihre eigenen Daten unwiederbringlich aus den Computern der Moonleague gelöscht. Das konnte sie auch für Andere tun. Für alle.

Als wäre der Druck nicht schon groß genug, fühlte sich Amanda den aufmunternden, bewundernden und vertrauensvollen Blicken der Anderen im Untergrund ausgesetzt. Vielleicht war das der Grund, warum sie Seth irgendwann nachgegeben hatte.

Jetzt, da sie hier draußen saßen und in die Nacht hinausstarrten, um so viele zu beschützen, wurde ihr wieder einmal klar, dass sie glücklich sein konnte, dass er hier war. Zwar würde sie sich die Zunge abschneiden, bevor sie es zugab, aber sie brauchte Seth. Das wurde ihr mit jedem Tag, nein, mit jeder Nacht, die sie zusammen verbrachten, mehr klar.

Neben ihr stand der Blonde unvermittelt auf. Er hatte die Schritte hinter ihnen früher gehört als Amanda. Die Frau mit den grünen Augen lächelte, als sie die beiden sah.

"Na, jetzt aber ab ins Bett mit euch, ist schon dunkel und ihr wollt doch Morgen ausgeschlafen sein."

Francy hatte schon oft die Ablöse übernommen. Sie war meistens allein unterwegs, da Unterstützung ihr wahrscheinlich nur im Wege gewesen wäre. Oder zumindest überflüssig.

Der Mond schien Francys seidige Haut richtig gehend aufleuchten zu lassen. Selbst als sich die Frau in eine Eule verwandelte und lautlos auf das Wasser hinaussegelte, erhob sich Amanda nicht.

Jedes Mal, wenn sich jemand neben ihr wandelte, musste sie an Nataniel denken. Nein, jedes Mal, wenn sie einen Atemzug tat, musste sie an Nataniel denken. Immer spürte sie schmerzhaft, dass er ihr fehlte, wie etwas, das sie dringend zum Leben brauchte. Und doch versuchte sie sich einzureden, dass es besser war, ihn nicht hier zu haben. So musste sie sich keine Sorgen um ihn machen.

Erst Seths Hand auf ihrer Schulter holte sie aus der Stimmung, die sie zu übermannen drohte.

"Komm. In gewisser Weise hat es doch auch eine beruhigende Wirkung."

Seine Stimme war warm und doch konnte man den schelmischen Unterton nicht im Geringsten überhören. Manchmal kotzte es Amanda wirklich an, dass sie ihn brauchte.
 

Keuchend lehnte Amanda mit dem Rücken am Metall. Die Nachtluft kühlte ihre schweißbedeckte Haut nur mäßig. Ihr Puls raste und am liebsten wäre sie kurz in die Knie gegangen, um sich ein wenig auszuruhen. Doch Seths Blick hielt sie fest. Seine Augen bohrten sich in ihre, während sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Er hatte die Hände an den Container gelehnt. Stützte sich neben Amandas Schultern ab, um ebenfalls wieder zu Atem zu kommen.

Blonde Haarsträhnen klebten ihm in der Stirn und doch ließ er sich zwischen schweren Atemzügen zu einem Grinsen hinreißen.

"Nicht schlecht, Kleine. Du wirst besser."

Amanda schob ihn halbherzig von sich weg und stützte sich mit den Händen auf die Knie, während sie versuchte endlich wieder zu Atem zu kommen.

"Du magst besser sein, aber hast du auch Durchhaltevermögen? Komm' schon, alter Mann, noch mal von vorn."

Mit dieser Beleidigung erwischte sie ihn immer. Natürlich waren die fünf Jahre Altersunterschied ein Witz, aber wer sie als 'Kleine' bezeichnete, hatte mit Gegenwehr zu rechnen. Und bei Seth teilte Amanda sehr gern aus.

Sie stand im Schatten eines Schiffes, nah an der Kante, unter der sie das kalte Wasser gegen die Mauer schwappen hörte. Seths Stiefel knirschten auf dem Boden, sodass Amanda ihn hören konnte, bevor sie seine Anwesenheit hinter sich spürte. Nicht mehr als ein Hauchen kam über seine Lippen, als er dicht hinter ihr stand. Sie schluckte hart, mit vor Konzentration zu Schlitzen verengte Augen. "Los."

Sie verschwanden gleichzeitig und tauchten nur Sekundenbruchteile später auf dem Deck des großen Lastschiffes wieder auf. Seths Hand flirrte aufgelöst durch die Luft auf Amanda zu.

Beinahe erwischte er ihre Hüfte, doch sie zog sich rechtzeitig in den Schatten einer Kabeltrommel zurück, um hinter ihm wieder im Mondlicht aufzutauchen. Sie riss ihn von den Füßen, um mit ihrem Arm zumindest die klebenden Schatten auf ihm zu verteilen.

"Du ... bist immer noch ... zu vorsichtig!"

Blut perlte Amandas Schulter hinab und wurde von ihrem T-Shirt aufgesogen, als Seths Finger durch ihre Haut schnitten. Er hatte sie wieder erwischt. Und das, obwohl Amanda auf seinem Brustkorb saß und ihm mit ihren Händen die Luft ein wenig abdrückte.

Na gut, was er konnte, konnte Amanda auch. Sie ließ sich absichtlich von ihm abschütteln, rollte in den Schatten zurück und trat mit einem aufgelösten Bein nach ihm, als sie wieder auftauchte.

Seth hatte Recht. Sie wurde besser. Aber noch war sie lange nicht so gut wie er. Amanda konnte nicht so gut vom Licht in den Schatten zurückgehen. Sie war in ihrer Auflösung einzelner Glieder nicht so schnell und gewandt wie er. Aber deswegen übten sie ja auch. Und Seth konnte wiederum von Amanda etwas lernen. Denn im Gegensatz zu ihm, brachte Amanda es immer aufs Neue fertig die Schatten aus ihrem Inneren zu vertreiben und ihrer Iris die Natürliche Farbe zurück zu geben.
 

***
 

„Okay, fünfzehn Minuten Pause.“, verkündete Palia zu Nataniels Überraschung.

Na gut. Vielleicht war das auch besser so. Sie knabberten immerhin schon seit dem Frühstück an einem ausgeklügelten Sicherheitsnetz für die ganze Wohngegend der Gestaltwandler, das dafür sorgen sollte, dass jeder sofort Bescheid wusste, wenn Ärger im Haus stand. Es wurden überall in den Häusern Alarmanlagen angebracht, die Sven persönlich installierte und somit so ziemlich die sicherste Ausrüstung zum Eigenschutz war, die man auf dem freien Markt finden konnte.

Das Equipment kostete zwar eine Menge, doch hierbei galt die gleiche Regel wie bei Kondomen: Besser eines haben und keins brauchen, als eines brauchen und keins haben.

Der Schutz von Leben war wichtiger, als eine mögliche finanzielle Pleite. Zum Glück fügten sich die bereits einheimischen Gestaltwandler in die Gesellschaft ihres Rudels ein und halfen wo sie konnten. Alle wurden davon angespornt, sozusagen die erste sichere Gemeinde für ihre Art zu werden, die es ihrem Wissen nach in diesem Bundesstaat gab.

Es hätte Nataniel mit Stolz erfüllen sollen, dass er der Führer dieser Gruppe war und somit an vorderster Front mitmischte, aber so war es nicht und das konnte nicht nur er spüren.

So viel war klar, als nur noch er und Palia sich in dem kleinen Raum befanden, den sie als Büro umfunktioniert hatten, obwohl es eigentlich eines der Hotelzimmer war.

„Du siehst beschissen aus.“, klärte sie ihn über sein Äußeres auf, nachdem sich die Tür hinter den anderen geschlossen hatte, obwohl er von der Kleidung her makellos angezogen war. Über den Rest musste man einfach hinwegsehen.

Mit abgekämpften Gliedern stand er von seinem Stuhl auf und ging zu dem Fenster hinüber, das einen Blick auf den weitläufigen Wald auf der Rückseite des Hotels bot.

„Und du bist charmant wie immer.“, antwortete er leblos. Auch das war nichts Neues.

„Verdammt noch mal, Nataniel! So kann das nicht weiter gehen. Ich weiß ja, dass du Amanda vermisst, aber das ist kein Grund, sich zu Tode zu schufften. Mal ehrlich, wann hast du das letzte Mal geschlafen?“, fauchte sie ihn an.

Er zuckte gelassen mit den Schultern. Nataniel schätzte, dass es am Dienstag gewesen war, also vor mehr als einer Woche. Und dann auch nur, weil er sich gezwungenermaßen einfach eine halbe Schachtel Schlaftabletten eingeworfen hatte.

Nicht etwa, weil er sich der Gefahr einer Überdosis aussetzen wollte, sondern weil alles andere viel zu gering dosiert gewesen wäre. Bei seiner Größe und seiner Natur wirkten Betäubungen grundsätzlich nur sehr schlecht. Weshalb er auch nie zu Alkohol greifen würde, um sich restlos zu besaufen. Das Preisleistungsverhältnis würde nicht lohnen.

„Ist im Grunde doch völlig unwichtig. In ein, spätestens zwei Tagen ist alles so weit geregelt, dass ihr mich nicht mehr braucht. Zumindest für eine Zeit lang.“

Ja und dann könnte er endlich los fahren, um zu seiner geliebten Gefährtin zu gelangen. Dann wäre auch wieder Schlaf eine Möglichkeit, die er versuchen konnte, um sich etwas zu erholen. Vielleicht würde er dann die paar Kilos, die er seit ihrer Abreise verloren hatte, auch wieder aufholen können. Zumindest hoffte er, dass das Essen dann nicht mehr wie durchweichte Tageszeitungen schmeckte und ebenso fade roch.

„Dir liegt nicht viel an dem Rudel, nicht wahr?“, drang Palias Stimme leise zu ihm durch und klang gleichzeitig ebenso müde, wie er sich fühlte.

„Wenn das wirklich die Wahrheit wäre, wäre ich nicht hier.“, antwortete er in etwas zu scharfem Tonfall, ehe er sich vom Fenster los riss und die Pumalady ansah.

Sie wich seinem Blick nicht aus, der zumal ganz schön stechend sein konnte.

„Du bist hier, weil du dich der Verantwortung nicht entziehen kannst. Gerade deshalb bewundern dich alle. Sie wissen, dass du eigentlich bei deiner Gefährtin sein möchtest. Das ist immerhin nicht zu übersehen und dennoch bist du hier, um das Rudel zu beschützen und vorzusorgen für den schlimmsten aller Fälle.“

Sie kam einen Schritt auf ihn zu, wodurch sie noch kleiner wirkte, obwohl sie so viel Größe ausstrahlte.

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie du dich im Moment fühlst. Aber ich kann dir nur sagen, dass wir dir alle sehr dankbar sind für das Opfer, das du für uns bringst. Dein Vater wäre stolz auf dich.“

Als Palia seinen Vater erwähnte, war das wie ein Hieb in die Nieren. Wäre er das etwa wirklich?

Nataniel konnte es sich nicht vorstellen. Nicht wenn sein Vater wüsste, welche Gedanken ihn Tag für Tag plagten. Dass er am liebsten alles hinschmeißen würde. Dass er sofort auf der Stelle seinen Posten als Rudelführer abgeben würde, wenn sich die Gelegenheit bieten sollte. Aber vor allem würde er sie alle ohne zu zögern verlassen, wenn Amanda ihn bräuchte. Für immer, sollte es nötig sein.

Er drehte sich wieder weg, um Palia nicht länger in die Augen sehen zu müssen.

„Das bezweifle ich. Er hat sich immer stark für das Rudel eingesetzt, ist sogar dafür gestorben. Ich weiß nicht, ob ich das könnte.“, gestand er sehr leise und viel zu ehrlich für seinen Geschmack.

Eine warme, zarte Hand legte sich auf seinen kalten Oberarm. Auch wenn sie kurz vor Überraschung zusammen zuckte, ließ sie nicht von ihm ab.

„Es hat dir wohl nie jemand erzählt, oder?“, begann sie sanft zu sprechen.

„Was?“

„Das dein Vater sich nach dem Tod deiner Mutter umbringen wollte. Dich zu verlieren war bereits schlimm gewesen, auch wenn er dich sicher an einen anderen Ort wissen konnte. Aber seine Gefährtin…“

Einen Moment lang fuhr es Nataniel glühend heiß durch den Körper, ehe eine noch eisigere Kälte ihn einnahm, so dass fast seine Zähne aufeinander klapperten. Sein Vater hatte sich umbringen wollen? Wie gut er das doch nachvollziehen könnte.

„Warum hat er es nicht getan?“, fragte er leise wispernd, in einem Tonfall, als würden Palias nächste Worte sein Schicksal besiegeln.

„Weil er dich geliebt hat und solange es auch nur einen Menschen in seinem Leben gab, der jeden weiteren Atemzug rechtfertigen konnte, hatte er auch weitermachen können. Seine Arbeit, eine Gemeinschaft von Wandlern ohne Registrierung zu gründen, tat er alleine für dich. Damit die Welt für uns alle sicherer sein würde. Zumindest versuchte er den Grundstein dafür zu legen und soweit mich das betrifft, sind wir alle dabei, darauf etwas Großes zu errichten.“

Sie schwieg einen Moment, ehe sie mit entschlossenem Tonfall fortfuhr.

„Ich bewundere Amanda für alles, was sie für uns getan hat und noch tun wird, obwohl sie nicht zu unserer Art gehört. Und du besitzt meinen größten Respekt für deine aufopfernde Hingabe, das Rudel zu beschützen, während dich die Abwesenheit deiner Gefährtin quält. Aber über eines solltest du dir klar sein: Wie würde Amanda wohl reagieren, wenn sie wüsste, dass du kurz vor dem vollkommenen Zusammenbruch stehst, jetzt wo wir alle unsere Kräfte dringend brauchen werden?“ Sie ließ ihn los und wandte sich zum Gehen.

„Denk einmal darüber nach, ob du ihr so gegenübertreten kannst.“

Die Tür schloss sich lautlos hinter ihr und er war alleine.

„Scheiße.“, fluchte er schließlich mit bebendem Körper, nachdem die Stille unerträglich geworden war.

Palia hatte wieder einmal Recht.
 

***
 

"Hier seht ihr den inneren Aufbau des Gebäudes. Mit allen Zugängen, Aufzügen, Treppen."

"Die Fenster hast du aber rausgelassen."

Clea rollte die Augen, als Eric gespielt lehrerhaft auf das Hologramm vor ihnen zeigte und die Augenbrauen zusammenzog. So erinnerte er Amanda immer an ihren Vater, der das gern getan hatte, wenn es etwas zum Abendessen gab, das nur entfernt danach aussah, als könnte es Paprika enthalten.

"Das Haus ist mit Glas verkleidet, Eric. Außerdem sind Fenster... Oh Mann."

Eric grinste inzwischen über Cleas Versuche sich zu rechtfertigen. Kurz huschte Amandas Blick zu Seth hinüber, der in einer dunklen Ecke an der Wand lehnte und die Szene wohl als Einziger mit dem nötigen Ernst betrachtete. Amandas Wangen wurden rosa, als sie bemerkte, was hier los war.

"Können wir weitermachen?", fragte sie ihn strengem Ton, der Clea und Eric – wenn auch weiterhin verstohlen lächelnd – aufsehen ließ.

"Na klar. Also alle Zugänge. Wärmebild haben wir leider nicht. Amanda, ich weiß, dass du gewohnt bist genau zu wissen, wo sich die Leute befinden, aber das ist mit unserem Equipment nicht möglich."

Cleas Blick ignorierend, beugte sich Amanda vor und unterzog das Hologramm einer sehr genauen Betrachtung.

"Wir wissen, wie viele Sammler in dem Gebäude arbeiten. Außerdem ist uns das Schichtsystem bekannt. Das werden sie in der kurzen Zeit trotz allem nicht über den Haufen geworfen haben."

Erics Augen trafen ihre und Amanda konnte sehen, dass er sich dabei nicht so sicher war wie seine Schwester. Immerhin waren Monate vergangen. So gut wie alles konnte sich in der Organisation verändert haben.

Wieder erklang Cleas Stimme aufgeräumt und ruhig, während sie erklärte, welche Zugänge von wo am besten zu erreichen waren und wie man an den Rechner im unterirdischen Bereich des Hauses herankommen konnte.

Letztendlich mussten nur ein paar Stecker gezogen und eine unauffällige Explosion ausgelöst werden. Babykram, so zu sagen. Wenn man denn erstmal die Sicherheitsvorkehrungen überwunden hatte. Und wusste, welche Stecker man ziehen musste. Dann war da noch das Problem mit der Explosion. Und dass man rechtzeitig aus dem Gebäude kam, bevor sie losging oder die Sammler Unterstützung gerufen hatten.

Da verwandelte sich aus der babyleichten Theorie die Praxis in der Durchführung zur echten Gefahr. Aber es gab keine andere Möglichkeit. Sie mussten an die Daten des Zweitrechners herankommen, um in die Zentrale zu gelangen und dort endgültig für den Totalabsturz zu sorgen.

Zum Glück gab es zumindest Freiwillige. Zwei Wandler, denen sehr kleine Tiere inne wohnten, die leicht ins Gebäude eindringen konnten.

Seth und Amanda. Sie würden die Hauptsache übernehmen. Vor allem die Sache mit der Bombe und das sichere Rausbringen der Zugangsdaten. War es jetzt an der Zeit, dass Amanda das Herz in die Hose rutschte oder war es verfrüht, weil sie dann vor dem Anblick des Rechners keine Wahl mehr hatte, als in Panik auszubrechen? Wenn sie denn so weit kamen.
 

"Hey, Nataniel. Tut mir leid, dass ich so spät anrufe. Zumindest wecke ich dich nicht, da deine Mailbox rangegangen ist... Ich hoffe du schläfst. Und isst. ... Scheiße, ich hör mich an wie deine Mutter. Trotzdem. Iss' was. ... Hör' zu, eigentlich wollte ich nur Bescheid geben, dass ich dich Morgen nicht anrufen kann. Wir sind so weit, dass wir anfangen können. Mach dir also bitte keine Sorgen, wenn ich mich erst in zwei Tagen melden sollte. Grüße von Eric an Palia ... Du fehlst mir. Gute Nacht."

Als das schwache Licht des Handys erlosch, war es stockdunkel in dem kleinen Raum. Amanda rollte sich auf ihrem Bett zusammen und zog sich die Decke bis zur Nasenspitze hoch. Das weiße Mobiltelefon behielt sie in der Hand. Es war lächerlich, aber damit fühlte sie sich zumindest teilweise mit Nataniel verbunden. Ein Gefühl, das sie für ein paar wenige Stunden schlafen ließ.
 

***
 

Das erste, was ihr auffiel war, dass es vollkommen still war. Über ihr blinkten Sterne am Himmel, die Amanda aber nicht richtig erkennen konnte, weil sich irgendein penetrantes Licht in ihr Sichtfeld drängte. Ihre Pupillen zogen sich auf Stecknadelkopfgröße zusammen, was in ihren pechschwarzen Augen aber nicht auffiel. Der Boden unter ihrem Rücken war hart und kalt. Irgendetwas drückte ihr in den linken Oberschenkel. Aber sie konnte atmen, sich bewegen. Trotzdem sollte es sie beunruhigen.

Immer noch war alles still. Unnatürlich still. Aber erst als Seth sie unsanft an den Armen hochzog und sie sehen konnte, wie sich seine Lippen bewegten, während seine schwarzen Augen aufgeregte Funken sprühten, setzte die Panik ein.

Amanda sagte seinen Namen. Sie hörte es nicht.

Immer wieder versuchte sie zumindest seine Sinne zu erreichen, wenn sie es schon bei ihren eigenen nicht konnte.

"Seth!"

Wie angewurzelt blieb er stehen, ließ aber ihre Hand nicht los, an der er sie vorwärts gezerrt hatte. Ein Riss zog sich quer über seine Nase und ein Stück unter seinem Auge entlang. Das Blut lief ihm auf die Lippen, von wo er es immer wieder wegschleckte oder sich einfach mit dem Ärmel übers Gesicht wischte.

Amanda war nicht sicher, wie es klang, aber auf ihren Stimmbändern hörte sich das Geständnis wie ein Wimmern an.

Sie konnte nicht fahren. Nicht ohne Gehör und nicht mit angeschlagenem Gleichgewichtssinn.

Bloß an seinem erschrockenen Blick und den geweiteten Augen konnte Amanda erkennen, dass hinter ihr etwas vorging. Seth stieß sie so schnell in die Schatten und wieder heraus, dass Amanda keine Luft holen konnte, um unter Schmerzen aufzuschreien. Unter anderen Umständen wäre sie stolz auf sich gewesen, dass sie Schatten sie nicht in die Knie zwangen, als sie mit zitternden Fingern ihren Gurt anlegte, während Seth schon mit quietschenden Reifen den Wagen auf die Stadtautobahn lenkte.

Das nervtötende Pfeifen auf ihrer rechten Seite musste ein gutes Zeichen sein. Aber ob es auch das Blut war, das ihr aus der linken Ohrmuschel lief? Amanda besah die rote Flüssigkeit an ihren Fingern und verdrängte den Gedanken. Sie hatten die Codes. Das war alles, was im Moment wichtig war.
 

***
 

Nataniel schlief zum ersten Mal tief und fest, als ein nervtötendes Hämmern an seiner Tür ihn weckte und auch ständig sein Handy auf dem Nachttisch vibrierte, als wäre es einer dieser Uraltwecker, die so laut schepperten, dass sie schon mal von selbst zu Boden gingen.

Es musste an dem vielen schweren Essen liegen, weshalb er kaum die Augen aufbrachte, weil er so tief wie schon lange nicht mehr geschlafen hatte.

Natürlich hatte er sich Amandas Befehl nicht entziehen können. Ob nun von der Mailbox aus oder direkt gegenüber, jedes Wort seiner Gefährtin war so machtvoll, dass er gar nicht anders konnte, als ihr zu gehorchen. Zumindest nicht, wenn es so etwas Einfaches war wie Essen. Sie hatte ihm befohlen, zu essen und er hatte es getan. So viel und so gründlich, dass er sich danach kaum noch rühren konnte. Aber nun sprang er mit einem Satz aus dem Bett, weil ihm endlich klar war, dass diese Lärmbelästigung mitten in der Nacht auch seine Gründe haben könnte.

Da er es nicht einmal geschafft hatte, sich zu entkleiden, bevor er wie ein Toter ins Bett gefallen war, musste er sich jetzt wenigstens nicht in rasender Schnelle anziehen.

Zuerst prüfte er, wer ihn da auf dem Handy terrorisierte. Sollte es Amanda sein, würde er die Leute vor seiner Tür beinhart ignorieren. Denn obwohl sie wohl erst in zwei Tagen oder so wieder erreichbar sein würde, könnte doch ein Notfall eingetreten sein, der sie dazu brachte, sich doch früher zu melden. Etwas, vor dass er sich so sehr fürchtete, dass er das Handy nur mit absolutem Widerwillen an sich nahm. Aber es war ‚nur‘ Palia, die er übrigens auch vor der Tür seinen Namen rufen hörte.

„Was liegt an?“, fragte er in ernstem Tonfall, als er die Tür öffnete. Die Pumalady konnte gerade noch ihre Faust abfangen, bevor sie ihm damit gegen den Brustkorb hämmerte.

Sie hielt auch noch ein paar Sekunden lang ihr Handy an ihrem Ohr, ehe sie es wieder einsteckte und somit das Vibrieren seines eigenen verstummte.

„Es geht um Niela. Man hat sie gefunden.“

Ihr Ton war sachlich, aber er konnte sehr deutlich auch den Hauch von Entsetzen darin spüren. Ihm selbst schnürte es sofort den Magen ab.

Das Jaguarmädchen mochte sein Rudel vielleicht aus freiem Willen verlassen haben, aber wie jeder seines Clans würde auch sie auf gewisse Weise immer ein Teil von ihnen sein. Etwas, das man nie trennen konnte. Selbst durch den Tod nicht.

„Wo ist sie? Ich will sie sehen!“, befahl er barsch, obwohl Palia diesen Tonfall nicht verdiente, aber es schien ihr nichts auszumachen. Sie konnte genauso gut nachvollziehen, wie es einem Rudelführer gehen musste, der ein verlorenes Mitglied wieder bei sich wusste. Nur nicht in welchem Zustand.

„Sie ist im Krankenzimmer, aber…“

Sichtlich nervös fuhr sich Palia durch das seidige Haar und nestelte an ihrem Kragen herum. Mehr brauchte Nataniel nicht zu wissen, um seine Schritte in Bewegung zu setzen, woraufhin die Pumalady ihm rasch folgte.

„Was wissen wir?“, fragte er nun deutlich ruhiger, obwohl er sich nicht so fühlte. Gerade wenn es um Niela ging, war er nicht ganz unbelastet. Immerhin gehörte sie zu den wenigen Jaguaren, die es hier gab und zugleich war sie einmal deutlich an ihm interessiert gewesen. Danach war sie einfach verschwunden, ohne etwas zu sagen und nun genauso aus heiterem Himmel wieder aufgetaucht. Das alles gab ihm schon jetzt ganz schön zu denken.

Sofort ratterte seine Assistentin alles herunter, was sie wusste, als hätte sie es auswendig gelernt, oder als hätte man es ihr ebenfalls in dieser sachlichen Tonlage berichtet.

„Einer unser Späher hat sie am Rande des Naturschutzgebietes gefunden.“ Eigentlich waren sie schon dabei gewesen, die Männer endgültig von dort abzuziehen, da alles ruhig geblieben war. So hatte es Nataniel vor kurzem entschieden, um nicht unnötig seine Leute in Gefahr zu bringen. Offenbar zu Recht.

„Ihre Verletzungen sind schwer. Vermutlich stammen sie von einer ganzen Palette von menschlichen Waffen. Knüppel, Messer, Schlagringe, Elektroschocker. Was ihr wirklich zugestoßen ist, können wir nur raten. Sie ist bisher nicht aufgewacht, aber…“

Palia öffnete die Tür, vor der ein großgewachsener Mann stand und unruhig den Blick auf sie gerichtet hielt. Es war der Späher, der Niela gefunden hatte.

Nataniel nickte ihm knapp zu und entließ ihn dann.

Der Bursche sah so aus, als könne er noch dringender Schlaf gebrauchen, als er selbst. Wenn es stimmte, hatte er das Jaguarmädchen ganz schön weit tragen müssen, bis er zu seinem Fahrzeug gelangt war und dann auch noch die Fahrt hierher. Sicherlich kein Zuckerschlecken.

Warum der Mann so blass war, wurde Nataniel einen Moment später auch klar. Nielas Körper sah aus, als hätte eine ganze Truppe von Profischlägern sie als Sandsack verwendet. Selbst unter den Verbänden und der dünnen Decke über ihrem nackten Körper war das deutlich zu erkennen.

Die Luchsärztin hatte getan was sie konnte, aber ein Blick in ihren Augen und alle Hoffnung verpuffte. Niela würde es nicht schaffen und so wie sie aussah, hätte es Nataniel auch gewundert.

„Ich lasse euch alleine.“, meinte die Ärztin, ehe sie die Tür zu dem kleinen Behandlungszimmer hinter sich schloss. Palia trat als Erstes an das Krankenbett und zog die Decke etwas zurück.

„Das solltest du dir ansehen. Sag mir, was du davon hältst.“

Nataniel trat näher und versuchte an den verfilzten Haaren, dem zerschlagenen und geschwollenen Gesicht vorbei zu sehen und das zu erkennen, was Palia meinte. Seine Zähne knirschten aufeinander, als er dieselben Ziffern erkannte, die auch in seiner Haut prangten.

Die Moonleague hatte ihr das Zeichen für Gestaltwandler direkt über der linken Brust tätowiert. Wie es Niela gelungen war, zu entkommen, war ihm ein Rätsel, aber zumindest wussten sie nun, wessen Handschrift das gewesen war.

Vorsichtig, als könne er ihr damit noch mehr wehtun, zog er die Decke wieder bis zu Nielas Hals hoch und schob sich einen Stuhl ans Bett.

„Ist gut, du kannst wieder schlafen gehen, Palia. Ich bleibe hier.“ Bis das Mädchen endgültig starb, oder aufwachte. Was er eigentlich nicht für sie hoffte.
 

***
 

Immer wieder war Amanda kurz aufgewacht und hatte sich in dem niedrigen, kleinen Raum umgesehen. Erst beim dritten oder vierten Mal hatte sie erkannt, dass sie sich in der behelfsmäßigen Krankenstation des Container-Hauptquartiers befand. Dann hatte sie den Kopf bewegt und musste sofort wieder die Augen schließen, weil ihr ein schreckliches Schwindelgefühl fast den Atem nahm. Ihr war schlecht, sie hatte Kopfschmerzen und zu allem Übel konnte sie immer noch nicht hören. Vielleicht lag das auch an dem dicken Verband, den sie um ihren Kopf spüren konnte. Amanda hoffte es sehr und schloss nur unter starkem inneren Protest wieder die Augen.

Beim nächsten Mal war Seth da. Amanda schlug die Augen auf und hatte keine Probleme sich zu orientieren. Sie wusste, wo sie war und dass sie sich vorsichtig bewegen musste, um nicht sofort wieder irgendeinen Mageninhalt von sich geben zu müssen. Und das, obwohl sie ihres Wissens gar nichts zu sich genommen hatte.

Mit geschlossenen Augen saß Seth auf einem Klappstuhl neben ihrem Bett. Die Beine lang ausgestreckt und die Hände unter den Oberarmen eingeklemmt, musste er bestimmt schnarchen, so wie sein Mund offen stand, während er seinen Kopf auf der Lehne des Stuhls abgelegt hatte. Über seine Nase zog sich eine Bahn von Pflastern, die Amanda vermuten ließen, dass er nicht genäht worden war. Wahrscheinlich würde er trotzdem eine Narbe zurückbehalten.

Trotz der unheimlichen Stille schlief Amanda wieder ein und war erleichtert ein paar Stunden – oder war es eine ganze Nacht gewesen? – später von einem Geräusch geweckt zu werden. Bemüht um das Fiepen auf ihrer Seite herum zu hören, kniff Amanda die Augen zusammen und riss sie leicht verwundert auf, als jemand ihre Hand ergriff.

"Kannst du mich hören?"

Und selbst wenn nicht, hätte Amanda es nicht zugeben müssen. So überdeutlich, wie Eric seine Worte formte, hätte jeder seine Lippen lesen können.

"Ja."

Erleichtert lächelte Amanda ihren kleinen Bruder an, dessen besorgter Ausdruck aber immer noch nicht aus seinem Gesicht weichen wollte.

"Ehrlich Eric, ich hab dich gehört."

Amanda hielt ihre Stimme leise, weil ihre Ohren wirklich noch sehr empfindlich reagierten. Druck schien sich aufzubauen und da war irgendein Knacken, das sich unter das nervend hohe Fiepen mischte. Wenn sie sich zu lange versuchte auf Eric zu konzentrieren, wurde ihr wieder schlecht.

"Haben wir alle Codes?"

"Amanda..." Beschwichtigend drückte Erics warme Hand ihren Arm.

Die Augen aufzuschlagen wurde immer schwieriger, aber dennoch wollte Amanda wissen, ob ihre Aktion wenigstens nicht umsonst gewesen war.

Sie bedachte ihren kleinen Bruder mit dem stechendsten Blick, den sie aufbringen konnte. Zumindest verfehlte er seine Wirkung nicht, selbst wenn Eric nur aus bloßem Mitleid antwortete.

"Clea sagt, sie hat alles, was sie braucht. Bloß das nächste Mal sollt ihr aus dem Gebäude raus, bevor ihr die Bombe hochjagt."

"Guter Tipp."

Scheiße. Lachen war keine gute Idee.

"Eric, darf ich mich noch ein bisschen ausruhen?"

Bereits bei der Frage war sie halb wieder eingeschlafen, was Eric einer Antwort enthob. Stattdessen streichelte er ihr über die Wange und ging leise hinaus. Als er vor der Tür stand, überlegte sich Eric kurz, ob er Nataniel Bescheid geben sollte.

Amanda war verletzt worden. Auch wenn sie sich wieder erholte, sollte Nataniel vielleicht davon wissen.

Er wählte die Nummer, bekam aber im Container keinen Empfang. Später am Abend musste er sowieso nach draußen, um ein paar Lebensmittel einzukaufen. Dann würde er es bei dem Wandler versuchen. Nataniel würde bestimmt nicht neben dem Telefon sitzen und jeden Tag auf Amandas Anruf warten. So schätzte Eric den Panther wirklich nicht ein.
 

***
 

Trotz der inneren Blutungen, der unzähligen Brüche und der Tatsache, dass nichts so richtig heilte, wie es für einen Gestaltwandler eigentlich hätte sein sollen, selbst bei den einfacheren Blutergüsse nicht, klammerte sich Niela verdammt lange an ihr Leben.

Obwohl sie nicht aufwachte, und es unmöglich war, ihr Nahrung oder Flüssigkeit auf normalem Wege zuzuführen, da ihr Magen ebenfalls verletzt zu sein schien, kämpfte sie länger gegen den Tod an, als die Ärztin ihr dafür gegeben hatte. Aus den Stunden wurden schließlich Tage.

Vielleicht war es grausam, sie durch Infusionen noch länger mit Nährstoffen zu versorgen, aber das machte die Zugabe von Schmerzmitteln leichter. Und wenn sie wenigstens das für sie tun konnten, so sollte es dann auch sein.

Nataniel war trotz seiner anderen Verpflichtungen eigentlich ständig in dem kleinen stickigen Raum, um darauf zu warten, dass Niela endlich erlöst wurde. Keiner wollte das für sie übernehmen, weil niemand es übers Herz brachte. Er schon gar nicht. Aber ihr Körper würde das ohnehin nicht mehr lange mit machen. Wenigstens ein kleiner Hoffnungsfunke.

Da er nicht zu den Versammlungen mehr kommen konnte, hielt ihn Palia über Handy ständig auf dem Laufenden.

Die letzten Vorbereitungen waren bereits abgeschlossen und so wie es aussah, würde die Durchführung so reibungslos wie möglich vollzogen werden.

Eigentlich hätte Nataniel sich jetzt aufmachen und zu Amanda fahren können. Da inzwischen auch die zwei Tage verstrichen waren, in denen sie sich wirklich nicht gemeldet hatte. Aber er konnte nicht gehen. Die Sache mit Niela hätte ihm keine Ruhe gelassen. Als Anführer war es seine Pflicht und ihm selbst auch ein Bedürfnis, einem sterbenden Clanmitglied wenigstens ein Stück lang des Wegs zu begleiten, den es ging.
 

***
 

"Du solltest dich nicht so verhalten, als wäre das nur ein Luftballon gewesen, der neben dir hochgegangen ist."

Inzwischen zierten Blutergüsse in verschiedensten Farben den Großteil von Seths Nasenrücken. Wenn es erstmal alles verheilt war, würde er ziemlich verwegen aussehen. Noch mehr als jetzt, mit diesen tiefschwarzen Augen.

"Ich hab noch genug Zeit mich auszuruhen, wenn alles erledigt ist."

"Der Spruch geht eigentlich anders."

Verständnislos sah Amanda den Blonden über ihre Notizen hinweg an.

"Es heißt eigentlich: 'Ich hab noch genug Zeit mich auszuruhen, wenn ich tot bin.'"

"Auch das, wenn's sein muss."

Im Moment hatte Amanda keine Nerven für solcherlei Scherze. Sie war schon nach zwei Tagen völlig aufgebracht, weil man ihr immer noch Bettruhe verordnete. Auch die Tatsache, dass es inzwischen ihr eigenes Bett war, konnte die Situation nicht verbessern.

"Du weißt, dass ich das nicht zulassen werde."

Amanda blickte hoch und ihre Blicke trafen sich, bevor Seth wegsah. Hatte sie da gerade einen Ton an ihm gehört, den er ihr noch nie zuvor gezeigt hatte? Einbildung. Mit solchen Dingen wollte Amanda sich jetzt nicht auch noch belasten. Und immerhin hatte sie Nataniel vor Seth ein paar Mal erwähnt. Wenn sie sich nur erinnern könnte, als was. Immerhin hatten sie sich nicht über ihren Beziehungsstatus unterhalten. Das wäre Amanda völlig abwegig vorgekommen.

"Seth?"

Er sah hoch und sein Blick war wieder freundlich und offen, wie eh und je. Als hätte es dieses kleine, gefühlvolle Geständnis von gerade eben nie gegeben.

"Danke. Dafür, dass du mich gerettet hast, meine ich."

"Oh, kein Problem. Ich hab's mir notiert und werde die Schulden irgendwann eintreiben. Keine Sorge."

"Red' nicht so einen Blödsinn."

Damit war das Thema vom Tisch und Amanda widmete sich nur zu gern wieder den Kurzinfos, die Clea für sie zusammengestellt hatte. Selbst die verstand Amanda nur, wenn Seth sie ihr erklärte. Ihr Hirn dröhnte bereits nach kürzester Konzentration und die Ärzte hatten eigentlich versprochen, dass die Übelkeit auch schon aufgehört haben sollte. Davon war rein gar nichts zu spüren. Eher im Gegenteil. Aber sobald das Piepsen im Ohr weg ging, würde sich hoffentlich auch alles Andere verflüchtigen.

Seth verabschiedete sich bereits nach einer halben Stunde wieder und versprach, Amanda später etwas zu Essen zu bringen. Allerdings nur im Austausch dafür, dass sie sich bis dahin ausruhte und etwas schlief.

Sobald sie ihren Kopf einigermaßen gemütlich auf das Kissen gelegt hatte, fiel ihr nichts leichter, als seinem Wunsch nachzukommen.
 

***
 

Nach vier unendlich langen Tagen drohten endlich ihre Vitalfunktionen zusammen zu brechen. Es konnte sich also nur noch um wenige Stunden handeln und der Kampf ihres Körpers gegen den Tod würde enden. Eine Tatsache, die Nataniel sowohl erleichterte, als auch schwer bedrückte. Zwar hatte er schon seinesgleichen getötet, aber bei einem so dahin schleichenden Tod zusehen zu müssen, war etwas völlig anderes. Er fühlte sich absolut machtlos.

Seine Hand hielt wie schon so oft in den letzten Tagen, die von Niela. Weit weg mit seinen Gedanken hörte er das leise Geräusch nicht, das die absolute Stille des Raums durchbrach. Erst als er das dazugehörige Zucken von Fingern unter den seinen spürte, schnellte sein Kopf in die Höhe. Nielas Augen waren offen!

Stumme Tränen liefen über ihre zerschundenen Wangen, obwohl sie eigentlich keine Schmerzen haben dürfte. Dafür wurde trotz allem immer noch regelmäßig gesorgt. Es änderte aber nichts daran, dass sie ihn aus klaren Augen anblickte, während ihre Lippen bebten.

Erst als Nataniel sich weiter zu ihr beugte, war ihm klar, dass sie schon die ganze Zeit etwas zu sagen versuchte.

„Sch-sch, Niela. Nicht reden. Ruh dich aus.“, versuchte er sie zu besänftigen, doch sie schüttelte schwach aber entschlossen den Kopf und setzte erneut an. Hätte er kein so feines Gehör, er hätte ihre Worte nicht verstehen können. Doch so beugte er sich noch näher zu ihr herab, so dass sie ihn besser sehen und er sie besser hören konnte.

„…ut … lei…d…“, hauchte sie, während ihre Atmung sich deutlich anstrengte und sie es noch einmal versuchte.

„Es … tut mir … so leid… Natan…iel… Hab … nicht gewollt…“

„Ist schon gut. Jetzt bist du wieder Zuhause.“

Er lächelte sie an, traurig und voller Kummer. Sie war trotz allem wahrhaftig eine von ihnen.

Der schwache Druck ihrer Hand schien sogar noch stärker zu sein, als ihre Stimme und trotzdem schien sie etwas loswerden zu wollen. Noch mehr Tränen liefen ihr über die Wangen, bis er sie schließlich mit seinem Daumen wegwischte.

„Ich … war’s…“, kämpfte sie weiter um jedes Wort.

„Hab … Rudel … verraten.“

Nataniel zuckte erschrocken zusammen, während seine Augen sich ungläubig weiteten.

„Was?“

Niela lächelte traurig und drehte den Kopf von ihm weg, sprach aber unbeirrt weiter.

„Ich wollte … Amanda … Schuld zuschieben … damit keiner … sie…“ Ihre Worte brachen ab, aber Nataniel verstand auch so. Niela hatte das Rudel an die Organisation verraten, damit es so aussah, als wäre es Amanda gewesen. Warum? Damit keiner seine Gefährtin mochte und akzeptierte?

Niela beantwortete ihm die Frage, ohne darum gebeten worden zu sein. Ihre Stimme klang jetzt kräftiger, aber es wich alle Farbe aus ihrem Gesicht.

„Ich wollte … dass sie … verschwindet… Ich wollte…“

Sie sah ihn wieder an. Ihre Augen waren nun trübe, als könne sie bereits kaum noch etwas sehen. Auch ihre Hand bewegte sich nicht mehr in seiner, die er trotz allem nicht losgelassen hatte.

„Ich wollte … dich…“, gestand sie, fuhr aber rasch zwischen heftigen Atemzügen fort, die pfeifend gingen.

„…als ich euch beide … sah … bin ich … zurück … zur Organisation…“

Sie hustete und Blut lief ihrem Mundwinkel herab, das er ihr mit einem Tuch fortwischte, während er ihr schweigend zuhörte.

„..aber ich konnte … euch … nicht noch einmal … verraten… Es tut mir … so leid … aber ich habe … nichts verraten… Bitte, … glaub mir … sie wissen nichts…“

Und das glaubte ihr Nataniel aufs Wort, weil ihr Zustand für sich sprach. Sie mussten sie brutal gefoltert haben. Diese Schweine!

„Ich glaube dir.“, sagte er trotz seiner gegensätzlichen Gefühle sanft, um sie zu beruhigen, weil sich ihre Atmung immer mehr überschlug, je mehr sie sich aufregte und das konnte nicht gut sein. Absolut nicht gut.

Seine Worte schienen zu helfen, denn sie beruhigte sich tatsächlich etwas. Zwar ging ihr Atem immer noch schwer und mehr als nur schleppend, aber der Ausdruck in ihren getrübten Augen wurde weicher und wich schließlich einer endgültigen Müdigkeit. Sie schloss sie langsam wieder und obwohl er die Worte aus ihrem Mund nicht mehr verstehen konnte, sah er doch, was sie da mit ihren Lippen formte – ich liebe dich.

Es war überflüssig darauf etwas zu erwidern, denn sie war bereits wieder ohnmächtig geworden. Dennoch hatte er das Gefühl, dass sie ihm so eben ihre Gründe für den Verrat mitgeteilt hatte. Und gerade in seiner Lage, konnte er verstehen, warum sie so weit gegangen war. Es war unverzeihlich, aber nicht unverständlich.
 

Am Abend kurz nach Sonnenuntergang erlag Niela ihren schweren Verletzungen.

Sie war nicht wieder aufgewacht und hörte vollkommen ruhig im Schlaf auf zu atmen. Erst an der absoluten Kälte und Starre ihrer Finger, war es ihm erst so richtig aufgefallen. Es war lautlos und letzten Endes doch schnell gegangen.

Obwohl Nataniel inzwischen mit Eric hatte reden können, um ihm mitzuteilen, wann er wo abzuholen sei, um endlich zu ihnen zu stoßen, war er immer noch so verdammt von allem aufgewühlt, dass er sich dieses eine Mal nicht einmal wunderte, weshalb Amanda nicht hatte mit ihm reden wollen.

Ihr Bruder hatte nicht aufgebracht oder übermäßig besorgt geklungen, weshalb es also nichts Schlimmes sein konnte. Vielleicht war sie einfach nur beschäftigt gewesen. So wie er, weil er auch des Öfteren gar nicht erreichbar gewesen war. Vor allem in der Zeit von Nielas Ableben hatte er das Handy nie dabei gehabt und nun, wo das ganze Rudel sie trotz der Geschehnisse betrauerte und dem Feuer übergab, war er mit so vielen Dingen beschäftigt, dass er gar nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand.

Aber es war eine fast schon willkommene Ablenkung und die daraus resultierende Müdigkeit ein zuverlässiges Schlafmittel. Morgen würde er sich auf den Weg machen. Danach war das Warten endlich vorbei. Genauso wie die viel zu finsteren Tage der letzten Wochen.

44. Kapitel

Amanda hatte die Beine auf einen zweiten Klappstuhl abgelegt und schob ihn immer wieder hin und her. Mit grimmiger Zufriedenheit hörte sie das Kratzen auf dem Fußboden und das leise Summen der Computer im Raum.

"Würdest du das bitte seinlassen? Es ist schön, dass du wieder hören kannst, aber das Geräusch macht mich wahnsinnig."

Eigentlich hatte Amanda angenommen, Clea sei viel zu sehr darin vertieft, die neuesten Erkenntnisse auf dem Bildschirm erscheinen zu lassen, um auf sie zu achten. Sie bemerkte auch, wie ihre schwarze Lederhose leicht knirschte, als sie die Beine nun reumütig auf den Boden stellte.

Wie sehr man manche Dinge doch erst zu schätzen wusste, wenn man sie eine Weile nicht besessen hatte. Zwar konnte Amanda noch nicht auf beiden Seiten gleich gut hören, aber es wurde von Tag zu Tag besser. Außerdem war endlich das dauernde Schwindelgefühl von ihr gewichen, was sie endlich wieder beweglicher machte.

Heute wollte sie endlich einmal wieder aus dem Containerhafen raus. Eric hatte – in ihren Augen – immer wieder das Glück unterwegs zu sein, um Lebensmittel einzukaufen, ein paar Kontaktleute zu besuchen oder andere Dinge zu erledigen. Seit zwei Tagen war er schon unterwegs und hatte nur kurz angekündigt, dass er gegen Abend wieder in der Zentrale sein würde. Sie mussten den Handykontakt trotz Sicherheitsvorkehrungen so kurz wie möglich halten. Deshalb rief Amanda Nataniel auch von der gesicherten Leitung der Zentrale an, anstatt von ihm auf dem Handy erreicht zu werden. Auch wenn die Verbindung über Sven aufgebaut wurde, wollte sie kein unnötiges Risiko eingehen.

Ein winziger Stich fuhr durch ihre Magengrube, als sie daran dachte, wie lange sie Nataniel nicht gesprochen hatte. Zuerst hatte sie ihn nicht erreicht, dann war da der Einsatz gewesen und ihre Verletzung. Sie hatte nicht mit ihm telefonieren können und gestern war er wohl beschäftigt gewesen, dann sie war wieder bei der Mailbox gelandet.

Hoffentlich zumindest kein Grund sich Sorgen zu machen. Hätte es einen Zwischenfall mit der Moonleague und dem Rudel gegeben, wären die schlechten Neuigkeiten bis zum Untergrund durchgedrungen. Wahrscheinlich sogar in jedem Fall, bevor Nataniel Amanda überhaupt erreicht hätte.

Amanda unterdrückte einen Seufzer. Sie hatte doch gewusst, dass es schwierig werden würde. Das hier war nun mal kein Ferienausflug, bei dem sie Nataniel jeden Tag vom Hotel aus anrufen konnte. Die ersten paar Tage, in denen sie es anstandslos geschafft hatte, mit ihm Kontakt aufzunehmen, hatten sie in dieser Hinsicht verwöhnt.

Ein Blinken auf dem Bildschirm riss Amanda aus ihren Gedanken. Ihre Finger, die sich unbewusst beim Gedanken an Nataniel so stark verschlungen hatten, dass ihre Knöchel weiß hervor traten, griffen nach der Tischkante, um sich mitsamt Stuhl nach vorn zu ziehen. Clea stöhnte bei dem Schaben von Metall auf Metall kurz auf.

"'Tschuldige. Was ist das?" Amandas ausgestreckter Finger schwebte Millimeter über dem Bildschirm und deutete so auf die vereinzelt blinkenden Punkte über dem Stadtplan. Es waren nur ein paar, aber das Blinken machte sie nervös.

"Die Gelben sind aufgezeichnete Suchaktionen der Klasse 5 Sammler. Die Roten sind gefährdete Orte und die, die blinken..."

"Werden gerade durchsucht?!"

Zustimmendes Geräusch und Nicken. "Soweit wir wissen. Wir müssen uns auf Informanten verlassen. Das Netzwerk über die Stadt hinweg ist zwar gut, aber viele Mitglieder der Wandlergemeinschaft sind schon ein wenig paranoid und sehen in jedem, der dunkle Klamotten trägt einen verdeckten Sammler."

"Nicht zu Unrecht, würde ich sagen." Amandas Augen verengten sich und registrierten nur beiläufig, dass über ihrer eigenen Wohnung ein gelber Punkt prangte. Allerdings war das zu erwarten gewesen. Der im Moment vor sich hin pulsierende Punkt schien sehr viel interessanter.

"Warum denn dort?"

Clea zuckte die Achseln, lehnte sich in ihrem breiten Bürosessel zurück und kaute auf dem pinken Bleistift in ihrer Hand.

"Na ja, wir mögen wissen, wie sich die verschiedenen Sammler-Klassen unterscheiden. Ein Wandler, der nur vom Büro nach Hause fährt, weiß das nicht."

"Ein Treffen."

Cleas Augen weiteten sich und der Bleistift fiel zu Boden, als sie sich mit dem Sessel umdrehte, um Amanda zu fragen, was sie vorhatte. Die war aufgesprungen, hatte sich die Lederjacke von der Stuhllehne geschnappt, war schon halb durch den Raum.

"Ich nehme Francy und Seth mit.", war die einzige Erklärung, die sie abgab.
 

***
 

Sven hatte ihm - wie Clea für Amanda - ein Ticket für den gleichen Langstreckenbus besorgt, den auch seine Gefährtin genommen hatte. So konnte er seinem Freund gleich den Leihwagen zurückgeben, damit die Kosten nicht noch in schwindelnde Höhen anstiegen. Außerdem war er sich sicher, dass er dort wo er hin fuhr, den Wagen nicht mehr brauchen würde und es käme auch sicherlich nicht gut an, wenn ihn auf der Strecke die Polizei aufhalten sollte und er keinen Führerschein vorweisen konnte. Immerhin besaß er so etwas nicht. Als Gestaltwandler hatte er auch bisher keinen allzu großen Sinn darin gesehen.

Sein Gepäck beschränkte sich auf zwei weitere Outfits und seinem Waschbeutel. Wenn nötig, hatte er genug Bares mit, um sich auch vor Ort noch ein paar Dinge zu besorgen, was er aber eigentlich nicht annahm.

Endlich im Bus konnte er den Ort vergessen, an dem Amanda sich von ihm verabschiedet hatte und wo auch er hatte einige Minuten warten müssen. Allein die Erinnerung daran ließ ihn noch mehr frösteln, als er es ohnehin schon tat. Zwar hatte er den Anweisungen seiner Gefährtin gehorcht und in den letzten Tagen so viele Kalorien zu sich genommen wie möglich, aber das änderte trotzdem nichts daran, dass er aussah, als hätte er Wochenlang wegen einer schweren Grippe im Bett gelegen.

Ein Grund mehr, wieso er die Stunden im Bus dazu nutzte, mangelnden Schlaf nachzuholen, obwohl er sich dabei lediglich auf oberflächliches Dösen beschränkte. Aber gerade diese katzenhafte Eigenschaft schenkte ihm trotzdem genug Erholung, um neue Kräfte zu sammeln.

Bestimmt würde er sie dringend nötig haben.
 

***
 

"Langsam.", ermahnte sich Amanda selbst, als sie über die ersten Brücken des Villenviertels und an den mit Zäunen und Mauern umgebenen Häusern vorbei fuhren. Hier überschritt niemand das Tempolimit, schon gar nicht kurz vor Einbruch der Nacht und mit zwei Motorrädern.

Glücklicherweise wollten die Reichen auch nicht auf ein bisschen Natur verzichten, selbst wenn sie sich für ihre Bauten das diesbezüglich unwirtlichste Gelände ausgesucht hatten.

Die Pontons lagen sicher und ruhig im Wasser, die Wellen wurden bereits weiter draußen im Hafen gebremst, damit hier niemand seekrank werden konnte. Lächerlich, ein Großstadtviertel komplett auf dem Wasser schwimmen zu lassen und trotzdem so zu tun, als wäre man an einem stabilen Ort. Wie gesagt, zumindest gab es für Francy in ihrer Eulengestalt genug Bäume, um es weniger auffällig erscheinen zu lassen, dass sie hier herumflog. Vor allem das Haus am Ende der Straße, auf das sie gerade zusteuerten, hatte einen regelrechten Wald im Garten. Jeder hatte seine Sammlerleidenschaft, nicht wahr?

Mit der Hand bedeutete Amanda Seth den Motor auszuschalten und ihr in eine Nebenstraße zu folgen. Eine winzige Fußgängerbrücke führte zu einem um diese Tageszeit verlassenen Spielplatz. Dort stiegen sie ab und ließen ihre Transportmittel in einer dunklen Ecke stehen.

"Meinst du, wir kommen von hier aus unauffällig wieder auf die Hauptstraße zurück?"

Seths Stimme war leise, aber keinesfalls alarmiert.

Amanda hatte ihm schon vor ihrem Aufbruch gesagt, dass sie sich hier auskannte. Immerhin war sie nach ihrem zehnten Lebensjahr hier in der Gegend aufgewachsen. Und Onkel Franks Haus mit den schönen Bäumen im Garten war ihr immer in Erinnerung geblieben.

"Wir können die nächste Brücke zur Umgehung nehmen und sind dann auf dem Innenstadtring. Dauert länger, ist aber für unseren Abgang sicherer."

Bloß ein Nicken. Sehr gut, sie konnten also los. Egal, ob das ein Treffen der Gründer oder ein Grillfest mit ein paar Sammlern werden würde, was Frank da veranstaltete. Oder einfach nur falscher Alarm. Amanda würde dabei sein, um so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Sollte das Ganze aus dem Ruder laufen, war Francy da, um dem Untergrund Bescheid zu geben.

So leise es eben ging, liefen Amanda und Seth auf den Garten des Hauses zu. Normalerweise hätte Amanda nun die Lage von Schatten und mondbeschienenen Flächen ausgelotet. Nur um sich sicher zu fühlen. Das hatte sie seit Seths Training nicht mehr nötig. Trotzdem war sie ihm dankbar, dass er sich auf ihrer linken Seite postierte. Ein leises Knacken hätte sie von dort immer noch nicht hundertprozentig rechtzeitig wahrnehmen können.
 

***
 

Obwohl der Reisebus gut vorankam, blieben sie doch auf dem letzten Stück der Strecke hängen.

Ein Unfall auf dem Highway hatte einen kilometerlangen Stau verursacht, in dem sie fest hingen und nur Schrittweise vorankamen. Zu dieser Zeit war Nataniel bereits so aufgeregt, dass er nicht mehr schlafen konnte und die Ungeduld, die durch den Stau langsam in Aggressivität umschlug, machte das Warten auch nicht besser.

Als es schließlich so aussah, als würden sie mit einer saftigen Verspätung ankommen, tippte er eine entsprechende SMS an Eric, damit der ihn erst gegen Abend abholen kam. Amanda hatte er nicht erreicht, aber bestimmt hatte ihr Bruder ihr schon gesagt, dass er heute ankommen würde. Wenn nicht, würde das sicher eine ordentliche Überraschung abgeben.

Im Grunde war es ihm egal, ob sie wusste, dass er kam oder nicht, weil nur zählte, dass er sie in wenigen Stunden bald wieder sehen würde und so würde wenigstens sie nicht wie auf glühenden Kohlen sitzen und darauf warten, dass er endlich aufkreuzte. Es reichte schon, wenn er selbst die ganze Gefühlspalette durchlaufen musste.

Das Warten hatte aber auch sein Gutes. Nataniel hatte endlich die Zeit, sich alles durch den Kopf gehen zu lassen, wozu er in den letzten Tagen nicht gekommen war. Nieals überraschendes Aufkreuzen und den darauf folgenden Tod, hatte alle erschüttert. Sein Rudel wusste bis heute nicht, dass sie es gewesen war, die es verraten hatte. Lediglich Palia hatte er es erzählt, damit sie wenn nötig, die Gruppe beruhigen konnte, sollten sie sich doch noch deswegen Sorgen machen, obwohl alles in letzter Zeit gut verlaufen war.

Danach kam die Frage, was er in der Großstadt zu erwarten hatte. Nataniel war, und das gab er wirklich nicht gerne zu, noch nie in einer großen Stadt gewesen.

Er mochte zwar am Land schon weit herum gekommen sein, aber das was sich nun vor seinem Fenster abzeichnete, war erdrückend, gewaltig und ging seiner Meinung nach vollkommen gegen die Natur. Die Welt schien nur noch aus Autos, Beton, Glas, Stahl, Asphalt und Menschenmassen zu bestehen. Aber das Schlimmste für ihn, waren die unzähligen Gerüche.

Wie es die Hunde hier aushielten, konnte er sich nicht vorstellen. Obwohl er glaubte, dass diese geradezu darauf versessen waren, weil ihre Nase hauptsächlich ihre Welt darstellte. Umso mehr es also zu riechen gab, umso besser konnten sie ihre Umgebung wahrnehmen. Nataniel teilte diese Meinung nicht.

Er war verdammt froh, als er endlich aus dem stickigen Bus mit den vielen fremden Menschen kam und erst einmal tief durchatmen konnte.

Eine SMS genügte und Eric wusste Bescheid, dass er endlich angekommen war. Während er wartete, sah er sich skeptisch um und kämpfte gegen ein geradezu klaustrophobisches Gefühl der Einengung an.

Das war nicht seine Welt. Erst recht nicht, da es überall hell war, obwohl der Himmel sich schwarz über ihm abzeichnete. Hier schien wohl nie jemand zu schlafen.
 

***
 

Sie hatten die meiste Zeit im Schatten der Bäume gestanden. Obwohl immer wieder ein Klasse 5 Sammler Runden gedreht und mit seiner Waffe in Richtung Miniwaldstück gezeigt hatte, waren sie nicht entdeckt worden. Immerhin machte ihr kurzes Verschwinden und Wiederauftauchen keinerlei Geräusche, wenn man mal von Seths und ihren eigenen schweren Atemzüge absah.

Das Einzige, was hätte auffallen können, war die totale Abwesenheit von Geräuschen. Kein Tier war mehr in der Nähe. Selbst Francy, die das Wabern der Schatten um die Körper ihrer Freunde vorher noch nie miterlebt hatte, zog sich mit einem Eulenschrei in weiten Kreisen um das Haus zurück.

Amanda sah sich die Szene mit wachsendem Unbehagen an.

Die meisten der Anwesenden kannte sie, hatte sie bis vor ein paar Monaten sogar mit Vornamen angesprochen, solange es nicht um offizielle Rangfolgen oder Dergleichen ging. Solange sie keine Befehle empfangen hatte.

Ein leichtes Ekelgefühl vor sich selbst überfiel Amanda, als sie daran dachte, wie blind sie für die Machenschaften der Moonleague gewesen war. Und dabei nahm sie auch ihr Aufwachsen in der Organisation nicht in Schutz. Sie hätte es rechtzeitig erkennen und gleich aus dem Inneren dagegen ankämpfen müssen.

Seths Hand legte sich nur für wenige Sekunden auf ihre Schulter, schaffte es aber doch, Amanda zu beruhigen. Seine dunklen Augen streiften ihr Gesicht und sein warmes Lächeln ließ sie ihre Konzentration wieder auf die Vorgänge im Garten richten.

G1 bis G5 saßen hier auf der Terrasse, klimperten mit Silbergeschirr auf den weißen Tellern und unterhielten sich lachend über das, was sie mit dem Untergrund vorhatten.

"Bis jetzt hat noch niemand die Kleine in der Stadt gesehen."

Der rote Lippenstift von G3 hinterließ einen deutlichen Abdruck auf dem Sektglas, das sie auf dem großen Holztisch abstellte.

"Meinst du, dass sie dieses Zusammentreffen mit dem Panther und seiner Meute überhaupt überlebt hat?"

Warum mussten sie sich gerade über sie unterhalten? Amandas Wut kochte so dermaßen hoch, dass sie ihre Finger von dem kleinen Ast nehmen musste, an dem sie gelegen hatten. Sonst hätte sie ihn spätestens bei den nächsten Worten vom Baum abgebrochen und eventuell ihre Position verraten.

Die Stimme schnitt ihr tiefer ins Herz, als es jede Andere der Anwesenden hätte tun können. Der Mann mit den kurzen, grauen Haaren hatte einen Arm locker über die Lehne der Hollywoodschaukel gelehnt und seine hellen Augen strahlten spitzbübisch, als er das Wort ergriff.

"Amanda hatte schon immer etwas für diese bemitleidenswerten Tiere übrig. Würde mich aber nicht wundern, wenn der Kerl ihr zum Dank die Kehle durchgebissen hätte, nachdem sie ihn befreit hat."

Das Lachen der Gruppe erreichte Amandas Gehör gar nicht mehr.

Ihr Körper bebte unter der Anspannung jedes einzelnen Muskels. In ihrem Inneren brüllten die Wut und der Hass wie ein verheerender Waldbrand, der von dem Schmerz ihrer sich auflösenden Finger nur noch angefacht wurde.

Sie wollte zu ihm. Die schweren Motorradstiefel gruben sich bereits sprungbereit in den Boden. Amanda würde schnell genug sein. Ein Gang durch die Schatten und sie würde Derek zeigen, wer hier wem die Kehle aufschlitzte. Ihnen allen würde sie das Lachen aus den Gesichtern wischen.

Nataniel und sein Rudel waren so viel menschlicher als diese Versammlung, die es viel zu lange geschafft hatte, ihre Grausamkeiten hinter dem angeblichen Schutz der Menschheit zu verstecken.

Ein Schritt nach vorn. Die Schatten klafften bereits unter Amandas Stiefelspitze und ihr Körper schrie mit ihrer Seele nach Erlösung um die Wette. Sie ließ sich fallen.
 

Das Gewicht seines Körpers hielt Amanda am Boden fest.

Sie spürte seine Hand auf ihrem Mund und konnte sich nur mit allergrößter Gewalt davon abhalten, hinein zu beißen. Es musste seltsam aussehen, wie sie beide bewegungslos im Sand unter der leicht schwingenden Schaukel des dunklen Spielplatzes lagen. Seth auf ihr, die flache Hand auf ihren Mund gepresst und sie beide schwer atmend. Nicht zu vergessen die klebrigen Schatten, die wie ein langsam zerfallender Kokon um sie waberten.

Er hatte sie aufgehalten. Nur eine Sekunde länger und sie wäre bei den Gründern gewesen. Wahrscheinlich hätte sie zumindest G2 erwischt – Derek, ihren Ziehvater – und hätte ein ordentliches Blutbad angerichtet, bevor die Wachen sie einfach erschossen hätten. In Amandas Augen hätte sich auch das gelohnt.

Ihre Wut war immer noch so verzehrend, dass sie selbst unter Seths Körper eingeklemmt das Zittern nicht unterdrücken konnte. Am liebsten hätte sich ihre Anspannung in einer Tränenflut entladen und so nah an Seths Körper schien das nicht allein von der Situation herzurühren, der er sie gerade entrissen hatte.

"Ich werde die Hand wegnehmen."

Seine Stimme war weich und warm. Seine Augen schienen mit Amandas Blick verschmolzen zu sein. Dunkelheit, die in ebenso tiefe Dunkelheit blickte.

Unter größter Anstrengung nickte sie ansatzweise und zog zischend die Luft ein, als er sie endlich losließ.

Amanda merkte auf ihrem gesamten Körper, wie er sich vorlehnte, wie die Distanz zwischen ihnen zusammenschrumpfte und sie sogar seinen Geruch einatmen konnte. Seine Lippen schwebten nur Millimeter über ihren.

"Seth, nein. Ich…"

Amanda drehte den Kopf zur Seite und schob Seths Oberkörper von sich weg. Dann war er verschwunden. Das fehlende Gewicht auf ihrem Körper ließ Amanda beinahe erstaunt in die Höhe fahren. Sie sah sich nach ihm um, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Er würde erst wieder auftauchen, wenn sie gegangen war.
 

In Nächten wie diesen, wenn Amanda an so vielen wirren Gedanken zu knabbern hatte, war die Stadt für sie ein Segen.

Mit dem Motorrad raste sie durch die Straßen, schlängelte sich durch den immer noch dichten Verkehr und sah sich als Teil eines wuselnden Ameisenhaufens. Jedem lasteten Probleme auf der Seele. Sie war nur eine unter vielen und das schien ihre privaten Sorgen schrumpfen zu lassen.

Nataniel. Seth. Die Moonleague. Alles schien auf ihren Helm einzuhämmern, bis sich Amanda nicht mehr weiterzufahren traute.

Ihr zielloser Weg hatte sie an den Ort geführt, den sie schon seit Jahren gern zum Nachdenken nutzte. Oder einfach nur, um ungestört vor sich hin zu starren und auf einen Wink des Schicksals zu hoffen.

Die Uferpromenade war gesäumt von Büschen und Bäumen, die eine Allee neben den Lokalen mit einladenden Terrassen bildeten. So nah an den Hochhäusern und doch so weit entfernt vom hektischen Trubel des Alltagslebens, zogen sich viele Touristen und auch Städter hierhin zurück, um sich das Glitzern des Wassers anzusehen, das beruhigende Schlagen der Wellen gegen den Strand.

Amanda mochte es hier, wo der Puls der Stadt bisweilen ganz stillstand, er aber auch nie völlig zum Erliegen kam.

Mit pochenden Kopfschmerzen setzte sie sich auf eine Bank direkt neben einem beleuchteten Springbrunnen und betrachtete den Horizont.

Warum hatte Seth sie abgehalten? Alle Gründer hätten den Tod in diesem Moment verdient gehabt. Amanda hätte es tun können, ohne noch mehr Wandler oder Mitglieder des Untergrunds zu gefährden. Bloß sich selbst. Und das wäre ein kleines Opfer gewesen.

Sie bemerkte gar nicht, wie sich ihre Hand unbewusst auf ihren Bauch legte und beruhigend warm einen Moment dort liegen blieb.
 

***
 

Pünktlich wie ein Uhrwerk erschien Eric bei ihm, um ihn abzuholen.

Sie gaben sich kurz fast schon brüderlich die Hand, wobei Nataniel versuchte, den besorgen Blick zu ignorieren, da er sicherlich so aussah, wie er sich fühlte und trotzdem nichts dagegen tun konnte. Stattdessen erkundigte er sich nach Erics Befinden und wie er mit den Gestaltwandlern hier zurecht kam.

Während der Fahrt schwiegen sie beide. Nataniel musste ehrlich zugeben, dass er nicht nach Amanda fragen konnte. Bestimmt hätte Eric ihm etwas gesagt, wenn etwas passiert wäre, da das aber nicht der Fall war, musste er einfach annehmen, dass es ihr gut ging.

Als sie allerdings bei den Containern ankamen, teilte Eric ihm mit, dass Amanda im Augenblick anscheinend nicht da sei und vermutlich erst spät nach Hause kam. Auf Nataniels Frage hin, wo sie denn sei, konnte ihr Bruder nur die Schultern zucken. Offenbar wusste er selbst nichts Genaueres, weil er nicht hier gewesen war, als sie aufbrach.

Die Enttäuschung darüber ließ sich kaum verbergen, dennoch riss er sich zusammen.

Amandas Bruder bot ihm an, Nataniel seine Unterkunft zu zeigen, aber er lehnte ab, da er lieber auf Amanda warten wollte und während er das tat, bekam er die Gelegenheit mit ein paar städtischen Gestaltwandlern zu sprechen, die ihn ebenso skeptisch musterten, wie er sie.

Kein Wunder, ob Wandler oder nicht, jeder fremde Neuankömmling könnte eine Bedrohung darstellen. Vor allem, wenn man wie ein Alphatier roch und somit natürliche Autorität ausstrahlte. Dass Nataniel hier der einzige mit dieser Veranlagung war, glaubte er nicht, aber bisher hatte er kein anderes Alphatier getroffen.

Schließlich, als es immer später wurde und er sich kaum noch aufrecht halten konnte, wurde er von Eric geradezu dazu genötigt, sich endlich etwas frisch zu machen und dann ins Bett zu gehen.

Wenn Amanda zurückkam, würde er es ohnehin erfahren, da Platz knapp war und er somit bei ihr unterkam. Was er sowieso verlangt hätte.

Mehrere Wochen von seiner Gefährtin getrennt waren Folter genug. Räumliche Trennung war daher mehr als nur unangebracht. Keine einzige Nacht länger, wollte er in einem leeren Bett schlafen müssen.

Endlich alleine, spürte er, wie die ungewohnte Umgebung ihn immer mehr einzuengen drohte, da er aber von Ungeduld und Müdigkeit regelrecht aufgefressen wurde, hielt sich das Gefühl in erträglichem Maße.

Trotzdem hatte er sich nur kurz gewaschen, ehe er ständig in dem viel zu kleinen Raum auf und ab ging. Nicht einmal Amandas Duft konnte ihn trösten, denn ohne sie war es eben nichts weiter, als ein Geruch. Hohl und leer.

Gegen vier Uhr morgens trugen ihn seine bleiernen Beine nicht mehr, weshalb er sich auf das Bett setze, sich bald auch hinlegte und schließlich nach dem ewig langen Tag und der anstrengenden Zeit des Wartens einschlief.

45. Kapitel

Die Sonne ging über dem Meer auf, als Amanda endlich wieder bei der kleinen Containerstadt im Hafen ankam.

Sie war müde und immer noch durcheinander. Etwas besorgt stellte sie fest, dass Seths Motorrad nicht an seinem Platz stand. Aber sie war viel zu müde, um sich Sorgen um ihn zu machen. Sobald er zurück war, würde sie mit ihm reden müssen. Was er hatte tun wollen, als sie auf dem Spielplatz lagen, sollte nicht zwischen ihnen stehen. Immerhin betrachtete Amanda Seth als einen guten Freund. Sie hoffte bloß, dass er akzeptieren würde, dass sie nicht frei war und sie die Freundschaft trotzdem aufrechterhalten konnten. Es hätte sie sehr geschmerzt, ihn zu verlieren.

Mit vor Müdigkeit schlurfendem Gang steuerte Amanda erstmal auf die Duschen zu und wäre beinahe unter dem heißen Wasserstrahl im Stehen eingeschlafen. Glücklicherweise war es nicht weit bis zu ihrem Zimmer und sie war schon gewohnt den Weg in Boxershorts und T-Shirt zurück zu legen. Zu den Zeiten, zu denen Amanda normalerweise ins Bett ging, war niemand mehr auf dem Gang unterwegs. Und selbst wenn, wäre es ihr jetzt vollkommen egal gewesen, wenn man sie in diesem Aufzug gesehen hätte. So sehr hatte sie sich, seit sie hier war, noch nie auf ihr Bett gefreut.

Ihre Augen tränten von dem überwältigenden Gähnen, als sie die unverschlossene Tür zu ihrem kleinen Zimmer aufschob. Sie hätte nichts, was das Stehlen lohnte und hier käme ohnehin niemand auf die Idee, unaufgefordert in ein fremdes Zimmer zu gehen. Diese Tatsache ließ Amanda umso mehr die Stirn runzeln, als sie erkannte, dass ihre Nachttischlampe brannte.

Wie in Zeitlupe setzte sich das Bild vor ihr zusammen.

Der Rucksack auf dem Boden, der an den Schreibtisch gerückte Stuhl. Ein Geräusch aus der linken Seite des Raumes. Sie hatte es wegen ihres angeschlagenen Gehörs beim Eintreten noch nicht wahrgenommen.

Dass sie die Tür nicht zudonnerte, war allein der Tatsache zu verdanken, dass ihr die Knie wegsackten und Amanda sich an der Türklinke festhielt. Ein glückliches Lachen sammelte sich in ihrer Brust, drängte nach oben in ihren Hals und hätte sich am liebsten lautstark an die Luft gekämpft.

Aber Amanda hielt es zurück. So leise sie konnte, schloss sie die Tür, schlich zu dem Bett hinüber und kniete sich davor. Eines von Nataniels Beinen stand noch auf dem Boden, als hätte er sich selbst davon überzeugen wollen, dass er jederzeit aufspringen konnte, wenn Amanda eintraf.

Trotz des leisen Schnarchens konnte sie ihren Augen kaum trauen. Amandas Herz wollte zerspringen vor Freude und klopfte laut in ihrer Brust.

Vorsichtig, als könnte eine falsche Bewegung dafür sorgen, dass Nataniel unter ihren Fingerspitzen zu Staub zerfiel, berührte sie seine Wange.

Er war kühl. Erst jetzt fiel Amanda auf, wie mitgenommen er aussah. Als wäre er krank gewesen oder kämpfte immer noch darum, wieder gesund zu werden. Mit strengem Blick tadelte sie ihn in Gedanken dafür, dass er nicht besser auf sich Acht gegeben hatte. Wobei sie gerade reden musste. Immerhin war sie diejenige, die beinahe ihr Gehör verloren hätte.

Wie fertig und müde er sein musste, bezeugte die Tatsache, dass Amanda es schaffte hinter ihn ins Bett zu klettern, ohne dass er davon aufwachte.

Sie breitete die Decke über ihre beiden Körper und schmiegte sich wohlig an Nataniels Körper. Diesmal war sie sich sicher, dass sie mit der Wärme, die er in ihr auslöste, sie beide warm halten konnte.

Zufrieden küsste sie Nataniel auf den Nacken, schlang ihre Arme um ihn und vergrub ihr Gesicht in seinen Haaren. Sein Geruch war noch gar nicht ganz bis in ihr Gehirn vorgedrungen, da war sie bereits mit einem Lächeln auf den Lippen eingeschlafen.
 

***
 

Zum ersten Mal seit viel zu vielen Tagen, fror er nachts nicht mehr. Ganz im Gegenteil, als es schon längst hell draußen sein musste, spürte er, wie etwas seinen blanken Rücken kühlte. Das gleiche Etwas hatte sich um seinen Oberkörper geschlungen, atmete ihm in den Nacken und verströmte einen so wohltuenden Duft, dass er vor Freude weinen könnte.

Nataniel fürchtete sich, die Augen zu öffnen, als könne das alles nur ein Traum sein. Weshalb er vorsichtig und jederzeit damit rechnend, dass die Hand, die er mit seiner umschloss, verschwinden könnte, als er seinen Daumen darüber streicheln ließ. Langsam hob er sie an, legte sie an seine Lippen und sog tief die Luft ein. Sofort begann sein Herz zu rasen, sein Puls beschleunigte sich und sein Stoffwechsel sprang unverkennbar wieder zu alten Höchstleistungen an, weshalb wohl auch die Wärme in seinen Körper zurückkehrte, als hätte er bis dahin nur noch auf Sparflamme funktioniert. Und im Grunde war das genau der Fall gewesen.

Zitternd vor Glück legte er Amandas Hand eine Weile auf sein heftig pochendes Herz. Spürte ihre ruhige Atmung im Nacken, was ihm sagte, dass sie wohl noch schlafen musste. Vielleicht war das der Grund, weshalb er noch eine Weile so dalag und einfach nur versuchte, mit jeder Faser seines Körpers zu spüren, wie ihr Körper an seinem geschmiegt da lag. Doch schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er erkannte ihren Geruch, die Weichheit ihrer Haut, aber er musste sie sehen, um es wirklich glauben zu können. Weshalb er sich vorsichtig zu ihr herum drehte und mit fest zusammen gepressten Lippen auf ihr schlafendes Gesicht herabblickte.

Sie war es wirklich!

Selbst auf die Gefahr hin, sie zu wecken, umschlang er ihren Körper mit seinen Armen und zog sie eng an seine nackte Brust. Mit geschlossenen Augen, inhalierte er den Duft ihrer Haare, während er das vertraute Gefühl ihres Körpers an sich genoss.

Er war wieder vollständig. Er war wieder bei ihr. Nie, nie wieder wollte er sie jemals wieder verlassen. Noch einmal wollte er diese Qualen nicht durchleiden müssen. Noch einmal wollte er nicht das Gefühl, als hätte man ihm das Herz heraus gerissen, so deutlich Tag für Tag spüren und doch, wüsste er, dass sie wieder zu ihm kommen würde, er würde es ertragen. Immer wieder. Solange es sein musste.

„Ich liebe dich.“, hauchte er mit zittriger Stimme, während seine Hände über ihre Haut streichelten, als könne er es immer noch nicht fassen. Das würde wohl noch eine ganze Weile dauern, bis er den Schock des Verlusts überwunden hatte. Aber er war bereit, darauf zu warten.
 

Eigentlich hätte sie sofort hellwach sein sollen, als Nataniel sie in seine Arme zog. Aber die Erlebnisse der letzten Nacht und wohl auch sein beruhigender Duft und seine Wärme, ließen Amanda die Umarmung einfach nur genießen und sich noch gemütlicher an seinen Körper schmiegen.

"Liebe dich auch, Schmusekater.", nuschelte sie an seine Halsbeuge und tauchte für eine Weile wieder in die erholsame Traumwelt zurück.
 

Er musste geduldig gewartet haben oder war auch noch einmal eingeschlafen. Amanda wachte mit einem Glücksgefühl auf, das sich eigentlich in einem Strahlen ihres gesamten Körpers hätte spiegeln müssen. Nataniel hielt sie so fest, dass sie sich nur mit sanfter Gewalt hätte befreien können. Aber darauf würde sie dankend verzichten. Immerhin hätte sie am liebsten den ganzen Tag in seinen Armen und hier im Bett verbracht.

Unter ihrem Kuss auf seinen Hals bewegte er sich leicht und ließ seine Umarmung ein wenig lockerer werden. Seine eisblauen Augen ließen Amandas Herz so schnell schlagen, dass ihr schwindelig davon wurde. Mit einem spitzen Freudenschrei rollte sie sich auf ihn, schlang Arme und Beine besitzergreifend um Nataniels Körper und drückte ihm einen Kuss auf, der all jene enthielt, auf die sie in den letzten Wochen hatte verzichten müssen. Kein Wunder, dass sie sich schwer nach Luft schnappend erst nach einer Weile von ihm löste.

"Hi.", sagte sie grinsend, während sie sich ein wenig aufrichtete, ihn aber keinen Augenblick aus den Augen ließ.

Der tadelnde Blick kostete sie wirklich Überwindung. Neckend kniff sie Nataniel in die Seite. Selbst in der kurzen Zeit war er dünn geworden.

"Hab ich dir nicht gesagt, dass du essen sollst? Vielleicht hätte ich dir auch zu Schlaf raten sollen, hm?"
 

Der Kuss an seinem Hals weckte ihn erneut, nachdem er vor Erschöpfung und Glückseligkeit noch einmal eingeschlafen war, woraufhin er sich etwas zurückzog, um Amanda ansehen zu können.

Aber schon einen Moment stieß sie einen freudigen Laut aus und warf sich auf ihn. Er hatte keine Chance, als sich ihre Glieder um ihn wanden, als wollte sie ihn damit fesseln. Ein Kuss und es fühlte sich so an, als hätten sie sich nie voneinander getrennt. Obwohl er noch stärker seinen Anspruch auf sie spürte, erst recht, da sie kaum noch nach ihm roch.

Nataniel legte seine Arme um sie, zog sie enger an sich heran und erwiderte den Kuss, als würde ihr Leben davon abhängen. Er wollte sie gar nicht los lassen, selbst als seine Lungen vor Sauerstoffmangel brannten. Aber Amanda war eindeutig die Stärkere und schaffte es somit sie beide vor dem Erstickungstod zu retten.

Keuchend blickte er zu ihr auf. Seine Augen strahlten, während sein Herz regelrecht vor lauter Liebe für diese Frau überfloss.

„Hi, auch.“

Er lächelte zurück und berührte zärtlich Amandas Wange.

„Tja, hättest du wohl früher sagen sollen und das mit dem Schlaf wäre auch eine super Idee gewesen. Aber wehe du denkst daran, es nächstes Mal besser zu machen. Weil es kein nächstes Mal geben wird. Klar?“

Nataniel wurde ernst. Er schlang seine Arme wieder um sie und hob seinen Oberkörper vom Bett auf, so dass er sein Gesicht an ihre Brust schmiegen konnte, während sich seine Hände in das T-Shirt krallten.

„Bitte, lass mich nie wieder alleine.“, flüsterte er leise gegen ihren Körper, während der seine wieder heftig zu zittern anfing.

„Noch einmal ertrage ich das nicht.“

Wäre er ein Mensch, vielleicht hätte er seine Gefühle besser verbergen können. Aber da er das nicht war, gab es auch nichts, was er verheimlichen könnte.
 

Was war sie froh, dass er wieder so viel mehr Körperwärme ausstrahlte, als sie selbst. Sein kühles Gesicht letzte Nacht war wirklich besorgniserregend gewesen. Aber es ging ihm gut. Zumindest soweit Amanda sehen konnte.

Als er seinen Kopf an ihre Brust lehnte und sie darum bat, ihn nie mehr allein zu lassen, lag Amanda nichts ferner, als seine Sorgen mit einem Scherz zu beantworten, was sie wohl bei jedem Anderen getan hätte. Dass es Nataniel in ihrer Abwesenheit schlecht ergangen war, konnte niemand übersehen.

"Ich verspreche es dir.", sagte sie deshalb leise und meinte jedes Wort Ernst.

Eine Weile hielten sie sich so aneinander fest. Amanda kraulte Nataniels Nacken und genoss seine Wärme, bis sie einen kurzen Blick auf die Uhr auf ihrem Schreibtisch warf. Es war schon kurz vor Mittag und sie sollte sich unbedingt bei den Anderen melden, um zu besprechen, was sie gestern bei der Versammlung in Garten von Derek mitbekommen hatte.

Mehr als widerwillig löste sich Amanda ein Stück von Nataniel und drückte ihm noch einen Kuss auf, bevor sie aufstand.

"Ich muss leider aufstehen."

Ein Kuss musste noch sein, bevor sie sich ihre Klamotten schnappte und begann sich anzuziehen.

"Aber wenn wir uns beeilen, ist noch ein ausgedehntes Mittagessen drin, bevor die Besprechung anfängt. Was meinst du?"
 

Auch wenn sie das Versprechen vielleicht nicht halten konnte, er war unendlich froh, dass sie es ihm gab. Es nahm ihm viel von seiner Sorge, doch noch einmal von ihr getrennt zu sein und mehr brauchte er im Augenblick auch nicht.

Natürlich musste nicht nur sie aufstehen, sondern auch er und damit er ihr gleich beweisen konnte, dass er sich an die Anordnung mit dem Essen gehalten hatte, könnte er ihr beim Mittagessen durchaus seinen Willen vorführen. Außerdem hatte er gewaltigen Hunger und wie sich ein paar Tage Fasten auf ihn auswirkte, sah man an seinen locker sitzenden Kleidern. Gerade weil er auch ein Jaguar war, brauchte er immer eine gewisse Anzahl von Kalorien am Tag, sonst verlor er schnell an Kraft und Gewicht. Aber manchmal ging Essen einfach nicht. In Amandas Anwesenheit würde es dafür umso leichter werden. Also zog er sich mit ihr an und folgte ihr, während er versuchte, sich alles einzuprägen, um so schnell wie möglich eine Orientierung zu haben.
 

In dem winzigen Speiseraum war nicht viel los. Die Meisten waren noch unterwegs und würden erst gegen eins zum Essen kommen, so wie Amanda normalerweise auch. Aber eigentlich war sie ganz froh, dass sie mit Nataniel beinahe allein hier sitzen und seine Anwesenheit genießen konnte. Außerdem hing ihr der Magen schon regelrecht in den Kniekehlen.

Heute stand wie immer Salat, aber auch Fisch oder Fleisch mit Kartoffeln oder anderen Beilagen auf dem Programm. Als Amanda sich die Portion auf ihrem eigenen Teller besah, musste sie feststellen, dass sich Nataniels Appetit wohl auf sie übertragen haben musste. Schmunzelnd und mit einem leichten Schulterzucken setzte sie sich an den ersten Tisch neben der Ausgabetheke und sah Nataniel dabei zu, wie er sich sein Mittagessen auf den wohl viel zu kleinen Teller lud.

Sie ließ ihm Zeit sich zu setzen, bevor sie einen offiziellen Ton anschlug.

"Ist mit dem Rudel alles in Ordnung?"

Natürlich nahm sie nicht an, dass Nataniel die Anderen verlassen hätte, wenn dem nicht so wäre. Aber ein paar gute Nachrichten täten gerade ziemlich gut. Noch dazu, weil gerade einer von Amandas Sorgen den kleinen Raum betreten hatte. Sie verspannte sich leicht und versuchte zumindest freundlich zu lächeln. Seth schnappte sich nach einem Blick auf sie und Nataniel nur ein Sandwich und verließ mit großen Schritten den Raum.

Verdammt. Das würde schwieriger werden, als Amanda vermutet hatte. Immerhin würden sie sich nachher bei der Besprechung gezwungenermaßen im gleichen Raum aufhalten müssen. Und sie brauchte Seth nun mal für den Einsatz, der im Hauptquartier der Moonleague geplant war.
 

In dem winzigen Speisesaal war nicht sehr viel los, wofür er dankbar war. Wäre der Raum auch noch voll gewesen, er hätte wirklich Platzangst bekommen. So aber konnte er sich mit einem Berg von Essen auf einen leeren Stuhl direkt gegenüber von Amanda setzen. Das machte das Reden leichter und so hielten ihre Beine ständig Körperkontakt zueinander. Etwas, das für ihn gerade nach der langen Trennung verdammt wichtig war.

Gerade als Nataniel auf Amandas Frage antworten wollte, bekam er zwei Dinge gleichzeitig mit. Erstens wehte ein fremder Geruch zu ihm herüber, was ihm zusammen mit den leisen Schritten sagte, dass jemand hinter ihm den Raum betreten hatte und zugleich straffte sich Amandas Körper leicht, aber für ihn, der heute seinen Blick nicht von ihr brachte, deutlich ersichtlich.

Als er sich zu dem Mann herum drehte, konnte er nur noch dessen Rücken sehen, als er den Raum verließ. Danach sah er wieder Amanda an, verkniff sich aber jede Frage.

Wenn es etwas zu sagen gäbe, würde sie es bestimmt tun. Insofern vertraute er ihr vollkommen. Also fuhr er unbeirrt fort: „Dem Rudel geht es gut. Palia ist wirklich eine fähige Assistentin. Alle möglichen Schutzmaßnahmen, die wir treffen konnten, stehen. Es dürfte also keinem etwas passieren und wenn, erfährt es sofort das ganze Rudel und kann entsprechend reagieren. Aber…“

Nataniel ließ den Blick auf sein Essen sinken und auch die Gabel mit dem Kartoffelstück legte er auf dem Tellerrand ab.

Noch immer hatte er das Feuer vor Augen, dem sie Niela übergeben hatten. Sie war noch so verdammt jung gewesen und obwohl es gerade in diesen schlechten Zeiten geradezu eine gute Nachricht war, nur ein Rudelmitglied verloren zu haben, so war es eines zu viel. Die Gefahr eines weiteren Verrats mochte vielleicht gebannt sein, aber eigentlich war Nataniel dieses junge Leben wichtiger, als das Gefühl der Sicherheit. Gerade als Rudelführer spürte er den Verlust deutlicher, als alle anderen. Noch dazu, weil Niela keine Familie gehabt hatte, die wegen ihr trauern würde. Es schien ihm eher so, als würde das Alphatier in ihm, diese Rolle übernehmen.

Schwermütig seufzte er schließlich und zwang sich zum Weitersprechen.

„Niela ist tot. Die Moonleague hat sie geschnappt, gefoltert und vermutlich als Warnung für uns alle am Rande des Naturschutzgebiets abgeladen. Einer von unseren Leuten hat sie erst nach Tagen gefunden. Da war es aber bereits zu spät, um noch etwas für sie tun zu können. Vorgestern haben wir sie dem Feuer übergeben.“
 

Sofort als Nataniel seine Gabel auf dem Teller ablegte und dieses schwerwiegende 'Aber' aussprach, war Amanda ganz Ohr. Der sorgenvolle Seufzer konnte nur Schlimmes bedeuten und seinen traurigen Augen sah Amanda an, dass es Nataniel ziemlich berührt hatte.

Als er mit seinem kurzen Bericht zu Ende war, tat es Amanda Leid, dass sie die junge Jaguardame bis zu diesem Moment regelrecht aus ihren Gedanken verdängt hatte. Seit ihrem winzigen Zusammenstoß bei der Feier hatte sie Niela nie wieder gesehen und wäre nie auf die Idee gekommen, dass ihr etwas Derartiges zustoßen könnte.

Amanda streichelte Nataniels Hand. Auch wenn sie Niela nie wirklich gekannt oder ihr eine Chance gegeben hatte, sie zu mögen, war sie doch ein Rudelmitglied gewesen. Für Nataniel so etwas wie Familie. Und dass auch noch die Moonleague an ihrem Tod Schuld war, ließ die Sache noch schwerer wiegen.

"Es tut mir leid."

Unfähig mehr dazu zu sagen, sah Amanda Nataniel nur stumm an. Eine Vermutung stieg in ihr hoch, die Amanda aber nie aussprechen würde. Es gab nicht viele Erklärungen dafür, wie die Organisation nach dem Umzug des Rudels in das neue Lager an Niela heran gekommen sein könnte. Aber das war jetzt nicht mehr wichtig.

"Wir haben ein Nebenlager der Moonleague ausgehoben.", versuchte sie etwas zu berichten, das Nielas Tod nicht ungeschehen machen konnte, aber zumindest herausstellte, dass sie nicht umsonst gestorben war.

"Es hat zwar nicht alles so geklappt, wie wir es und ausgemalt hatten, aber Seth und ich haben ein paar wichtige Codes beschaffen können. Mit denen werden wir die Dateien im Hauptquartier knacken und das Rückgrat der Organisation endlich brechen können."

Dass sie gestern Nacht die Zerstörung der Köpfe der Moonleague beinahe selbst übernommen hätte, ließ Amanda unerwähnt. Das und vor allem auch was danach geschehen war, brauchte Nataniel nicht zu wissen.

Würde Amanda auch nur einen Hauch mehr als Freundschaft für Seth empfinden, wäre es anders gewesen. Dann hätte sie jegliche Geschehnisse zwischen ihnen beiden nicht verschwiegen. Aber so sollte es nur ihr persönliches Problem bleiben. Und Amanda hoffte inständig, dass es Seth nicht zu einem Problem zwischen sich und Nataniel machen würde.

Erschrocken fuhr Amanda zusammen, als hinter ihr jemand einen Stuhl zur Seite schob. Dass der Mann links von ihr aufgestanden war, hatte sie nicht hören können. Etwas versonnen fuhr sie sich mit den Fingern über ihr linkes Ohr. Es pfiff inzwischen ganz leise, was Amanda als gutes Zeichen wertete. Immerhin hatte es auch so angefangen, bevor sie ihr rechtes Ohr wieder benutzen konnte.
 

Amandas Ablenkung half, auch wenn er es nicht besonders gut aufnahm, dass sie eine Aktion gestartet hatte, ohne dass er davon wusste. Aber da sie vor ihm saß, schien trotz der Probleme wohl alles gut gelaufen zu sein. Und das war doch wohl das Wichtigste.

„Warst du deshalb gestern so lange weg? Wegen der Codes?“, fragte er sie, bevor Amanda erschrocken zusammen fuhr, was er nicht ganz nachvollziehen konnte. Etwa wegen dem Mann der aufgestanden war? Den musste sie doch schon längst bemerkt haben.

Skeptisch verfolgte er ihre Geste, wie sie sich über ihr linkes Ohr strich.

„Amanda, sei ehrlich. Stimmt etwas nicht?“, fragte er, nachdem er seiner Intuition folgte, die bei ihm alle Alarmglocken schrillen ließ.

Sofort begann er sie sich gründlicher anzusehen. Sie sah auch etwas abgekämpft aus, aber ansonsten konnte er nichts Unauffälliges entdecken. Allerdings war nicht klar, ob sie vielleicht etwas unter der Kleidung verbarg. Wenn ja, würde er das sicherlich noch raus bekommen. Sie waren nicht ewig auf den Beinen und irgendwann würden sie auch wieder ins Bett gehen können. Überhaupt hatte er noch so Einiges nachzuholen, bis er wieder vollkommen ruhig sein konnte, was sie betraf.
 

Sofort nahm Amanda ihre Hand von ihrem Ohr und sah Nataniel etwas schuldbewusst an.

"Nein, das mit den Codes ist schon ein paar Tage her. Das war an dem Tag, als ich dir auf die Mailbox gesprochen hatte."

Eigentlich hatten sie sich danach gar nicht mehr gesprochen. Schon seltsam, dass die Zeit so schnell vergangen zu sein schien. Das mochte allerdings auch daran liegen, dass Amanda ein paar Tage auf der Krankenstation und dann in ihrem Zimmer hauptsächlich geschlafen hatte.

Ihr entging Nataniels prüfender Blick nicht. Sie hatte ihm das mit ihren Ohren sowieso nicht verschweigen wollen, aber dass sie so bald auf das Thema kamen, war ihr nicht wirklich recht.

"Es ist nicht so schlimm."

In einer leichten Geste winkte sie lächelnd ab, was bei Nataniel allerdings keinerlei Reaktion hervorrief.

"Wie gesagt, ist die Aktion nicht ganz so gelaufen, wie wir es geplant hatten. Es gab eine Explosion und Seth und ich sind ein wenig zu spät rausgekommen. Ich hatte mein Gehör für einige Zeit verloren, aber jetzt ist es nur auf der linken Seite noch etwas belegt. Das gibt sich bestimmt bald wieder."

Ob sie mit ihrem schnellen Redeschwall bewirkt hatte, dass Nataniel sie entweder nicht verstand oder ihm egal war, was passiert war, bezweifelte Amanda stark. Mit tapferem Lächeln wartete sie auf seine Reaktion, während sie ihre Gabel zwischen den Fingern hin und her drehte und die Kartoffeln auf dem Teller herum schob.
 

Als er diesen ganzen Haufen von neuen Informationen um die Ohren gehauen bekam, blieb ihm fast das Herz für einen Moment stehen. Statt Amanda deswegen nur entgeistert anzustarren, wurde sein Blick regelrecht dunkel und seine Pupillen weiteten sich etwas. Irgendwie konnte er nicht fassen, was er da hörte.

Explosion? Gerade noch so davon gekommen? Amandas Gehör hatte gelitten? Sonst noch was, oder durfte er sich von diesen Schlägen erst einmal erholen?

Erst als die Zinken seiner Gabel über den Teller kratzten, wurde ihm bewusst, dass er sie mit dem Daumen vollkommen verbogen hatte, so angespannt war sein ganzer Körper und das tiefe Knurren in seinem Brustkorb machte es auch nicht besser.

Doch anstatt sofort das zu sagen, was ihm eigentlich schon regelrecht von der Zunge zu springen drohte, senkte er den Blick und bog sein Besteck wieder gerade. Danach legte er es zur Sicherheit gleich ganz weg. Der Appetit war ihm ohnehin vergangen. Außerdem hatte er so wenigstens ein paar Sekunden Zeit gehabt, sich etwas anderes zu überlegen, was er dazu sagen könnte.

„Geht es dir sonst gut?“, fragte er schließlich mit so ruhigem Tonfall wie möglich, aber es war nicht nur Sorge, die in seiner Stimme mitschwang. Gegen den rauen Unterton konnte er grundsätzlich nichts tun.

Verdammt noch mal, sie war seine Gefährtin! Selbst wenn sie nur einen Kratzer in seiner Abwesenheit abbekam, würde er schon deswegen an die Decke gehen. Das war einfach ein angeborener Instinkt, der sich gerade in diesem Augenblick nur sehr schwer hinunter schlucken ließ. Daher glich es führ ihn schon einer Meisterleistung, dass er noch so ruhig auf seinem Stuhl sitzen blieb.

„Wenn das mit den Codes schon ein paar Tage her ist, wieso warst du dann gestern solange weg, oder gehört das zu deinem Tagesablauf?“

Auch diese Frage stellte er so unschuldig wie möglich, obwohl er sich dem Gedanken nicht erwehren konnte, dass seine Frage mehr als nur berechtigt war. Immerhin, wenn sie wirklich verletzt worden war, sollte sie sich doch schonen, oder etwa nicht?
 

Amanda war nicht sicher, gegen wen sich Nataniels Wut in diesem Moment genau richtete. Aber dass er ein wenig außer sich war, konnte man an dem verbogenen Besteck ablesen, das er gerade in sicherer Entfernung ablegte. Und das Knurren war ihr ebenfalls nicht entgangen.

"Ja, mir geht's gut. Keine weiteren Verletzungen. Und wenn es wirklich schwerwiegend gewesen wäre, hätte sich jemand deswegen bei dir gemeldet."

Sie hatte doch bloß nicht gewollt, dass er sich unnötig Sorgen machte. Immerhin hatte sie gerade vor ein paar Minuten erfahren, dass er mit seinem Rudel und Niela mehr als genug um die Ohren gehabt hatte. Da wäre Amandas Unfall bloß noch ein Stein mehr auf seiner Seele gewesen. Außerdem hatte sie sich schon nach ein paar Tagen wieder erholt. Kein Grund also, deswegen jetzt auszuflippen.

Genauso ruhig wie Nataniel begann Amanda auf seine zweite Frage zu antworten. Sie wollte so ehrlich wie möglich zu ihm sein, ohne ihn aber noch weiter aufzuregen. Bilder von der Gartenparty, von Seth, der auf ihr lag und wie sich sein Gesicht auf sie zu bewegte, blitzten in Amandas Geist auf. Die Verwirrung in ihr nahm wieder zu und gleichzeitig brannte wieder ein wenig der Wut in ihr hoch, die sie in der letzten Nacht verspürt hatte, bevor Seth sie davon abhielt, sich in die Schatten zu werfen und ein Blutbad anzurichten.

"Gestern Nachmittag saß ich bei Clea und habe mir die Meldungen von Moonleague-Aktivitäten angesehen. Genau zu dem Zeitpunkt schien ein Treffen im Villenviertel vorzugehen. Ich kannte das Haus."

In einer kleinen Pause überlegte Amanda, wie sie die folgenden Sätze formulieren sollte. Es war eine regelrechte Kurzschlussreaktion gewesen, zu dem Treffen zu fahren. Sie hatte noch nicht einmal gewusst, ob es sich überhaupt lohnen würde oder ob sie am Ende in eine Falle hinein rannte.

"Die Gründer der Organisation waren versammelt. Wir konnten ein wenig ihrer Unterhaltung belauschen."

Frustrierender Weise war nicht viel dabei herausgekommen.

Halb nervös, halb peinlich berührt, weil ihr diese Tatsache jetzt erst auffiel, strich sich Amanda eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr.

"Sie wissen nicht, dass ich hier bin. Einige nehmen an, dass du oder jemand Anderes aus dem Rudel mich getötet hat. Was immerhin gute Nachrichten sind. Sie nehmen die Bedrohung aus dem Untergrund keinesfalls ernst."

Amandas Augen zogen sich aus Wut zu engen Schlitzen zusammen. Sie hätte diese Bastarde erledigen können.

"Wir werden völlig überraschend über sie hereinbrechen und sie fertig machen." Ihre Stimme war so leise und dabei schneidend geworden, dass sie keinesfalls verhehlen konnte, wie viel Emotionen in Amanda hoch kochten. Warum hatte Seth sie abgehalten?! Dafür schuldete er ihr noch eine verdammt gute Erklärung!
 

Nataniel war es egal, ob es keine schwerwiegenden Verletzungen waren, er hätte gerne davon erfahren, dass sie überhaupt verletzt worden war. Natürlich hätte er deshalb nicht alles stehen und liegen lassen können, aber … aber er hätte es einfach wissen wollen. Insofern war er noch immer aufgebracht, was sich aber bei Amandas weiteren Worten legte.

Seltsamerweise wurde er immer ruhiger, je aufgebrachter sie selbst zu sein schien. Was auch immer genau dort in dem Villenviertel vorgefallen war, es musste sie aufgewühlt haben. Dabei war es doch eine ziemlich gute Nachricht, wenn man sie für tot hielt und den Untergrund nicht ernst nahm. Das konnte nur zu ihrem Vorteil sein, auch wenn der Gedanke absolut absurd war, er oder das Rudel könnten ihr etwas getan haben. Aber das konnte diese verdammte Organisation natürlich niemals nachvollziehen.

„Ja, das werden wir.“, gab er ihr beruhigend Recht, damit sie sich nicht mehr so aufregen musste. Obwohl er gerade selbst fast an die Decke gegangen wäre. Aber wenigstens einer von ihnen beiden, sollte immer kühlen Kopf bewahren. Was passierte, wenn sie gleichzeitig auf Touren kamen, kannten sie ja. Dann endete es in einen dicken Streit der wiederum in einer noch engeren Bindung endete. Zumindest war es so gewesen, bevor er sie als seine Gefährtin angesehen hatte. Jetzt konnte es unmöglich eine noch engere Verbindung zu ihr geben. Das hielt er für ausgeschlossen.

„Allerdings wirst du mich dafür noch über so einiges informieren müssen. Ich hab gestern zwar schon mit einigen Gestaltwandlern geredet, aber wie wir weiter vorgehen wollen, hat man mir nicht gesagt. Was mich nicht ganz wundert. Keiner kennt mich hier, außer Eric und du.“

Was ihm wieder das Gefühl gab, völlig fehl am Platz zu sein. Die Stadt war wirklich nichts für ihn und obwohl er es früher niemals geglaubt hätte, fühlte er sich irgendwie unsicher, so ganz ohne sein Rudel. Wäre Amanda nicht, er hätte nicht wirklich genügend Gründe, um hier zu sein.

„Also, was denkst du. Können wir schon zu der Besprechung gehen, oder sind wir zu früh?“

46. Kapitel

Dass ihn niemand kannte, änderte sich sobald Nataniel und Amanda den Besprechungsraum betraten. Eric kam sofort auf die beiden zu und besah sich Amanda von oben bis unten, was ihr ziemlich unangenehm war. Immerhin fragte er sie nicht über die vergangene Nacht aus. Darüber würde sie sowieso in ein paar Minuten berichten.

Amanda stellte die Anwesenden im Raum vor. Clea war an diesem Tag ganz sie selbst und wie Amanda sie schon immer kannte. In Pink und andere knallige Farben gehüllt, mit bunten Haargummis und Hello Kitty-Ohrringen, die zu allem Überfluss auch noch blinkten, wenn Clea ihren Kopf bewegte.

Dann war da noch Francy, deren Augen interessiert über Nataniel schweiften und wahrscheinlich sofort bemerkten, dass sie es mit einem Wandler zu tun hatte. Dann waren da noch zwei andere Wandler und eine ehemalige Sammlerin, mit denen Amanda aber selbst nur seit ihrer Ankunft etwas zu tun gehabt hatte. Einer fehlte. Aber das war ihr eigentlich ganz Recht so. Dann konnte sie das direkte Zusammentreffen zwischen Seth und Nataniel noch ein wenig hinauszögern. Da er ohnehin alles mitbekommen hatte, was im Villenviertel passiert war, konnten sie getrost ohne ihn anfangen.

Amanda fasste kurz aber etwas ausführlicher als zuvor am Mittagstisch die Erkenntnisse der letzten Nacht zusammen. Die Gründer waren der festen Meinung, von niemandem bedroht zu werden oder auch nur Gegenwehr erwarten zu müssen. Schon an der einzelnen Wache bei dem Treffen war das deutlich geworden. Alle waren sich darüber einig, dass das nur als gutes Zeichen gewertet werden konnte.

Nachdem also die kleine Aktion vom Tisch war, ließ Clea wieder eines ihrer Hologramme aufleuchten. Diesmal von der Zentrale der Moonleague.

Die virtuelle Skizze war genauso gut wie die des Gebäudes, in dem sie die Bombe hatten hochgehen lassen. Dafür wurde Clea auch von Eric gelobt. Diesmal ohne jeglichen Seitenhieb das Fehlen der Fenster betreffend.
 

Endlich lernte er einmal diese Clea kennen, die von den Interessen her sicher super zu Sven gepasst hätte. Allerdings müsste ihr dann der Größenunterschied nichts ausmachen. Sie war eindeutig größer als der Fischotter. Aber das schaffte man bei seinem Freund auch ganz schön leicht.

Francy kannte er noch nicht, wusste aber sofort, dass sie eine Gestaltwandlerin war. Mit den beiden anderen Wandlern hatte er gestern schon kurz gesprochen, weshalb er ihnen nur zunickte. Auch die letzte anwesende Frau war ihm gänzlich fremd, aber alleine der Geruch sagte ihm, dass sie rein menschlich war. Auch wenn sie wie Amanda verborgene Fähigkeiten haben könnte, die er erst wittern konnte, wenn sie sie einsetzte.

Nachdem er sich neben Amanda gesetzt hatte, begann sie noch einmal ausführlicher über den gestrigen Abend zu sprechen. Danach übernahm Clea und alle Aufmerksamkeit richtete sich auf sie.
 

"Wir haben bis jetzt nicht bedacht, dass sie gestern alle nur bravouröses Theater gespielt haben könnten."

Amanda zuckte unter der warmen, dunklen Stimme regelrecht zusammen. Sie hatte ihn nicht hereinkommen hören. Jetzt versteifte sich ihr Körper und sie presste angespannt die Lippen aufeinander.

Seths dunkle Augen schweiften zwischen den Anwesenden hin und her, blieben aber letztendlich auf Amandas Gesicht hängen.

"Unser Angriff und der Diebstahl der Codes kann ihnen nicht entgangen sein. Wir haben mehr Aufsehen erregt, als sie ignorieren können."

Ob er sich bei seiner kleinen Rede absichtlich im Dunkeln hielt, konnte Amanda nicht sagen. Aber es war ihr ganz Recht, dass der Tisch zwischen ihnen lag. Ob sie es zugeben wollte oder nicht, nach der Aktion gestern Nacht, machte sie Seths Anwesenheit sogar fast so nervös wie am Anfang.

"Was sollte dann die mehr oder weniger unbewachte Party gestern Abend?", wollte Eric ohne den leisesten aggressiven Unterton wissen. Aus ihm sprach reine Neugier.

"Ich nehme an, dass sie uns in Sicherheit wiegen wollen. Was sie ja auch beinahe geschafft hätten."

Gleich würde Amanda ihm zeigen, was sie von seinem herablassenden Tonfall hielt. Sie hatten also ihre selbstverliebte Art nur vorgespielt? Da kannte Seth die Gründer aber schlecht. Konnte er sich nicht mehr an den Moment erinnern, als er gekennzeichnet worden war?

"Wenn sie von uns wüssten. Oder sich über unsere Zahl und unsere Mittel im Klaren wären, würden sie keine Spielchen mit uns spielen." Amanda klang autoritär. Sie musste noch nicht einmal aufstehen, um ihren Status klar zu machen. Sie war diejenige, die sich mit den Strukturen der Moonleague auskannte. Seth hatte die Organisation nur einmal kennen gelernt und zwar in Form von Amanda und einer Gruppe Sammler Klasse 5, die ihn festgesetzt und ihm das Registrierungstattoo verpasst hatten.
 

Nataniel nahm den Geruch wahr, den er im Speisesaal schon gewittert hatte. Allein wie Amanda auf den Mann reagiert hatte, ließ ihn den Geruch nicht vergessen. Trotzdem zuckte auch er zusammen, als er eine ihm unbekannte Stimme hörte. Obwohl es eher Amandas heftige Reaktion war, die ihn erschreckt hatte.

Verwirrt über ihr Verhalten drehte er sich ebenfalls wie alle anderen herum und musterte den Mann mit den blonden Haaren und den tiefschwarzen Augen von oben bis unten. Gerade die Augen fand er verdammt beunruhigend und zu gleich hatte er das Gefühl, als würden sie ihm bekannt vorkommen. Auch deshalb fiel ihm der beißende Beigeschmack auf, weil er nun den Geruch länger als nur einen kurzen Luftzug lang wittern konnte.

Sofort verkrampfte sich sein Körper.

Schatten…

Ungefähr so, aber noch viel stärker roch Amanda, wenn sie durch die Schatten gegangen war und diese noch an ihr klebten.

War der Kerl etwa auch ein…

Unwichtig. Im Augenblick wäre es besser, wenn er sich auf das Gesagte konzentrierte, denn, obwohl er es nur sehr ungern zu gab, der Typ hatte in gewisser Weise Recht. Es war schon merkwürdig, dass der Untergrund vor ein paar Tagen die Codes mit einem gewaltigen Feuerwerk geklaut hatte, darüber aber bei den führenden Personen kein Wort verloren wurde. So dämlich konnten doch selbst die nicht sein, oder?

Bei Amandas Tonfall richtete er seinen Blick wieder auf sie. Ihre Ausstrahlung hinterließ ein Prickeln in seinem Nacken, als spüre er regelrecht die Emotionen in ihr. Ein Grund mehr, eigentlich die Klappe zu halten, weil er hier so neu wie kein anderer war. Aber da war etwas zwischen dem Blonden und seiner Gefährtin, das ihn mehr als nur beunruhigte. Er konnte nicht genau sagen, was es war, aber die Spannung konnte doch nicht nur wegen der geteilten Meinung so deutlich in der Luft liegen.

„Ich weiß, ich bin erst seit gestern hier und kann vermutlich gar nicht mitreden.“, begann er in ruhigem Tonfall, um die Stimmung nicht noch mehr aufzuheizen.

„Aber wenn diese Typen wirklich glauben, uns damit in Sicherheit gewiegt zu haben, dann sind wir doch zumindest darauf vorbereitet. Außerdem hatte hier doch wohl ohnehin keiner angenommen, dass die Sache ein Spaziergang werden würde. Wozu sonst die ganzen Vorbereitungen, wenn wir nicht versuchen würden, jedes Risiko auszuschließen?“

Seiner Meinung nach war es nun unwichtig, ob der Typ oder Amanda Recht hatte. Vorsicht war in beiden Fällen geboten.
 

Amanda musste sich im übertragenen Sinne wie auch wörtlich auf die Zunge beißen, um ihre Wut nicht an Nataniel auszulassen. Er wusste nicht, was passiert war. Niemand außer Seth und sie selbst wussten das. Und deshalb würde er auch nicht verstehen können, warum es Amanda so unglaublich gegen den Strich ging, dass Seth die Lage vielleicht besser einschätzte als sie selbst.

Hatte sie sich so irren können? Hatte die Wut über Derek und seine abfällige Äußerung sie so blind machen können? Aber da war nur eine Wache gewesen. Francy hätte vor ihrem etwas übereilten Abgang etwas gesagt, wären da noch Andere gewesen. Warum war Seth so verdammt überzeugt davon, dass er die Szene durchschaut hatte?

Eric rettete Amanda aus ihrer Misere, entweder Nataniel oder Seth in ihrer hilflosen Wut anzufeinden. Gelassen wie immer, schob er die Akten, die vor ihm auf dem Tisch lagen, ein wenig von sich weg und versuchte ihren Plan für alle Anwesenden einfach auseinander zu legen. Entsprechend seinen Ausführungen, ließ Clea die beschriebenen Bereiche der Moonleaguezentrale in ihrem Hologramm aufleuchten. Amanda brauchte dabei gar nicht wirklich hinzusehen. Immerhin kannte sie das Gebäude besser als jedes andere. Auch wenn ihr die letzten Monate gezeigt hatten, dass sich hinter diesen Mauern mehr Geheimnisse verbargen, als sie je geglaubt hatte.

"Ein Zugang zum Hauptcomputer lag in Cleas Arbeitsbereich. Aber nach Amandas Angriff können wir davon ausgehen, dass diese Zugriffsmöglichkeit oder vielleicht sogar der Gebäudeteil absolut unzugänglich gemacht worden ist. Selbst für Seth und Amanda wäre es wohl unmöglich da unbemerkt rein zu kommen."

Am Anfang hatte sie sein ständiges Lächeln gestört. Es war ihr immer so oberflächlich vorgekommen, da Seth nie einen rechten Grund zum Grinsen gehabt zu haben schien. Jetzt, unter dem nichtssagenden, aber dennoch streng wirkenden Blick seiner dunklen Augen, wünschte Amanda sich dieses Lächeln zurück. Sie hatte Seths Gesicht nicht gesehen, als sie seinen Kuss so vehement abgewehrt hatte, aber sie konnte sich vorstellen, dass sie ihn getroffen hatte. Noch dazu war Nataniels Anwesenheit wahrscheinlich eine weitere Prise Salz in die Wunde.

Konzentriert versuchte Amanda Erics Erklärungen zu folgen. Sie sollte sich nicht zu viel Schuld zuweisen. Immerhin musste sie keinen Ehering tragen, um vergeben zu sein. Vielleicht hatte Seth auch nur eine Chance auf ein wenig Vergnügen nutzen wollen und war keineswegs gekränkt. Höchstens sein Ego war etwas angekratzt, weil er nicht bekommen hatte, was er wollte.

"Wir müssen also in das Büro von G1 eindringen. Dort besteht die einzige weitere Verbindung, über die wir die Codes eingeben und sämtliche Daten der Moonleague endgültig löschen können."

Der Plan war simpel. Amanda und Seth würden reingehen, die Codes eingeben und wieder raus sein, bevor die Organisation überhaupt wusste, wie ihr geschah. Ja, alles ganz einfach. Zumindest in der Theorie.

"Francy, hast du mit der Wandlergemeinschaft reden können? Haben sie sich dazu bereit erklärt, ein Ablenkungsmanöver zu starten?"

Wenn sie auf die zahlreichen Gestaltwandler zählen konnten, würden ihre Chancen um ein Vielfaches steigen.

Mit grimmigem Gesichtsausdruck wandte sich Amanda noch einmal Seth zu. Sie beide würden aufeinander angewiesen sein, um das Vorhaben schadlos hinter sich zu bringen. Sie würde mit ihm reden müssen.
 

Eric sei Dank ging hier kein Sturm los, obwohl Nataniel das Gefühl hatte, Amanda müsse gleich explodieren. Zwar zeigte ihr Äußeres kaum eine Veränderung, sah man einmal von dem harten Zug um ihren Mund ab, aber ihre Wut brannte schier in seiner Nase, so aufgebracht war sie und da er direkt neben ihr saß, konnte ihm das unmöglich verborgen bleiben.

Gerade jetzt, wo sie seiner Meinung nach etwas übertrieb, fragte er sich, was es auslöste, das sie so wütend machte. Irgendetwas musste gestern vorgefallen sein. Zwar hatte sie schon in einem ausführlichen Bericht erzählt, worum es gestern gegangen war, aber der war sachlich gewesen. Keinesfalls von ihren eigenen Gefühlen abhängig.

Lautlos seufzend drehte Nataniel sich wieder zu den Gebäudeplänen herum, um auf die Ausführungen zu hören, die sehr wichtig waren, wenn sie eine gelungene Operation hinter sich bringen wollten. Aber dennoch konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, dass es da noch immer Dinge in Amandas Leben gab, von denen er keine Ahnung hatte.

Umso mehr konzentrierte er sich auf die Besprechung, um alle anderen persönlich betreffenden Gedanken auf später zu verschieben. Gerade in den letzten Wochen hatte er auf knallharte Weise lernen müssen, dass man persönliche Anliegen von seinen Pflichten trennte. Alles andere führte unweigerlich in einer Katastrophe. Immer war es ihm zwar nicht gelungen, aber Amanda neben sich zu wissen, erleichterte ihm Vieles. Noch war sie an seiner Seite, auch wenn allein der Gedanke daran, sie würde sich noch einmal in Gefahr begeben müssen, den Panther durchdrehen ließ.

Als das Gespräch auf die Wandler kam, wusste Nataniel bereits, wie Francy antworten würde. Zwar hatte er die Frau bisher noch nie gesehen, aber die Gespräche mit den paar anderen Wandlern, die sich hatten blicken lassen, gaben ihm ein recht ausführliches Bild der Situation. Francy bestätigte den Eindruck also nur noch, als sie so sachlich wie möglich antwortete.

„Es wird auf alle Fälle ein Ablenkungsmanöver geben, allerdings kann ich für die Wirkung keine Garantie geben. Es gibt zu wenige Freiwillige für diesen Einsatz. Die anderen…“

Sie zuckte unsicher mit den Schultern.

Nataniel knirschte mit den Zähnen. Es gab nicht nur zu wenige, sondern auch kaum genug starke Tiere, die eine ordentliche Ablenkung bieten könnten. Wobei hierbei das Motto wohl wirklich zutraf, dass groß und kräftig nicht immer gleichzusetzen mit mutig war.

„Viele von ihnen wollen die Zeit lieber dazu nutzen, endgültig unter zu tauchen.“, begann einer der anderen anwesenden Wandler zu sprechen. Der Mann war ungefähr in Nataniels Alter, groß und mit rötlich blonden Haaren. Man sah ihm nicht an, was für eine Gestalt er verbarg, aber anhand seiner Gesten und Bewegungen, die Art wie er seine Umgebung wahrnahm, ließ auf einen Jäger schließen.

„Sie fürchten die Moonleague und wollen so wenig mit ihnen zu tun haben wie möglich. Außerdem haben sie Angst, dass, wenn die Organisation sie erwischt, auch ihren Familien etwas passiert.“

Das waren alles durchaus begründete Argumente, aber Nataniel stimmte es dennoch nicht glücklich, so etwas zu hören. Sein eigenes Rudel würde sich jederzeit in Gefahr begeben, gerade weil sie um ihre Familien fürchten mussten. Deshalb taten sie das hier ja, damit die Gefahr endlich ein Ende hatte. Aber auch dieses Argument würde nichts bringen. Das wusste er.

Angst und Gefahr mochten Gestaltwandler unterschiedlichster Art vielleicht eine Weile zusammen schweißen, aber es war kein Vergleich zu dem Gefühl einem Clan anzugehören.

„Ich könnte versuchen, mit ihnen zu sprechen.“, bot Nataniel schließlich an, weil er bei dem ganzen nicht mehr hinhören konnte.

„Ich hatte schon das Vergnügen Gast bei der Moonleague zu sein und habe genauso viel zu verlieren wie die Drückeberger.“

Wenn er die Wandler trotzdem nicht überzeugen konnte, würde er sich etwas anderes einfallen lassen.

Er hatte da schon die ein oder andere Idee, auch wenn er nicht gerade begeistert darüber war. Außerdem bräuchte er dazu einen der Wandler, der sich hier in der Gegend schon länger aufhielt und gut auskannte.
 

Bei Francys Antwort wurde Amanda ganz kalt. Sie würden ihnen also nicht helfen wollen? Damit hatte sie als allerletztes gerechnet. Immerhin ging es um die Zukunft der Wandlergemeinschaft, die von der Aufdeckung durch die Moonleague bedroht wurde. Von Nataniels Rudel war Amanda genau die gegenteilige Reaktion auf die Gefahr gewohnt und wunderte sich daher auch nicht, dass er neben ihr das Wort ergriff und anbot, sich in die Verhandlungen mit den Gestaltwandlern der Stadt einzuschalten.

Wie das Rudel, so das Alphatier und umgekehrt. Endlich konnte Amanda wieder in sich hineinschmunzeln. Irgendwie kam ihr Nataniel trotz seines selbstbewussten Auftretens hier in der Stadt und auch in ihrer kleinen Runde ein wenig unzugehörig vor. Und doch ließ er sich keinesfalls entmutigen.

Manchmal schien dieses unerschütterliche Ego tatsächlich sein Gutes zu haben und auch wenn sie sich eher die Zunge abbeißen würde, als es zuzugeben, gefiel Amanda Nataniels relaxter und doch imponierender Auftritt. Sie selbst konnte in einer Gruppe durchaus unbeachtet bleiben, wenn sie es wollte oder für nötig erachtete. Nataniel würde das wahrscheinlich nicht einmal fertig bringen, wenn er sich anstrengte.

"Sehr viel Ablenkung werden wir nicht brauchen. Rein und raus schaffen wir es in wenigen Minuten. Das Gelingen der Aktion wird nur davon abhängen, ob die Codes tatsächlich das halten, was sie versprechen."

Seth hatte sich für heute wirklich die Rolle des Miesmachers herausgesucht. Außerdem klebte sein Blick immer noch an Amandas Gesicht, was ihr eine Färbung zwischen Wut- und Schamesröte auf die Wangen trieb.

"Schön, dass du das so locker siehst, aber ich denke nicht, dass wir ohne Widerstand in Gabriels Büro einbrechen können. Selbst wir beide nicht."

G1 hatte Amanda schon immer besonders wegen ihrer Fähigkeiten und deren ungenügenden Beherrschung aufgezogen.

Einmal hatte er sich bei einer Party wie jener letzte Nacht lautstark überlegt, wie man selbst Amanda in eine Zelle sperren könnte. Der Einfall war gut, aber nicht lückenlos gewesen.

Aber mit einem zweiten Schattengänger hatte Gabriel bestimmt nicht gerechnet. Immerhin wurde auch Seth im Schrecken mit der Organisation bekannt gemacht. Ihre eigene Beteiligung daran war der Grund gewesen, warum Amanda am Anfang den Kontakt mit Seth vermieden hatte. Schlechtes Gewissen war nie zu unterschätzen.

Sie einigten sich schließlich darauf, Nataniel noch ein paar Tage die Gelegenheit zu geben, mit den ansässigen Gestaltwandlern zu sprechen. Francy würde die Kontakte herstellen. Ob Amanda mit ihnen ging, würde sie mehr oder weniger spontan entscheiden. Es gab noch ein paar Sachen mit Clea zu klären, was das Eingeben der Codes und die radikale Löschaktion der Festplatten betraf. Diesmal sollte noch nicht einmal der Hauch einer Information zur Verfügung der Moonleague übrig bleiben.

Als Seth aufsprang, kaum dass das alles besprochen war und mehr oder weniger aus dem kleinen Raum flüchtete, musste Amanda sich an dem Kugelschreiber in ihrer Hand festkrallen, um ihm nicht auf der Stelle hinterher zu laufen.

Glaubte er, dass er ihr bis zum Einsatz aus dem Weg gehen konnte? Und was dann? Sie mussten die Vorgehensweise noch besprechen. Wer, was, wann, wo tun sollte. Damit sie wenigstens die kleinste Chance hatten, erfolgreich und auch lebend aus dem Gebäude zu kommen. Zähneknirschend hatte Amanda zur Tür gesehen, durch die Seth verschwunden war. Es half einfach nichts.

Gerade war Nataniel noch in eine Unterhaltung mit Francy vertieft, was Amanda die Gelegenheit bot, sich kurz zu entschuldigen, ohne weiter auf ihre Beweggründe einzugehen.

"Ich muss nur schnell was erledigen. Sehen wir uns beim Kran?"

Francy nickte nur und konzentrierte sich wieder darauf, Nataniel ein wenig über die Wandler zu erzählen, die sich freiwillig gemeldet hatten. Amanda legte kurz ihre Hand auf Nataniels Schulter, bevor sie sich innerlich rüstete und auf Seths Spuren den Raum verließ.
 

Wer auch immer der Typ war, der hier schlechte Stimmung verbreitete, Nataniel begann ihn langsam immer weniger zu mögen. Klar mochte Vorsicht in gerade ihren Fällen angebracht sein, aber das hieß noch lange nicht, dass man dazu ein Pessimist sein musste. Außerdem konnte Nataniel die Meinung dieses Kerls nicht teilen.

Einfach rein und raus, ja? Rein vielleicht, aber das Rauskommen war schon immer schwierig gewesen bei solchen Aktionen. Deshalb wäre es sicherlich nicht schlecht, eine gute Rückendeckung in Form von genügend starken Wandlern zu haben, die bereit waren, ihr Leben für diese Mission zu riskieren.

Nataniel würde sicherlich nicht den Schwanz einziehen. Er würde ganz an vorderster Front mitmischen. Wenn er schon Amanda nicht davon abhalten konnte, sich in Gefahr zu begeben, so wollte er wenigstens auf diese Weise so gut wie möglich Schutz für sie bieten. Egal was am Ende heraus kam und wie sich alles wirklich fügen würde.

Nataniel war froh, als die Besprechung schließlich zu Ende war. Er hatte inzwischen hämmernde Kopfschmerzen und sein Nacken fühlte sich vollkommen verspannt an. Das war nicht seine Welt und das begann er langsam deutlich zu spüren. Hier konnte er sich keinen Moment lang entspannen, weil es hier keinen Wald, keine Flüsse, keine Ruhe und auch keine saubere Luft gab. Nur ständiger Krach, Metall vermengt mit Glas und Beton und Abgase. Wäre da nicht die Brise des Meeres, er hätte es überhaupt nicht ausgehalten. Die ganzen vollkommen fremdartigen Gerüche überforderten seine Nase, so dass er gar nicht genau mitbekam, wo, was, wer, wie, wann roch. Lediglich Amandas vertrauter Duft gab ihm in dieser bunten, ungewohnten Welt die Sicherheit, die er brauchte.
 

Francy war wirklich eine nette Wandlerin, mit der er sich sofort gut verstand. Zwar konnte er noch immer nicht sagen, was für eine Gestalt sie beherbergte, aber das würde er sicherlich noch herausfinden. Immerhin war es ohnehin schwer, gegenseitig die Gestalt des anderen zu erraten, wenn dieser sich schon längere Zeit nicht mehr verwandelt hatte und somit der Geruch des Tiers nicht mehr wirklich anhaftete. Dazu konnte meist schon eine einzige Dusche ausreichen. Aber eines würde sich nie ändern.

Die Wildheit war immer und auf jeden Fall zu spüren.

Amanda stieß zu ihnen, um sich kurz zu entschuldigen. Die Sache mit dem Kran verstand er nicht, aber was das anging, machte er sich keine Sorgen. Er konnte Amandas Geruch überallhin folgen. Verlieren würde er sie also auf keinen Fall und er hatte auch nicht vor, noch lange hier die Wandlerin aufzuhalten. Die bisherigen Informationen über die freiwillig mitwirkenden Gestaltwandler waren nützlich und aufschlussreich. Damit ließ sich arbeiten, sofern er auch einmal persönlich mit ihnen gesprochen hatte.

„Eine Bitte hätte ich da noch.“, begann er schließlich, als Amanda schon gegangen war.

„Wenn du in den nächsten Nächten vielleicht einmal Zeit hast, könnte ich deine Hilfe gebrauchen. Ich will so viel Verstärkung auftreiben, wie möglich. Aber dazu brauche ich jemanden, der sich in der Gegend hier auskennt und mir auch ein paar verborgene Winkel in der Wandlerszene zeigen kann.“

Er lächelte bedeutungsschwer.

Francy grinste zurück.

„Geht klar. Sag mir einfach Bescheid, wann’s losgehen soll.“

47. Kapitel

Sie fand ihn auf dem Container, auf dem sie normalerweise immer zur ersten Wache saßen, bevor sie ihr Training aufnahmen.

Seth saß mit leicht gebeugten Schultern an der Kante und sah scheinbar gedankenverloren auf's Meer hinaus. Wortlos setzte sich Amanda neben ihn, allerdings auf respektvollen Abstand bedacht.

"Wir müssen irgendwann noch über den Einsatz sprechen.", begann Amanda tonlos. Jeder Anfang dieses Gesprächs hätte sich wahrscheinlich unsensibel und unpassend angehört. So auch dieser.

Seth reagierte nur mit einem Nicken, was Amanda ein wenig nervös machte. Sie wollte nicht, dass auf einmal alles anders war, als zuvor.

"Seth, es..."

"Hör zu Amanda, ich will nicht darüber reden. Wir beide wissen den Stand der Dinge und das ist völlig ausreichend."

Er fuhr ihr so direkt über den Mund, dass sie die Lippen etwas bestürzt aufeinander presste. Ja, ihnen beiden war nun klar, wo der andere stand. Wäre es doch bloß vor gestern Nacht so gewesen.

Schweigend sahen sie dem Glitzern des Wassers zu, das sich bei jeder Wellenbewegung änderte. Der ölige Geruch und der immerwährende Krach von Arbeitern und anlegenden Schiffen war eine seltsame Untermalung für die Szene.

"Was ist mit unserem Training?", wollte Amanda wissen.

Es war nur eine andere Formulierung für ihre viel schwerwiegendere Frage nach dem Stand ihrer Freundschaft.

Seths dunkle Augen und das winzige Lächeln auf seinen schmalen Lippen ließen einen Kloß in Amandas Hals entstehen. Sie hatte noch nie einen so guten Freund gehabt. Jemanden, der sie verstand, weil er ihr ähnlich war. Der ihre Eigenheiten und manche Dingen nachvollziehen konnte, wie es keinem anderen möglich wäre. Es hatte nichts mit Liebe zu tun, aber Amandas Herz würde trotzdem bluten, wenn ihr Seth seine Freundschaft aberkennen würde.
 

Nachdem er das Besprechungszimmer verlassen hatte, wusste er eigentlich gar nicht so genau, was er mit sich anfangen sollte. Klar wäre sein nächster logischer Schritt gewesen, sofort die Wandler aufzusuchen, die sich noch nicht hatten darüber einigen können, ob sie nun mit machten, oder lieber doch die Flucht ergriffen, sobald die Moonleague ausreichend abgelenkt war.

Es lag an ihm und seiner Überzeugungskraft, ob sie sich ihnen doch anschließen würden. Doch im Moment hatte Nataniel ohnehin nicht den Kopf dafür. Besser gesagt, wollte sein Kopf sich aus dieser Umgebung verkrümeln. Weshalb ihn seine Füße wie von selbst, Amandas Geruch folgend, über den Boden trugen.

Erst als er sie immer deutlicher riechen konnte, als er im Freien angekommen war, blieb er stehen und blickte hoch.

Er war noch weit genug entfernt, so dass sie ihn nicht bemerkt hatte, aber daran wollte er auch gar nichts ändern. Warum genau, konnte er nicht sagen, aber er stand da wie angewurzelt, als er sie neben dem Pessimisten sitzen sah. Zwar gab ihm nichts davon auch nur einen Hauch von einem Grund für eine Eifersucht, trotzdem entkam seinem Brustkorb ein vibrierendes Grollen.

Irgendwas war da zwischen den beiden und gerade weil er nicht sagen konnte, wie weit das reichte, ob von Teamkollegen angefangen bis über gute Bekannte, im Grunde war das schon genug.

Mit Gewalt riss er sich von dem Anblick los. Ja, jetzt war wirklich ein ausgezeichneter Zeitpunkt, um sich der Sache mit den Gestaltwandlern anzunehmen. Warum war er nicht schon vorhin so darauf versessen gewesen? Dann wäre ihm dieses bleischwere Gefühl im Magen erspart geblieben, das ihn jetzt förmlich runter zog. Dabei zweifelte er keinen Moment lang an Amandas Treue, aber was sein Verstand wusste, konnte sein aufgebrachtes Herz nicht so leicht verstehen.
 

Seine Stiefelabsätze schlugen kurz gegen das Metall des Containers, als sich Seth von der Kante erhob. Kurz klopfte er sich die Hände an seiner Hose ab, den Blick dabei immer noch auf das Hafenbecken und die dahinter liegende Skyline gerichtet. Es war noch nicht spät, aber der Nachmittag musste schon so weit fortgeschritten sein, dass die Sonne unterging.

Amanda seufzte und ließ den Kopf hängen, während die Schatten langsam länger wurden. Die Hand, die Seth ihr hinhielt, nahm Amanda nur aus dem Augenwinkel wahr. Überrascht sah sie auf und erst als sie verstand, breitete sich ein frohes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

Sie ließ sich von ihm auf die Füße ziehen und deutete ansatzweise in Richtung immer roter werdenden Horizonts. Es war eindeutig noch zu früh, um zu trainieren. Zumindest, soweit es Amanda anging. Deshalb zog sie auch fragend die Augenbrauen hoch, als Seth sie auffordernd ansah.

"Nur weil es schwieriger ist, heißt es nicht, dass wir nicht im Sonnenlicht trainieren können."

Amandas Herz schlug schneller. Seth konnte nicht wissen, dass Amanda ganz andere Gründe als den höheren Schwierigkeitsgrad hatte, um das Schattengehen während des Tages zu vermeiden.

"Es wäre mir lieber, wenn wir bis nach Sonnenuntergang warten würden.", sagte sie ausweichend, während ihre Augen nervös flackerten. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte Amanda nichts versucht, das über ihre minimalen Fähigkeiten hinausging. Vom Mondschatten ins Licht und wieder zurück und selbst bei dieser Übung konnte sie sich erst seit den Trainingsstunden mit Seth endlich Profi nennen.

Inzwischen fiel es ihr nicht mehr besonders schwer durch die Schatten zu gehen. Es tat immer noch weh, aber Amanda musste sich nicht mehr krampfhaft vorbereiten. Seth hatte ihr beigebracht, dass Annahme manchmal weiter brachte als Kämpfen. Aber dieser Vorschlag ging ihr wirklich gegen den Strich. Es widerstrebte ihr völlig, das Sonnenlicht zu nutzen. Im Gegensatz zur beschwichtigenden Wirkung des Mondes, brannte die Sonne auf der Haut, sobald man regelrecht von ihrer Wirkung wie bei einem Sog aus den Schatten gerissen wurde. Wie die Schattenläufer des Tages das auf Dauer aushielten, würde Amanda nie begreifen. Diesbezüglich konnte sie sich glücklich schätzen, dass Seth ihr wirklich unglaublich ähnlich war – ein Schattengänger der Nacht, wie sie selbst.

Seine dunklen Augen ruhten immer noch bewegungslos, aber keinesfalls ohne Emotionen auf Amandas Gesicht. Er wartete auf eine andere Antwort, als jene die Amanda ihm gerade gegeben hatte. Das war nicht zu übersehen.

Seine eindringliche Art brachte Amanda dazu, den Kopf noch einmal Richtung Sonnenuntergang zu wenden. Es würde ohnehin nicht mehr lange dauern, bis es vollkommen dunkel wurde. Vorsichtig nickte sie und ließ endlich Seths Hand los. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass er sie immer noch festgehalten hatte. Ja, ein wenig kämpfen war vielleicht eine gute Idee. Dann konnten sie sich beide den Kopf wieder gerade rücken. Zumindest hoffte Amanda das.

"Innerhalb dieses Containerquadrats, aber auf allen Ebenen."

Amanda nickte wieder.

"In Ordnung. Ich laufe."

Das Grinsen auf Seths Gesicht war ehrlich und anfeuernd. Sie waren schon so gut aufeinander eingestimmt, dass Amanda verschwand, bevor Seth das 'Los!' überhaupt ganz ausgesprochen hatte.

Es tat weh und das ungewohnte Ziehen beim Auftauchen aus den Schatten dehnte das unangenehme Gefühl bloß noch aus. Seth klebte mehr oder weniger an Amandas Hintern, weil es ihr so viel schwerer fiel, sich in der ungewohnten Tageszeit auf den Gang zu konzentrieren.

Gleich zu Anfang durchschnitt Seths rechte Handfläche Amandas Jacke und Shirt und riss ihre Haut am Rücken auf. Ihr entkam ein lautes, schmerzverzerrtes Zischen, aber anstatt sich in die Schatten zurückzuziehen, ließ Amanda sich in die Knie sinken, nutzte ihren eigenen Körperschatten und schlug wiederum mit ihrer aufgelösten Hand nach seiner Kniescheibe. Er hatte es nicht kommen sehen, war aber immer noch schneller als Amanda. Der Angriff riss nur seine Hose auf und glitt sein Schienbein hinunter.

Der Trainingskampf wurde grimmiger und gewann an Tempo, je weiter die Sonne unterging. Irgendwann warfen die beiden Kontrahenten ihre Jacken ab, um sich ein wenig Kühlung zu verschaffen.

Amanda hatte das Gefühl, das Mondlicht würde ihr nicht nur Stärke, sondern auch Kühlung verschaffen. Verbissen ging sie gegen Seth vor, der nicht weniger aggressiv zurückschlug.

Nach über zwei Stunden fühlte sich Amanda total ausgepowert, aber zufrieden. Mit dem Rücken an einen Container gelehnt, hockte sie da, um zu Atem zu kommen. Ihre schwarzen Augen legten sich auf die von Seth, der schwer keuchend mitten auf dem Platz zwischen den gestapelten Frachtcontainern stand.

"Danke."
 

***
 

Die Gespräche mit den Leuten seiner eigenen Art taten ihm überraschend gut. Nataniel vergaß nach einer Weile sogar vollkommen den ungewohnten und zugleich aufreibenden Anblick, der ihm eine Zeit lang nur zu deutlich vor Augen gestanden hatte.

Amanda und er würden sich heute Abend garantiert wieder in ihrem Zimmer treffen und auch wenn Nataniel nicht unbedingt scharf darauf war, so würde er ihr sagen müssen, was er gesehen hatte und wie er dazu stand. Gerade weil er seine Emotionen ohnehin nie lange vor ihr verbergen konnte, wäre es besser, sofort auf den Punkt zu kommen, als sich selbst wilden Spekulationen hinzugeben, die alle nicht einmal annähernd an die Wahrheit heran reichen würden. Oder vielleicht doch?

Mit Mühe riss er sich wieder von seinen Gedankengängen los und konzentrierte sich auf das, was nun wichtiger war. Immerhin musste er es ausnützen, wenn die Wandler bereit waren, ihm zuzuhören. Auch ein paar der eher skeptischen waren dabei, die sich noch nicht entschieden hatten, ob ein Kampf sich wirklich lohnen würde oder doch besser die Flucht.

Nataniel kam hierbei zu Gute, dass er das Alphatier in jeder Sekunde voll und ganz ausstrahlte. Zwar mochte das hier nicht sein Rudel sein, aber es schien die Wandler zu beruhigen und zugleich Mut zu machen, auch wenn es eher auf einer unbewussten Ebene stattfand.

Das würde vermutlich auch solange bleiben, bis ein anderes Alphatier aufkreuzte und sie sich somit schon von Natur aus nicht verstehen würden und die Situation sich mit Zwist auflud. Doch bisher war keiner unter den Wandlern gewesen, wofür er sehr dankbar war.

Schwer genug immer wieder eine so große Bürde zu tragen, sie dann auch noch verteidigen zu müssen, war noch schwieriger. Vor allem am Anfang hatte er seine Probleme damit gehabt, weil er nicht mit ganzem Herzen dabei gewesen war. Doch letzten Endes war ihm das Wohl der anderen wichtiger, als seine eigene Freiheit. Ob Einzelgänger oder nicht, wenn er wollte, konnte er auch jetzt immer noch alleine sein. Wenn auch nur für ein paar Stunden.
 

***
 

Da Nataniel sich bis jetzt nicht hatte blicken lassen – Amanda hatte die meiste Zeit über immer wieder zu dem Kran hinüber gesehen und ihn dort nicht ausgemacht – entschied sie sich dafür, ihn suchen zu gehen. Aber erst nachdem sie geduscht und die klebrigen Schatten vollkommen losgeworden war.

Sie machte sich zuerst auf den Weg in ihr Zimmer, schnappte sich saubere Klamotten und stellte sich dann für eine ganze halbe Stunde unter die Dusche. Das Wasser tat gut auf der leicht geschundenen Haut, allerdings bereute Amanda es sofort, das Duschgel auch auf ihrem Rücken verteilt zu haben.

Es brannte ziemlich auf dem großen Kratzer, den Seth ihr gleich zu Anfang ihres Trainings verpasst hatte.

Erst als sie aus der Dusche stieg und sich anzog, fiel Amanda auf, dass sie seit dem späten Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Vielleicht würde sie Nataniel ja im Speiseraum finden. Spätestens wenn sie zum Schlafen in ihr Zimmer zurückkehrte, würde sie ihn hoffentlich wieder sehen.

Im Containerkomplex der Zentrale würde er schon nicht verloren gehen.
 

***
 

Es war schon lange dunkel, als er endlich seinem Magen folgend, den Weg zum Speisesaal einschlug. Diejenigen, die von Anfang an hatten kämpfen wollen, hatte er noch stärker motivieren können und bei ein paar von den Unentschlossenen war ebenfalls der Kampfeswille erwacht. Ein zufriedenstellendes Gespräch, allerdings nicht das Ergebnis, das er gerne gehabt hätte. Er würde also doch noch mit Francy losziehen müssen. Möglichst bald sogar.

Für ein langes Essen war er jetzt nicht mehr gelassen genug, weshalb er nur kurz in dem fast leeren Speisesaal ging, sich etwas zum Mitnehmen schnappte und sich dann gleich auf das Zimmer verkrümelte. Wo Amanda offenbar schon auf ihn gewartet hatte.

Er konnte es ihr nicht verdenken. Endlich wieder alleine mit ihr zu sein, schien in letzter Zeit ein absoluter Luxus zu sein. Noch dazu, wo er sie so lange hatte loslassen müssen. Die Wochen ihrer Abwesenheit würde er nie vergessen. Sie waren noch schlimmer gewesen, als beim ersten Mal, als sie gegangen war.

Nachdem er das Essen auf dem Tisch abgestellt hatte, kam er sofort zu ihr hinüber und umarmte sie zur Begrüßung. Seine Arme schlossen sich fast schon wie durch einen Zwang um den Körper seiner geliebten Gefährtin, während sein Gesicht sich in ihrer Halsbeuge vergrub. Er schnurrte zufrieden.

„Sag mir bitte, dass wir wenigstens für ein paar Stunden unsere Ruhe-“

Nataniel brach ab und ließ so weit von Amanda ab, dass er ihr in das fragende Gesicht blicken konnte.

Er hatte es ganz genau gerochen. Zwar hing an ihr auch noch der Duft von Duschgel und ihrem eigenen unverkennbaren Aroma, aber das war längst nicht alles.

Sofort spannten sich seine Kiefer an, während er noch immer um einen ruhigen Tonfall bemüht, fragte: „Ich bin mir in letzter Zeit zwar nicht ganz sicher, ob ich meiner Nase hundertprozentig trauen kann, aber manche Dinge ändern sich nie. Das ist doch getrocknetes Blut, das ich da an dir rieche, oder?“

Als wüsste er das nicht, denn noch bevor er auf eine Antwort wartete, begann er bereits mit seinen Händen systematisch nach Verletzungen zu suchen. Dass Amanda gerade ihre Periode hatte und deshalb nach Blut roch, schloss er aus, denn dann wäre es frisch und zudem von einer anderen Mischung. Das hier war eindeutig Blut aus einer Wunde.

Da er Amanda körperlich weit überlegen war, konnte sie sich auch nicht von ihm befreien, was ihr wohl im Sinn stand. Immerhin machte sie es ihm nicht gerade leicht. Aber schließlich deckte er einen älteren Kratzer, der eher wie ein Schnitt aussah, an ihrer Schulter auf.

Könnte noch von der Explosion stammen, aber was seine Hände da schließlich unter ihrem Oberteil an ihrem Rücken ertasteten, war definitiv heute Morgen noch nicht da gewesen. Außerdem zuckte seine Gefährtin vor Schmerz zusammen, was ihm deutlich zeigte, wie frisch die Verletzung noch sein musste.

Ohne Proteste gelten zu lassen, drehte er sie einfach um und schob den Stoff bis zu ihren Schultern hoch.

Das was aus seinem Mund kam, war ein ganz und gar finsteres Knurren.

Rote Linien zeichneten sich deutlich auf ihrer Haut ab und wenn er es nicht besser wüsste, würde er sagen, dass es wie eine Spur aussah, die man mit den Fingern gezogen hatte. Nur hatte kein Tier oder kein Mensch den er kannte, so breite Krallen.

Das Grollen in seinem Brustkorb wurde stärker und sein Mund verzog sich fast zu einem Zähnefletschen, während sein Magen von anfänglichem Kaltwaschgang auf Kochwäsche wechselte.

Nataniel war stinksauer. Mehr als das. Er fühlte sich wie ein tobender Bulle, obwohl er körperlich noch relativ ruhig da stand. Aber man hörte es schon an seiner gepressten Stimme, dass er gerade nicht in Stimmung war, für irgendwelche Lügen.

„Wer war das?“, wollte er schließlich schneidend wissen, wobei sich seine Wut nicht auf Amanda richtete, sondern auf wen auch immer, der ihr das angetan hatte. Verdammt, er wollte auf etwas einprügeln!
 

Das schöne Gefühl endlich mit Nataniel allein zu sein, ohne die ganzen neugierigen oder mit anderen Emotionen aufgeladnen Augen, währte nicht lange. Ein Ruck ging durch Nataniels eben noch anschmiegsamen Körper und er hielt sie auf Armlänge von sich weg, während Amanda überhaupt nicht verstand, was eigentlich los war. Bis sie seine eigentlich mehr rhetorische Frage hörte.

"Es ist Nichts, bloß ein kleiner Kratzer, wirklich."

Mit den Handflächen versuchte sie Nataniels Finger wegzuschieben, die sich vervielfältig zu haben schienen und ihren Körper auf Wunden untersuchten. Ok, es tat schon ganz schön weh, als er die Risse auf ihrem Rücken schließlich entdeckt hatte und sie untersuchend abtastete.

Nataniels Gesichtsausdruck machte klar, dass sie ihm nicht mit einer Ausrede, sie habe sich unter der Dusche beim Rasieren geschnitten, gar nicht zu kommen brauchte. Es wäre auch Schwachsinn, ihn deswegen zu belügen. Bloß kam Amanda seine Erschütterung schon ein wenig überspitzt vor. Dass er sie auch noch gegen ihre durchaus beachtliche, wenn auch sanfte Gegenwehr umdrehte, um ihr Shirt hochzuziehen, entlockte Amanda einen genervten und inzwischen auch leicht angesäuerten Seufzer.

Allerdings war dieser winzige Gefühlsausbruch gar nichts gegen Nataniels Reaktion, die sich in einem Knurren und einer Grabesmiene äußerte.

Er kochte so eindeutig vor Wut, dass Amanda gewillt war, überhaupt nichts zu sagen. Ihrer Meinung nach hatte sie nichts Falsches getan und verdiente es nicht, jetzt so kontrollierend behandelt zu werden. Falls sie ihn brauchte, um sie zu beschützen, hätte sie keine Scheu es zu zeigen.

Andererseits wäre sie im umgekehrten Falle genauso aufgebracht. Sollte jemand Nataniel verletzen, konnte derjenige mit dem Zurückschlagen einer Frau rechnen, die zwar keine Wandlerin war, aber durchaus einer Wildkatze gleichkommen konnte.

Einen flüchtigen Moment lang dachte Amanda darüber nach, was Nataniel wohl mehr aufregen würde: dass Seth sie angekratzt oder dass er noch vor einer Nacht genau das Gegenteil vorgehabt hatte.

Doch es stand Amanda sicher nicht der Sinn danach, Nataniel mit einer derartigen Mitteilung zu verletzen. Daher nahm sie beschwichtigend seine Hände und sah ihn ganz offen an. Schon immer war sie ein ehrlicher Mensch gewesen und gegenüber ihrem Gefährten sollte das nicht anders sein.

"Die Verletzung war mehr oder weniger ein Unfall.", fing sie etwas indirekt an zu erklären. Noch war Amanda nicht genau klar, wie viel und vor allem wie sie Nataniel von ihrer Freundschaft und ihre besondere Verbundenheit zu Seth erklären sollte. Immerhin hatte er nicht den geringsten Grund, sich von dem anderen Mann bedroht zu fühlen. Amanda gehörte nur ihm allein und das für immer.

"Der Mann vorhin bei der Besprechung, du weißt schon, der Blonde."

Wieder grollte Nataniel so tief, dass Amandas Herz beinahe auf der gleichen Frequenz in ihrer Brust vibrierte. Automatisch festigte sie ihren Griff und schlang ihre Finger um die von Nataniel. Er sollte sich jetzt bloß nicht zu einer überstürzten Aktion hinreißen lassen.

"Sein Name ist Seth und so wie ich dich kenne, weißt du bereits, dass er wie ich ein Schattengänger ist. Noch dazu einer, der mit seiner Fähigkeit in der Nacht zuhause ist, so wie ich."

Ihr Blick war so fest, weil sie nicht wollte, dass Nataniel ihr davon lief. Ob nun aus dem einen oder dem anderen Grund, es wäre Amanda einfach nicht Recht gewesen, wenn sich die beiden Männer gerade jetzt trafen, wo Nataniel über die Kratzer, die immerhin Seth ihr zugefügt hatte, so aufgebracht war.

"Er ist zum Untergrund gestoßen, kurz bevor ich auch in die Stadt kam. Wir sind uns zuvor aber schon einmal begegnet…"

Ein Seufzen entrang sich ihrer Brust, das den gesamten Schwermut über ihre damalige Befehlsausübung und ihr seltsames Wiedersehen mit Seth enthielt.

"Ich hab ihn vor Jahren für die Organisation registriert. Allerdings schien er mir das, als wir uns hier wieder sahen, nicht mehr übel zu nehmen. Ganz im Gegenteil." Vielleicht hätte sie sich den letzten Satz sparen sollen. Verdammt, ob sie es Nataniel einfach sagen sollte? Aber sie wollte ihn ja nicht auch noch zur Eifersucht zwingen. Und doch…

Wäre es nicht besser, wenn er wüsste, dass Amanda ihm niemals im Leben untreu wäre?

Die Gefühle und Abwägungen dessen, was passieren könnte, wollten Amandas Inneres regelrecht auseinander reißen. Im Endeffekt ging es doch nur darum, Nataniel nicht zu verletzen. Also würde Amanda so lange den Mund halten, wie es sich machen ließ.

"Wir trainieren schon eine ganze Weile zusammen. Er ist der Erste, der meine Fähigkeit teilt und von dem ich etwas dazulernen kann."

Amanda konnte nichts dagegen tun, dass ihre Stimme bei dieser Erklärung enthusiastischer klang. Es entsprach der vollen Wahrheit und dass sie diese Begebenheit froh machte, wollte sie gar nicht verbergen.

"Bis jetzt hat er mir schon so viel gezeigt und ich bin so viel besser geworden." Ihr Blick wurde reumütig und ihre Daumen streichelten um Verzeihung bittend über Nataniels Handrücken und Finger.

"Es war keine Absicht, aber manchmal können wir nicht vermeiden, dass wir uns bei den Trainingskämpfen gegenseitig verletzen."

Irrte sie sich oder hatten ihre Ausführungen die Flammen, die eindeutig hinter Nataniels Augen gelodert hatten, kein bisschen dämpfen können? Irgendetwas in Amanda schien sich nun zusammen zu krampfen, während sie auf seine Erwiderung wartete. Es fühlte sich so an, als könne Nataniel ein Urteil über sie fällen, das ihr ganz und gar nicht gefallen würde.
 

Wie gut, dass Amanda seine Hände warm und trotzdem fest in ihren hielt. Das hinderte ihn wenigstens daran, seinem Drang nachzugeben, seine Krallen auszufahren und irgendwo hinein zu schlagen. In diesem Augenblick war er dankbarer denn je, dass Amanda seine Gefährtin war.

Wäre sie es nicht, würde er zwar nicht so ausrasten, aber andererseits wäre sie dann auch nicht in der Lage, ihn zu zähmen. Auch wenn er sich kein bisschen beruhigte, als sie damit zu erzählen begann, es wäre ein Unfall gewesen, so blieb er doch ruhig stehen und sah ihr in die Augen, um den weiteren Ausflüchten zu horchen.

Wieder drang ein Grollen aus seiner Kehle, als sie den blonden Typen erwähnte, mit dem er sie auch zusammen auf einem Container hatte sitzen sehen. Der Kerl war also der Stein des Anstoßes. Das hätte er wissen müssen. Es war irgendwie einfach eine logische Folgerung daraus.

Schweigend, aber garend vor Zorn, hörte er seiner Gefährtin weiter zu.

Amanda erzählte ihm, dass sie ‚Seth‘ schon von früher kannte. Bestätigte ihm seine Vermutung, dass auch der Typ ein Schattengänger war und somit noch mehr mit ihr gemeinsam hatte, als das bloße Menschsein.

Eigentlich war es genau das, was Nataniel fast wahnsinnig vor Eifersucht machte. Nicht etwa die Befürchtung, Amanda könnte was mit dem Blonden haben, sondern die bloße Tatsache, dass er nur ein halber Mensch war und Seth somit besser für sie geeignet wäre. Die beiden müssten sich auf einer Ebene verstehen können, die Nataniel niemals nachvollziehen könnte. Das zu wissen, tat ganz schön weh. Und beinahe vergaß er darüber den eigentlichen Grund seiner Wut – Seth hatte seine Gefährtin verletzt. Eigentlich ein unverzeihliches Vergehen!

Als sie ihm so über das Training berichtete, begannen ihre Augen zu strahlen. Sie schien sich sehr darüber zu freuen, dass das Training ihr weiter half und sie ihre Fähigkeiten verbessern konnte. Auch ihn freute es insgeheim, dass das vermutlich bedeutete, sie würde bei den Schattengängen nicht mehr so leiden müssen und vor allem wäre sie dann auch im Kampf besser vorbereitet. Aber im Endeffekt konnte ihn auch das nicht beruhigen. Selbst die Tatsache nicht, dass sie wohl auch Seth ein paar Schrammen verpasst hatte, was dem Typen wirklich recht geschah!

Nachdem sich ein aufgeladenes Schweigen ausbreitete und Amanda offenbar von ihm eine Reaktion erwartete, blickte er ihr lange in die Augen. Noch immer fühlte sich sein Innerstes so an, als würde es zugleich durch den Fleischwolf gedreht, als auch gegrillt werden. Bis er nur noch eine Lösung hatte, um den roten Schleier vor seinen Augen wieder zu lichten.

Da Amanda ihn immer noch an den Händen fest hielt, lehnte er sich einfach nach vor, schmiegte seinen Kopf an ihren und flüsterte ihr leise und mit bebender Stimme ins Ohr: „Bitte sag mir, dass ich einfach hier bei dir im Zimmer bleiben soll. Dass ich anstatt wütend zu sein, viel mehr Grund habe, dich in die Arme zu schließen, zu küssen und zu lieben, weil wir uns schon so lange nicht mehr hatten. Sag mir einfach, dass du mich liebst und ich werde mich damit zufrieden geben, dass du dem Typen auch schon wehgetan hast…“

Auch wenn das jetzt seltsam klang. Aber er musste es hören. Wenn sie es aussprach, war es wie ein Zwang für ihn, den er sich dieses Mal nur zu gerne hingab. Er würde sich wieder beruhigen, hier bleiben und seine Eifersucht in gemäßigtem Rahmen halten. Dann müsste er den Typen auch nicht zu Katzenfutter verarbeiten.
 

Mit einem Mal schien die Kraft aus Nataniel zu weichen, obwohl er immer noch total unter Strom stand. Außer seinen Händen, die immer noch warm in ihren lagen, zitterte er am ganzen Körper. Als er sich ihr entgegen lehnte und seine Wärme sie umfangen wollte, schloss Amanda ganz automatisch die Augen, um mit ihren anderen Sinnen mehr aufnehmen zu können. Nataniels Worte lösten in Amanda so etwas wie Verwirrung aus.

Leise und fast ehrfürchtig war ihre Antwort deshalb nur ein Hauchen.

"Ich liebe dich sehr, Nataniel. Mehr als du dir vorstellen kannst. Und ich hoffe, dass du schon deshalb jetzt nicht gehen wirst, weil ich genau das tun möchte, was du gerade vorgeschlagen hast."

Ihre Hände ließen seine los, damit sich ihre Arme um ihn schließen konnten.

"Dich umarmen."

Amandas Lippen berührten Nataniels Halsbeuge, wanderten zu seinem Kinn und schließlich auf seinen Mund, wo sie sanft weiter sprach.

"Dich küssen."

Erst jetzt öffnete Amanda wieder die Augen und sah Nataniel mit einem warmen Lächeln an. Dass sich der Sturm hinter seinem Blick gelegt hatte, machte es Amanda nur noch leichter.

Nach Halt und Wärme suchend, schmiegte sie sich in Nataniels Arme. Endlich konnte sie wieder das wohlige Gefühl in sich spüren, dass ihr mit ihm in so weiter Ferne erschienen war. Wie hatte sie es nur ausgehalten, so lange von ihm getrennt zu sein? Natürlich hatte sie versucht, sich zu beschäftigen, viel zu tun zu haben, damit ihr nicht zu schmerzlich bewusst wurde, dass er nicht bei ihr war. Erst nachts, wenn sie allein in ihrem Bett lag, war sein Fehlen fast unerträglich gewesen. Dass sie überhaupt hatte Schlaf finden können, war der totalen Erschöpfung zu verdanken gewesen. Dafür musste sie in gewissem Sinne Seth dankbar sein.

Hätte er sie bei ihrem Training nicht dazu gebracht, sich immer wieder körperlich völlig zu verausgaben, hätte sie wahrscheinlich überhaupt keine Erholung im Schlaf gefunden. Trotzdem war ihr jetzt so, als würde sämtlicher Druck von ihr abfallen, als sie Nataniel wieder bei sich spüren konnte.

Lächelnd fiel Amanda ein, wie sie Nataniel selbst einmal beschrieben hatte, wie sein Geruch auf sie wirkte – gemütlich. Er würde immer etwas Anheimelndes für sie haben und in Nataniels Gegenwart würde sich Amanda immer sicher fühlen.

Genauso wie da bestimmt immer dieses Kribbeln aufkommen würde, das sich von ihren Zehenspitzen durch ihren gesamten Körper, bis in ihre Haarspitzen zog.

Der Schalk saß hinter ihren hellbraunen Augen, als sie Nataniels Seiten auf und ab streichelte und sich so nah es ging, an ihn schmiegte.

"Und dich lieben, um alles nachzuholen, was ich in den letzten Wochen vermissen musste."
 

Oh Gott, wie gut es doch tat, Amanda wieder bei sich zu haben. Wie sich ihr Körper an ihn schmiegte, als wären sie beide wie für einander geschaffen. Ihre Wärme war eine wahre Wohltat. Obwohl er inzwischen bereits wieder mehr Hitze ausstrahlte als sie, empfand er es doch als unglaublich angenehm. Das konnte nur von ihren Worten übertroffen werden.

Zu hören, wie sehr sie ihn liebte, war Nataniel gerade in diesem Augenblick sehr wichtig. Er musste es nicht jeden Tag hören und es sollte sich auch bloß niemals zu einer dahergeredeten Floskel entwickeln, aber manchmal brauchte er es einfach. Erst recht, nachdem sie beide so lange voneinander getrennt gewesen waren und heute Morgen oder besser gesagt Mittag kaum Zeit hatten, den Verlust richtig auszukurieren.

Kein Wunder also, dass er ausgerechnet heute so neben der Spur gestanden hatte. Okay, Verletzungen wie diese würde er niemals auf die leichte Schulter nehmen, aber er musste seinen Unmut darüber nicht direkt an Amanda auslassen. Das war falsch gewesen. Wenigstens hatte sie es ihm nicht übel genommen.

Den Kuss erwiderte er zärtlich und sanft, ehe er seine Gefährtin enger in die Arme schloss und tief den beruhigenden Duft ihres Haars einsog. Bei ihren nächsten Worten musste er schmunzeln.

„Um das alles nachzuholen, würden wir Tage brauchen.“

Mit Garantie! Aber er würde sich mit allem zufrieden geben, was sie bekommen konnten. Weshalb er sich leicht von Amanda mit einem Lächeln löste, mit seinem Daumen über ihr Kinn streichelte, um es etwas anzuheben, ehe er sich zu ihr herabbeugte, um sie erneut zu küssen.

Dieses Mal ohne Unterbrechung, während seine Hände sanft über ihre Schultern streichelten, ihren Rücken – dabei die Verletzung auslassend – und schließlich keck in ihren Hintern kniff, ehe er anerkennend über ihre über alles geliebten Kurven glitt.

Seine Hand fuhr so unter ihr Gesäß, dass er sie an sich gedrückt hoch heben und ohne den Kuss zu unterbrechen, zum Bett hinübertragen konnte. Dort setzte er sie zuerst ab, ehe er selbst zu Amanda auf die Matratze kroch, ohne auch nur einmal von ihr abzulassen, weshalb sie halb auf dem Bett lag, während er sich mit einer Hand abstützte.

Zumindest für eines war die lange Zeit des Verzichts gut gewesen. Inzwischen war er wieder vollkommen verheilt und mal von den paar Kilos weniger auch kerngesund und zum ausgiebigen Knutschen reichte das allemal. Auch wenn sein Körper die ersten Signale für mehr auszusenden begann. Aber er müsste schon tot sein, um nicht auf Amanda zu reagieren.
 

Amanda musste auf seine Erwiderung hin lachen. Leider würden sie keine Tage lang Zeit haben.

"Ich denke, dass die Anderen uns leider vorher vermissen würden. Am Ende kommt uns noch jemand suchen…"

Gespielt griesgrämig zog sie eine Augenbraue hoch, ehe sie in kurzes Kichern ausbrach.

Die Kraft war anscheinend vollkommen in Nataniel zurückgekehrt, denn er hob sie hoch, als hätte Amanda überhaupt kein Gewicht. Nicht einmal den Kuss musste er unterbrechen, als er sie zum Bett trug und sich dann mit Amanda auf der Matratze niederließ.

Im Gegensatz zum letzten Mal in Nataniels kleinem Häuschen, war die Umgebung alles andere als romantisch. Die Containerwände erschienen Amanda ziemlich abweisend und unter Umständen würden sie auch eine gehörige Menge Schall in die Nebenräume übertragen. Aber darüber würde sie sich jetzt bestimmt keine Gedanken machen.

War es denn wirklich möglich, dass sie trotz der immer intensiver werdenden Küsse noch näher bei Nataniel sein wollte?

Nicht zum ersten Mal glaubte Amanda, zu verstehen, warum Wandler darauf bestanden, sich gegenseitig zu kennzeichnen. Es wäre nicht schlecht gewesen, Nataniel ein Zeichen ihrer Liebe und vielleicht sogar ihres Besitzanspruches aufzudrücken. Allerdings widerstrebte es Amanda doch, derartige Forderungen zu stellen. Wenn es tatsächlich einmal Nataniels Wunsch sein sollte, dann würde sie ihn gehen lassen müssen. Er gehörte ihr nicht, aber Amanda war mehr als froh und glücklich darüber, dass sie mit Nataniel zusammen sein durfte.

Als sie die Gelegenheit bekam, rollte sich Amanda, wie am vergangenen Morgen auf Nataniel, drückte ihm einen Kuss auf, bevor sie sich nur wenige Zentimeter von ihm löste. Mit sanften Fingerspitzen schob sie ihm ein wenig die dunklen Haare aus dem Gesicht.

"Schön, dass du hier bist. Ich hab dich sehr vermisst."

Wie um ihre Worte zu bekräftigen küsste sie ihn wieder und vergrub ihre Finger in Nataniels Haar. Nein, sie würde ihn niemals wieder gehen lassen oder nur den Funken eines Gedankens daran verschwenden, ihn zu verlassen. Noch einmal würde sie das nicht durchstehen.

48. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

49. Kapitel

Nein, nein, nein, NEIN!

Er musste sich beruhigen. Davonlaufen brachte nichts, vor allem da er es ohnehin nicht gekonnt hätte. Wie könnte er Amanda alleine lassen? Erst recht, da sie völlig verwirrt sein musste! Nein, er war ja so ein Idiot! Aber es änderte nichts.

Das alles hatte ihn so schlagartig überrumpelt, dass er niemals rechtzeitig die Fassung hätte finden können, ehe das mit der Wandlung passierte. Wenn es ihn gefühlsmäßig so sehr zerriss, dass er sich verwandelte, dann hatte das definitiv seine äußerste Belastungsgrenze kilometerweit überschritten.

Als es ihm das letzte Mal passiert war, hatte er Stunden gebraucht, bis er sich soweit konzentrieren konnte, dass er sich wieder hatte zurückverwandeln können. Aber damals war Amanda nicht an seiner Seite gewesen. Sie war zwar der Grund für seine Zerrissenheit, damals wie heute, aber sie war bei ihm.

Trotzdem lief er solange unkontrolliert auf und ab, bis ihre Hände nach ihm griffen und er erst jetzt begriff, dass sie in einer Decke gehüllt auf dem Boden vor ihm kniete.

Als sie seinen breiten Kopf dazu zwang, direkt in ihr Gesicht zu sehen, schloss er zunächst gequält die Augen, als würde sie sofort die Wahrheit erkennen, wenn er sie nur anschaute. Aber eigentlich … eigentlich freute er sich so sehr darüber, dass sein Herz heftig vor Glück in seiner Brust auf und ab sprang.

Gerade in dieser Form war das wichtiger, als lediglich die Tatsache, dass er sie vorsätzlich geschwängert hatte, ohne sie vorher darüber in Kenntnis zu setzen.

Er würde es nur zu gerne darauf schieben, dass er noch nie mit einem Menschen geschlafen hatte, außer ihr und somit das Ganze ungewohnt war. Immerhin bekam sie ihren eigenen Körper nicht so gut mit, wie er es tat. Aber das würde nicht der Wahrheit entsprechen. Denn damals hatte er keinen Moment lang mehr gezögert. Er wollte mit ihr Kinder haben. Das sagte ihm deutlich die Freude in seinem Herzen und die Zufriedenheit in seiner Seele. Aber alles andere marterte seinen Verstand, bis sein Kopf zu platzen schien. Selbst in Form des Panthers.

Schließlich öffnete er doch die Augen. Sah ihr mit aller Kraft so lange in das verwirrte Gesicht, bis er es nicht mehr ertragen konnte.

Ihre Hände ließen ihn los, da sie ihn nicht mit voller Kraft festgehalten hatte, als er seine Stirn leise winselnd gegen ihre Halsbeuge schmiegte.

Nataniel setzte sich vor sie hin, drückte seinen noch immer heftig bebenden Körper zugleich aber an ihren, damit sie auf dem kalten Boden nicht so frieren musste. Es lag alleine an ihm, sie wieder in das warme Bett zu bringen. Doch erst einmal musste er es schaffen, sich wieder zurück zu verwandeln.

Bis es allerdings so weit war, entschuldigte er sich tausendfach für sein Verhalten, was sich in dieser Form aber nur in leises, fast schon verzweifeltes Schnauben und Fiepen äußerte.

Schließlich, nach mehreren Minuten des konzentrierten Kämpfens, gelang es ihm, sich wieder zu wandeln, bis er nackt an Amanda lehnte. Seinen Kopf noch immer an ihrer Schulter und seine Hände um ihren Körper geschlungen.

Sein Atem ging heftig vor lauter Anstrengung.

Normalerweise zehrte Wandeln nicht so an seinen Kräften, aber wenn er sich mit allem dazu zwingen musste, was er aufbringen konnte, war es ein gegen die Natur gehender Prozess, der sich dafür revanchierte.

Leider übernahm jetzt auch wieder der logische Verstand die Führung, was ihm einen stechenden Schmerz in den Schläfen einbrachte. Dennoch biss er ihn herunter und löste sich soweit von seiner Gefährtin, dass er ihr in die Augen sehen konnte. So schwer es ihm auch fiel.

„Tut mir leid.“ Seine Stimme war brüchig und dünn. Er benetzte sich die trockenen Lippen und suchte verzweifelt nach einer guten Erklärung für das Ganze. Aber die würde er nicht finden. Zumindest könnte er niemals sagen, wie Amanda auf seine Ankündigung reagieren würde, was für ihn schlimmer als alles andere war. Dennoch zwang er seine wackeligen Beine dazu, sie mit sich vom Boden hoch zu ziehen und wieder aufs Bett zu setzen. Der Boden war unter seinen nackten Fußsohlen kalt und eine Erkältung war das Letzte, was er Amanda zumuten wollte.

Nataniel holte mehrmals tief Luft, ehe er so ruhig wie möglich sagte: „Ich denke, ich bin dir eine Erklärung schuldig…“

Allein sein Ton besagte, dass er damit nicht nur seine Reaktion meinte, sondern ein viel umfassenderes Thema. Oh Gott, ihm wurde schon alleine bei der Vorstellung schlecht, wie sie auf die ganzen Neuigkeiten reagieren würde.

Wieder diese zwiespältigen Gefühle!
 

Selbst die Reaktion des Katers war leicht mitzubekommen. Er schloss die Augen und seine Schnauze zog sich in Falten, was Amanda als Widerstreben deutete. Trotzdem ließ sie ihn nicht los, sondern versuchte geduldig zu warten, dabei hoffend, dass er sich doch in irgendeiner Weise, die sie verstehen konnte, äußern würde.

Die Augenblicke wollten sich wohl wie Kaugummi in die Länge ziehen, während Amanda nichts anderes tun konnte, als ihre Finger in das weiche, schwarze Fell des Panthers zu krallen. Das Einzige, was ihr dabei noch mehr Halt gab, als seine Gestalt, war die Tatsache, dass er sich nicht dazu anschickte, sie allein zu lassen.

Ebenso lang, aber mit noch mehr verwirrenden Emotionen belastet, dauerten die Momente, in denen ihr die blauen Augen regungslos ins Gesicht starrten. Dagegen war es eine echte Erleichterung den großen Kopf und den warmen Körper an sich zu spüren.

Es konnte Amanda nicht wirklich beruhigen, nahm ihr aber zumindest die Sorgen, die sich ihr am Auffälligsten in den Sinn gedrängt hatten. Dennoch konnte sich ihr aufgeregtes Herz unter den Lauten, die Nataniel in dieser Gestalt von sich gab, nicht beruhigen. Es stimmte ganz eindeutig etwas nicht und wenn selbst der Panther das auf so gequälte Art ausdrücken musste, dann wunderte es Amanda nicht, dass Nataniel sich in diese Variante seiner Erscheinung geflüchtet hatte. Trotzdem atmete sie erleichtert auf, als der silberne Schein die Arme, die sich nur Sekunden später fest um sie schlossen, bereits ankündigte.

Auf seine ernste Entschuldigung, antwortete Amanda mit ebenso brüchiger Stimme. "Ist schon in Ordnung…"

Sie ließ sich von Nataniel in gleicher Weise hochziehen, wie er seinen immer noch zittrigen Körper an ihr zu stützen schien. Immer noch hatte Amanda nicht den kleinsten Schimmer, was er ihr sagen wollte.

Innerlich versuchte sie sich für das Schlimmste zu wappnen, auch wenn Amanda nicht sagen konnte, ob es ausreichen würde. Auf seine Ankündigung, dass sie nun eine Erklärung zu erwarten habe, nickte sie nur schwach.

Adrenalin und eine neue Welle von Angst überschwappte sie, als Amanda die Decke von ihrem Körper löste und ein Stück auf Nataniel zurutschte, um auch ihm den wärmenden Stoff ein wenig um die nackten Schultern zu legen.
 

Nataniel nahm dankbar die Decke an, weil ihm Nacktheit in diesem Augenblick nicht gerade nützlich vorkam. Auch wenn er sich noch nie vor Amanda geschämt hatte, so würde es ihn selbst doch ganz schön in diesem Moment stören. Er kam sich ohnehin schon so vor, als hätte man ihm das Fell abgezogen und er müsste nun ohne den Schutz seiner Haut vor einem ganzen Gericht stehen, das ihn anklagend ansah.

Seine Gefährtin tat definitiv nichts voll alledem. Aber an dem Gefühl konnte er trotzdem nichts ändern und letzten Endes wäre es vielleicht ganz gut, einfach mit der Wahrheit heraus zu rücken. Längerer Aufschub würde alles nur noch schwerer machen und das konnte er schon jetzt nicht mehr ertragen. Also holte Nataniel noch einmal tief Luft und begann dann zu erzählen, während sein Blick auf seine Hände gerichtet war, die in seinem Schoß mit einem Stück Stoff herum spielten.

„Du weißt doch, dass wir Wandler Gefühle sehr deutlich anhand von körperlichen Reaktionen mitbekommen können. Unser Geruchssinn ist auch in menschlicher Gestalt stark genug dafür.“

Zwar machte er eine kurze Pause, erwartete aber keine Antwort. Amanda wusste das und es hatte sie bisher in einigen Fällen ziemlich gestört. Noch eine Tatsache, die das alles hier ziemlich schwierig machte. Auch ohne die Schwangerschaft.

„Das ist aber noch nicht alles, was wir wahrnehmen können. Wenn zum Beispiel jemand eine Krankheit in sich trägt, mag es nur eine Grippe kurz vor dem Ausbruch sein, bekommen wir das deutlich mit. Das … ist auch bei anderen körperlichen Reaktionen so.“

Sein Innerstes krampfte sich zusammen, während er nach genau der richtigen Sorte von sachlichen, wie auch gefühlvollen Worten suchte.

„In gewisser Weise sind wir ständig Tiere. Ob nun in Menschengestalt oder eben als Tier. Unsere Instinkte gehen uns nicht verloren. So wie bei den meisten Menschen es über viele tausende von Jahren passiert ist.“

Nataniel zwang sich dazu, Amanda anzusehen. Es kostete ihn viel Kraft, aber noch mehr, weiter zu sprechen.

„Weißt du noch, der Tag an dem ich regelrecht über dich hergefallen bin, nach dem du vom Einkauf zurückgekommen bist? Oder die darauf folgende Nacht, als ich … mich völlig daneben benommen habe? Damals war ich nicht ganz ich selbst.“, gestand er schließlich leise.

„Dein Duft hat mich fast wahnsinnig gemacht. Er war … ist wie eine Droge für mich. Aber damals war es so schlimm, dass ich meine animalische Seite kaum noch bändigen konnte. Ich hab mich dagegen gewehrt. Wirklich. Aber als meine Gefährtin hast du stärkeren Einfluss auf mich, als irgendjemand anderes auf der Welt. Dein Körper hat buchstäblich ... nach mir geschrien. Ich kann es … nur schwer beschreiben. Dir ist vermutlich gar nicht bewusst, dass du damals…“

Ihm brach definitiv der Schweiß auf der Stirn aus und seine Finger zitterten nun so stark, dass er nicht einmal mehr mit dem Stoff der Decke nervös herumfummeln konnte. Stattdessen verschlang er sie verkrampft ineinander. Er seufzte und senkte nun doch wieder den Blick, als er endlich geschlagen zu reden anfing und zwar richtig.

„Damals war dein Körper fruchtbar, Amanda. Schwach kann jeder Wandler so etwas riechen, aber wenn du erregt bist, dann nehme ich so etwas umso deutlicher wahr. Gerade weil du meine Gefährtin bist und das nicht nur vom Wortlaut her. Mein ganzer Körper ist auf dich eingestimmt und um es nur einmal vom biologischen Sinne her auszudrücken: Dein Körper hat in der kurzen fruchtbaren Phase genau die gleichen Signale ausgesandt, wie es jedes Lebewesen schon seit Anbeginn der Zeit tut, um die Art zu erhalten. Menschen können das meistens nicht mehr wahrnehmen. Wandler schon. ICH konnte es gar nicht ignorieren.“

Das stimmte. Er war wie auf Drogen gewesen. Luststeigernde Drogen.

„Aber noch deutlicher reagieren meine Instinkte auf deinen unwiderstehlichen Geschmack. Er sagt mir mehr, als meine Nase wahrnimmt. Und vorhin hat er…“ Verdammt, gleich fing er an zu hyperventilieren.

Bevor es jedoch so weit kam, nahm er all seine noch verbleibenden Kräfte zusammen, sog die Gefühle in seinem Herzen bis in seinen Verstand ein und lächelte dann warm und mit aller Ernsthaftigkeit, die in seiner Liebe zu Amanda lag.

„Wir bekommen Nachwuchs…“

Seine Stimme bebte ebenso sehr wie seine Lippen und nun da er es ausgesprochen hatte, wurde es in seiner Brust ganz heiß. Die Freude über diese Nachricht überwog langsam, auch wenn sie die Angst nicht vertreiben konnte. Weshalb Nataniel seine Gefährtin nicht ansehen konnte, sondern seinen verschwommenen Blick nun auf seine völlig still da liegenden Hände richtete.

Wenn das so weiter ging, würde er wirklich noch vor ihr flennen. Aber allein das Wissen, dass er Vater werden würde … oder nicht, wenn sie das hier nicht überlebte. Er hatte wirklich entsetzliche Angst vor der Zukunft. Jetzt mehr denn je.
 

Die Welt musste stehen geblieben sein. Zusammen mit der Zeit und der Wirklichkeit, die sie normalerweise umgab.

Während Nataniel versucht hatte, ihr zu erklären, was ihm auf dem Herzen lag, hatte sich die Umgebung bereits verabschiedet und zuerst noch Nataniel in die kleine Sphäre eingeschlossen, die Amanda umgab. Sie hatte teilweise nicht gewusst, ob sie sich auf die zittrigen Reaktionen seines scheinbar überlasteten Körpers oder auf seine Worte konzentrieren sollte. Schließlich war es aber der Inhalt dessen gewesen, was er ihr zu sagen versucht hatte, der sie aus der Wirklichkeit geschleudert zu haben schien.

Stocksteif, mit den Händen in ihrem Schoß gefaltet, saß Amanda wie in einer Glaskugel, durch die sie kein einziger Eindruck von außen erreichen konnte.

Sie nahm absolut nichts um sich herum wahr. Selbst Nataniel war wie ausgeblendet, obwohl er immer noch neben ihr saß, in die gleiche Decke gehüllt und allein seine Emotionen eigentlich hätten auf Amanda überschwappen müssen.

Auf dem Inneren der Kugel liefen die Worte wie Tickermeldungen vorbei und schienen so aneinander gereiht doch absolut keinen Sinn zu ergeben.

Starr versuchte Amanda ihren Blick auf die vorbeihuschenden Buchstaben zu heften, rutschte aber immer wieder ab. Im Rhythmus ihres Herzens pochte ihr sowieso nur ein einziges Wort in Körper, Herz und Seele: Nachwuchs.

Die Nachricht drängte sich so absolut in Amandas Geist, dass alles andere wie ausgelöscht war. Warum, wann war völlig egal. Wie einzelne Tropfen auf eine spiegelnde Wasseroberfläche schienen die Worte nach einander endlich zu einander zu passen und eine Aussage zu bekommen.

Die Nacht in Nataniels Haus, als er sie gebissen hatte… Sie war fruchtbar gewesen. Er hatte es gewusst. Aber… Amandas Atem stockte kurz, bevor er leicht keuchend wieder seinen Takt aufnahm.

Langsam fing die Welt wieder an sich zu drehen und machte Amanda schwindelig. Die Tragweite dessen, was Nataniel ihr gerade gesagt hatte, konnte sie noch nicht begreifen.

Ein Baby.

Selbst ihre Hand auf ihren Bauch zu legen fühlte sich jetzt seltsam anders und bedeutungsschwer an. Es war nicht anders als sonst. Das war ihr Körper. Und er hatte ihr genauso wenig Vorwarnung gegeben wie Nataniel, der immer noch nackt und zitternd neben ihr auf dem Bett saß.

"Herzlichen Glückwunsch."

Noch bevor Amanda das zweite Wort beendet hatte, brachen Tränen über sie herein und sie schlang ihre Arme um Nataniel. Sie vergrub ihren Kopf an seiner Halsbeuge und ihr Körper wurde von den Emotionen geschüttelt, die alle auf einmal auf sie einstürzten. Was übrig blieb, war von Tränen durchmischtes Lachen.

Ohne sich wirklich die Zeit zu nehmen, sich zu beruhigen, löste sie sich wieder von Nataniel, nahm sein Gesicht in ihre Hände und sah ihn an. "Freust du dich?"
 

Egal welche Reaktion er von Amanda erwartet hätte. Er wäre nicht darauf vorbereitet gewesen. Wie auch? Er wusste es doch selbst erst seit wenigen Minuten und wie er auf die Nachricht reagiert hatte, war schließlich auch kein Geheimnis gewesen. Darum gab er Amanda Zeit, die Botschaft zu verinnerlichen.

Schweigend und still saß er neben ihr, erstarrte mit ihr in der Zeit, bis sie schließlich endlich eine Reaktion zeigte, mit der er etwas anfangen konnte. ‚Herzlichen Glückwunsch‘, ja das passte definitiv, sah man mal von all den Dingen ab, die dieses Glück gefährdeten. Aber die einmal beiseite geschoben, konnte man ihnen beiden wirklich gratulieren.

Sofort schlang er seine Arme um seine geliebte Gefährtin, als sie sich weinend an ihn schmiegte und ebenso heftig geschüttelt wurde, wie er noch vorhin. Wie gut er das alles doch nachvollziehen konnte.

Nachdem auch bei ihr zum ersten Mal reichlich die Tränen flossen, musste auch Nataniel sich mehrmals verstohlen über das Gesicht wischen, bis er Amandas Lachen hörte und sie sich von ihm löste.

„Ob ich mich freue?“, fragte er sie ungläubig, als wäre es unmöglich etwas anderes als Freude dafür zu empfinden.

Natürlich hatte er auch andere Gefühle in sich, die wild herum tobten, aber alle hatten definitiv etwas mit Sorge, oder Ängsten zu tun. An der Tatsache, dass Amanda schwanger war, störte sich keine einzige Zelle in seinem Körper. Ganz im Gegenteil. Er könnte nicht nur vor Freude heulen, sondern er tat es, wenn auch so klamm heimlich wie möglich.

Weswegen man später auch nur schwer sagen konnte, von wem die Nässe auf ihren Wangen kam, als er ihr Gesicht zu küssen begann.

Jeden einzelnen Millimeter davon und dabei betonte Nataniel immer wieder, wie sehr er sich darüber freute und wie sehr er sie doch liebte. Bis er sie wieder in seine Arme zog und sich sachte mit ihr zu einer imaginären Melodie wiegte.

„Mein Herz fließt über vor Glück.“ Und wurde zugleich von Sorge zerfressen.

Aber das wollte er ihr eindeutig nicht sagen. Stattdessen küsste er ihren Hals, streichelte mit seinen Fingern über ihren Nacken und summte ganz leise eine Melodie, die er tief verinnerlicht hatte. Amanda musste das Lied kennen. Sie hatte es gesummt, als sie voller Freude im Fluss gebadet und sich die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut geräkelt hatten. Nataniel würde diesen Anblick niemals vergessen.
 

Amanda schloss die Augen und hörte Nataniel zu.

Dass sie sich bei ihm anlehnen konnte, brachte erst Recht die Bilder in ihre Erinnerung zurück, die sie sich damals bei ihrem Bad im Fluss vorgestellt hatte. Gute Zeiten, eine Familie. Sie konnte fast noch jedes Gefühl erspüren, das sie damals empfunden hatte und das ihr so unwirklich und weit entfernt vorgekommen war. Sie hatte mit Nataniel lachen wollen, ohne Sorgen mit ihm leben, auch wenn ihr Beziehung damals erst als reine Bekanntschaft gewertet werden konnte. Und jetzt… Aufgeregt und auch ängstlich fing Amandas Herz an heftig zu pochen. Sie hatte doch absolut keine Ahnung, was zu tun war. Wenn sie ehrlich war, hatte sie noch nicht einmal darüber nachgedacht, schwanger zu werden. Selbst bei der Moonleague hatte sie nur in legendenartigen Gerüchten davon gehört, dass Menschen und Gestaltwandler Kinder zusammen gezeugt hatten. Diesen Dingen hatte sie weder besondere Aufmerksamkeit, noch wirklich viel Glauben geschenkt. Und dabei war es schon schwerwiegend genug, ein Kind in sich zu tragen. Ob von einem Wandler oder nicht.

Was das alles mit sich brachte, würde sie wohl noch herausfinden, aber Amanda war jemand, der gern vorbereitet war und das traf gerade jetzt in keinster Weise zu. Am liebsten wäre sie bereits jetzt aufgesprungen und hätte sich zumindest im nächsten Buchladen einen dicken Wälzer über Schwangerschaft besorgt. Immerhin wollte sie bloß nichts falsch machen.

Die Gedanken rasten nur so in Amandas Hirn herum und schienen ihren Puls oben zu halten, der sich seit Nataniels Nachricht in schwindelerregende Höhen aufgeschwungen hatte. Aber über alles konnte sie jetzt sowieso nicht nachdenken. Das war unmöglich. Mit dieser Explosion an Emotionen war es völliger Blödsinn irgendwelche Pläne fassen zu wollen.

"Ich dachte wirklich, dass das gar nicht möglich ist. Du und ich… Ich meine, weil wir so verschieden sind. Und jetzt bekommen wir ein Jaguarbaby, das vermutlich durch die Schatten gehen kann."

Amanda grinste übers ganze Gesicht, während sie sich keinen Millimeter aus Nataniels Umarmung löste.

"Wird verdammt schwer werden, einen Babysitter zu kriegen."

Noch dazu, wenn das kleine Wesen das geballte Temperament seiner Eltern erben sollte. Aber bis sie sich über so was unterhalten mussten, war noch Zeit. Es war kaum ein Monat und noch … standen leider ganz andere Sachen im Vordergrund.

Bevor ihr jetzt das Herz schwer werden und sie in Panik ausbrechen konnte, wandte sie ihr Gesicht doch Nataniel zu und konnte das frohe Lächeln immer noch nicht aus ihrem Gesicht wischen.

Als sie seine blitzenden Augen sah, verwandelte es sich völlig automatisch sogar in ein Grinsen, das locker den Raum hätte erhellen können.

"Scheiße, eigentlich sollte ich sauer auf dich sein. Du hättest was sagen müssen!"

Sie boxte ihn leicht auf die Schulter, küsste ihn aber kaum eine Sekunde später versöhnlich auf die Lippen.

"Ist es ok, wenn wir einfach nur schlafen gehen? Ich fühl' mich irgendwie … ein bisschen erschlagen."
 

Oh Mann. Er war so erleichtert, über Amandas relativ harmlose Reaktion, dass es ihm vorkam, als würde eine ganze Steinlawine von seinem Herzen fallen.

Natürlich war er immer noch besorgt und hatte Angst, aber es fühlte sich doch ganz gut an, dass sie offensichtlich nichts gegen ein Baby von ihm und mit ihm hatte. Selbst wenn das im Augenblick völlig daneben war, freute er sich doch wie wild darüber, während er alles andere beiseite schob. Darüber könnte er sich morgen auch immer noch Gedanken machen. Eigentlich könnte er nicht nur, er würde sogar. Davon konnte man ihn unmöglich abhalten.

„Ja, ich hätte was sagen sollen. Das weiß ich. Aber erklär das mal jemanden, der sich vorkommt, als wäre er auf LSD vermischt mit einer Wagenladung Viagra.“

Er grinste zurück und streichelte ihre Schultern, als sie ihn küsste. Danach zog er die Decke von ihnen beiden, schob die Kissen zurecht und legte sich mit seiner Gefährtin im Arm hin.

„Erschlagen fühle ich mich nicht gerade. Aber ich denke, jetzt weißt du, was ich mit Zerrissen meine, sollte ich mir jemals wieder so vorkommen.“

Und Sex war um ehrlich zu sein, gerade das Letzte, woran er dachte. Immerhin hatte ihn die Nachricht mit der Schwangerschaft ebenso eiskalt erwischt, wie seine Ankündigung Amanda gerade eben.

Noch immer streichelte er ihren Nacken, auch als er schon längst die Augen geschlossen hatte.

„Tut mir übrigens immer noch wahnsinnig leid, dass ich dich gebissen habe. Geistige Umnachtung ist keine Ausrede dafür.“

Er nuschelte es bereits nur noch, während sein Körper sich immer mehr entspannte. Das Zittern hatte schon längst nachgelassen, aber man spürte trotzdem noch leichte Nachbeben. Vor allem war es wirklich ganz schön anstrengend gewesen.

Nataniel wollte gar nicht an morgen denken. Sondern lieber an eine Zukunft die bereits einige Monate weiter war, als ihre derzeitige Lage. Keine Moonleague. Seine Gefährtin. Das Baby. Auf dem Land. Frieden. Glück und Freude. Keine Gefahr mehr. Schade dass alles so ungewiss war und in seinen Gedanken nicht vollkommen Farbe annehmen wollte.

Gedankenverloren strich seine Hand unter der Decke über Amandas Schulter, ihre Seite und blieb schließlich mit dem Daumen unterhalb ihres Bauchnabels hängen, wo er sanfte Kreise zog.

Niemals hätte er gedacht, dass er seine Gefährtin einmal teilen könnte. Aber das Gefühl des zu Drittseins jagte ihm einen behaglichen Schauer durch den Körper und obwohl es noch sehr früh und kaum greifbar war, so spürte doch sein ganzer Organismus, welche Rolle ihm zugedacht war. Deshalb hatte ihr Geruch seinen Kennzeichnungstrieb nicht mehr hervor gelockt. Sie gehörte zu ihm. Trug etwas von ihm in sich. Das alleine sagte schon genug. Fand er.
 

Auf Nataniels neuerliche Entschuldigung hin, was den Biss von damals betraf, sagte Amanda nichts. Sie kuschelte sich nur an ihn, schlang einen Arm um seinen Oberkörper und schloss ebenfalls die Augen.

Es war seltsam, wie stark die Stimmung umgeschlagen war, aber es war nicht weniger intim, einfach nur anders. Und Amanda fühlte sich inzwischen wirklich müde.

Das Adrenalin schien sich langsam aber stetig aus ihrem System zurückzuziehen, um aber immer noch ihr stark pochendes Herz zurückzulassen. Es war nur der Vorbote all der Gedanken, die sie sich jetzt machen musste. Aber nicht mehr heute. Solange sie konnte, würde sie die Ruhe mit Nataniel genießen.

Seine Hand, die schleichend und sanft ihren Körper hinunter strich, um schließlich kleine Kreise zu ziehen, sorgte nur dafür, dass Amanda schneller in den Schlaf sank. Er war bei ihr, also würden sie das schon alles hinkriegen.

50. Kapitel

Lautes Klopfen an der Tür weckte Amanda und ließ sie sofort in die Höhe fahren. Sie war erschrocken und verspannte sich nur noch mehr, als sie auf die Uhr sah, die seit ihrem Einschlafen nur drei Stunden vorgeschritten war. Es war mitten in der Nacht. Wenn jetzt jemand etwas von ihr wollte, dann musste es verdammt wichtig sein.

"Moment."

So flink sie konnte, stieg Amanda über Nataniel hinweg aus dem Bett, zog sich sein Shirt und einen Slip über und öffnete die Tür einen Spalt, um hinaus zu linsen.

"Tut mir leid, euch zu wecken, aber es gibt Probleme."

Man sah auch Eric an, dass er wenig Schlaf bekommen hatte. Wahrscheinlich kaum eine Stunde, seit er seinen Wachdienst beendet hatte. Die blonden Haare standen in allen Himmelsrichtungen von seinem Kopf ab und seine Augen mussten brennen, so rot wie sie waren.

"Was ist denn…?"

"Eine Wagenkolonne. Direkt auf dem Weg hierher zum Containerhafen. Moonleague – Kennzeichen."

Mehr brauchte er nicht zu sagen. Ohne ein weiteres Wort drehte Amanda sich um und suchte wirbelnd ihre Klamotten vom Vortag zusammen. Kaum, dass sie in ihre Schuhe geschlüpft war, rannte sie mit Nataniel zusammen hinter Eric her. Zuerst zu Clea, die über verschiedene Satelliten die Umgebung im Blick hatte. Vielleicht war es einfach nur falscher Alarm.

Amanda hoffte es so sehr!
 

Er schien erst seit wenigen Minuten zu schlafen, ehe es in seinem Kopf zu hämmern anfing. Es war dann aber doch Amanda, die über ihn hinweg kletterte und ihm somit deutlich machte, dass das Hämmern nicht in seinem Kopf sondern eigentlich ein Klopfen an der Tür war. Aber in dieser Umgebung hallte alles so seltsam nach, dass es seine Sinne leicht verwirrte. Erst recht, wenn er so schnell aus dem Schlaf gerissen wurde.

Nataniel brauchte nur das Wort ‚Moonleague‘ zu hören und er war aus dem Bett, um sich seine Jeans anzuziehen. Als Amanda die Tür wieder geschlossen hatte, tauschte sie sein Shirt mit dem Oberteil, dass er ihr hin hielt, damit sie sich fertig anziehen konnten.

Ein letzter Sprung in die Schuhe, noch einmal durch die Haare gestrichen und das Adrenalin übernahm erbarmungslos den Rest. Sein ganzer Körper war so angespannt, dass er schon befürchtete, sich gleich wieder zu verwandeln. Aber seine Konzentration reichte aus, sich zu beherrschen und stattdessen lautlos hinter dem Geschwisterpaar herzulaufen.

Sein Gehör war geschärft, seine Nase sog alles in sich auf, was er kriegen konnte und der Rest seiner Sinne arbeitete auf Hochtouren.

Bei Clea angekommen, war er so aufgepuscht, dass er sich sofort in einen Kampf hätte stürzen können. Aber gerade jetzt wurde ihm wieder einmal bewusst, wie wenig er hierher gehörte.

Amanda kannte sich aus. Sie wusste was zu tun war. Genauso wie Clea und Eric. Er war bei alle dem ziemlich überfragt. Denn mit so was hatte er nicht gerechnet und Nataniel hatte auch keine Ahnung, was es genau bedeutete, dass eine Wagenkolonne von der Moonleague auf sie zukam. Vor allem in welchem Umfang. Kolonne war nicht gleich Kolonne.

War es reiner Zufall, oder wussten sie genau, dass der Untergrund sich hier versteckte?
 

In Cleas Reich herrschte das immer währende flackernde Licht der Bildschirme, während die Meisterin mit einem pinken, flauschigen Pyjama vor der Tastatur saß und wie wild darauf einhämmerte.

"Clea, wie sieht's…"

"Ich weiß nicht, der Empfang ist schlecht. Scheiße!"

Eric klappte sofort den Mund zu, als Cleas Gefühlsausbruch ihn traf. Er warf einen ernsten Blick zu Amanda hinüber, die sich über die Schulter der Freundin beugte und versuchte in dem wirren Pixeldurcheinander auf dem Monitor etwas zu erkennen. Keine Chance. Es waren zwar Bewegungen auszumachen und mit Phantasie konnte man den Streifen, der das Bild durchzog als die Zufahrtsbrücke zum Hafen erkennen, aber das brachte einfach nichts.

Es brauchte nur ein winziges Nicken von Amanda, damit Eric sich straffte, einen Schlüsselbund klimpernd aus der Hosentasche zog und im nächsten Moment aus der Tür verschwunden war.

"Amanda, es tut mir leid, die Verbindung zum Satelliten ist bescheiden. Wenn Francy die Autos nicht spanisch vorgekommen wären, wüssten wir gar nicht, dass sie auf dem Weg hierher sind."

Voller Scham sah Clea zu Amanda auf, die ihre Augen endlich von dem Ameisenkrieg auf dem Bildschirm löste.

"Es ist nicht deine Schuld. Außerdem wissen wir noch nicht sicher, dass sie es sind. Und dass sie zu uns wollen."

"Aber was sollen sie sonst…"

Clea schien in Panik ausbrechen zu wollen, was Amanda nur noch mehr dazu brachte, ihre alte Rolle als Sammlerin anzunehmen. Sie war die Vorgesetzte vieler gewesen und hatte unzählige Einsätze geleitet. Wenn Amanda für etwas Talent hatte, dann für Ruhe in so einer Situation zu sorgen.

"Versuch einfach weiter ein klares Bild zu bekommen. Wir werden rausgehen und uns die Sache ansehen. Sollte die Zentrale in Gefahr sein, sorg bitte dafür, dass alle geweckt werden und gegebenenfalls von hier verschwinden."

Es war wichtig, Aufgaben zu verteilen. Gerade Clea musste beschäftigt sein, um in dieser ungewohnten Situation nicht durchzudrehen. Sie war noch nie bei einem Außeneinsatz dabei gewesen und im Bauch der Moonleague Zentrale war so etwas wie ein Angriff auf die Organisation nie zu ihr durchgedrungen. Es war nur allzu verständlich, dass sie nicht wusste, wo ihr der Kopf stand. Trotzdem nahm sie Amandas Befehle entgegen und tippte mit ernsten und bis zum Zerreißen konzentrierten Gesichtszügen weiter auf die PC-Tastatur ein.

"Wir melden uns, sobald wir was sehen."

Damit drehte Amanda sich um und verließ den Raum, gefolgt von Nataniel, der sich bis jetzt noch gar nicht geäußert hatte.

Auch er war so was nicht gewohnt und Amanda war nicht klar, wie viel Rücksicht sie darauf nehmen sollte.

Eric kam um eine Ecke geschossen, einen großen Metallkoffer in der Hand und eine umgedrehte Baseballkappe auf dem Kopf. Noch im Gehen reichte er Amanda ein Waffenholster, das vom Gewicht zweier Pistolen nach unten gezogen wurde.

Mit automatisierten Bewegungen streifte Amanda die Gurte über und folgte Eric ein paar Gänge entlang. Schließlich erreichten sie die Motorräder und Amanda warf Nataniel einen der Helme zu. Da er mit ihnen gekommen war, nahm Amanda einfach an, dass er sie auch jetzt nicht allein gehen lassen wollte.

An Eric gewandt, sagte sie: "Wir fahren nah an die Brücke ran. Wo willst du dich platzieren?"

Überlegend runzelte Eric die Stirn.

"Ich denke der Kran ist am besten. Von da oben hab ich freie Schussbahn für den Großteil des Containerplatzes."

"Ok."

Eric öffnete noch das Tor, damit Amanda mit Nataniel auf dem Sozius eines der Motorräder aus dem Container fahren konnte und war dann in Richtung des großen Containerkrans unterwegs. Sie würden etwa zur gleichen Zeit an der Brücke ankommen, zu der er in Position war und sein Präzisionsgewehr zusammengesetzt hatte.

Verdammt gut, Rückendeckung von einem Scharfschützen zu haben.
 

Es war die Untertreibung des Jahrhunderts, dass Nataniel sich nur schwer, auf die neue Situation einstellen konnte.

Zuerst war da Clea mit der ganzen Technik, die er noch halbwegs nachvollziehen konnte. Offenbar gab es ein Problem auf einer Brücke und dank Francy waren sie gewarnt worden. Aber die garantierte Bestätigung würden wohl erst sie vor Ort einholen müssen, ob es sich hierbei wirklich um die Moonleague handelte.

Ihm kam es zwar seltsam vor, dass die Organisation so auffällig vorgehen sollte, gab es doch auch noch so viele andere Möglichkeiten anzugreifen. Doch vielleicht stand hinter der ganzen Aktion auch eine bestimmte Absicht und nur er war nicht in der Lage, sie zu verstehen.

Wie frustrierend es war, sich lediglich mitziehen zu lassen, ohne wirklich handeln zu können, konnte man sich kaum vorstellen. Trotzdem war das hier so anders, als alles was er bisher erlebt hatte. Kein Wunder, dass Nataniel Mühe hatte, seine Instinkte zu unterdrücken. Alleine wie Amanda sich den Waffengurt umschnallte, machte ihm deutlich, dass er es hier mit Spezialisten zu tun hatte. Keine feindlichen Wandler.

Hier konnte man durchaus von einer Kugel getötet werden, als in einem fairen Kampf von Angesicht zu Angesicht. Was also hieß, körperliche Stärke war total für die Katz, es sei denn, man wertete es als positiv, dass er mit seiner Statur lediglich eine größere Zielscheibe abgab.

Aber auch wenn Nataniel sich im Augenblick absolut nutzlos vorkam, so könnten seine Sinne vielleicht noch nützlich sein. Weshalb er den Helm auch nur ungern aufsetze, weil sofort alles von seiner Umgebung gedämpft wurde. Die Geräusche, Gerüche, sogar seine Sicht. Das machte ihn nur noch reizbarer.

Trotzdem fügte er sich wortlos. Behinderungen waren hier nicht nützlich und er wollte deswegen nicht von Amandas Seite weichen müssen. Also folgte er ohne zu fragen, handelte, ohne zu widersprechen und verließ sich darauf, dass seine Gefährtin ihm sagen würde, wenn er etwas tun oder lassen sollte. Sie musste doch wissen, dass das hier vollkommenes Neuland für ihn war und dennoch würde er sie nicht alleine fahren lassen. Zur Not wäre er immerhin noch als lebender Kugelfang für sie gut.
 

Nataniel war offensichtlich noch nie auf einem Motorrad mitgefahren. Er schien Schwierigkeiten zu haben sich mit Amanda in die doch recht engen Kurven zu legen und wenn er sich so halbherzig an ihr festhielt, würde sie ihn am Ende noch verlieren. Deshalb blieb Amanda auch nach zwei Biegungen stehen, drehte sich leicht um und klappte das Visier ihres Helmes hoch.

Sie griff Nataniels Hände und legte sie um ihren Bauch, was ihn automatisch zwang sich weiter vorzulehnen und an sie heran zu rutschen.

"Wir fahren nur ein kurzes Stück", sagte sie sanft aber bestimmt über das knatternde Geräusch des Einzylindermotors hinweg.

"Folge einfach meinen Bewegungen, ich weiß was ich tue. Und wenn wir ankommen, dann versuch nicht auf einer Linie zwischen dem Kran und den Autos zu stehen."

Energisch klappte sie das Visier wieder hinunter, drückte noch einmal Nataniels Hände an ihren Körper, damit er sich auch richtig festhielt und ließ dann den Motor aufheulen. Sein Körper wurde bei ihrem schnellen Start ein wenig nach hinten gerissen, aber er hielt sich nun entsprechend an Amanda fest.

Erst jetzt kam ihr in den Sinn, dass seine Arme das kalte Metall der Waffen an ihrer Seite streifen mussten.

Ein grimmiger Ausdruck trat auf ihr Gesicht, während sie in den nächsten Gang schaltete und noch mehr Gas gab.

"Vertrau' mir."

Kurz vor der letzten Containerreihe verlangsamte Amanda die Fahrt und stellte das Licht aus. Die Beleuchtung des Piers würde ausreichen, um genug erkennen zu können und noch dazu wollten sie ja nicht wie mit einem Leuchtpfeil über ihrem Kopf auf sich aufmerksam machen.

Die Helme hängten sie griffbereit an den Lenker des Motorrads und Amanda kontrollierte die Waffen im Holster. Dann sah sie Nataniel an, der immer noch schweigend und wie fehl am Platze neben ihr stand.

"Ich weiß nicht, was wir wirklich zu erwarten haben… Vielleicht ist es gar nichts."

Ihr Blick wanderte über Nataniels Schulter zum Kran in der Nähe ihrer Zentrale.

"Zur Sicherheit sitzt Eric da oben und hat uns, wie auch die ankommenden Wagen im Blick. Es ist wichtig, dass wir ihm nicht in die Schussbahn geraten."

Jetzt legten sich ihre hellbraunen Augen wieder auf Nataniels Gesicht.

"Was meinst du, sollen wir so im Team arbeiten oder wäre dir deine andere Gestalt lieber? Du kannst auch eine meiner Waffen haben."

Auch wenn sie es lieber gesehen hätte, dass er sie gar nicht benutzen musste.

"Es geht nur darum herauszufinden, was los ist. Aber wenn es die Moonleague ist, dann will ich dir nichts vormachen. Dann haben wir keine Diskussionen zu erwarten."
 

Oh ja, Nataniel wusste, wieso er Motorräder hasste und auch selber keins fahren konnte. Die Dinger waren viel zu schnell und man selbst hatte nur bedingt Kontrolle darüber. Zumindest war es ihm immer so vorgekommen.

Mit einem Auto kam er klar. Das bot noch relativ guten Schutz, aber wenn man mit einem Motorrad bei mehr als zweihundert Sachen auf die Schnauze fiel, konnte man sich sein Fell vom Asphalt abkratzen lassen.

Wenigstens half ihm Amanda dabei, so gut es ging, mit der verdammt angespannten Situation fertig zu werden. Ihren Körper enger an sich zu spüren, beruhigte ihn wie nichts anderes, auch wenn es nichts daran änderte, wie aufgekratzt er war. Ihm gelang es gerade noch mit Müh und Not seine eigenen Waffen zurück zu halten. Die von Amanda entgingen ihm auf jeden Fall nicht.

Als sie endlich anhielten und er mit leicht zittrigen Beinen von der Höllenmaschine stieg, riss er sich förmlich den Helm vom Kopf und holte mehrmals tief Luft. Sofort analysierte sein Gehirn die Gerüche seiner Umgebung, aber es gab nichts Verdächtiges.

„Nein, behalte die Waffen.“

Er könnte ohnehin nicht damit umgehen. Außerdem gingen ihm seine nächsten Worte zwar so derart gegen die Natur, dass er sich selbst dafür hasste, aber in dieser Lage war es einfach besser so.

„Ich werde mich zurückziehen, Amanda.“

Nataniel sah seiner Gefährtin dabei tief in die Augen. Es tat weh, sie so ungeschützt stehen zu lassen. Aber er würde nicht weit weg sein.

„Vielleicht, wenn es hart auf hart kommt, könnten wir sie überraschen, wenn sie zuerst nur mit dir rechnen.“

Außerdem sah er schon von weitem wie ein Gestaltwandler aus. Also wie der potentielle Feind, auch wenn Amanda das inzwischen ebenfalls geworden war. Aber die Typen hatten doch geglaubt, dass er oder das Rudel sie umgebracht hätten. Vielleicht rechneten sie nicht damit, dass sie im Gegenteil sogar sehr eng miteinander zusammen arbeiteten. In Nataniels und Amandas Fall sogar enger, als sie sich vorstellen konnten.

„Ich werde in der Nähe bleiben.“ Und sich verwandeln. Denn er wollte alle seine Sinne und Kräfte vereint wissen. Als Mensch waren diese ganzen Dinge nur noch billiger Abklatsch von dem, was er eigentlich drauf hatte. So gut er das manchmal auch verbergen konnte.

Da ihnen nicht mehr viel Zeit blieb, weil er schon die Wagen hören konnte. Zog er Amanda kurz und intensiv in die Arme, küsste ihre Lippen und flüsterte ihr ins Ohr, sie solle vorsichtig sein. Danach verschwand er zusammen mit seinem Helm, lautlos in den Schatten zwischen den Containern, um seine Kleider loszuwerden und sich zu verwandeln.

Kaum, dass er mit dem Panther verschmolz hörte, roch und sah er um Vieles besser. Auch so eine Art sechster Sinn schaltete sich ein, was seine Reflexe deutlich verbesserte.

Lautlos und vollkommen unsichtbar, da seine Fellfarbe mit den Schatten verschmolz, behielt er die Situation im Blick und war zugleich so nahe, dass er mit zwei großen Sätzen sofort an Amandas Seite wäre.
 

Überrascht presste Amanda ihre Lippen aufeinander und versuchte nicht allzu viel ihrer Emotionen nach außen zu lassen. Nataniel wollte sich zurückziehen.

Wenn sie mit irgendetwas nicht gerechnet hatte, dann damit. Eher hätte sie angenommen, dass er sie auf dem Motorrad festbinden und sich der kommenden Gefahr allein stellen wollte. Aber so war es besser. Dann musste sie sich immerhin nur um sich selbst Gedanken machen und nicht zusätzlich darauf achten, dass ihrem Partner nichts passierte.

So schnell, wie er sie in seine Arme zog und sie küsste, so schnell war er hinter der nächsten Biegung verschwunden und Amanda stand allein im Schlagschatten einer der Container.

Ein Atemzug, ein zweiter.

Ihr Körper straffte sich, ein Blitzen trat in ihre Augen, als sie die Wagen kommen hörte. Sie wusste, was sie am Wahrscheinlichsten zu erwarten hatte. Das würde ziemlich ungemütlich werden.

Der Wind riss an ihren Haaren, als sie aus dem Schutz des Containerstapels direkt in die Fahrbahn der Wagenkolonne trat.

Das Scheinwerferlicht blendete und Amanda schirmte die Augen mit dem Unterarm ab. Einzelne Steinchen knirschten unter den Sohlen ihrer Schuhe, als sie sich sprungbereit hinstellte und bereits alle Muskeln in ihren Beinen anspannte. Vielleicht würde es dem Fahrer des ersten Wagens einfallen, dass es am einfachsten war, Amanda einfach umzufahren, anstatt sich auf eine direkte Auseinandersetzung einzulassen. Immerhin wussten viele Sammler aller Klassen in der Moonleague, wer und was sie war.

Nur wenige Meter von ihr entfernt rollte der schwarze Wagen aus und blieb schließlich mit immer noch hell leuchtenden Scheinwerfern stehen.

Amanda hörte den Motor, das Schlagen der Wellen gegen die Steinmauer unter ihr und ihren eigenen Atem, der konzentriert langsam ging.

Der Arm, den sie nun herunternahm, da die Scheinwerfer nicht mehr in ihr Gesicht strahlten, legte sich instinktiv nur leicht an ihre Seite, um schnell an die Waffen im Holster heran zu kommen.

Die Männer blieben hinter den geöffneten Türen stehen und hefteten nicht nur ihre Blicke drohend auf die Frau, die dort allein in ihrem Weg stand. Amanda hatte es nicht hören können, aber sie war sicher, dass die beiden Kerle in den dunklen Uniformen ihre Waffen bereits entsichert in den Händen hielten.

Ein bedachter Schritt nach rechts, damit Eric freie Schussbahn auf den linken der beiden Sammler hatte. Den rechten würde sie erledigen können und war beim Auto, bevor die anderen beiden ihre Türen aufbekamen. Die Worte des Rädelführers bestätigten Amanda noch ihre minimale Erleichterung.

"Hey, Süße! Du solltest hier nicht so allein am Hafen rumlaufen, mitten in der Nacht. Dir könnte was passieren."

Sie hatten keine Ahnung, wer sie war. Ein Vorteil, den sie nutzen sollte, so lange sie ihn hatte.

"Danke für den Hinweis. Was wollt ihr denn dann so spät in dieser gefährlichen Gegend?"

Beinahe hätte Amanda gelächelt und entgeistert den Kopf geschüttelt. Brachte man der Klasse 5 denn gar nichts mehr über Deckung bei?

Der Kerl kam hinter der Tür hervor und zielte, wie sein Kollege mit einer Großkaliberwaffe auf Amandas Brust.

"Das geht dich gar nichts an. Und wenn du nicht gleich aus dem Weg gehst, werd ich dafür sorgen, dass du nie wieder am falschen Ort rumstehst."

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich mit einem Mal, als er bis auf zwanzig Meter an Amanda heran war. Sie hörte einen Fluch und sah den Sammler hektisch seinem Kollegen hinter der Wagentür Zeichen geben.

"Das ist sie!" Der Knall des Schusses schnitt durch die Stille Nacht, wie es die Kugel tat, die sich aus der Waffe des Sammlers löste. Amanda sah den Kerl hinter der Wagentür noch zusammenbrechen, während sie sich zur Seite rettete und ihre eigene Waffe zog.

Auch der Sprecher hatte nicht einmal kapiert, was passierte, als Erics zweiter Schuss ihn von den Füßen holte. Wieder ein perfekter Treffer.

Jetzt schwärmten die Sammler aus den Autos, wie aufgebrachte Bienen. Und sie waren ebenso bereit sich auf das nächste Opfer zu stürzen, was ihnen unter die Finger kam. Was in diesem Fall Amanda war.

Durch die Schatten ging sie auf einen Angreifer zu und stieß ihn einfach ins Meer.

Als sie sich umdrehen wollte, um die Übersicht zu behalten, wurde sie am Arm herum und zu Boden gerissen, kurz bevor ein Kugelhagel an der Stelle, an der sie gerade noch gestanden hatte, die Beifahrertür des ersten Wagens durchlöcherte.

Seth zerrte Amanda unter den Wagen. Entgeistert sah sie ihm in die schwarzen Augen, bevor sie ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle hatte. Seine Anwesenheit veränderte die Situation. Amanda musste sich diesem Kugelhagel nicht aussetzen. "Wie viele brauchst du lebend?"

"Nur einen."

Im nächsten Augenblick war Seth verschwunden und an dem gurgelnden Geräusch, das ein stürzender Mann neben ihr verursachte, konnte sie ablesen, dass er ihre Antwort nur allzu ernst genommen hatte.

Amanda konnte Entsetzen in den Gesichtern der Männer lesen, die sie aus dem Nichts heraus k.o. schlug oder einfach ins Meer beförderte, die weit über normale Furcht hinausging.

Die meisten hatten noch nie einen Schattengänger gesehen, geschweige denn gegen gleich zwei von ihnen kämpfen müssen. Aber sie waren dennoch Kämpfer, die auf schlimme Situationen gedrillt worden waren.

Als die ersten fünf tot am Boden lagen oder irgendwo im Wasser schwammen, lösten sich die anderen aus ihrer Starre und verfeuerten, was ihre Magazine hergaben.

Nur Seths Training war es zu verdanken, dass die ein oder andere Kugel nicht durch Amandas Körper schnitt, sondern nur durch dünne Luft. Dennoch konnte sie den ein oder anderen Treffer einer Faust oder eines Beins nicht verhindern. Immerhin musste sie einen von diesen Kerlen gefangen nehmen. Seth schien nicht darauf aus, am Ende derjenige zu sein, der das Leben eines Sammlers schonte.
 

Alles in Nataniel wehrte sich, im Schatten zu bleiben, während die Männer Amanda so offen mit Waffen bedrohten. Immer wieder zuckte er nach vor, hielt sich aber gerade noch so weit zurück, dass er nicht gesehen wurde.

Dann war es nicht mehr länger nötig, Deckung zu bewahren. Die Hölle schien loszubrechen. Zumindest hatte er noch nie eine Schießerei am eigenen Leib erfahren. Denn kaum, dass man das Feuer auf Amanda eröffnete, nachdem Eric bereits mit dem Aufräumen begonnen hatte, sprintete er los.

Seine Instinkte trieben ihn regelrecht zu seiner Gefährtin, um sie zu beschützen, doch er vertraute auf ihre Fähigkeiten. Musste einfach darauf vertrauen, um nicht einfach blind zu handeln. Weshalb ihn seine Beine trotz seines kreischenden Instinkts nicht zu Amanda brachten, sondern stattdessen sprang er mit einen Satz ins Wasser. Bei den ganzen Schüssen hörte man den Aufprall seines Körpers auf der Wasseroberfläche nicht. Außerdem war er nicht der Einzige, der hier badete, wie er mit grimmiger Genugtuung feststellte.

Augenzeugen konnten sie doch sicherlich auch nicht gebrauchen, oder? Und nach den Todesgeräuschen auf der Brücke und dem Hafen zu urteilen, ging hier niemand zimperlich um.

Hätte Nataniel diesen Seth nicht gerochen, er hätte sich noch mehr beeilt, um wieder ins Trockene zu kommen. Doch er wusste, er konnte in einer so offensichtlichen Auseinandersetzung nichts ausrichten. Amanda und dieser Kerl schon. Genauso wie Eric.

Weshalb er sich zuerst damit aufhielt, die unfreiwilligen Schwimmer daran zu hindern, jemals wieder seine Gefährtin anzugreifen, oder auch nur irgendetwas von dem hier auszuplaudern.

Es war leicht für ihn sie zu töten. Im schwarzen Wasser sahen sie ihn nicht kommen und weil sie damit beschäftigt waren, den Kopf an der Luft zu halten oder auf sicheres Land zu zuschwimmen, waren sie für seine kräftigen Kiefer keine Gegner.

Als nur noch leblose Körper herum trieben, kletterte Nataniel einen der Träger der Brücke hoch, sprang von Verstrebung zu Verstrebung, bis er seinen massigen Körper endgültig auf die Straße hinter den Fahrzeugen gezogen hatte.

Er holte noch nicht einmal Atem, nach der anstrengenden Kletterei, immerhin waren das keine Bäume, in die er Problemlos seine Krallen schlagen konnte. Stattdessen stürzte er sich aus dem Hinterhalt auf einen Typen, der ihm am Nächsten stand und aus vollen Rohren herum ballerte.

Zwar konnte Nataniel nicht sehen, auf was er zielte, aber er musste es sich nicht einmal ausmalen, um es zu wissen.

Die Wut alleine war sein Antrieb, die ihn mit einen Satz auf den Mann beförderte und noch ehe dieser ein überraschtes Keuchen von sich geben konnte, biss er ihm so fest in den Nacken, dass die Knochen unter seinen Zähnen splitterten und der Körper leblos zusammen sackte.

Das Geräusch ließ seinen Kollegen herum fahren, aber noch ehe er die Waffe in Position bringen konnte, hatte Nataniel schon dessen Handgelenk zwischen seinen Kiefern und biss erbarmungslos zu.

Gerne hätte er dem Typen das schmerzerfüllte Schreien aus der Kehle gerissen, aber dazu war er nicht in der Lage gewesen. Selbst als er schon wenige Momente später den Kerl für immer mit einem Prankenhieb mitten ins Gesicht zum Schweigen brachte.

Etwas stob neben ihm in den Asphalt, woraufhin eine Sekunde später seine Schulter schmerzhaft brannte, doch er wich der nächsten Kugel aus, die an ihm vorbei zischte, in dem er sich mit einem Satz hinter den letzten Wagen in der Kolonne in Sicherheit brachte.

So hatte Nataniel auch die Möglichkeit einen schnellen Blick in die Runde zu werfen, um das Gehörte auch visuell zu überprüfen.

Immer wieder sah er schattenhafte Gestalten halb auftauchen, wieder verschwinden, wo anders wieder auftauchen und dabei dezimierten sich immer mehr ihre Feinde.

Beinahe hätte ihn ein Querschläger getroffen, wenn er nicht von dem Geräusch aufgeschreckt zur Seite gesprungen wäre. Was ihn wieder ungeschützt den richtig zielenden Kugeln aussetzte.

Mit einem Satz sprang er auf das Dach des Wagens, machte eine paar schöne ordentliche Dellen rein, wo seine Pranken aufkamen und stürzte sich auf sein nächstes Ziel.

Nataniel schaffte es, ihm die Pistole aus der Hand zu schlagen, musste aber noch ein zweites Mal ansetzen, um den breitschultrigen Kerl zu fassen zu kriegen.

Hätte er im Augenwinkel nicht ein verdächtiges Aufblitzen vernommen, hätte sich der gezogene Dolch direkt in seine Seite gebohrt und vermutlich lebenswichtige Organe getroffen. So aber konnte er gerade noch einen Schlenker zur Seite machen, so dass die Klinge lediglich seine Haut auf seiner Seite aufschlitzte. Trotzdem konnte er ein schmerzerfülltes Fauchen nicht verhindern. Der erste Ton, den er seit dem Angriff überhaupt von sich gegeben hatte. Jetzt war er allerdings so richtig sauer.

Da ohnehin niemand mehr in seiner Nähe herum ballerte und der Rest mit anderem beschäftigt war, als auf einen Panther und dessen Beute zu achten, warf sich die Raubkatze nun vollends erzürnt mit einem markerschütternden Brüllen auf den Kerl, der ihm vermutlich eine weitere Narbe verpasst hatte.

Es war Nataniel egal, dass sich das Messer noch ein bisschen tiefer in sein Fleisch bohrte, weil der Kerl es immer noch in der Hand hielt, als könne es ihn retten.

Dafür revanchierte er sich bei dem Typen, als er dessen Arm vom Handgelenk bis zu den Schultern mit den Krallen auffetzen, während er sich in dessen andere Schulter verbiss und das Brechen der Knochen sich wie Musik in seinen Ohren anhörte. Genauso wie der Schrei aus der Kehle dieses elendigen Bastards.

Zu leicht. Menschen waren so schwach. Es war wirklich viel zu leicht.

Der Panther übernahm immer mehr die Kontrolle über ihn, weshalb er auch nicht losließ, als er ein paar saftige Tritte in seine Seite, den Bauch und an der Hüfte kassierte. Viel mehr, warf er sein ganzes Gewicht auf den Typen, um ihn am Boden festzunageln, während seine Kiefer sich von dessen Schulter lösten, um erneut zuzuschnappen. Dieses Mal mit direktem Ziel auf die Kehle dieses elendigen Wichsers, der einfach nicht zu schreien aufhörte.

Ein röchelndes Gurgeln war schließlich alles, was er noch zu Stande bekam, bis er an seinem eigenen Blut erstickte und an der Tatsache, keine funktionierende Luftröhre mehr zu haben.

Erst als der Körper nur noch im längst sicheren Todeskampf unwillkürlich zuckte, ließ Nataniel von ihm ab und erhob sich schwer keuchend. Der Drang, noch mehr ihrer Feinde zu töten, sie zu zerfetzen, zuzubeißen, seine Krallen in sie zu schlagen, war so enorm, dass er sich entsetzt zurückzog. Der Kampf war ohnehin so gut wie vorbei.

Blut troff ihm von der Schnauze, lief seine Seite entlang und blieb auch deutlich in Form von Pfotenabdrücken zurück, wenn er einen Schritt tat.

Er zog sich weiter zurück, schüttelte den Kopf, versuchte das ungebändigte Raubtier wieder zurückzudrängen, das hier nach noch mehr Blut gierte. Aber der Hass auf diese Männer war so gewaltig, dass es ihm nur schwer gelang.

Nicht nur, dass sie auf seine Gefährtin geschossen hatten, er würde auch niemals die grausamen Taten vergessen. Sein Bruder, Niela und all die anderen Unschuldigen. Ja, sie sollten alle dafür bluten! Denn auch sie konnte nicht mehr mit dem Blutvergießen aufhören. Noch mehr wollten sie von seiner Art töten. Als hätten sie nicht schon genug Schaden angerichtet.

Das Tier in ihm wollte weiter kämpfen. Wollte all jene die er liebte beschützen und sich für die unschuldigen Opfer rächen. Auch wenn der Mann im Raubtier genau wusste, dass diese blutrünstigen Gedanken falsch waren.

Gewalt erzeugte nur noch mehr Gewalt und das konnte nicht gut sein. Trotzdem wand er sich regelrecht bei dem ganzen Blutgeruch in seiner Nase. Er wollte nicht fressen. Er wollte töten! Und das war nicht mehr mit seinem Gewissen zu vereinbaren.

Nataniel zog sich noch weiter von dem Massaker zurück. Inzwischen fielen keine Schüsse mehr. Trotzdem gab die Bestie in ihm keine Ruhe. Weshalb er sich schließlich außerhalb eines Lichtkegels der Laternen in den Schatten eng an den Boden drückte und sich nur noch auf seine Atemzüge konzentrierte.

In dieser Raserei konnte er sich unmöglich verwandeln. Er musste von dem ganzen Hass und Blutrausch erst einmal wieder runter kommen. Trotzdem. So etwas hatte er noch nie erlebt. Nicht mal im Kampf mit Nicolai. Aber da waren es auch keine Menschen gewesen, die er getötet hatte. Das war irgendwie etwas anderes gewesen.
 

Amandas Hände steckten aufgelöst bis zu den Händen in der Brust eines Angreifers und zerfetzten alles, was ihnen an inneren Organen in die Quere kam. Der Typ hatte ihr die Waffe aus der Hand geschlagen und ihr mit einem Handkantenschlag auf die Schläfe beinahe das Bewusstsein genommen. Durch das Training war Amanda schnell geworden, aber die Gänge waren trotzdem immer noch schmerzhaft und zehrten an ihren Kräften genauso, als hätte sie jedes Mal Schläge einstecken müssen.

Es waren auch mehr die Schmerzen in jedem zerreißenden Element ihrer Finger, als der letzte, blutig gurgelnde Atemzug des Sammlers, der sie dazu brachte, sich für einen Moment vollständig wieder zusammen zu setzen und Atem zu holen.

Ein Fehler, der mit einer Ablenkung zusammen fiel, mit der Amanda nicht gerechnet hatte. Ein Brüllen irgendwo hinter ihrem Rücken ließ sie erschrocken zusammen fahren.

Mit zitternden Fingern zerrte Amanda an der zweiten Waffe, die allerdings für die Sekunde am Holster festhing, die einer der Sammler brauchte, um sie anzuspringen und auf den Boden zu werfen. Scheppernd flog Amandas Waffe nun über den Beton und landete wahrscheinlich im dunklen Wasser.

Sie wusste, welche Griffe der Mann anwenden würde, um sie am Boden festzuhalten und doch kam sie einen Moment nicht gegen seine massige Körperkraft an. Mit einem gezielten Kniestoß in Amandas Seite ließ er sie Sterne sehen und trieb ihr sämtliche Luft aus den Lungen, was sie zumindest im Augenblick daran hinderte unter ihm in die Schatten abzutauchen.

Die breiten Hände des Mannes legten sich um ihren Hals und zogen sich zu wie Schraubstöcke. Amanda spürte, wie ihr Gesicht rot anlief und ihre Lungen anfingen zu brennen. Ihre Hände suchten nach irgendeiner Möglichkeit dem Mann Schmerzen zu bereiten und ihn damit zu bewegen loszulassen. Doch dann tat er es ganz von selbst. Warmes, klebriges Blut spritzte Amanda ins Gesicht und sie wagte nicht zu dem nun leblosen Körper auf ihr hochzusehen, als sie irgendetwas dumpf neben sich auf dem Boden aufschlagen hörte.

Ihr wurde schlecht und wahrscheinlich hätte sie sich übergeben müssen, wenn Seth sein Opfer nicht von ihr herunter gestoßen und Amanda auf die Füße gezerrt hätte.

Mit seinem Körper als Kugelschutz drückte er sie in der Hocke gegen den letzten Wagen der Kolonne und sah sich gehetzt nach allen Seiten um.

Es war bis auf wenige Schmerzenslaute völlig still, doch Amanda war sich nahezu sicher, dass derjenige, der eben gestorben war, nicht der letzte Sammler war, der hier herumschlich.

Ihr Atem ging raspelnd und als ihre Fingerspitzen ihren Hals berührten, konnte sie die Blutergüsse sich beinahe schon jetzt ausbreiten spüren.

Seths Blick war durchdringend, auch wenn er nur für Sekunden auf Amanda ruhte. Er streckte einen Zeigefinger vor ihrem Gesicht in die Höhe.

Sie hatte also Recht gehabt.

Kurzatmig und mit Adrenalin, das schmerzhaft durch ihre Adern pulsierte, sah Amanda sich so ruhig und konzentriert sie es eben vermochte, hinter Seths Rücken um. Eine Bewegung im Schatten ließ sie aufschrecken und ihre Augen weiteten sich vor Schreck.

"Seth!"

Es war leicht ihn mit sich in die Schatten zu ziehen, aber Amandas Form bog sich vor Schmerzen, die sie in ihrem angeschlagenen Zustand fast nicht ertragen konnte. Sie spürte Seths Anwesenheit schwinden und wusste, dass er bei dem Sammler war, dessen Waffe sie im Lichtschein eines Scheinwerfers hatte aufblitzen sehen.

Unter zerreißendem Druck wurde Amanda in den Schatten herumgewirbelt, bis sie die Orientierung verlor.

Keine Panik. Sie konnte immer noch ihre alte Technik anwenden. Die hatte sie noch nie im Stich gelassen. Aber wo war sie nur? Und wo würde sie herauskommen, wenn sie einfach den nächsten Lichtfleck ergriff?

Amanda musste einsehen, dass es ihre einzige Chance war. Mit zusammen gebissenen Zähnen – wenn man in ihrem Zustand davon sprechen konnte – zog sie sich auf eine Lichtquelle in der Größe einer Tür zu und schließlich hindurch. Die Schatten schienen in ihren Ohren zu kreischen, weil sie Amandas Körper wieder frei geben mussten.

Sie wurde ohnmächtig, bevor sie von der Kante des Containers, auf dem sie gelandet war, abrutschte und mit einem lauten Schlag auf das Dach eines der geparkten Wagen der Sammler fiel.
 

Amanda!

Nataniels Brüllen zerriss die totengleiche Stille der Nacht, als er sie auf einem der Wagen landen sah.

Sofort war er auf den Beinen, setzte über die Leichen hinweg und war schon bei ihr, noch ehe ihr Körper ganz zum Erliegen kam.

Als er nach ihr fassen wollte, sah er seine blutige Pranke, mit den noch immer ausgefahrenen Krallen, was ihn zurückschrecken ließ. Doch allein ihr ramponierter Anblick reichte dazu aus, sich innerhalb einer Sekunde zu verwandeln, was vorher selbst die beste Konzentration nicht mehr geschafft hatte.

Kaum dass er wieder richtige Hände besaß, hob er vorsichtig ihren Kopf an, fühlte ihren noch immer rasenden Puls und checkte so gut er konnte, ob sie sich irgendetwas bei dem Aufprall gebrochen hatte. Aber auch wenn er nichts fand, so sah sie für seine Augen absolut schlecht aus.

Dunkelrote Male zeichneten sich deutlich auf ihrer erbleichten Haut am Hals ab, als hätte jemand sie fest gewürgt und auch sie war über und über voller Blut, auch wenn es hauptsächlich nicht ihr eigenes war. Das konnte er riechen, aber es beruhigte ihn kein bisschen. Ganz im Gegenteil. Er stand kurz vorm Durchdrehen.

Obwohl er gerade nur so vor unterdrückter Mordlust zitterte, hob er Amanda ganz vorsichtig hoch.

Beschützend zog er sie sanft an seine Brust, schlang seine Arme abschirmend um sie und stieg mit ihr zusammen von dem Wagendach.

Der Gestank der Schatten reizte ihn zusätzlich so sehr, dass er glaubte, ihm müsste bald eine Ader im Gehirn platzen, so angespannt war sein ganzer Körper. Von klar denken war kaum noch etwas zu sehen. Weshalb er auch mit gefletschten Zähnen und bedrohlicher Haltung herumfuhr, als er ein Geräusch neben sich wahrnahm. Und obwohl es nur der andere Schattengänger war, gab er seine Haltung nicht auf. Ganz im Gegenteil, er zog Amanda nur noch beschützender an sich.

Obwohl er vollkommen nackt und blutüberströmt war, machte er sicher einen ganz schön gefährlichen Eindruck. Kein Wunder. Sein Mund und seine Zähne waren immer noch Blutverschmiert, als würde er einen auf blutrünstigen Vampir machen. Nur ohne die Reißzähne.

„Bleib weg!“, warnte er diesen Seth mit einer Stimme, die nicht zu ihm zu gehören schien. Tief, grollend und so bestialisch, dass alleine der Tonfall jegliche Drohung überflüssig machte.
 

Seth war bei Amandas Aufschlag herumgewirbelt und hatte den bewusstlosen Sammler einfach vor seinen Füßen zusammen sacken lassen.

Er würde erst in ein paar Stunden wieder zu sich kommen, daher mussten sie sich keine Sorgen machen, dass er ihnen davon lief.

Gerade wollten sich seine Beine in Bewegung setzen, als Seth aus den Augenwinkeln sah, wie sich eine Gestalt aus den Schatten an der Hafenkante löste und mit gefederten Sprüngen auf Amanda zusteuerte.

Natürlich war Seth das Brüllen und auch die Beteiligung der Raubkatze an diesem Kampf nicht entgangen. Trotzdem zogen sich seine Augenlider zu Schlitzen zusammen, durch die allerdings schwarze, elektrische Funken zu blitzen schienen. Das Tier war schnell bei Amandas leblos erscheinendem Körper und erst als ein silberner Schimmer den Panther einhüllte, begriff Seth endlich, was los war.

Um keine wertvolle Sekunde zu verlieren, ging er noch einmal durch die Schatten und unterdrückte mit zusammen gebissenen Zähnen die schwere Atmung, als er sich dem Kerl gegenübersah. Seth selbst sah wahrscheinlich nicht weniger angsteinflößend aus. Blutbeschmiert und immer noch mit Mordlust in den Augen. Allerdings machte das Lächeln, das seinen Mundwinkel überheblich kräuselte, seinen Ausdruck beinahe grausam.

Er sollte wegbleiben? Natürlich würde er das tun. Aber nur, solange die Gefahr bestand, Amanda durch eine unbedachte Handlung zu gefährden.

"Dir sollte klar sein, dass ich ihr nichts tun will."

Ob sich mit diesem Typen überhaupt diskutieren ließ? Bei der Besprechung war das ja nicht allzu gut gelaufen. Aber verdammt, Seth würde es schon irgendwie zustande bringen, dass der Idiot Amanda mit seinem Verhalten nicht noch mehr verletzte.

"Ich könnte ihr helfen. Die Schatten bereiten ihr Schmerzen."
 

„Ach ja? Tut es das?“, knurrte Nataniel bissig. Nein, ihm war nicht klar, ob der Typ ihr schaden wollte oder nicht. Es hatte für ihn auch überhaupt keine Bedeutung. Denn alleine die Vorstellung, wie dieser Kerl sie anfasste, ließ bei ihm alle Sicherungen durchbrennen.

Ruhig… Ganz ruhig..., sagte er sich selbst in Gedanken. Denn er war noch nicht so blind, um nicht zu erkennen, dass die Schatten immer noch an Amanda klebten und in seiner empfindlichen Nase brannte, als inhaliere er pures Höllenfeuer.

Doch das war nichts im Vergleich zu den tobenden Gefühlen in seinem Körper. Dass er aus seiner Seite blutete und er einen Streifschuss am Arm abbekommen hatte, spürte er noch nicht einmal. Da war lediglich etwas, dass ihn innerlich auffraß.

Er wollte angreifen. Er wollte seine Gefährtin in Sicherheit bringen. Er wollte das alles hier ungeschehen machen. Doch nichts davon konnte er so ohne weiteres tun. Aber auch wenn er nicht wie dieser Seth oder Amanda war, so war er doch nicht dumm.

Amanda brauchte Licht. So viel Licht, wie sie bekommen konnte, um die Schatten zu vertreiben. Das Mondlicht reichte nicht aus. Hoffentlich würde es wenigstens die Straßenlaterne tun.

Nataniel trat mit Amanda im Arm zurück. Fixierte dabei unablässig den blonden Kerl, der bloß nicht zu nahe kommen sollte.

„Fass sie nicht an.“, fauchte er daher noch einmal leise, aber nachdrücklich. Ehe er in den Lichtkegel der Laterne trat und Amanda ganz vorsichtig, als wäre sie aus zerbrechlichen Glas, auf den Boden legte, um sie auch von den Schatten seines eigenen Körpers zu befreien. Dabei ließ er Seth noch immer nicht aus den Augen, während seine ganzen Sinne so angestrengt arbeiteten, dass sie fast an die von seiner tierischen Gestalt heran kamen.

Der beißende Geruch bohrte sich blitzartig tief in seinen Schädel. Wäre das hier nicht seine Gefährtin, er hätte dieses Gefühl keinen Moment länger ertragen. Es war regelrecht schmerzhaft und trotzdem wich er nicht zurück.

„Du solltest besser jemanden rufen, der diese Schweinerei hier wegmacht.“

Er nickte nur mit seinem Kopf in Richtung der Wagen und Leichen. Vielleicht würde das diesen Kerl dazu bringen, zu verschwinden. Alleine dessen Nähe reizte Nataniel unerklärlicherweise bis aufs Blut. Nun ja, eigentlich nicht ganz so unerklärlicherweise. Er wusste tief in sich drin genau, warum er ihn nicht mochte.
 

Der Dunkelhaarige schien mehr Intelligenz zu besitzen, als Seth es ihm zugetraut hätte. Oder es war Amanda zu verdanken, dass er sich nach hinten bewegte und ihren Körper im Lichtkegel der Straßenlaterne ablegte.

Seth konnte es nicht sehen, aber da ihm selbst noch das schwarze Wabern anhaftete, konnte er genau spüren, wie das Licht Amanda half. Die Schatten verflüchtigten sich. Wenn auch nur quälend langsam. Normalerweise war Seth immer stark beeindruckt, wie schnell Amanda auch das letzte Bisschen der klebrigen Schattensubstanz von ihrem Körper wischen konnte, doch jetzt schien sie wirklich einiges abbekommen zu haben. Und wahrscheinlich war es seine Schuld. Amanda hatte seinen Namen gehaucht, bevor sie sich mit ihm zusammen in die Schatten geworfen hatte. Ihre Stimme war ganz leise und kratzig gewesen und hätte wohl kaum ausgereicht, Seth rechtzeitig zu warnen.

In Amandas Augen war sie gezwungen gewesen, trotz ihrer Schwäche so zu handeln, wie sie es getan hatte.

Tiefe Besorgnis zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und obwohl es kaum möglich schien, wurden seine Augen noch dunkler. Jede Drohung des Gestaltwandlers in den Wind schlagend, trat Seth ein paar Schritte auf Amanda zu.

Um die Sauerei würde sich ohnehin jemand kümmern. Sie konnten wahrscheinlich froh sein, wenn nicht jede Sekunde eine Truppe aus den Containern gestürmt kam, um hier noch mehr Chaos auszulösen.

War nicht Eric, Amandas Bruder, auf dem Kran gewesen? Er musste die anderen auf jeden Fall alarmiert haben. Außerdem interessierte es Seth einen Dreck, wie lange diese Leichen hier herumlagen.

Lächerlich, wie sich der Wandler gebärdete. Als ob selbst die Reißzähne und Klauen des Tieres Seth abschrecken könnten.

"Ich wäre verschwunden, bevor du mich angreifen könntest. Also lass' es gleich bleiben.", sagte er regelrecht im Plauderton, während seine Augen nur kurz zu dem anderen zuckten, bevor sie sich so besorgt wie zuvor auf Amanda legten.

"Wenn du mich schon nicht an sie ranlassen willst, dann tu wenigstens was Nützliches und sieh dir ihre Augen an."

Sie sah so schwach aus. Sollte Amanda ihre hellbraunen Augen und damit einiges mehr wegen ihm so endgültig wie er an die Schatten verlieren, dann könnte Seth sich das niemals verzeihen. Immerhin hatte sie es nur getan, um ihn zu retten.
 

Müsste er nicht von Amandas Seite weichen, um diesen Bastard die Kehle durchzubeißen, er hätte keinen Moment gezögert, als der Blonde es wagte, näher zu kommen.

Nataniels ganzer Körper ruckte bereits nach vor und seine Krallen schossen aus seinen Fingerspitzen, die sich jedoch ungesehen in seine geballten Fäuste gruben. Aber er hielt sich zurück. Nur wegen seiner Gefährtin und der bodenlosen Sorge um sie und auch wegen der Angst, die sich wie eine gezackte Klinge in sein Herz bohrte, es könnte dem Kind etwas passiert sein.

„Das glaube ich dir aufs Wort. Aber du kannst nicht ewig verschwunden bleiben. Genauso wenig, wie Amanda es ertragen kann!“, zischte er ihm mehr als nur wütend entgegen. Denn Nataniel glaubte, dass nicht unbedingt der Aufprall es war, der seine Gefährtin in die Bewusstlosigkeit befördert hatte. Sondern die unzähligen Gänge in die Schatten.

Sie mochte trainiert haben, aber er hatte sie sehr wohl noch genau in Erinnerung, wie sie damals im B&B mit den Schatten bei nur einem einzigen Gang gekämpft hatte. Um wie viel schlimmer, musste das jetzt hier sein?

Als hätte dieser Typ seine Gedanken gelesen, forderte er ihn dazu auf, Amandas Augen zu betrachten. Dass die des Blonden vollkommen schwarz waren, selbst wenn er nicht gerade durch die Schatten gegangen war, wusste Nataniel.

Mit zitternder Bewegung löste er seine verkrampften Fäuste, zwang sich mit aller Gewalt dazu, seine Krallen einzuziehen und schließlich zuerst eines von Amandas Augenlidern anzuheben und dann das andere. Ihre Iris war tief schwarz. Er konnte nicht einmal mehr die Pupillen erkennen.

Mit einem mörderischen Blick fuhr Nataniel zu Seth hoch und sah ihn an, als wäre ohnehin schon das Ende der Welt, weshalb alles andere auch schon egal gewesen wäre. Er wollte ihn umbringen. Alleine für das was er war.

Schatten. Überall diese verhassten Schatten und an dem Kerl klebten sie immer noch. Waren sogar am Tage stets auf eine deutlich wahrnehmbare Weise präsent, als könne er sie nie wieder abschütteln. Was, wenn das nun auch mit Amanda passiert war?

Die Schatten um ihren Körper hatten sich dank des Lichts verflüchtigt, aber der Geruch lag ihm immer noch stechend scharf in der Nase. Selbst wenn das nur Nachwirkungen sein könnten oder es an diesem Typen lag, es machte Nataniel wahnsinnig!

Er wollte sich die Seele aus dem Leib schreien, doch stattdessen hob er Amanda wieder hoch, strich ihr sanfte eine Strähne aus dem Gesicht und ging los.

Den blonden Wichser, den er am liebsten um mehrere Kopf kürzer machen wollte, ignorierte er dieses Mal vollkommen.

Einen falschen Mucks und Nataniel würde endgültig die Kontrolle verlieren.

Ob Seth nun etwas für die tobende Bestie in ihm konnte oder nicht. Das machte keinen Unterschied mehr. Er war jetzt im Augenblick auch nicht mehr nur Nataniel. Und das war seiner Meinung nach, auch gut so.
 

Der Schock des anderen schien sich fast körperlich auf Seth zu übertragen. Seine Nackenhaare standen ihm zu Berge. Und weil er nicht wusste, welcher Drange stärker war, der auf Amanda zuzugehen oder vor dem zurückzuschrecken, was der Wandler gerade gesehen hatte, blieb er einfach wie angewurzelt stehen.

Aber es war doch immer so einfach für sie gewesen. Jedes Mal hatte Amanda es geschafft die Schatten restlos loszuwerden. Egal wie oft sie beim Training an ihr geklebt und wie lange sie in der Düsternis verharrt hatte.

Ungläubig schüttelte Seth noch den Kopf, als der Dunkelhaarige Amanda hochhob und ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht schob. Am liebsten wäre Seth nach vorn gesprungen und hätte diesem grobschlächtigen Kerl ihren Körper entrissen. In dessen Händen sah sie noch zerbrechlicher aus, als im Lichtkegel auf dem Boden. Und es zerriss Seth beinahe das Herz, als der Gestaltwandler sie an sich drückte und mit Amanda davon gehen wollte.

Es war nicht die Tatsache, dass er sie wegbrachte, die Seths Herz schmerzhaft schlagen ließ, sondern dass Amanda es wahrscheinlich auch im wachen Zustand zugelassen hätte. Ganz anders würde es bestimmt aussehen, wenn sie in Seths Armen erwachen würde. Wären sich auch noch so schützend und warm um sie geschlungen, um sie zu beschützen.

Langsam drehte er sich um und sah dem Kerl nach. Eigentlich wollte er ihm hinterher brüllen, aber er würde hoffentlich so klug sein, sie nicht im Dunkeln schlafen zu lassen.

Da es sowieso schon egal war und ihn im Moment niemand sehen konnte, ließ Seth sich noch einmal in die Schatten fallen. Bewegungslos schrie er gegen die Schmerzen an, die wenig mit körperlicher Pein zu tun hatten. Er hatte doch versprochen, dass er sie beschützen würde…

51. Kapitel

Nataniel hatte keine Ahnung, wie er den Weg zurück in das Hauptquartier des Untergrunds mit Amanda im Arm hinter sich gebracht hatte. Teilweise setzte seine Erinnerung daran vollkommen aus, als wäre er auf Autopilot gelaufen oder als hätte sonst irgendetwas seinen Verstand blockiert. Es war auch nicht wichtig. Immerhin hatte er sie so schnell und trotzdem so vorsichtig wie nur möglich zurückgebracht.

Nicht nur Clea war bei dem Anblick, den er mit Amanda im Arm bot, erbleicht und erschreckt aufgesprungen, als er an ihren Räumen vorbeiging. Auch andere, die sich inzwischen bereits auf den Beinen befanden, starrten sie an, als wäre er ein Alien oder sonst was derart Absurdes und Schreckliches, dass man eben nur starren konnte.

Wenigstens waren ein paar dabei, die ihm den Weg zu einem Arzt und entsprechenden ausgestatteten Räumen zeigen konnten. Er hatte noch nicht einmal danach fragen müssen und um ehrlich zu sein, Nataniel hätte keinen Ton mehr herausgebracht.

Sein Verstand hatte die Notbremse gezogen. Alles Weitere hätte ihn völlig überfordert, weshalb er kaum etwas wahrnahm, was ihn selbst betraf.

Weder die Nacktheit, noch das viele trocknende Blut oder die Verletzungen. Da war nur Amanda, die er in kundige Hände übergab, damit man sie versorgte. Doch er wich keine Sekunde lang von ihrer Seite und wollte sich selbst auch nicht helfen lassen. Lediglich eine Decke, die man ihm in die Hände drückte, schlang er sich schließlich um die Schultern. Aber das war auch schon alles.

Als Amanda notdürftig gesäubert und versorgt in einem der Krankenbetten lag, durchbrach nur noch selten jemand die Stille des Raumes.

Eric war hier gewesen, hatte sich aber beim Arzt nach Amandas Zustand erkundigen müssen, weil Nataniel seine Fragen einfach ignorierte. Soweit schien es ihr, abgesehen von totaler Erschöpfung, gut zu gehen. Näheres könnte man aber erst sagen, wenn sie wieder aufgewacht war.

Und genau darauf wartete Nataniel ohne kaum einmal zu blinzeln. Er würde erst wieder erleichtert aufatmen können, wenn wieder richtig Leben in seine Gefährtin gekommen war. Vorher würde sich der viel zu enge Ring um sein Herz nicht lösen, sondern zog sich lediglich nur noch enger zu, bis er glaubte, kaum noch Atmen zu können.
 

Ihr war kalt.

Zuerst versuchte sich Amanda nicht zu bewegen und die Stellen der Matratze und der Decke, die auf ihr lag nicht zu verlassen. Aber es half nichts. Außerdem war sie durstig.

Ihr Hals fühlte sich an, als würden Nadeln von außen bis in ihre Luftröhre hineinstechen. Trotzdem war sie immer noch so müde, dass sie nicht aufstehen wollte, um sich etwas zu Trinken zu holen.

Es konnte noch nicht lange her sein, dass sie schlafen gegangen waren. Noch genug Zeit, um sich auszuruhen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte sich Amanda vorsichtig auf die Seite. Ihre Hände schoben sich über das Leintuch auf der Suche nach der Wärmequelle, die neben ihr friedlich eingeschlummert war.

Als sie Nataniels Körper nicht fand, zogen sich Amandas Augenbrauen widerwillig zusammen und ihre Stirn kräuselte sich. Es forderte eine Menge Willenskraft die Augen zu öffnen, vor allem weil sie anscheinend vergessen hatten, das Licht auszuschalten, das ihr nun unangenehm auf der Netzhaut brannte.

Mit einem leisen Brummen versuchte Amanda blinzelnd etwas zu erkennen. So etwas wie ein grauer Schleier schien sich über ihre Sicht gelegt zu haben, verschwand aber nach mehrmaligem Blinzeln wieder.

"Nataniel!"

Amanda hatte sich so blitzschnell aufgesetzt und ein Bein aus dem Bett geschwungen, dass das Innere ihres Körpers mit der Bewegung nicht mitzukommen schien.

Ihr wurde so schlecht, dass sie ihre Hand reflexartig fest auf ihre Lippen presste und mit flachen Atemzügen versuchte die Übelkeit hinunter zu kämpfen.

Nataniels Anblick half dabei nicht unbedingt. Wenn er auch dafür sorgte, dass die Erinnerungen wieder kamen.

Amandas Augen weiteten sich und sie nahm die Hand runter.

Nur ein wenig vorsichtiger als bei ihrer bestürzten Reaktion vor wenigen Sekunden, ließ sie sich ganz von dem schmalen Bett gleiten und setzte sich auf Nataniels Schoss. Er war von oben bis unten mit eingetrocknetem Blut beschmiert, was wahrscheinlich der einzige Grund war, dass seine blasse Haut nicht sofort ins Auge stach.

"Mein Gott, ist alles in Ordnung mit dir?", hauchte sie leise, während sie sein Gesicht in beide Hände nahm und ihm sanft mit den Daumen über die Wangen strich. Seltsamer Weise schien Nataniel seine Augen nicht von Amandas lösen zu können.
 

Amanda hatte ihn so sehr erschreckt, dass ihm fast das Herz stehen blieb. Er zuckte zurück, woraufhin der billige Plastikstuhl mit seinen Metallbeinen ein paar Zentimeter über den Boden schrammte. Aber das einschießende Adrenalin fegte ihm das Gehirn sauber und er konnte wieder etwas leichter denken.

Seine Gefährtin saß aufrecht im Bett, wurde regelrecht grün um die Nase und schien kurz davor zu sein, sich zu übergeben. Obwohl in so einer Lage sicher ein Kübel oder dergleichen nützlich gewesen wäre und bestimmt auch einer in der Nähe war, konnte er seinen Blick nicht von ihr wenden.

Sie war wach!

Amanda saß aufrecht im Bett, hatte sogar seinen Namen gesagt, aber das absolute Highlight waren ihre Augen. Nataniel konnte kaum fassen, wie sie aussahen, selbst nicht, als seine Gefährtin sich auf seinen Schoß gleiten ließ und sein Gesicht zwischen die Hände nahm, um ihn direkt ansehen zu können.

Ob mit ihm alles in Ordnung war? Ob überhaupt was in Ordnung war?

Nataniel schlang seine Arme um ihren Körper, zog sie eng an sich und brachte keinen Ton heraus. Erst als er langsam zur Beruhigung sanft mit ihr hin und her wiegte, löste sich der Knoten in seinem Hals so weit, dass er leise direkt in ihr Ohr seufzte: „Nein. Gar nichts ist in Ordnung … Ich hätte dich verlieren können!“

Er zog sie noch ein bisschen enger an sich, als würde er sie nie wieder los lassen können, brachte dann aber ihren Oberkörper auf Abstand, als er sah, wie dreckig er war und wie das geronnene Blut auch auf ihrem Körper klebte, nachdem er sie so umarmt hatte.

„Tut mir leid. Ich stinke meilenweit gegen den Wind.“, gab er beschämt zu, jetzt da er wieder andere Prioritäten zulassen konnte, nachdem Amanda wieder munter und offenbar halbwegs in Ordnung war. Aber wie sehr sie gestunken hatte, würde er ihr erst recht nicht auf die Nase binden. Vor allem, da die Schatten endgültig von ihr abgelassen hatten. Nie waren ihre hellbraunen Augen schöner gewesen als in diesem Augenblick.

„Was ist mit dir? Noch alles dran?“, fragte er mehr als nur besorgt. Die Todesangst war ihm immer noch in seine Gesichtszüge gemeißelt, obwohl er sich langsam wieder beruhigte. Trotzdem fühlte er sich unter den ganzen ausmergelnden Ängsten alt und matt.

Man konnte es ihm wohl kaum übel nehmen, dass er nicht mehr derselbe war, der in dieser Nacht zum ersten Mal ins Bett gehen wollte. Irgendwas hatte sich auf jeden Fall in ihm verändert.
 

Erschrocken fuhr Amanda zusammen, als dieses 'Nein' an ihr Ohr drang.

War er schwer verletzt? Warum hatte sich niemand um ihn gekümmert? Sie hatten doch Ärzte, die… Erst dann begriff sie, was er meinte.

"Aber du hast mich nicht verloren. Ich bin hier."

Als müsse sie Nataniel ihre Anwesenheit beweisen, drückte sie sich noch enger an seinen Körper und schloss die Arme fest um ihn. Aber sie verstand nur allzu gut, was er meinte. Immerhin hatte sie seinen Angriff auf einige der Sammler mitbekommen und sich stark konzentrieren müssen, damit sie nicht kopflos losgerannt und ihm zu Hilfe oder wahrscheinlich in die Quere gekommen war.

Als sie sich losließen und Nataniel sich wegen des Geruchs entschuldigte, brachte Amanda halbwegs ein Lächeln zustande.

Sie sahen wirklich furchterregend dreckig aus – alle beide. Auch wenn irgendjemand sich Amanda anscheinend angenommen und sie oberflächlich gesäubert hatte. Blut klebte besser, als so manch andere Substanz und wie wohl in ihrer beider Augen zu sehen war, blieb es teilweise auch dann haften, wenn keine Spur mehr auf der Haut zu sehen war.

Das war auch der Grund, warum Amanda sofort wieder ernst wurde und auf Nataniels Frage hin nur nickte.

Soweit sie es beurteilen konnte, ging es ihr körperlich gut. Schmerzen am Hals und noch immer war ihr ziemlich übel. Außerdem würde dort, wo der Kerl ihr das Knie in die Seite gerammt hatte, ein hübscher Bluterguss entstehen. Wenn man allerdings bedachte, wie viel schlimmer die Sache hätte ausgehen können, ging es ihr wirklich gut.

"Haben wir sie wenigstens erwischt? Ich meine…"

Mit gesenktem Blick sah sie an Nataniel herab, ihre Finger glitten über seine schmutzige Haut. Es war wirklich vollkommen gegen ihre Natur nach dem Erfolg einer Aktion zu fragen, wenn es dabei darum ging, ob alle Gegner getötet worden waren. Für einen kurzen, aber heftigen Moment ekelte sich Amanda vor sich selbst und ein Zittern lief durch ihren gesamten Körper. Bis ihre Aufmerksamkeit schlagartig abgelenkt wurde.

Ihre Fingerspitzen hatten Nataniels Seite erreicht und waren zurückgezuckt, als sie noch warmes und flüssiges Blut berührten.

Sofort sprang Amanda ihr Herz in den schon vor Schmerz pochenden Hals und sie lehnte sich zur Seite, um besser sehen zu können. Unter dem ganzen Dreck hatte sie es gar nicht bemerkt und jetzt zischte sie Nataniel fast böse an.

"Du bist verletzt!"

Da saß er hier auf dem unbequemen Stuhl, anstatt sich behandeln zu lassen. Gab's denn so was!

Um sich erst gar keinen Einspruch anhören zu müssen, stand Amanda auf und riss auf etwas wackeligen Beinen den Vorhang vor dem Bett zurück.

Sofort war eine Ärztin da, um zu sehen, was passiert war.

"Kümmern sie sich um ihn. Er hat eine Wunde an der Seite und lassen sie sich bloß nicht von ihm einreden, es wäre nichts."

Energisch drehte sie sich zu Nataniel um, der immer noch auf dem Stuhl saß und anscheinend nicht so recht kapierte, was gerade mit ihm geschah.

"Ist es deine einzige Verletzung? Warum hast du nicht…"

Als sie seine Augen sah, die seine Müdigkeit in schillernden Farben spiegelten, wurde ihre Stimme wieder sanft und sie beugte sich zu Nataniel hinunter, um ihm einen Kuss auf eine einigermaßen saubere Stelle seiner Lippen zu hauchen.

"Lass' dir helfen, ok?"
 

Ja, sie war hier. Aber gerade Situationen wie dieser Kampf, machten ihm die Vergänglichkeit von dem nur noch deutlicher bewusst, was er liebte. Es hätte nur um ein Winziges schief gehen können. Ein verirrter Querschläger oder sonst was und er hätte nicht nur Amanda verloren.

Das kleine Wesen in ihrem Bauch war vielleicht noch nicht sehr alt, aber alles in ihm reagierte instinktiv darauf. Das ließ sich weder ignorieren, noch erklären. Er war bereits auf eine emotionale Weise mit dem kleinen Geschöpf verbunden. Was seine Gefühle zu der Mutter noch viel stärker machte, als sie es ohnehin schon waren.

Amanda riss ihn mit ihren nächsten Worten aus seinen Gedanken und warf ihn gleich in die nächsten hinein. Er hatte nichts davon vergessen. Der Kampf war selbst für seine Verhältnisse äußerst blutig gewesen. Der metallische Geschmack lag ihm immer noch auf der Zunge und zugleich konnte er noch spüren, wie Knochen, Muskeln und Sehnen unter seinem Biss zerstört wurden. Die Schmerzensschreie und das Todesröcheln…

Nataniel schämte sich bis in die Tiefen seiner Seele. Er hatte das alles genossen.

Bevor er jedoch Amanda antworten konnte, obwohl er sich selbst nicht ganz sicher war, wie es um die Dinge stand, strich sie über seine Seite. Er registrierte, dass sie dort seine Verletzung berührte, aber er spürte keinen Schmerz. Weshalb er auch protestieren wollte, aber die Sorge stand seiner Gefährtin ins Gesicht geschrieben. Also schwieg er, um wenigstens ihr Gemüt etwas zu erleichtern. Denn er wollte ihr das gleiche Recht auf Sorgen, das auch er von ihr verlangte, nicht nehmen. Es half manchmal.

Weshalb er schweigend zuließ, wie sie eine Ärztin holte, ihm einen Kuss auf die Lippen drückte und er sich dann dazu gezwungen fühlte, aufzustehen.

Die Decke – der einzige Schutz vor der Nacktheit – ließ er bis zu seiner Taille hinab rutschen, ehe er sich von der Ärztin angewiesen auf einen Untersuchungstisch setzte, damit sie seine Seite erst einmal reinigen konnte, um überhaupt etwas zu erkennen.

Während sie an die Arbeit ging, ließ Nataniel Amanda keine Sekunde aus den Augen. Dabei ignorierte er die Worte der Ärztin vollkommen, obwohl sie mit ihm schimpfte, weil er sich nicht schon vorher hatte behandeln lassen.

„So wie es aussieht, sind Ihre inneren Organe nicht verletzt worden. Aber ich will das trotzdem noch einmal überprüfen.“

Die dunkelhaarige Frau Mitte dreißig sah ihn an, als hätte sie ihn etwas gefragt. Da er keine Ahnung hatte, was sie von ihm wollte und ihm das auch ziemlich egal war, hob er lediglich den Arm an, damit sie besseren Zugang hatte.

Sie wertete das eindeutig als ein Zeichen irgendeines Einverständnisses, denn zuerst säuberte sie grob die Wunde und begann dann, den Schnitt der Länge nach abzutasten. Dort wo das Messer tiefer eingedrungen war, bohrte sie ihm sogar äußerst vorsichtig die Finger hinein, um seine inneren Organe auf Schäden zu überprüfen.

Nataniel zuckte noch nicht einmal mit der Wimper. Seine Augen waren unverwandt auf Amanda gerichtet. Ihre hellbraunen Iris schienen ihn so magisch anzuziehen, wie sie es noch nie getan hatten. Als müsse er sich ständig davon überzeugen, dass sie sich nicht doch noch einmal schwarz färbten.

„Haben Sie Schmerzen?“, störte die Ärztin seine Konzentration.

„Nein.“

Sie sah ihn an, als würde sie ihm nicht glauben. Aber auch als sie fester zudrückte, rührte er keinen Muskel.

„Spüren Sie das?“, wollte sie verwirrt wissen.

Mit einem langsam genervten Seufzen, riss er sich von Amandas Anblick los und sah der Ärztin direkt in die Augen.

„Falls sie das Herumstochern meinen: Ja, das fühle ich.“

Sein Blick fragte mit einer unhöflichen Unternote, ob sonst noch irgendetwas unklar wäre. Daraufhin schüttelte die Ärztin nur den Kopf und murmelte etwas wie Typisch Gestaltwandler vor sich hin.

Danach machte sie keine Umschweife mehr, sondern begann die Wunde mit sauberen Stichen zu nähen. Zum Glück, denn Nataniel wollte unbedingt das ganze Blut abwaschen. Wenn er zusammen geflickt war, konnte er dabei auf einen Verband verzichten. Über den Streifschuss an seiner Schulter verlor er erst recht kein Wort. Der war nicht der Rede wert.

Nach dem er endlich von der letzten Rippe bis zum Hüftknochen zusammen geflickt worden war, sprang er von dem Untersuchungstisch und nahm Amandas Hand.

„Bitte sag mir, dass ich mir jetzt eine Dusche verdient habe.“

Zum ersten Mal verlor seine Stimme diesen kühlen Tonfall und seine Bitte wurde fast kindlich. Langsam schienen seine Nerven sich also wieder zu normalisieren.
 

Amanda legte den Kopf schief und konnte ein Grinsen gerade so unterdrücken, als Nataniel die Ärztin anschnauzte, die offensichtlich von seiner Einstellung, was Verletzungen anging, ein wenig verwirrt war.

Eigentlich war es nicht zum Lachen, aber so wie Nataniel sich gebärdete, konnte Amanda nicht anders, als ihre Hand vor den Mund zu legen und unter ihrem Locken hervor zu ihm hinüber zu sehen. Es ging ihm also gut. Das und der Gesichtsausdruck der Ärztin erleichterten Amanda so ungemein, dass sie am liebsten laut gelacht hätte. Aber das hätte in ihrer Situation wahrscheinlich knapp an der Grenze zu wahnsinnig gewirkt und man hätte sie zur Sicherheit an einem der Krankenbetten festgeschnallt.

Dass er so dynamisch vom Untersuchungstisch sprang und mit großen Schritten auf sie zukam, um ihre Hand zu nehmen, freute Amanda nur noch mehr.

"Aber klar, mehr als verdient sogar."

Skeptisch sah Amanda an sich herab. Sie war zwar etwas sauberer als Nataniel, aber eine Dusche war trotzdem genau das, was sie sich jetzt wünschte.

"Nimmst du mich mit?"

In dieser Umgebung fiel Nataniels Nacktheit viel mehr auf als auf der Farm seiner Eltern. Seine Füße verursachten ein charakteristisches Geräusch auf dem hauptsächlich metallischen Boden und Amanda wurde schon bei dem Gedanken kalt, so in dem Containerkomplex herum zu laufen. Daher schob sie ihn mehr oder weniger in den Raum mit den Duschen und sah ihn dann fragend an.

"Ich hol' uns saubere Klamotten aus dem Zimmer."

Nachdem sie darauf keine erkenntliche Antwort bekam, drehte sie sich um und tat, was sie gesagt hatte.

Als ihre Füße sie anschließend wieder in die Duschen trugen, drangen bereits Dunstschwaden aus einer Kabine und sie konnte das Wasser rauschen hören. Mit spitzen Fingern zog sich Amanda die verklebten Klamotten aus. Erst jetzt fiel ihr so richtig auf, dass das Blut so vieler Menschen an ihr klebte. Sie wollte bloß aus diesen Klamotten raus und sich waschen.

Ohne lange zu fragen, schob sie den Duschvorhang zur Seite und blickte durch die erhitzte Luft Nataniel in die Augen.

"Darf ich?"

Natürlich hatte sie keinerlei Hintergedanken. Sie wollte einfach nur bei ihm sein und ihm dabei helfen, sich genauso wie sich selbst von allem Schmutz und Dreck zu befreien. Auch wenn sie das nicht davon abhalten würde, Nataniel erst einmal in eine Umarmung zu ziehen, aus der er sich nur unter Kraftanwendung befreien konnte.
 

Er war so unendlich froh, aus diesem Krankenzimmer zu sein, das in den letzten Stunden seine persönliche Hölle dargestellt hatte.

Nicht nur alleine deshalb war eine heiße Dusche die pure Verlockung. Natürlich auch wegen des Reinlichkeitsfaktors, aber auch wegen der beinahe alltäglicheren Atmosphäre.

Als Amanda ihn in die Duschräume schob und irgendwas davon redete, dass sie ihnen Kleider holen wollte, sah Nataniel nur noch wie gebannt die Duschkabinen an und steuerte dann auch schon zielgenau darauf zu.

Natürlich ließ er seine Gefährtin nur deshalb gehen, weil er merkte, dass es ihr offenbar wieder besser ging und hier niemand sie angreifen würde, ohne sofort zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die Moonleague wusste vermutlich noch nicht einmal wie ihr geschehen war. Immerhin hatte er dafür gesorgt, dass auch die Badenden nichts mehr ausplaudern konnten.

Alleine bei dem Gedanken daran, erschauderte er, weshalb er sich rasch unter den nächstbesten Duschkopf stellte und das Wasser aufdrehte.

Zuerst war es eiskalt, trotzdem blieb er darunter stehen, bis es allmählich warm und dann heiß wurde.

Das erste, was er sich wusch, war sein Gesicht und er spülte sich mehrmals den Mund aus, bis der metallische Geschmack fast vollkommen abgeklungen war. Aber auch wenn seine Zunge nichts mehr davon schmeckte, so würde sein Gehirn ihn noch eine ganze Weile an das Menschenblut erinnern. Es schmeckte anders, als das seiner eigenen Art.

Sein Körper war noch nicht einmal annähernd sauber, als der Duschvorhang zur Seite geschoben wurde und seine nackte Gefährtin vor ihm stand.

Nataniels Blick glitt unverhohlen ihren Körper mehrmals auf und ab. Aber es hatte absolut nichts Sexuelles. Bei dem Anblick kamen ihm auch gänzlich andere Gedanken. Am liebsten würde er diese Bastarde noch einmal umbringen. Langsamer dieses Mal und den Schmerz so vollkommen auskostend, bis er vergessen konnte, was sie Amanda angetan hatten.

Obwohl sie auch ziemlich schmutzig war, sah er genau die Stellen, an denen man sie geschlagen hatte. Immer wieder in die Seite, Arme, Beine, den Brustkorb, auch sehr deutlich der Hals und zu guter letzt das Schlimmste – ihren Bauch.

Fast hätte er schon wieder die Beherrschung verloren. Die tobende Bestie lauerte bereits dicht an der Oberfläche, doch anstatt ihr nachzugeben, griff er nach seiner Gefährtin und zog sie unter den warmen Wasserstrahl und somit in seine Arme.

„Du darfst alles was du willst.“, hauchte er ihr einen Kuss gegen die Lippen, während ein Arm um ihre Taille lag und er mit der anderen Hand vorsichtig über die Male an ihrem Hals strich.

Er konnte das tiefe Grollen in seinem Brustkorb nicht verhindern. Der Anblick ihres zerschundenen Körpers war für ihn, wie ein rotes Tuch für einen Stier.
 

Ihre Küsse waren harmlos und auch ihre Hände strichen nur über seinen Köper, um ihm beim Abwaschen des ganzen Blutes zu helfen. Trotzdem tat es so unglaublich gut, ihn berühren zu können. Zu wissen, dass sie diesen Kampf beide lebend überstanden hatten und dass ihnen zumindest in diesem Moment nichts passieren konnte.

Sein Grollen entging Amanda nicht und sie verstand es durchaus, dass seine Wut auf die Sammler noch nicht verraucht war. Amanda ging es ganz ähnlich, wenn sie mit ihren Augen die Linie nachfuhr, die seine Seite hinunter lief.

Die Moonleague hatte Klasse 5 – Sammler geschickt und jetzt war klar, dass sie nur ein Ziel gehabt hatten. Den Untergrund ausfindig zu machen und so viele wie möglich zu töten. Seth hatte mit seiner Vermutung also offensichtlich Recht gehabt. Die kleine Gartenparty war nur Tarnung gewesen und die Gründer keinesfalls so ahnungslos, wie Amanda es angenommen hatte. Hatte der Fahrer des ersten Wagens nicht sogar erwähnt, dass sie Amanda gesucht hatten? Oder zumindest vor ihr gewarnt worden waren?

Um ihre nackten Füße spülte immer noch rot gefärbtes Wasser, als Amanda den Blick senkte, um Nataniel nicht in die Augen sehen zu müssen. Sie war zwar ohnmächtig gewesen, aber irgendwo tief in ihr drinnen sagte eine Stimme, dass sie Nataniel keinesfalls nach Seth fragen sollte. Auch wenn sie zu gern gewusst hätte, ob es dem Blonden gut ging und er auch ohne größere Verletzungen in der Zentrale angekommen war. Immerhin war das Letzte, an das sich Amanda mit voller Klarheit erinnerte, dass eine Waffe hinter Seths Rücken aufgeblitzt hatte und sie ihn hatte retten wollen.

Weil es ihr selbst den Umständen entsprechend gut ging, war anzunehmen, dass das auch für Seth galt. Aber hundertprozentig sicher konnte sich Amanda da nicht sein.

Hatte vielleicht auch Nataniel eine Dummheit begangen? Prüfend sah sie ihm kurz in die Augen, allerdings ohne etwas von ihren Gedanken preiszugeben. Nein, wäre zwischen den beiden Männern etwas derart Gravierendes vorgefallen, hätte Amanda bestimmt schon davon erfahren.

Kurz drehte sie sich um und zog den Duschvorhang ein Stück zur Seite, um sich in die Kühle hinauszulehnen.

Mit einem breiten Grinsen und zwei Dingen in den Händen kam sie wieder zurück. Den weichen Schwamm streckte sie Nataniel kurz entgegen, bevor sie Duschgel darauf verteilte und dann wieder auf ihn zukam.

"Ich weiß, dass es total unmännlich ist, aber auf jeden Fall besser, als wenn ich an dir herumschrubbe."

Vorsichtig verteilte sie den Schaum auf Nataniels breitem Rücken und lächelte zufrieden, als sich das Blut endgültig löste und das Wasser zu ihren Füßen immer klarer in den Abfluss gurgelte.
 

Nataniel sah den Schwamm und danach Amanda an. Unmännlich? Wie kam sie denn darauf?

Denn schon nach den ersten Berührungen des Schwamms auf seinem Rücken, fühlte er sich nicht nur behaglich, sondern hätte in seiner Pantherform voll und ganz zu schnurren begonnen. Er spürte jede Bewegung, jeder Muskel schien sich darunter gespannt zusammen zu ziehen und wieder zu entkrampfen, während seine Gefährtin Stück für Stück von seiner Haut sauber machte.

Von Unmännlich konnte wirklich nicht die Rede sein. Zu spüren, wie eine geliebte Frau ihn wusch und sich um ihn kümmerte, gab ihm ganz in Gegenteil völlig andere Gefühle ein. Der Stress fiel sowohl körperlich als auch nervlich von ihm immer weiter ab, so wie es der Dreck von seiner Haut tat.

Als Nataniel glaubte, sein Rücken müsse bereits auf Hochglanz poliert sein, drehte er sich wieder zu Amanda um und lächelte sie warm und mit einem verwegenen Glitzern in den Augen an.

Er griff nach dem Haarshampoo, gab sich eine ordentliche Portion davon auf die Handfläche und stellte die Flasche wieder weg. Danach nahm er mit seiner freien Hand, die von Amanda und legte sie zusammen mit dem Schwamm auf seine Brust. Sein Blick bettelte eindeutig darum, auch an der Vorderseite gewaschen zu werden, wo er eigentlich auch selbst hinkäme.

Damit aber noch nicht genug, trat er einen Schritt näher an Amanda heran und legte seine Hände an ihr nasses Haar, wo er das Shampoo zu verteilen begann, ehe seine Fingerspitzen mit massierenden Bewegungen über ihre Kopfhaut streichelten. Dabei ließ er sie keine Sekunde lang aus den Augen.

Nataniel hätte sich nicht deutlicher bewusst sein können, dass das hier das erste Mal war, dass sie zusammen unter der Dusche standen und sich gegenseitig pflegten. Würde man das in katzenhafte Maßstäbe umwandeln, war das eine große Sache. Gegenseitige Fellpflege zeugte von tiefer Zuneigung und Liebe. Und das empfand er auf jeden Fall.

Seine Hand glitt in ihren Nacken, bog ihr sanft den Kopf etwas zurück, während er sich herab beugte und seine Gefährtin küsste. Dieses Mal mit deutlich zu spürender Liebe, während seine Finger immer noch sanft weiter ihre Haare wuschen.
 

Dass sich Nataniel tatsächlich mit dem Schwamm einschäumen ließ und es auch noch zu genießen schien, gefiel Amanda. Sie hatte schon ein paar Mal seine Wunden notdürftig verarztet oder sie mit Wasser gereinigt, aber das hier war etwas anderes. Zwar hatten sie einen Kampf hinter sich, der an Blutvergießen mit nichts anderem zu vergleichen war, was Amanda bis jetzt erlebt hatte, aber trotzdem waren sie glimpflich davon gekommen. Und das machte sie froh.

Die Verletzungen würden verheilen und mit der Zeit und dem Erfolg der geplanten Aktion sicher auch die Bilder irgendwann aus ihrem Kopf verschwinden. Das hoffte Amanda zumindest. Und wenn sie Nataniel so nah bei sich hatte, würde sie sich zumindest immer sicher und geborgen fühlen.

Mit wachsender und schon fast kindlicher Begeisterung kam sie seinem Wunsch nach und begann mit großen Kreisen Seife auch auf seine Brust und seinem Bauch zu verteilen.

Am liebsten hätte sie sich aus dieser wohligen Wärme der Dusche gar nicht mehr gelöst, aber irgendwann würde entweder das heiße Wasser ausgehen oder sie wären vollkommen aufgeweicht. Bis dahin war aber noch Zeit und Amanda gab sich große Mühe jeden Zentimeter von Nataniels Haut von dem Blut und Dreck des Überfalls zu befreien, während er ihr die Haare wusch und sie ab und zu für einen Kuss an sich zog. So bekam sie auch gleich etwas Duschgel und vor allem noch mehr Wärme ab, was sie ihm mit einem Kuss auf die Brust dankte, der ihr Schaum auf die Nasenspitze zauberte.

Irgendwann trat Amanda einen Schritt zurück und sah mit ein wenig zusammen gekniffenen Augen an Nataniel hinauf und hinab. Ihr Blick kam dem eines Künstlers gleich, der eine selbst geschaffene Skulptur prüfte, bevor er sie dem Publikum vorstellte.

"Ich glaube, wenn ich noch weitermache, glänzt du am Ende unnatürlich.", meinte sie scherzhaft.

Zusammen mit dem Duschgel und dem Shampoo legte Amanda den Schwamm zur Seite und schlang ihre Arme noch einmal um Nataniels Körper.

Während der Reinigungsaktion war ihr die Wunde an seinem Oberarm aufgefallen, die, wie er ihr erklärte, von einem Streifschuss herrührte. Aber schon jetzt, wenige Zeit später, schloss sich die Haut bereits über der aufgerissenen Stelle, was Amanda wie immer beruhigte.

Nataniels Wandlergene hatten wirklich etwas für sich. Da konnte man beinahe neidisch werden. Vor allem, wenn sie so ihren Bauch betrachtete, wo eine große, rote Stelle prangte, die sich bald blau und dann in andere schillernde Töne verfärben würde. Na ja, es hätte schlimmer sein können.

Langsam aber sicher trat das ein, was Amanda befürchtet hatte. Das Wasser wurde merklich kühler.

Um das Frieren zu vermeiden, stellte sie den Strahl entschlossen ab und tauchte noch einmal in die Kälte hinter dem Duschvorhang, um zwei große, flauschige Handtücher in die Kabine zu holen, von denen sie eins Nataniel in die Hand drückte und sich dann selbst mit dem zweiten abrubbelte.

Mein Gott, es tat so gut, wieder sauber zu sein.

Noch damit beschäftigt ihre Haare zu trocknen, sprach sie gedämpft von dem dicken Handtuch mit Nataniel.

"Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie spät es ist und ob einer der Sammler irgendwo auf die Befragung wartet."

Sie richtete sich auf und linste unter dem flauschigen Tuch hervor.

"Aber das ist mir ehrlich gesagt auch so egal wie sonst was. Wenn ich nicht noch ein paar Stunden Schlaf in deinen Armen bekomme, dann drehe ich durch."
 

Nachdem Amanda das Wasser abgestellt und ihm ein Handtuch gereicht hatte, trocknete er sich gründlich ab, nahm dabei noch einmal eine Bestandsaufnahme seines Körpers auf und kam zu dem Ergebnis, dass es für ihn selbst schlimmer hätte aussehen können. Selbst wenn, Amandas Verletzungen trafen ihn mehr, als es seine eigenen jemals tun könnten.

„Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, Seth hat einen der Typen nur schlafen geschickt.“, gab er leise und mit nicht zu verleugnender Härte von sich, die eigentlich nicht unbedingt in dieser Form angebracht war. Aber in diesem Fall galt sein Gefühl nicht dem unglücklichen Überlebenden, sondern diesem Schattengänger. Alleine bei dem Gedanken an den Kerl, stellten sich ihm alle Härchen auf.

Nataniel wäre froh, wenn er den Typen nie wieder sehen müsste oder gar in der Nähe seiner Gefährtin. Ihm war nicht entgangen, wie der Kerl sie angesehen hatte. Egal wie wild er gewesen war, den viel zu besorgten Blick des Blonden konnte man nicht nur auf einfache Sorge schieben und das hatte er nur zu gut erkannt. Aber für Gefühle konnte man nichts, weshalb er Seth aus dem Weg gehen würde. Solange der Kerl keinen Ärger machte, würde auch er sich benehmen.

Endlich wieder in sauberen Klamotten, trat Nataniel dicht vor Amanda und lächelte sie müde an.

„Na dann ab ins Bett mit dir.“

Mit diesen Worten packten seine Hände ihren Hintern und jeglichen Protesten zum Trotz hob er sie hoch, so dass Amanda nur eines tun konnte. Entweder mit den Füßen über dem Boden baumeln, oder sie um seine Taille schlingen, während er ihren Körper sanft gegen seine heile Seite drückte.

Kein Mensch, Wandler oder sonst was auf der Welt, konnte ihm verübeln, dass er nach derartigen Aktionen einen enormen Drang in sich verspürte, seine Gefährtin so nahe wie möglich bei sich zu wissen. Und dass sie ihm im Augenblick zufriedenstellend nahe war, zeige ihm das Kribbeln an den Stellen, wo sie ihn berührte, nur zu deutlich. Weshalb er seine Arme nur noch beschützender um sie schlang, ehe er sich mit ihr zusammen auf den Weg in ihr Zimmer machte.

Der Weg war nicht weit und um diese Uhrzeit war wohl die Action gerade wo anders los. Denn es begegnete ihnen niemand auf den Fluren, bis sich schließlich die Tür ungesehen hinter ihnen schloss und er Amanda auf dem Bett absetzte. Er selbst ließ sich ebenfalls gleich auf der Matratze nieder.

Erst jetzt, da er auf dem Bett lag, brach die Müdigkeit über ihm zusammen. Alles fühlte sich bleischwer an und er hatte absolut keine Lust mehr, sich zu bewegen. Weshalb er leise mit halb gesenkten Lidern meinte: „Ich hoffe, du nimmst mir nicht übel, dass ich gegen meine eigene Kleiderordnung beim Schlafen verstoße…“

Er ließ sich ins Kissen fallen. Zum Ausziehen war er definitiv zu geschafft. Außerdem konnte er das immer noch nachholen, wenn ihm zu heiß werden würde und dass das der Fall sein würde, war so sicher wie der Sonnenaufgang.

„Komm her, Gefährtin.“, lockte er leise und streckte seine Hand nach Amanda aus. Sie war nicht die Einzige, die durchdrehen würde, wenn sie nicht noch ein paar Stunden in seinen Armen schlafen konnte.
 

Eigentlich hatte Amanda protestieren wollen, als Nataniel sie hochhob, um sie in ihr Zimmer zu tragen. Seiner genähten Wunde würde diese Aktion sicher nicht besonders guttun. Aber da er das selbst wissen musste und nicht so aussah, als würde es ihm zu viel ausmachen, ließ Amanda es mit Wohlwollen geschehen. Allerdings war sie froh, dass ihnen auf dem kurzen Stück des Weges in ihr Zimmer, niemand entgegen kam oder zu diesem ungünstigen Zeitpunkt aus einem der angrenzenden Räume trat.

Nicht, dass sich Amanda ihrer Beziehung zu Nataniel schämte. Genau das Gegenteil war der Fall, sie war mehr als stolz jemanden wie ihn zu haben. Aber wie sie so ihren Kopf an seiner Schulter abgelegt hatte und er sie fast wie ein erschöpftes Kind trug, wollte sie keinem begegnen. Vermutlich hätte sich niemand größere Gedanken darüber gemacht, aber noch war Amanda der Meinung, dass sie eine gewisse Führungsrolle auszufüllen hatte. Und das repräsentierte sie in diesem Moment überhaupt nicht. Sie wollte es auch gar nicht.

Im Zimmer angekommen, wurde sie sanft abgesetzt und Nataniel kippte augenblicklich in die Kissen. Es war ihm nicht zu verdenken.

"Na ja, es ist ja nicht so, als hättest du schichtenweise Klamotten am Leib. Da ist das schon in Ordnung."

Eigentlich waren sie mehr oder weniger im Partnerlook, was Amanda wiederum fast zum Lachen brachte. Sie war nie eine von den 'Freundinnen' gewesen, die besonders an ihrem Partner klebte. So etwas wie zueinander passende Outfits, war ihr völlig fremd. Die Tatsache, dass sie beide T-Shirt und Boxershorts trugen entsprach dem auch weniger.

Sie ließ sich nicht lange bitten und legte sich in Nataniels Arme, seinen warmen Körper im Rücken und zog trotzdem noch die Decke über sie beide. Die Kälte kam nicht von den äußeren Umständen. Durch die Sonneneinstrahlung konnte man froh sein, wenn einem nachts selbst unter dem dünnen Leintuch nicht der Schweiß ausbrach. Aber es gab andere, tief sitzende Gründe, die Amanda nicht losließen und ihr Inneres wie auch ihren Körper herunter kühlten.

Das Gemetzel hätte vermieden werden müssen. So nahe hätte ihnen die Organisation gar nicht kommen sollen – nicht kommen dürfen.

Amandas Herz fing ängstlich an zu rasen und nur mit einiger Anstrengung und ein paar meditativen Atemzügen, konnte sie sich wieder einigermaßen beruhigen.

"Nataniel?", wisperte sie ganz leise, weil sie sich eigentlich gar nicht sicher war, dass sie jetzt mit ihm darüber reden wollte. Über die Gefahr die ihnen immer noch drohte und darüber, dass er Recht gehabt hatte mit seiner Angst.

Amanda wandte den Kopf und sah lächelnd in das Gesicht ihres schlafenden Gefährten.

Ja, er hatte Recht gehabt. Er hätte sie verlieren können. Und wenn man die Lage realistisch einschätzte, würde diese Gefahr sogar noch größer werden.

Um dem Druck, der sich plötzlich wie Krallen um ihr Herz schloss und ihr Tränen in die Augen trieb, nicht nachzugeben, küsste sie Nataniel nur auf die Lippen und flüsterte ganz leise, bevor sie sich wieder umdrehte.

"Ich liebe dich."

Sie kuschelte sich in seine Arme und schloss zumindest die Augen, auch wenn sie sich sicher war, dass sie nur auf dieser Grenze zwischen Schlafen und Wachen dahintreiben würde, anstatt wirklich einzuschlafen. Aber vielleicht war das auch besser so. Immerhin konnte sie so nicht von den Bildern, die immer noch in ihrem Kopf schwirrten, in nur allzu realen Albträumen verfolgt werden.

52. Kapitel

Sein Zeigefinger zog hauchzarte Kreise auf ihrem flachen Bauch.

Beinahe hätte man glauben können, die violett-roten Verfärbungen spüren zu können. Doch egal wie schlimm Amandas Bauch auch aussah, er fühlte sich weich, glatt und warm an. Als bräuchte man nur die Augen zu schließen, um all die schlimmen Dinge vergessen zu können, die mit ihrem Körper passiert waren.

Nataniel seufzte lautlos. Er hatte nach einer Weile der blutigen Träume nicht mehr schlafen können und so wie es aussah, war er irgendwie auch sein Shirt losgeworden, ohne zu wissen, wie das passiert war. Vermutlich war ihm zu heiß gewesen. Im Gegensatz zu Amanda, die zwar ab und zu unruhig wurde, aber da er sich so unauffällig wie möglich verhielt, nicht aufwachte. Er wollte auch gar nicht, dass sie schon den Schlaf unterbrach. Sie brauchte sicher Ruhe und wenn er es gekonnt hätte, er hätte sie so lange ans Bett gefesselt, bis jede Blessur an ihrem Körper völlig verschwunden war. Stattdessen musste er fürchten, schon bald noch Schlimmeres an ihr zu sehen.

„Verdammt, ich halt das nicht aus.“, flüsterte er kaum hörbar und vergrub sein Gesicht in seinem Arm, während sich nun seine flache Hand auf Amandas Bauch legte und er nur noch mit dem Daumen darüber streichelte.

Zu wissen, dass das da unter seiner Handfläche nicht nur Amanda, sondern auch ihr gemeinsames Kind war, schmerzte nur noch mehr. Er könnte sie beide verlieren.

Noch nie in seinem Leben war Nataniel so verzweifelt gewesen und obwohl er fast daran zu ersticken drohte, konnte er zum ersten Mal nicht einfach seine Gefühle frei heraus lassen und offen zeigen. Er musste sich zusammen reißen. Wie sie alle es mussten, um in diesem Kampf bestehen zu können, aber nie war etwas schwerer für ihn gewesen als das.

Langsam hob er seinen Kopf, schmiegte seine Stirn an Amandas Seite, so dass seine Nase tief ihren Duft einsaugen konnte und nahm vorsichtig ihre Hand, um sie auf seinen Kopf zu legen.

Auch wenn er es nicht sagen konnte und auch nicht zugeben durfte, er brauchte in diesem Augenblick Trost, obwohl es ihnen beiden im Augenblick daran ziemlich mangelte, wenn man bedachte, dass keiner ein Wunder bewirken konnte und Trost somit lediglich eine Illusion blieb. Aber eine die besser war als überhaupt nichts.
 

Immer wieder schreckte Amanda hoch, riss die Augen weit auf, um dem Horror zu entkommen, der sich in ihrem Hirn so real abgespielt hatte. Aber da war nichts als Dunkelheit, in der sie die Albträume mit Angst und Schrecken zurückließen.

Wie sehr Amanda dieses Gefühl doch hasste. Es nicht ganz abschütteln zu können, weil der Geist so viel schwächer schien als der müde Körper, der nichts anderes wollte, als wieder die Augen zu schließen. Auch wenn das hieß in das blutige Massaker zurückzukehren, das Amandas Geist ihr in allen Einzelheiten noch einmal vorspielte. Dabei war es noch nicht einmal nötig, sich Schlimmeres auszumalen. Es reichte, das Erlebte noch einmal abzubilden.

Nach einem besonders mitreißenden Stück Horrortraum, in dem es hauptsächlich um den Kerl ging, der sie in die Seite getreten und versucht hatte sie zu erwürgen, war Amanda fast davor gewesen, das Licht anzuschalten, um die Schatten, die ihr Unterbewusstsein mit großer Präzision herauf beschwor, zu vertreiben.

Stattdessen wählte Amanda eine andere Variante und drückte sich so nah an Nataniels Körper, wie sie es vermochte. Bei der Hitze, die sein Körper ausstrahlte, würde ihr bestimmt bald der Schweiß ausbrechen, weswegen Amanda sich auch die Decke bis auf die Hüften zog. Dann schloss sie die Augen und versuchte sich mit tiefen, ruhigen Atemzügen für das zu wappnen, was da wohl noch kommen würde.

Auch weiterhin war es keine ruhige oder gar erholsame Nacht, aber Amanda hatte das Gefühl, zumindest ihrem Körper ein wenig neue Energie gegeben zu haben, als sie schließlich aufwachte.

Das Erwachen ging langsam vor sich, als würde Amanda die Dinge um sich herum nur einzeln nach einander wahrnehmen. Zuerst war da Nataniels Hand auf ihrem Bauch, sein Daumen, der über ihre Haut strich und sie ein wenig kitzelte. Dann sein Geruch in ihrer Nase und dann das Gefühl so nah bei ihm zu liegen, sein Atem an ihrer Seite. Den Rest des Zimmers blendete sie absichtlich noch völlig aus. Das hätte viel zu sehr mit Aufstehen und anderen Aktivitäten zu tun gehabt, als dass Amanda sich jetzt hätte damit beschäftigen wollen.

Immer noch mit geschlossenen Augen streichelte sie Nataniels Haar.

„Hast du ein wenig schlafen können?“, fragte sie leise. Normalerweise wäre sie davon ausgegangen, dass Nataniel besser schlief als sie selbst, aber in dieser Situation war sie sich absolut nicht sicher, ob er wohl überhaupt zur Ruhe gekommen war. Eigentlich wäre das einem kleinen Wunder gleichgekommen.

„Macht es dir was aus, zu warten, bis uns tatsächlich jemand suchen kommt?“

Jetzt aufzustehen, versprach absolut keine angenehmen Folgen. Und doch hatten sie eigentlich schon zu lange im Bett gelegen.

Nach dem Angriff der letzten Nacht mussten sie umso schneller handeln. Genau das machte Amanda Angst. Sie waren noch nicht hundert Prozent vorbereitet. Selbst wenn der Sammler etwas ausplauderte – wovon Amanda keinesfalls ausging – konnten sie immer noch in eine Falle laufen.

Wieder wurde ihr kalt, was sich in einer Gänsehaut zeigte, die ihren gesamten Körper erfasste.

Mit noch ein bisschen benommenen Bewegungen zog Amanda die Decke wieder ein Stück hoch und drückte sich so weit das überhaupt möglich war noch enger an Nataniel.
 

„Nein und nein.“, seufzte er genauso leise.

Warum sollte er lügen? Weder hatte er gut geschlafen, noch wollte er sich aus diesem Bett erheben, um dem entgegen zu treten, was da auf sie wartete oder besser gesagt, was da lauerte.

Seit gestern schien ziemlich klar zu sein, dass die Moonleague zumindest eine ungefähre Lage vom Untergrund hatte. Oder war das nur ein Trupp von vielen gewesen?

Nataniels Bauchgefühl bezweifelte es. Es war also nur noch die Frage, wie die Organisation sie hatte finden können.

Schwach schüttelte er seinen Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Wenigstens ein paar Minuten noch, wollte er davon seine Ruhe haben. Die mussten doch irgendwie drin sein, oder?

Als Amandas Körper von einer Gänsehaut bedeckt wurde, sah er zu ihr hoch. Wenn er auch die schlechten Gefühle alle hinter seiner Müdigkeit verstecken konnte, so gelang es ihm nicht vollkommen mit seiner Sorge.

„Du frierst.“, stellte er überflüssigerweise fest und zog ihr die Decke noch weiter nach oben, während er selbst wieder darunter schlüpfte und seine Gefährtin an seine Brust schob.

Auf seine verletzte Seite achtete er dabei nur deshalb, weil die Fäden ihn auf seiner Haut störten, wenn er mit dem Arm daran kam. Aber spätestens am Abend würde er sie sich wieder ziehen. Schon jetzt sah alles wieder besser aus. Könnte doch auch nur Amanda so schnell heilen. Dann würde ihr Anblick ihn nicht so lange quälen.

Am liebsten, würde ich alles hinschmeißen und mit dir an einen sicheren Ort fliehen…, hätte er beinahe gesagt, doch er besann sich eines Besseren. Das half ihnen keinen Moment lang weiter, sondern machte alles nur noch schwerer.

Um jedoch die Stimmung nicht noch tiefer sinken zu lassen, streichelte er über Amandas Rücken und schob sich etwas von ihr, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Er lächelte schwach, als er ihre Augen sah, die noch immer diesen schönen goldbraunen Farbton hatten. Dann küsste er sie. Sanft. Zärtlich, und innerlich voller Traurigkeit. Aber nach außenhin begann er sich immer mehr zu fassen, bis die Mauer um sein Innerstes so massiv war, dass sie halten würde und sein Lächeln schließlich breiter wurde.

„Übrigens, mach dich schon mal auf was gefasst. Ich wollte schon immer ein ganzes Rudel voller Kinder haben.“

Mit diesen Worten biss er ihr neckisch und hauchzart in die Unterlippe.
 

Bevor sich Amanda in die Gefühle stürzen konnte, die diese verzweifelte Situation mit sich brachte, konzentrierte sie sich lieber auf Nataniels Hände, die über ihren Rücken streichelten. Er konnte im Moment nicht gänzlich dafür sorgen, dass die Kälte ihren Körper verließ. Das würde erst wieder der Fall sein, wenn sie alles hinter sich hatten. In einer Zeit, die Nataniel gerade versuchte heraufzubeschwören.

„Na, da bin ich ja froh, dass du mir das jetzt schon sagst, anstatt wieder hinterher.“

Ebenso neckend wie sein kleiner Biss, kniff sie ihn mit den Fingern in die Hüfte. Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, war sie wirklich ganz schön naiv gewesen zu glauben, dass sie nicht schwanger von ihm werden konnte. Bei dem Gedanken wurde sie sogar ein wenig rot.

„Kaum zu glauben, dass ich mir gar nichts gedacht habe, was?“

Immerhin war es nun so, dass sie beide es wollten. Amanda hatte zwar zuvor noch nie über Kinder nachgedacht, aber eine negative Überraschung hätte es nie sein sollen.

Schon die Tatsache, dass es der Vater des Kindes der Mutter hatte mitteilen müssen, war eigentlich einen Lacher wert. Vielleicht würden sie das bald nachholen, wenn sich der Rest des Lebens auch wieder nach Lachen anfühlte.

Amanda verfluchte sich dafür, aber sie hatte schließlich doch über Nataniels Schulter hinweg auf die Uhr gesehen.

Die leuchtenden Zahlen zeigten eine Kombination an, die nur als Nachmittag zu deuten sein konnten. Das schlechte Gewissen traf Amanda wie ein Faustschlag gegen die Schläfe. Sie musste sich aufraffen und mit dem Sammler sprechen. Auch wenn sie viel gegeben hätte, es nicht tun zu müssen, konnte sie Eric und die Anderen damit nicht allein lassen.

Gewichte schienen an jeder Faser ihres Körpers zu hängen und sie mit aller Gewalt ans Bett zu fesseln. Aber es half nichts.

Mit einem Seufzer setzte sich Amanda zunächst auf und sah Nataniel in die hellblauen Augen. Wie immer war sie fasziniert, dieses stille Flackern dahinter zu sehen.

Wenn sie daran dachte, wie es damals im Fluss einfach verschwunden war, verspannte sich irgendetwas in ihr immer noch bis zum Zerreißen. Und auch wenn er ihr versichert hatte, es sei nicht ihre Schuld gewesen, hatte Amanda immer noch das Gefühl, irgendwie für seine Verwandlung damals mit verantwortlich gewesen zu sein. Natürlich war sie das und genau deshalb würde sie es nie wieder so weit kommen lassen.

„Vielleicht haben sie ihn schon befragt.“, stellte sie mit wenig Überzeugung in den Raum und sah Nataniel fast gequält an.

„Ich habe ehrlich gesagt, nicht das geringste Bedürfnis dem Kerl zu begegnen. Vielleicht gerade auch deshalb, weil wir hier den so viel längeren Hebel in Händen halten.“

Was das bedeutete, ließ Amanda unausgesprochen. Zu sagen, dass sie ihn ohne weiteres töten konnten, war ihnen beiden bewusst. Und dass Amanda das nicht wollte. Der Sammler tat nur das, was ihm aufgetragen worden war. Wahrscheinlich, weil er daran glaubte, das Richtige zu tun. Wie Amanda es auch geglaubt hatte. Das machte die Sache nicht gerade einfacher.

Mühsam rappelte sie sich hoch, zog sich an – wobei sich der Stoff ihrer Kleider anfühlte, als wäre er aus Stahlwolle gemacht – und sah noch einmal Nataniel an.
 

„Ich glaube nicht, dass er etwas zu sagen hatte.“, meinte er seufzend, ehe er die Bettdecke ganz von sich schob und ebenfalls aufstand. Auch wenn jeder Muskel und Knochen in seinem Körper protestierte, streckte er sich einen Moment lang, aus alter Katzengewohnheit und begutachtete danach seine Verletzungen. Sie sahen definitiv besser aus.

Während er seine Shorts aus und die Jeans anzog, gab er sich seinen eigenen Gedanken hin. Nataniel fragte sich, was wohl aus dem Gefangenen werden würde. Sie konnten ihn nicht einfach wieder gehen lassen und wie wollte man ihn eigentlich zum Reden bringen, selbst wenn er nichts wusste? Die ganzen absolut nicht hilfreichen Ideen, die seine innere Bestie ihm in den Kopf setzte, halfen wirklich nicht weiter. Folglich schwieg er auch vehement darüber. Keiner sollte wissen, wie wild das eigentlich sonst so brave Katerchen im Augenblick war. Er konnte es selbst kaum glauben, aber dafür umso deutlicher spüren.

Noch immer schien er den Geschmack von Menschenblut im Mund zu haben. Bis er den wieder loswerden würde, musste wohl noch viel Zeit vergehen und vor allem auch viel passieren. Die momentane Situation ließ ihn nicht gerade zur Ruhe kommen. Alles in ihm war auf Kampf eingestellt.

„Und was hast du vor?“, wollte Amanda schließlich wissen.

Nachdem er sich ein nachtschwarzes Shirt und Schuhe übergezogen hatte, rubbelte er sich durch die Haare und lächelte sie dann geheimnisvoll an.

„Shoppen in der Innenstadt mit einer Eule. Wenn alles gut geht, bringe ich dir sogar was mit.“, beantwortete er ihre Frage, ohne genau zu sagen, was er vorhatte. Sie musste nicht unbedingt gleich wissen, wo er sich herum trieb. Am Ende würde sie ihn noch davon abhalten wollen. Es war vielleicht keine ungefährliche Aktion, aber sicherlich weitaus sicherer, als die gestrige.

Sein Lächeln erlosch und er sah sie ernst an.

„Es kann spät werden, also mach dir bitte keine Sorgen. Ich hab das Handy immer dabei, falls etwas sein sollte, okay? Und wenn du irgendwelche waghalsigen Vorhaben planst, dann verschieb das bitte. Ich will mir nicht noch mehr…“

Nataniel seufzte fast schon hilflos und starrte zu Boden.

„Ich will einfach keine Angst um dich haben müssen, während ich weg bin.“

Seine Stimme war nur noch ein Flüstern.
 

Amanda hatte sich also in ihrer Einschätzung nicht getäuscht. Die Worte, die so leichthin und mit einem Lächeln über Nataniels Lippen kamen, waren diejenigen, die ihn Mühe kosteten. Das sah sie jetzt, wo er zu Boden starrte und nur noch flüsterte, nur allzu deutlich. Sie wusste, was er hatte sagen wollen. Und dass sie ihm die Sorgen in nächster Zukunft noch nicht würde nehmen können, tat ihr selbst in der Seele weh.

„In Ordnung.“ Sie trat an ihn heran und nahm seine Hand, während sie mit ihrer anderen seinen Arm streichelte.

„Aber ich hoffe, du weißt auch, dass ich immer so gut es geht auf mich aufpasse. Ich will doch genauso sehr wie du, dass das alles hier bald vorbei ist und wir nach Hause können.“

Schon seltsam, dass sie das kleine Haus auf der Farm seiner Eltern nach so wenigen Tagen als Heim bezeichnete. Und es auch als solches ansah. Das lag bestimmt auch an Nataniels Familie, die Amanda so nett aufgenommen hatten. In Zukunft würde sie Marys Angebot sicher oft annehmen und sich Tipps holen, was die Schwangerschaft und später das Aufziehen eines Wandlerbabys anging.

Jetzt traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag und sie sah Nataniel mit großen Augen an.

„Wir sollten es erzählen, glaubst du nicht? Ich meine, deiner Familie. Und Eric. Das mit dem Baby.“

Es war gerade der ungünstigste Zeitpunkt, den man sich denken konnte und alle hatten etwas anderes um die Ohren, als sich für die beiden zu freuen, aber trotzdem hätte Amanda die guten Nachrichten gern geteilt. Vor allem ihre Familien sollten es wissen.

Für einen Moment heftete sich nun auch Amandas Blick auf ihre eigenen Fußspitzen. Bevor sie mit diesen Neuigkeiten ankam, sollte sie Eric vielleicht erst einmal erzählen, dass sie jetzt so zu sagen verheiratet war. Schon allein bei dieser Tatsache würde ihr kleiner Bruder vermutlich gut in Szene gesetzt in Ohnmacht fallen.

„Ich weiß, dass es noch früh ist, aber in Anbetracht, dass alle etwas Positives brauchen, würde ich es zumindest gern Eric erzählen, wenn das für dich in Ordnung ist.“

Oder war es sogar besser, wenn ihr Bruder es nicht wusste. Dann wäre da nicht noch jemand, der sich doppelt Sorgen um sie machte, wenn sie den Auftrag ausführte, der sie alle entweder retten oder das vollkommene Chaos ausbrechen lassen konnte.

Bei diesem Gedanken machte selbst Amanda sich mehr Sorgen darum, dass sie keine Chance bekommen würde ein Kind mit Nataniel zu haben, als die bloße Tatsache, dass sie körperlich verletzt werden könnte.
 

Man konnte es nicht wirklich Erleichterung nennen, die ihn da überfiel, als Amanda ihm mitteilte, sie würde so gut sie konnte auf sich aufpassen. Das erwartete er eigentlich ohnehin. Mit dem Baby nun erst Recht, aber zumindest beruhigte es ihn etwas.

Was ihn aber wirklich verdammt glücklich machte und einen Moment wie ein gleißender Lichtstrahl durch den grauen Schleier seiner Gefühle brach, war die Tatsache, dass seine Gefährtin sein Heim als ihr Zuhause ansah. Denn das war es in seinen Augen wirklich und so sollte es auch bleiben, bis sie vielleicht einmal etwas Eigenes suchen konnten.

Amanda hatte natürlich auch Recht, was die Nachricht über den Nachwuchs anging. Aber Nataniel wollte eigentlich seiner Familie noch nichts davon sagen. Sie beide waren so überstürzt aufgebrochen, ohne großartig auch nur irgendetwas zu erklären, er hatte somit auch jetzt nicht den Kopf dafür und Fragen würden auf so eine Botschaft auf jeden Fall über ihm zusammen brechen. Außerdem würde er es ihnen lieber persönlich mitteilen.

„Natürlich kannst du es deinem Bruder erzählen, wenn du das möchtest.“, meinte er schließlich sanft und zog sie wieder in seine Arme. Er wollte gar nicht daran denken, dass er sie gleich für mehrere Stunden lang nicht mehr bei sich haben würde. Sehr lange Stunden, wenn sich die Aktion als genauso schwierig heraus stellte, wie er annahm.

„Ich würde es meiner Familie allerdings gerne persönlich mitteilen. Mit dir an meiner Seite. Meine Mom wird Heulen vor Freude und ich wette mein Dad bekommt das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Die Reaktion will ich auf keinen Fall verpassen. Du etwa?“

Nataniel lächelte noch immer sanft. Alleine das Thema war so unglaublich angenehm und vertrieb die finsteren Wolken, die um seinen Verstand kreisten. Aber lange hielt das leider nicht an.
 

Amanda lächelte herzlich bei der Vorstellung, dass die Nachricht von ihrer Schwangerschaft derartige Reaktionen bei Nataniels Eltern hervorrufen würde. Vor allem deshalb, weil es wahrscheinlich genau so ablaufen würde.

„Etwas, worauf wir uns freuen können.“

Noch einmal legte Amanda ihren Kopf an Nataniels Brust und atmete tief durch, bevor sie sich endgültig von ihm löste, ihn noch einmal küsste und dann die Türklinke in die Hand nahm.

„Ich denke, Aufschieben nützt auch nichts. Wir sehen uns dann später. Wenn irgendwas ist, dann melde dich bitte.“

Vor ihrem Zimmer beschrieb sie Nataniel noch die Richtung, in der er Francy finden würde. Der Uhrzeit nach, würde die Eulendame gerade von einem Sicherheitsrundflug zurückkommen. Dann war sie entweder draußen vor den Containern oder in der Kantine am Ehesten zu erwischen.

Amanda selbst machte sich nach dem Abschied von Nataniel auf dem Weg zu Clea.

Dort würde sie bestimmt die neuesten Informationen bekommen und hoffentlich auch Eric treffen. Oder Seth.

Erst jetzt, wo sie über die diffus beleuchteten Gänge lief und ihre Schritte von den Metallwänden widerhallten, dachte Amanda zum ersten Mal wieder an ihn. Dem Blonden war nichts Lebensgefährliches passiert, da war sich Amanda sicher. Immerhin hatte Nataniel noch von ihm gesprochen und gesagt, dass Seth den letzten Wandler zwar angegriffen, ihn aber nur k.o. geschlagen hatte.

So etwas wie Trost legte sich über Amanda, als ihr bewusst wurde, dass ihre Aktion von Erfolg gekrönt und Seth noch am Leben war. Dass sie selbst mehrere Stunden ohne Bewusstsein gewesen war, wog in diesem Moment nicht so viel. Jetzt ging es ihr bis auf ein paar Prellungen und Kopfschmerzen eigentlich gut. Sogar ihr Ohr schien sich bei all den sich überschlagenden Ereignissen zu seiner alten Funktionstüchtigkeit durchgerungen zu haben. Etwas, wofür Amanda sehr dankbar war.

„Hey.“

Sie hatte den Computerraum erreicht und blieb kurz in der Tür stehen, um den Personen ihre Anwesenheit ruhig anzukündigen. Eric drehte sich als Erster um, sah aber von allein Dreien noch am wenigsten besorgt drein. Clea war seltsam ruhig für ihre Verhältnisse und Seth sah so aus, als würde er sich in den nächsten Sekunden mit einer Umarmung auf Amanda stürzen wollen. Er tat es aber nicht.

„Was ist los? Ihr seid doch sonst nicht so sprachlos.“

Endlich fand die quirlige Clea ein wenig zu ihrem normalen Selbst zurück und lächelte, wenn auch ein wenig matt. Sie stand auf und fiel Amanda um den Hals, bis diese dachte, sie würde zwischen zwei Schraubstöcken stecken.

„Süße, ich hab gedacht du schaffst es nicht. Ich hab euch gesehen... Als Nataniel dich hergebracht hat... Das viele Blut...“

Clea wurde blass und legte mit bestürztem Gesichtsausdruck sogar eine Hand auf den Mund.

Daran hatte Amanda gar nicht gedacht. Dass sie irgendwie vom Ort des Kampfes hierher gekommen sein musste. Natürlich hatte Nataniel sie hergebracht. Wer sonst? Und noch dazu hatte er sie mit seiner blutenden Seite bestimmt den ganzen Weg getragen.

Amandas Mund verzog sich unwillig. Wäre ihr das vorhin schon klar gewesen, hätte er sich auf ein Donnerwetter einstellen können!

„Mir geht’s gut, wirklich. Den Umständen entsprechend sogar sehr gut.“

Die beiden Männer nickten nur mit einem Lächeln auf den Lippen und bald nachdem Clea sich wieder gesetzt und sich einigermaßen beruhigt hatte, sprachen sie die Pläne durch.

Amanda war mehr als erleichtert zu hören, dass sich Seth und Eric des Sammlers bereits angenommen hatten. Welche Methoden sie angewandt hatten, um Informationen aus ihm heraus zu bekommen, wollte Amanda lieber gar nicht wissen. Aber er hatte geredet. Natürlich. Jeder Mensch hatte seine Grenzen. Aber das, was er Preis gegeben hatte, machte Amanda und auch den anderen Anwesenden keinen neuen Mut. Ganz im Gegenteil.

„Es war eine gezielte Aktion. Die Gründer dachten wirklich, dass sie uns mit diesen zwölf Klasse – 5 – Sammlern ausschalten könnten.“

Eric schüttelte ungläubig den Kopf und sah so düster drein, wie Amanda sich fühlte. Seth war nicht besser, als er weitersprach.

„Es hat mir noch nie so widerstrebt, Recht zu haben. Aber wenn wir die derzeitige Situation bedenken, sollten wir so schnell wie möglich alle hier wegbringen.“

Er sah Amanda direkt an und sie hatte das Gefühl, dass die schwarzen Augen noch sehr viel mehr enthielten, als bloßen Nachdruck für seine Aussage.

„Ich weiß, was du sagen willst. Und wir sind an sich darauf vorbereitet. Die Container können innerhalb von zwei Stunden geräumt werden, wenn es sein muss. Und außerdem heißt das wohl, dass wir so schnell wie möglich einen Schlussstrich ziehen sollten.“

Alle nickten zustimmend und Clea tippte auf ihrer pinken Tastatur, um nach einem alternativen Ort für die Unterbringung der Zentrale zu suchen.

Da sie auf die eventuelle Entdeckung durch die Organisation vorbereitet gewesen waren, gab es mehrere Alternativen.

Mit vielen Abwägungen, Diskussionen und Nachforschungen auf Cleas Seite, entschieden sie sich schließlich für die Möglichkeit, die allen von Anfang an am besten gefallen hatte. Da inzwischen jeder darüber Bescheid wusste, was er zu tun hatte, würden sie sich für die Nacht, die vor ihnen lag, trennen. In der Zentrale waren lediglich eine Hand voll Menschen und noch einmal die gleiche Anzahl Gestaltwandler untergebracht. Für alle war leicht eine Unterkunft gefunden.

„Morgen Nacht werden wir reingehen. Wenn wir versagen, dann ist es sowieso besser und wahrscheinlich sogar unvermeidlich, wenn jeder sich seinen Weg nach draußen sucht. Alle müssen so schnell wie möglich untertauchen.“

„Vielen Dank für diese pessimistische Einschätzung, Seth.“

Amanda funkelte ihn einigermaßen böse an. Wenn sie etwas nicht brauchen konnte, dann waren es derartige Aussagen. Es war doch schon so schwer genug, an das Gelingen zu glauben.

„Ich bin nicht pessimistisch, aber es...“

Ein weiterer stechender Blick von Amanda brachte ihn zum Schweigen. Ganz im Gegensatz zu Eric, der genau wusste, dass die Wut seiner Schwester nicht ihm galt.

„Wir haben alles geplant, sind alle Eventualitäten hunderte Male durchgegangen... Es wir gut gehen.“

Mit fragendem Blick wendete er sich an Amanda.

„Wo ist eigentlich Nataniel? Ich hätte gedacht, dass er mit dir herkommen würde.“

Aus dem Augenwinkel sah Amanda, dass sich Seths Miene verfinsterte. Das ließ sie aber für den Moment außen vor. Dafür hatte sie jetzt wirklich keinen Kopf und außerdem wusste Seth wie Amanda zu ihm stand. Sie konnte ihm bestimmt als Allerletzte dabei helfen, sich aus diesem Gefühlstief herauszuziehen. Denn sie hatte nun einmal nicht vor, ihre Gefühle zu ändern. Also beantwortete sie stattdessen Erics Frage, so gut es ihr mit den wenigen Informationen, die ihr Nataniel gegeben hatte, möglich war.

„Er ist mit Francy unterwegs. Ich glaube, dass es etwas damit zu tun hat, dass sie die Wandler zur Mitarbeit überreden wollen. Das ist zumindest meine Vermutung, wenn man seine Worte von der Versammlung bedenkt.“
 

***
 

„Ich sagte: Nein! Am Ende bringen sie uns noch um, weil wir euch geholfen haben. Vergiss es!“

„Aber…“

Mit einem lauten Knall schlug die Tür vor seiner Nase zu, woraufhin einen Moment später das Knirschen seiner Zähne zu hören war. Nataniel war Lichtjahre von gewöhnlicher Wut entfernt, das hier grenzte schon an totaler Apokalypse.

Nicht länger fähig seinen Frust zurückzuhalten, schlug er mit der Faust gegen das Holz der Tür und hinterließ lange, tiefe Rillen mit seinen Krallen.

„Ihr versteht alle absolut gar nichts! Versteckt euch nur, es wird euch auch nicht retten!“, schrie er in dem Wissen, dass der Wandler ihn noch immer hören konnte. Doch der darauf folgende Fluch war so leise, dass ihn wohl nur noch Francys mit bekam, die schon seit einer ganzen Weile genau den gleichen Gesichtsausdruck wie Nataniel vor sich her trug, nur ohne den tiefschürfenden Zorn darin. Bei ihr war es lediglich immer weiter ansteigende Verzweiflung.

„Der Wievielte war das jetzt?“, wollte Nataniel knurrend wissen, während er sich umdrehte und mit seiner Begleitung den schmalen Korridor des schäbigen Wohnhauses entlang ging. Es stank nicht nur erbärmlich, sondern sah auch wie das letzte Rattenloch aus. Eigentlich hätte der Wandler ebenfalls eine Ratte sein müssen, um sich hier wohl fühlen zu können, aber für Ungeziefer hätten sie sich nicht die Mühe gemacht, um hierher zu kommen. Obwohl Nataniel inzwischen schon froh gewesen wäre, wenn sie eine Kakerlake an Land gezogen hätten. Das wäre immerhin besser, als gar nichts.

„Der zwölfte Wandler und somit der letzte, der mir noch eingefallen ist. Wir können einpacken.“

Francys klang, als hätten sie schon verloren. Auch seine Hoffnung war mit ihrer Antwort schon stark am Wanken, doch das war erst Plan A gewesen. In der Hoffnung, nicht auf Plan B zurückgreifen zu müssen, hatte er sich mit ihr zusammen stundenlang zu Fuß durch dreckige Gassen, zwielichtige Gegenden und herunter gekommenen Vierteln quälen müssen. Alles potentielle Verstecke von verhältnismäßig starken Wandlern, die das ein oder andere Mal mit der Eulenfrau zu tun gehabt hatten. Ein paar von ihnen waren sogar einmal beim Untergrund gewesen, um zu sehen, ob es Sinn hatte, zu kämpfen oder ob sie sich lieber gleich verzogen. Offenbar waren sie zu der Erkenntnis gelangt, dass der Untergrund auf alle Fälle vollkommen ausgelöscht werden würde, weshalb sie das sinkende Schiff schon verlassen hatten, bevor es überhaupt das erste Anzeichen eines Lecks gab. Elende Feiglinge!

Auf der Straße und an der frischen Luft angekommen, blickte Nataniel auf eine der billigen Uhren in einem geschlossenen Secondhandshop, ehe er Francys mit einem entschlossenen Seufzen ansah.

„Okay. Es ist bald Mitternacht. Zeit für Plan B. Zeig mir alle möglichen Bars, Lokale, Kneipen, Pubs und sonst irgendwelche Spelunken, die du kennst und in denen sich auch die ein oder anderen Wandler herum treiben.“

Francys sah ihn mit ungläubigen Augen an, doch als sie den Mund öffnen wollte, schüttelte er den Kopf.

„Keine Fragen. Ich erklär dir alles weitere, wenn wir fündig geworden sind.“

Zwar noch immer mit Zweifel im Gesicht, nickte sie schließlich.

„Auf ins Red Dragon.“
 

Fünf absolut meidenswerte Bars und zwanzig Blocks weiter, war Nataniel kurz davor, völlig durchzudrehen. Bis auf besoffene Penner, herunter gekommene Nutten und den ein oder anderen menschlichen Schläger, waren sie nicht fündig geworden. Inzwischen musste Francys ihn für vollkommen durchgeknallt halten und auch er hegte nun schon mehr als nur große Zweifel an dem, was er noch als eine winzig kleine Chance angesehen hatte.

Sie sollten wieder zur Basis zurückkehren. Das alles hatte doch keinen Sinn mehr und trotzdem. Umso hoffnungsloser es wurde, umso mehr trieb etwas Nataniels Beine an.

Die Frau an seiner Seite hatte gar keine andere Wahl, als ihm nachzulaufen, wenn sie ihn nicht verlieren wollte. Klugerweise stellte sie auch keine Fragen mehr. Sie musste wohl sehen, dass er kurz vorm Explodieren stand.

Schon nach der zweiten Spelunke war ihr Wissen an solchen Ortschaften erschöpft gewesen. Aber irgendwie gelang es Nataniel immer weitere dieser nur allzu irdischen Höllen zu finden. Mochten sie noch so verborgen in verwinkelten Gassen liegen. Man musste im Grunde nur dem Gestank von Ärger folgen.

Gerade in einer solchen Gegend trieben sie sich herum.

Francys drängte sich inzwischen dicht an seine Seite. Auch ihm waren die nackten Füße nicht entgangen, die da aus einem Müllberg ragten und der Gestank war erst recht nicht zu übersehen. Tod lag wie etwas Greifbares in der Luft, doch es schien hier niemanden zu stören.

Weder ließ sich die Nutte ein paar Meter weiter davon abschrecken, noch die beiden jungen Männer, mit denen sie gerade einen Preis aushandelte. Eineiige Zwillinge, wie es schien. Denn sie sahen nicht nur haargleich aus, sondern schienen auch das gleiche lose Mundwerk zu haben.

Nataniel ging an ihnen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, bekam aber durchaus mit, dass die Jungs auf eine Gratisnummer aus waren. Die Nutte lächelte daraufhin nur mit einem koketten Lächeln, als hätte sie es hier mit kleinen Kindern zu tun. Was die Jungs noch mehr dazu anstachelte, ihren Charme und Witz spielen zu lassen.

Darüber konnte Nataniel in Gedanken nur den Kopf schütteln, weshalb er auch nicht bemerkte, wie die weißblonde Nutte ihm einen langen Blick nach warf. Weder beruflich noch fragend, sondern eher neugierig und scharfsinnig.

„Ich halte das hier für keine so gute Idee.“, brachte Francys schließlich hervor, während sie sich immer weiter dem relativ harmlos wirkenden Eingang einer weiteren Bar näherten. Doch selbst Nataniel konnte spüren, dass hier etwas in der Luft lag. Nicht nur der Tod, sondern auch eindeutig etwas Nichtmenschliches. Hoffentlich hatten sie hier endlich einen Volltreffer gelandet.

Gerade wollte Nataniel ihr antworten, als die Tür zur Bar aufgestoßen wurde und ein muskulöser Typ mit einem militärischen Haarschnitt heraus gesegelt kam. Im letzten Moment packte er Francys und drängte sich mit ihr zur Seite an eine der schmutzigen Backsteinmauern, um dem lebenden Geschoss auszuweichen.

„Wenn du noch eine aufs Maul willst, sag nur Bescheid. Ich hab noch genug für dich.“, brummte eine tiefe Stimme und zog Nataniels Blick von dem Bewusstlosen am Boden zurück zum Eingang der Bar. Darin stand ein Kerl so groß wie ein Bulldozer. Vermutlich mit derselben Wirkung, wenn er einmal voll in Fahrt kam. Er hatte ein leicht ramponiertes Gesicht, einen massigen, wenn auch muskulösen Leib und Hände so groß wie Schaufeln. Der Kerl brauchte keine Waffen, um tödlich zu sein. Nicht mit diesen Pranken.

Na, was haben wir denn da?

Nataniels Mund verzog sich zu einem verwegenen Lächeln. Wie es schien war die lange Suche doch nicht vergebens gewesen. Einmal tief Luftholen und er fühlte sich bestätigt. Den Wandler würde er nicht mehr vom Haken lassen.

Ohne weiter auf Francys zu achten, die seine Reaktion gesehen hatte und nun versuchte, ihn am Arm zurückzuhalten, weil sie Böses ahnte, löste er sich von ihr und stellte sich direkt zwischen dem bewusstlosen Menschen und den Prachtkerl von einem Wandler.

„Große Worte. Steckt auch was dahinter?“, fragte er den Typen bewusst provozierend.

„Warum findest du es nicht heraus, Jungchen? Khan poliert dir sicher liebend gerne die Fresse. Ich übrigens auch, wenn du vorhast, hier den Eingang zu blockieren.“

Ein belebendes Prickeln streifte seinen Nacken, woraufhin Nataniel leicht den Kopf nach hinten drehte. Da stand noch so ein Kerl. Völlig lautlos hatte er sich an ihn heran geschlichen, wie es nur Wandler konnten. Und genau das musste er sein. Der zweite Typ war zwar um ein paar Jahre älter, als dieser Khan, also so um die fünfzig, aber die silbernen Strähnen in dem schwarzen Haar gaben dem scharf geschnittenen Gesicht nur noch einen verwegeneren Eindruck. Auch die vor der Brust verschränkten Arme schienen so dick wie Baumstämme zu sein. Obwohl er kleiner als Nataniel war, war er doch ein ebenso ernst zu nehmender Gegner, wie es der Bulldozer war. Interessant.

War Nataniel hier wirklich auf die Wandlerbar gestoßen, nach der er schon die halbe Nacht gesucht hatte, deren Existenz er jedoch nur vermuten konnte? Es musste so sein und wenn nicht, dann gab es eben doch einen Gott, der sich ausnahmsweise einmal als kein sadistisches Arschloch herausstellte.

Sich inzwischen der vollen Aufmerksamkeit aller Anwesenden bewusst, inklusive der Zwillinge, der Nutte und den immer wieder leise stöhnenden Menschen auf dem Boden, wurde Nataniels Lächeln noch etwas breiter.

Keiner hier sah so aus, als wäre er ein normaler Durchschnittsbürger. Vielleicht würden sie auch keine normalen Durchschnittsfeiglinge sein, wenn er ihnen erst einmal das Problem schilderte. Doch bis es soweit war, hieß es in den mehr oder weniger sauren Apfel beißen. Er pochte schon die längste Zeit darauf, ein paar Aggressionen los zu werden. Das war der perfekte Zeitpunkt dafür.

„Na, worauf wartet ihr dann noch? Auf eine schriftliche Einladung?“, wollte er fast schon gelangweilt wissen, während er jedoch genüsslich langsam seine Krallen ausfuhr. Ein deutlicheres Zeichen hätte er nicht setzen können. Gewisse Dinge konnten Wandler nicht umgehen und wenn sie von so viel geballtem Testosteron und roher Gewalt umgeben waren, erst recht nicht.

Die beiden Männer nickten sich leicht zu, ehe sie ohne Umschweife zur Tat übergingen.
 

***
 

„Was packst du denn bitte alles? Wir müssen los.“

Eric lehnte mit einer Schulter am Türrahmen, konnte seine Ungeduld nicht hinter dieser lässigen Geste verbergen. Wenn man es genau nahm, versuchte er das auch gar nicht. Zum bestimmt hundertsten Mal schob er sich den Riemen seines Rucksacks höher auf die Schulter und folgte mit seinen hellen Augen den Bewegungen von Amanda, die ruhelos im Zimmer herumräumte.

„Ich war trotz allem nicht darauf vorbereitet, so schnell zu gehen, ok? Außerdem muss ich nicht nur mein Zeug zusammen suchen.“

„Nataniel kann ja wohl nicht so viel dabei haben.“

Das stimmte auffallend. Amanda konnte sich selbst gar nicht so genau erklären, warum ihr noch so viele Kleinigkeiten in den Sinn kamen, die sie mitnehmen wollte. Nein, eigentlich ging es darum, auf keinen Fall etwas zurücklassen zu wollen. Als die Organisation ihre Wohnung gefilzt hatte, war schon mehr als genug von Amandas Besitztümern für immer verloren gegangen. Das trug anscheinend auffallend dazu bei, dass sie umso mehr an all dem hing, was sie im Moment besaß.

Schließlich schaffte sie es doch alles in einem Reiserucksack zu verstauen, in sich überzuwerfen und Nataniels Gepäck in der Hand zu tragen.

„Bereit?“

Nickend folgte sie ihrem Bruder in Richtung Ausgang. Nur noch vereinzelt kamen ihnen andere Menschen oder Wandler entgegen. Die Evakuierung hatte schon vor über einer Stunde begonnen. Und die meisten hatte, wie auch Eric und Amanda, nicht viel, das sie mit sich nehmen mussten. Es war mehr oder weniger nur darum gegangen, Clea mitzuteilen, wo die einzelnen Mitglieder des Untergrunds sich ungefähr aufhalten würden. Jeder wollte seinen eigenen Weg gehen, um zu verhindern, dass die Moonleague sie alle auf einmal fand. Das letzte Nacht war einfach zu knapp gewesen. Und selbst wenn so gut wie niemand direkt an dem Kampf beteiligt gewesen war, steckte der Schreck Vielen in den Knochen.

Als sie unter freiem Himmel ankamen, stieg Clea gerade zu Seth in einen der dunklen Wagen, die sie zur Verfügung hatten. Amanda hielt sich hinter Eric und sah nicht weiter hin. Auf Abschiedsszenen stand sie nicht besonders.

Zwar würde sie Seth Morgen garantiert wieder sehen und mit Clea zumindest am Anfang in Verbindung stehen, aber es fühlte sich trotzdem so an, als würde etwas Neues anbrechen, jetzt, da sie die Zentrale verließen; verlassen mussten.

„Hier ist die Adresse.“

Zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt hielt Eric Amanda eine kleine Visitenkarte unter die Nase, deren Logo schon verriet, dass es sich dabei um das Hotel handelte, in dem er Zimmer für Nataniel, Amanda und sich selbst gebucht hatte.

„Ihr checkt auf Nataniels Namen ein. Das ist weniger auffällig. Ich bin Mr. Smith.“

„Wie einfallsreich.“ Amanda konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ok, John, dann sehen wir uns in der Lobby.“

Eric schwang sich auf sein dunkles Motorrad und rauschte davon, während Amanda noch kurz stehen blieb, bis das letzte Mitglied des Untergrunds das Gelände verlassen hatte. Während dieser Wache tippte sie eine SMS an Nataniel.

Hi! Mussten umziehen. Neue Adresse ist Mainstreet, Ecke Baker 203. Auf deinen Namen. Krawatte brauchst du keine. X

Das mit der Krawatte würde Nataniel spätestens dann verstehen, wenn er das Hotel sah. Immerhin hatte Amanda nicht umsonst ein wenig Make-up aufgelegt und sich noch einmal umgezogen.
 

Sie sah an der beleuchteten Fassade hoch, bis ihr Blick an dem glitzernden Schriftzug des Hotelnamens hängen blieb. Scheiße, die Situation hatte ein bisschen was von Henkersmahlzeit.

Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte Amanda eine Nacht in einem derart luxuriösen Hotel verbracht. Irgendwie seltsam, es gerade jetzt zu tun. Aber es ging ja hauptsächlich um Tarnung. Und die war hier garantiert gewährt.

Der Portier sah sie mit einem freundlichen Lächeln an, als Amanda ihr Gepäck auf die Tür zuschleppen wollte.

„Lassen sie das Gepäck beim Motorrad stehen, Miss. Wir werden ihr Gefährt parken und die Sachen in ihr Zimmer bringen lassen.“

Amanda bedankte sich höflich, fühlte sich aber ein wenig ausgeliefert bei diesem vollkommenen Vertrauen in die Angestellten des Hotels.

Der helle Marmor, der Springbrunnen mitten in der Eingangshalle und die leise Klaviermusik gaben ihr schon den Rest, bevor sie überhaupt eingecheckt hatte.
 

***
 

Verdammt. Warum muss es ausgerechnet ein Nobelhotel sein?, fragte sich Nataniel zerknirscht, während er sich ein Taschentuch an die blutende Unterlippe hielt und einen Blick in die Runde warf.

Gerade kam ein anderes Taxi hinter dem an, aus dem er gerade gestiegen war. Sie waren also vollzählig.

Hätte man Nataniel an diesem Morgen erzählt, wie diese Nacht enden würde, er hätte es für die größte Lüge aller Zeiten gehalten. Doch es entsprach tatsächlich alles der Wahrheit.

Nicht nur, dass er vor einem Luxushotel stand und dort bereits auf seinem Namen reserviert war, nein, es kamen auch noch andere unglaubliche Fakten hinzu. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass er sich vor knapp drei Stunden mit zwei der größten Gestaltwandler geprügelt hatte, die ihm je begegnet waren. Der Kampf an sich war sehr befriedigend gewesen. Nicht lebensgefährlich, aber auf alle Fälle etwas zum Aggressionsabbau. Schon nach wenigen Faustschlägen hatten sich auch gleich die Zwillinge in die Prügelei mit eingemischt, als wären sie ebenfalls ganz heiß darauf, einmal wieder ordentlich Dampf abzulassen.

Wie sich heraus gestellt hatte, waren sie ebenso wenig menschlich, wie Nataniel es war. Die Nutte oder besser gesagt, Delilah hatte bei dem ganzen nur amüsiert zugesehen. Offenbar gefiel es ihr, wenn Männer sich völlig grundlos die Köpfe einschlugen und sie dabei in der ersten Reihe sitzen konnte. Es sprach definitiv ihre animalische Seite an.

Nachdem sich die Kämpfenden schließlich genügend ausgelassen hatten und sich darauf einigen konnten, lieber was Trinken zu gehen, als noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, hatte sich auch die Atmosphäre schlagartig verändert. Jeder sah ungefähr gleich ramponiert aus und hatte ebenso viel ausgeteilt. In diesem Sinne hatte keiner nachstehen müssen, was sehr zum allgemeinen Wohlbefinden beigetragen hatte.

Nach der ersten Runde, während der sich Francys und interessanterweise auch die ‚Nutte‘ zu ihnen gesellt hatte, kam das Gespräch auf den eigentlichen Grund, weshalb Nataniel eine Prügelei vom Zaun gebrochen hatte. Er redete nicht lange um den heißen Brei herum, sondern kam gleich zur Sache, ob jemand denn Lust hätte, der Moonleague – von der hier offenbar jeder schon einmal etwas gehört hatte – in den Arsch zu treten. Natürlich ganz und gar auf eigene Gefahr.

Die Zwillinge interessierten sich zunächst mehr für den Ausschnitt der Blondine, schienen aber sofort bei der Aktion dabei zu sein. Für sie zählte nur eines: Delilah machte mit, also würden sie das auch tun. Vermutlich um bei ihr Eindruck zu schinden. Obwohl jede noch so dämliche Anmache an ihr abblitzte.

Kein Wunder. Die Jungchen waren sicher gerade erst volljährig geworden und somit noch nicht aus den Kinderschuhen heraus. Aber sofern sie das Risiko einschätzen konnten und sich der Gefahr bewusst waren, würde Nataniel sie nicht davon abhalten.

Für jugendlichen Leichtsinn, war er nicht verantwortlich. Für ihn ging es um wesentlich mehr, als nur um eine voll geile Aktion. Wie die beiden das Ablenkungsmanöver bezeichnet hatten.

Bruce und Khan der Bulldozer waren nicht so leicht mit einer Antwort zur Hand. Doch Nataniel sah, dass die beiden tiefschürfendere Gründe hatten, um sich die Sache zu überlegen.

Im Endeffekt wusste er nicht genau, weshalb die beiden schließlich doch mitmachen wollten. Bei Bruce vermutete er, dass es mit seinem überraschenden Gerechtigkeitssinn zu tun hatte und dass ihm das Schicksal der Wandler nicht egal war. Khan war da eine andere Baustelle. Er hielt sich mit jeder Erklärung zurück, ließ aber vermuten, dass er ohnehin nur zwei Möglichkeiten hatte. Entweder einmal was Gutes für seine Art zu tun, oder weiterhin jeden Tag in dieser schäbigen Bar abzuhängen und die Gesellschaft von mehreren Flaschen Fusel zu genießen. Die Wahl musste trotzdem schwerer gewesen sein, als vermutet.

Delilah entschloss sich ganz spontan dafür, mitzumischen. Sie war zurückhaltend in ihren Erklärungen, meinte aber, sie könnte dringend einmal ein bisschen Aufregung gebrauchen. Was auch immer das genau heißen mochte.

„Deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, überrascht dich die Auswahl des neuen Unterschlupfs.“, stellte eine kühle, emotionslose Stimme ganz und gar richtig neben ihm fest.

Nataniel blickte zur Seite und hob leicht den Kopf, um in die unheimlichen Augen des letzten Mitglieds der Truppe sehen zu können. Sie waren pechschwarz, mit einem schmalen, goldenen Rand um die Iris herum. Absolut seltsam, genauso wie der Mann zu dem sie gehörten.

Ryon war so überraschend neben ihnen in der Bar aufgetaucht, wie es der echte Weihnachtsmann nicht besser geschafft hätte. Noch dazu passte er so wenig in die Umgebung, wie der Rest der Bande mit ihrem Erscheinen hier in dieses Hotel passten.

Der große Gestaltwandler trug einen beigefarbenen Anzug, ein weißes Hemd und eine flammend rote Krawatte, die gut zu den rötlichen Strähnen in seinen Haaren passten. Die genauso seltsam waren, wie der Rest von ihm. Von weiß- bis goldblond, von dunkel- bis hellrot, bis hin zu schwarzen Strähnen, war alles dabei. Doch was Nataniel am meisten an diesem Mann einschüchterte, war die absolute Abwesenheit irgendeines Gefühls. Er war nicht nur größer als er selbst, auch seine Ausstrahlung schien komplett über alles hinaus zu gehen, was er je gesehen hatte. Einfach nur unheimlich, genauso wie der Rest.

Was Ryon anging, wusste Nataniel überhaupt nichts über ihn. Nur, dass er lediglich das Gespräch über die Moonleague aufgeschnappt haben musste, um sich sofort dazu zu entschließen, mit zu machen. Ohne irgendwelche Bedingungen daran zu hängen.

„Es dürfte nur schwierig sein, hier in diesem Aufzug überhaupt rein zu kommen. Dich natürlich ausgeschlossen.“, gab Nataniel ehrlich zu. Vor diesem Mann brauchte man nichts verheimlichen. Es schien ohnehin unmöglich zu sein.

„Mit genügend Geld steht einem die Welt offen. Lass mich das regeln.“

Seine Augenbraue hob sich, als er Ryon skeptisch anblickte. Oh ja, der Kerl wurde immer unheimlicher. Doch noch ehe er weitere Fragen stellen konnte, zog der Hüne sein Jackett aus, um es Delilah umzuhängen. Sie schien ebenfalls keine Fragen nötig zu haben, begriff sie doch auch so, dass ihr Nuttenoutfit hier nicht gerade gut ankommen würde. Obwohl ihr kühner Gesichtsausdruck besagte, dass sie auch nackt hinein gegangen wäre, ohne auch nur das kleinste Schamgefühl in sich aufkommen zu lassen. Eine Kämpfernatur. Das musste sie sein.

Während ‚D‘ und ‚J‘ – die Zwillinge – den Hammer Schuppen begafften, waren wenigstens Bruce und Khan so klug, ihre zerknitterte Kleidung etwas zu richten und sich noch den ein oder anderen Blutfleck zu entfernen, den sie übersehen hatten. Danach stand ihnen eigentlich nichts mehr im Wege.

Wenigstens musste Nataniel sich keine Sorgen um Francys machen. Die hatte offenbar eigene Pläne gehabt und war kurz nach Verlassen der Bar ebenfalls aufgebrochen.
 

Während Nataniel fast alleine im Fahrstuhl stand und der Page ihn nicht anzustarren versuchte, entspannte er sich langsam wieder. Die Truppe war dank Ryons Hilfe in verschiedenen Zimmern untergekommen und da sie ohnehin niemand kannte, war Anonymität absolut kein Gesprächsthema gewesen.

Erst jetzt begann er langsam zu begreifen, was das bedeutete. Unglaublich aber wahr, er hatte tatsächlich tatkräftige Unterstützung gefunden. Bis auf Ryon kannte er von jedem das Tier, das in ihnen schlummerte. Zwar waren nicht alle Raubtiere, aber durch und durch brauchbar. Für Ablenkung würde also auf jeden Fall gesorgt sein.

Nataniel bekam das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht, obwohl es dank seiner aufgeplatzten Lippe etwas wehtat. Ein paar Schrammen hier und da, inklusive blutiger Knöchel, waren das Ergebnis der Prügelei gewesen. Seine verletzte Seite hatte alles ganz gut überstanden. Er hatte besonders darauf geachtet, sie niemals ungeschützt zu lassen.

Außerdem wäre es ihm bei der kleinen Euphorie, die da in ihm keimte, ohnehin egal gewesen. Die Mühe hatte sich auf alle Fälle gelohnt.

Schwungvoll sperrte er somit die Tür zu seinem und Amandas Zimmer auf und schloss sie wieder hinter sich. Endlich war er wieder bei ihr. Zumindest sagte ihm das ihr Geruch, noch ehe er hochblickte.

53. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

54. Kapitel

Amanda hatte auf ihrem Handy nur die Uhrzeit ablesen wollen. Aber ihr leuchteten zwei SMS entgegen, die sie weder ignorieren wollte, noch konnte.

Eric bat erst gegen Mittag um Rückruf. Das war allerdings bereits als Anweisung zu verstehen, sich in der nächsten Stunde bei ihm zu melden. Immerhin war es schon elf Uhr vormittags.

Seth war weniger geduldig gewesen, als er um sechs Uhr in der Früh geschrieben hatte, Amanda solle sich so bald wie möglich mit ihm treffen. Es sei keine Zeit zu verlieren. Man müsse sich noch vorbereiten. Es sei nicht der Tag, um kostbare Stunden zu verschlafen.

Dass er damit auch noch Recht hatte, machte die SMS für Amanda nur noch giftiger. Mit ungehaltenem Knurren ließ sie das weiße Telefon auf den weichen Teppich neben dem Bett fallen und drehte dem kleinen Apparat den Rücken zu.

Auch wenn der Drang bereits beim Aufwachen unwiderstehlich gewesen war, wollte Amanda ihre Arme jetzt nur umso mehr um ihren Geliebten schlingen.

In dem riesigen Bett lagen allerdings so viele Kissen und außerdem die weiche, große Decke, dass sie nur deshalb erahnen konnte, wo sie Nataniel finden würde, weil ihre Beine ineinander verschlungen waren.

So gut es ging, befreite sich Amanda und ging durch Kopf- und Dekokissen auf Tauchgang.

Vorsichtig wühlte sie sich durch flauschige Schichten, bis sie auf einen muskulösen Oberarm traf, dem sie zu Nataniels Schulter folgte.

Die kleinen, weichen Härchen auf seinem Nacken rochen so gut, seine Haut schmeckte so schön herb. Wie hätte Amanda je anders handeln können, als Arme und Beine gänzlich um diesen so wertvollen Körper zu schlingen? Ein sanfter Kuss auf sein Ohrläppchen, ein weiterer auf seinen Hals.

„Wach auf, Schmusekater. Zeit fürs Frühstück...“
 

„Wenn’s vorbei zischende Kugeln gibt, verzichte ich auf das Frühstück.“, brummte er total verschlafen, ergriff aber zugleich Amandas Arme, die sich um ihn geschlungen hatten, ohne dass er es in seinem tiefen Schlaf bemerkt hätte.

Nataniel war nicht mehr wirklich müde, aber es fühlte sich so angenehm an, dass er partout nicht aufstehen wollte. Doch wenn er schon so nett geweckt wurde, sollte er zumindest einen Versuch starten, auf die Beine zu kommen.

Mit einer Handbewegung wischte er ein paar der Dekokissen vom Bett, die ihn fast zu ersticken drohten, aber vorhin noch ein sehr heimeliges Nest um ihn herum gebildet hatten und drehte sich zu Amanda um.

Sie war noch immer genauso nackt wie er, was er mit großer Zufriedenheit zur Kenntnis nahm. So konnte er mehr von ihrer Haut an sich spüren, ohne irgendwelche Hintergedanken. Die Zeit hatten sie vermutlich nicht mehr.

„Guten Morgen.“, seufzte er leise gegen ihre Lippen, ehe er einen Kuss darauf hauchte.

Langsam kam sein Gehirn wieder in die Gänge und anhand des sicherlich vorhandenen Zeitdrucks, machte er auch keine langen Umschweife. So sehr es ihm auch gegen den Strich ging.

„Bevor wir das Zimmer verlassen, sollte ich dich vielleicht noch vorwarnen.“ Nataniel machte absichtlich eine Pause, um die Spannung zu steigern. Denn irgendwie war er trotz allem relativ gut drauf. Wie könnte er auch nicht, bei der Verstärkung, die da irgendwo in den anderen Zimmern untergebracht war und nach dieser wunderbaren Nacht mit Amanda.

„Ich hab dir ein Sixpack mitgebracht.“, verkündete er mit einem zufriedenen Lächeln.

Vermutlich verstand sie kein Wort. Aber die Überraschung würde er ihr nicht verderben.

„Ich hoffe, es gefällt dir, immerhin habe ich dafür eine dicke Lippe riskiert.“ Besser gesagt eine aufgeplatzte Lippe und die hatte er nicht nur riskiert, sondern einkassiert. Aber das war nur ein geringer Preis dafür. Apropos. Vor dem Duschen würde er sich endlich die Fäden ziehen können. Was für eine Erleichterung.
 

Seine Worte trafen Amanda für eine Sekunde. Denn wenn sie es recht überlegte, lag sehr viel Wahrheit darin. Sie mochte so viel heile Welt vorspielen, wie sie wollte. Der Tag würde darin enden, dass sie wieder einmal getrennte Wege gingen. Und Amanda war sich, wohl genauso wie Nataniel, der Möglichkeit nur zu deutlich bewusst, dass sie nicht zurückkehren könnte.

Ihr Mundwinkel zuckte leicht, als sie um eine Antwort rang und ihre Augen nahmen einen dunkleren Farbton an. Sie wollte positiv denken. Vor dem Einschlafen hatte sie das doch auch noch geschafft. Keinesfalls würde sie sterben und Nataniel nie wieder sehen!

Bevor ihr schweres Herz ihr auf die Zunge wandern konnte, brachte Nataniel sie mit seiner Aussage aus dem Takt. Er musste sie vorwarnen? Stimmt. Sie hatten noch nicht darüber gesprochen, was bei seinem kleinen Shoppingtrip mit Francy heraus gekommen war. Dass er darauf hinaus wollte, konnte Amanda allerdings nur vermuten.

„Ach, noch eins?“

Mit ihren Fingern drückte sie anerkennend auf seinen Bauchmuskeln herum und sah ihn fragend an.

„Ehrlich gesagt, versteh ich kein Wort. Aber wenn du Bier meinst, muss ich dich daran erinnern, dass ich keinen Alkohol trinken darf...“

Das Zwinkern wurde von einem glücklichen Lächeln begleitet, bevor sich Amanda buchstäblich mit einem intensiven Kuss auf Nataniels immer noch gerötete Lippe stürzte.

„Entschuldige.“, sagte sie mit einem unschuldigen Lächeln und lehnte sich wieder ein wenig zurück, um ihm gebührend zuhören zu können.

„Erzähl' mir von deinen nächtlichen Abenteuern. Und wehe, du lässt was aus.“
 

Nataniel hatte gehofft, dass Amanda die Bezeichnung ‚Sixpack‘ so auffassen würde. Wie hätte sie denn auch wissen können, dass es sich hierbei um sechs Personen handelte, die zu einem willkürlichen Haufen zusammen gewürfelt worden waren, aber dennoch eine schlagkräftige Verstärkung abgaben, weil er sich sicher war, dass niemand von denen kniff?

Sie hatten nicht den Charakter dafür. Zwar mochten sie auf ihre Art gefährlich, hinterlistig und vollkommen unvertrauenswürdig aussehen, aber soweit er das mitbekommen hatte, saß bei jedem von ihnen das Herz am rechten Fleck. Zumindest bist auf Ryon.

Bei dem Kerl hätte er nicht einmal sagen können, ob er kleine Babykätzchen zuhause groß zog oder jederzeit seine Großmutter zum Frühstück verputzen würde. Falls er das nicht schon längst getan hatte. Die Ausstrahlung dieses Mannes war so glatt und schlüpfrig wie die Haut einer Schlange. Unmöglich sich daran festhalten zu können.

Als Amanda ihn küsste, zog er sie auf seinen Bauch und drehte sich selbst dabei auf den Rücken. Seine Hände lagen auf ihrem Rücken und strichen über ihr Haar, während er ebenso lächelnd zu ihr aufsah. Er mochte es, sich auf diese Weise mit ihr zu unterhalten. Das war so vertraut und intim, wie mit keinem anderen Wesen auf dieser Welt. Diese Momente gehörten ganz ihnen alleine.

„Glaub mir, dieses Sixpack ist garantiert unverträglicher als Bier. Aber ich denke, genau das könnte uns helfen.“

Noch immer waren seine Worte rätselhaft, aber um ihn wirklich verstehen zu können, würde seine Gefährtin die Truppe persönlich sehen müssen. Dann verstand sie vermutlich vollkommen. Was allerdings die Ereignisse der vergangenen Nacht anging, so wusste er nicht genau, was er ihr erzählen sollte. Dass er sich in den finstersten Winkel der Stadt herum getrieben hatte, würde ihr sicherlich nicht unbedingt gefallen und dennoch könnte er sie nicht belügen.

„Nun ja, zu aller erst haben wir versucht, die Wandler für uns zu gewinnen, von denen Francy noch wusste, dass sie unschlüssig sind. Wir haben also bei jedem von denen an die Tür geklopft. Aber in den meisten Fällen hätte man mir mit der Tür die Nase gebrochen, wenn ich nicht so schnelle Reflexe gehabt hätte und die anderen… Nun sagen wir es mal so. Die waren nicht daheim.“

Obwohl sie das sehr wohl gewesen waren, immerhin konnte man ihm nicht so schnell was verheimlichen. Aber im Grunde war das jetzt auch alles egal.

„Da ich aber nicht mit leeren Händen nach Hause kommen wollte, hab ich mich einfach weiter auf die Suche begeben. Das Ergebnis werde ich dir nachher vorstellen. Es wäre unsinnig zu versuchen, es dir zu erklären. Man muss das Sixpack selbst gesehen haben.“ Punkt.

Er würde nichts von den Bars, den Nutten, der Schlägerei und den Leichen im Abfall erzählen. Solche Details konnte man doch getrost weglassen, wenn das Ergebnis stimmte.

Um Amanda aber auch nicht die Möglichkeit zu geben, noch einmal nachzufragen, rollte er sich mit ihr zusammen nun so herum, dass sie auf dem Rücken lag und er sich über sie beugte.
 

Noch immer verstand Amanda die Andeutungen nicht. Aber das war wohl auch Sinn der Sache. Dem spitzbübischen Glitzern und dem schiefen Grinsen von Nataniel nach zu urteilen, machte es ihm diebischen Spaß, sie auf die Folter zu spannen. Da Amanda allerdings annahm, dass sie bald vor des Rätsels Lösung gestellt werden würde, ließ sie ihm den Spaß.

Außerdem war sie wirklich interessiert daran zu hören, wo er sich in der vergangenen Nacht herumgetrieben hatte. Und vor allem, ob sein Ausflug von Erfolg gekrönt worden war.

Wie er sie auf sich zog und mit ihrem Haar spielte, ließ auf einen guten Ausgang schließen. Deshalb faltete Amanda ihre Arme unter dem Kinn und sah Nataniel weiterhin in die Augen, während sie seinem Bericht lauschte.

Mehrere Male musste sie sich zusammen reißen, um nicht in aggressivem Unterton einen Kommentar einzuwerfen. Die Wandler hatten also entweder abgesagt oder so getan, als hätten sie das Läuten oder Klopfen an ihrer Haustür nicht bemerkt.

Sofort drängten sich Amanda wieder die Erinnerungen an Nataniels Rudel auf. Wie tapfer sie für ihre Familien gekämpft hatten, ohne zu wissen, was passieren würde. Und noch dazu waren sie einem neuen Führer mit vollem Vertrauen gefolgt, von dem sie nichts wussten. Außer, dass sein Vater ein guter Anführer gewesen war. Und dass er das Potential eines Alphatieres in sich trug.

Einen Moment lang überlegte Amanda, ob sie den Stadtwandlern wirklich einen Vorwurf machen konnte. Natürlich war die Bedrohung durch Nikolai sehr greifbar gewesen. Das Rudel hatte um ihr Leben fürchten müssen. Aber das war nichts im Vergleich mit dem Kaliber, das die Moonleague darstellte. Vielleicht hatten die Gestaltwandler die besseren Chancen, die sich hinter geschlossenen Türen versteckten und darauf warteten, dass andere sich um das Problem kümmerten. Aber wenn man an die Registrierungen dachte, die Datenbanken der Organisation, die so viele Wandler gespeichert hatte...

Nein, wenn sie nichts taten, dann würde man sie auf jeden Fall ebenso finden, wie diejenigen, die helfen wollten, etwas gegen die Bedrohung zu unternehmen. Die konnten sich selbst bei einem Misserfolg zumindest mit hoch erhobenem Haupt im Spiegel ins Gesicht sehen.

In diesen trüben Gedanken schon ein wenig versinkend, freute sich Amanda umso mehr, Nataniels Ankündigung zu hören. Er hatte also doch Unterstützung gefunden. Auch wenn sich Amanda gar nicht vorstellen wollte, wo er sie hatte zusammen kratzen müssen.

Dass er ihr keine genauen Angaben dazu machte, ließ sie nur noch mehr annehmen, dass er sich an Orten herumgetrieben hatte, die mehr als zwielichtig zu nennen waren. Auf das Sixpack war sie nun aber richtig gespannt.
 

Seine Augen glitzerten raubtierhaft, als er ihr Gesicht fixierte, als wäre sie ein köstliches Stück Fleisch. Oh und wie sie das war, aber eben auf eine ganz besondere Weise.

„Mhmmm… Frühstück…“, schnurrte er und leckte sich dabei lasziv über die Oberlippe, ehe er verwegen lächelte und dabei seine weißen Zähne entblößte.

Nataniel beugte sich zu ihrem Hals hinab, ließ sie seinen heißen Atem auf ihrer Haut spüren, ehe er seine Lippen darauf legte und leicht daran sog.

„Du schmeckst einfach zum Anbeißen gut.“

Er ließ seine Zähne sanft über ihre Haut schaben, ehe er mit seiner rauen Zunge über die Stelle leckte.

Natürlich war er sich bewusst, dass sie keine Zeit mehr für weitere Ausflüchte dieses besonderen Spiels hatten, aber er ließ es sich trotzdem nicht nehmen, sich noch einmal an ihr zu schmiegen, ihre Haut über seine streichen zu lassen und seine Arme um sie zu schlingen. Er zog sie ganz dicht an sich heran, während das Saugen an ihrem Hals kräftiger wurde.

Als er spürte, wie sein Puls langsam zu rasen begann, weil diese Frau ihn immer erregen würde, erst recht wenn sie so nackt unter ihm lag, löste er seine Lippen von ihrem Hals.

Zufrieden betrachtete er den deutlichen Knutschleck direkt an der Stelle unterhalb ihres Ohres. Selbst ein dummer Mensch würde dieses Zeichen nicht missverstehen, als hätte er es nötig, Amanda überhaupt damit zu kennzeichnen. Doch so wie sie heiraten wollte, wollte auch er immer wieder etwas von sich auf ihr wissen. Das war einfach ein natürliches Verlangen.
 

Gerade wollte sie zu neugierigen Fragen ansetzen, als Nataniel sich überraschend auf sie rollte und sie mit seinen blauen Augen regelrecht anfunkelte. Was er genau vorhatte, wusste Amanda nicht. Der vorschnellenden Zunge und diesem Lächeln war alles zuzutrauen.

Als er ihren Hals küsste, sie den Panther in ihm mit seinen Zähnen und seiner rauen Zunge zu spüren bekam, überlief sie eine prickelnde Gänsehaut. Gedanken an die Nacht blitzen durch ihren Kopf und Amanda schloss die Augen, um sich noch ein wenig zurückzulehnen. Wenn sie den Abschied vom Bett und ihrem Geliebten noch länger hinauszögern konnte, dann wollte sie das nur zu gern tun.

Erst als Nataniels Blick auf ihrem Hals ruhte und sein Mundwinkel kurz zuckte, bevor er leise seufzte, dämmerte es Amanda und sie legte leicht entsetzt ihre Finger auf die immer noch feuchte Stelle unter ihrem Ohr.

„Hast du etwa?“

Ihre Augen weiteten sich in gespieltem Entsetzen, das man ihr durchaus abnehmen konnte. Sie boxte Nataniel auf die Schulter und sah ihn strafend an.

Ein Knutschfleck... Wann hatte ihr denn zum letzten Mal ein Mann einen solchen Liebesbiss verpasst?

Amanda konnte sich nicht erinnern. Aber nach weiteren Sekunden steinernen Schweigens konnte sie nicht anders, als in Lachen auszubrechen.
 

Noch einmal küsste er ihre Lippen. Zuerst zärtlich, dann leidenschaftlich und schließlich schon fast verzweifelt, während er sich an sie presste.

Schließlich rief er sich selbst zur Ordnung und zwang sich dazu, seine geliebte Gefährtin los zu lassen. Es bereitete ihm fast Schmerzen, doch man konnte es nicht in seinem Gesicht oder an seiner Haltung erkennen. Stattdessen blickte er noch einmal auf den Bluterguss an ihrem Hals und seufzte dann leise. Es musste genügen.

„Eigentlich bin ich immer der letzte, den man als Spaßbremse bezeichnen könnte, aber es wird Zeit.“

Seine Stimme war wieder ernst. Der zauberhafte Moment dieser Nacht und dieses Morgens war endgültig verschwunden. Die harte Realität hatte wieder zugeschlagen. Wie sehr er doch manches in seinem Leben bedauerte. Doch gäbe es diesen Kampf nicht, er hätte auch Amanda niemals getroffen.

Nackt wie eh und je, stieg er ungeniert aus dem Bett, ging zu dem Kleiderhaufen hinüber, den er im Bad zurückgelassen hatte und zog sein Handy hervor. Er schrieb eine Nachricht an das Sixpack – die Nummern hatten sie kurz vor ihrem Aufbruch aus der Bar ausgetauscht – in der sie sich in einer halben Stunde im Speisesaal des Hotels treffen sollten. Es wurde Zeit, dass Amanda sie kennenlernte und hoffentlich mit der geballten Kraft an Ablenkung zufrieden war. Bestimmt würden sie nicht nur ein gutes Ablenkungsmanöver abgeben.

Nataniel selbst würde dabei sein und dafür sorgen, dass die Moonleague einmal zu sehen bekam, weshalb sie die Wandler eigentlich fürchteten. Mit Freundlichkeit und Frieden war es schon lange nicht mehr getan. Sie wollten Krieg und Blutvergießen haben? Das würden sie bekommen!
 

Der Moment des Frohsinns währte nur kurz, bis Nataniel ernst wurde und das aussprach, was Amanda ebenso wusste.

Es wurde Zeit.

Eigentlich hatten sie sich schon viel zu lange für einander Zeit genommen. Wenn man von der Dringlichkeit der Dinge ausging, die da draußen auf sie warteten.

Während Nataniel aufstand, sah Amanda ihm mit zusammen gepressten Lippen zu. So lange sie konnte, wollte sie zumindest noch seine Wärme in den Laken spüren.

Ihr Herz klopfte leise aber nachdrücklich mit einer Angst, die eine völlig ungreifbare Dimension angenommen hatte. Doch Amanda war noch nie jemand gewesen, der sich vor seiner Furcht versteckte. Sie musste ihr ins Auge sehen, um sie zu überwinden.

Also stand sie ebenfalls auf, zog sich an, duschte und verstaute schließlich ihr Handy in der Tasche ihrer engen Jeans. Bevor sie die Tür öffnete und sich mit Nataniel auf den Weg hinunter machte, hielt sie ihn noch einmal auf.

Ihre Hände legten sich auf seine Brust und sie sah aus ernsten Augen zu ihm auf. „Ich liebe dich.“

Mehr gab es nicht zu sagen. Keine Erinnerung, es nicht zu vergessen, denn das würde er nicht. Kein Hinweis, dass sie für immer so empfinden würde, denn das wusste er. Nur diese Worte, weil Amanda sie gern aussprach, die Wahrheit.

Der Kuss war lang und enthielt ihre Worte noch einmal in anderer Form. Doch auch wenn sie sich nicht von ihm lösen wollte, konnten sie wirklich nicht länger warten.

Im Aufzug versuchte sich Amanda darauf zu konzentrieren, dass sie gleich das berüchtigte Sixpack sehen würde.

Nataniels dauerndes Grinsen machten sie allmählich immer nervöser. Hätte sie sich vielleicht in irgendeiner Weise vorbereiten sollen? Na ja, schlecht war Amanda mit Überraschungen nicht gerade. Außerdem war es jetzt sowieso zu spät für Erklärungen. Die Türen des Aufzugs glitten beinahe lautlos auseinander und gaben den Blick in die Lobby frei.
 

Die Fäden waren schnell gezogen, während Amanda unter der Dusche stand und er versuchte, nicht hinzusehen. Denn als er es einmal getan hatte, hätte er sich mit der Nagelschere fast selbst ins Fleisch geschnitten. Seine Konzentration war noch nie die Beste gewesen, wenn er seine Gefährtin sah, zumindest vollkommen nackt und nass von oben bis unten.

Aber gerade weil ihm auch noch andere Dinge im Kopf herum schwirrten, war es nur eine kleine Gewaltanstrengung, den Blick auf die Naht gesenkt zu lassen. Somit schaffte er es unfallfrei selbst unter die Dusche, während Amanda sich anzog.

Als sie beide fertig waren, spürte er nur zu deutlich, dass der Moment gekommen war, an dem es schon bald kein Zurück mehr geben würde.

Seiner Gefährtin ging es wohl ebenso, denn bevor er aus der Tür gehen konnte, hielt sie ihn noch einmal zurück. Ihre Hände erschienen ihm in diesem Augenblick seltsam klein an seinem Körper. Fast schon zerbrechlich. Er wollte sie nicht gehen lassen!

„Ich liebe dich.“, brach sie schließlich das niederschmetternde Schweigen und schaffte es damit fast, Panik in ihm aufsteigen zu lassen. Diese Worte, sie schienen so endgültig zu sein. Wie ein Abschied für immer und verdammt, es fühlte sich auch so an.

Kein Wunder, dass sein Kuss fast schon purer Verzweiflung glich, als würde sie verschwinden, wenn er auch nur einmal nach Luft schnappte, doch schließlich war Amanda es, die sich von ihm löste. Gut so. Er hätte es nicht geschafft.

Doch noch bevor sie sich von ihm abwenden konnte, blickte auch er ihr tief in die Auge: „Und ich liebe dich.“

Damit war alles gesagt, was gesagt werden musste.

Zusammen mit all seinen schmerzhaften Gefühlen, schloss er schließlich die Tür hinter ihnen. Er würde sie nicht mehr öffnen. Ob dieser Tag nun gut oder schlecht endete, diese Tür in seinem Inneren würde versperrt bleiben. Anders hätte er es nicht ertragen.

Zugegebenermaßen war Nataniel deshalb ganz schön aufgeregt, als sie im Fahrstuhl standen. Was Amanda wohl zu seiner zusammen gesammelten Truppe sagen würde? Überhaupt, wie würden sie heute bei Tageslicht auf ihn selbst wirken? Immerhin war das gestern nach langer Suche dann doch relativ rasch gegangen, aber er war guter Dinge. Musste er einfach.

Schon als die Fahrstuhltür zur Lobby aufging, erkannte Nataniel sofort J oder Ds Stimme wieder. So genau konnte er das bei den Zwillingen nicht sagen, aber sie waren definitiv nicht zu überhören, weshalb er sich nach ihnen umsah.

An der Tür zum Speisesaal hatten die beiden wohl Delilah abgefangen, denn sie flankierten sie links und rechts, so dass sie nicht an den beiden Jungs vorbei kam.

„Oh Baby, für dich würden wir sogar den Mond anheulen.“, säuselte J.

Das konnte Nataniel an seinem Nackentattoo erkennen, das den Anfangsbuchstaben des Zwillings darstellte. D hatte ebenfalls eines.

„Das tut ihr doch ohnehin, also zieht eure Schwänze ein und sucht wo anders nach einer läufigen Hündin. Ich bin nicht an zwei Welpen wie euch interessiert.“, konterte Delilah und schob D schließlich einfach zur Seite. Sie war zwar sehr klein und zierlich, aber offenbar hatte sie dennoch keine Probleme, sich durchzusetzen. Wenigstens trug sie heute nicht mehr ihr Nuttenoutfit.

Der kurze Rock und das viel zu knappe Top machten zwar nicht weniger den Eindruck, sahen aber mit den Erdfarben nicht so auffällig aus. Bis auf die schwarzen Lederstiefel, die bis zu ihren Knien hochgeschnürt waren und einen verdammt halsbrecherischen Absatz hatten. Außerdem war das Platinblond ihrer kurzen Haare sicher ein Hingucker.

„Wer will denn schon eine Hündin, wenn er einen Wolf kriegen kann?“, bohrte J nach und folgte ihr zusammen mit seinem Zwilling in den Speisesaal.

Nataniel sah Amanda lächelnd an.

„Darf ich vorstellen, das waren so eben die ersten drei des Sixpacks. James und Dean die Zwillinge mit den braunen Haaren und dem unsterblichen Bedürfnis dem Rock der kleinen Lady hinterher zu laufen.“

Er senkte etwas die Stimme, damit nicht jeder seine nächsten Worte hören konnte. „Die beiden sind keine Wandler sondern Werwölfe, also unterschätz bloß nicht ihre Fähigkeiten, auch wenn sie sich wie zwei unentwickelte Teenager verhalten.“ Werwölfe konnten ganz schön böse werden. Nataniel wusste das nur zu genau. Er hatte ein paar Freunde, die welche waren. Auch wenn er schon lange nicht mehr mit ihnen gesprochen hatte.

„Und die Frau, welche die beiden gerade abschleppen wollten, heißt Delilah. Sie ist tatsächlich ein Wolf. Vermutlich verstehen sich die drei deshalb so prächtig.“

Sein Lächeln wurde noch etwas breiter, während er zusammen mit Amanda nun den Speisesaal betrat.

Es war ein großer, herrlich bequem eingerichteter Raum, mit großen Fenstern, einladendem Buffet, dass sich beinahe zu biegen schien unter all diesen Köstlichkeiten und vor allem bot der Saal genügend Platz um einen großen Haufen von Menschen zu verköstigen. Selbst wenn im Augenblick nur drei ihm unbekannte Gäste ihr Frühstück zu sich nahmen. Den Rest konnte man nicht übersehen.

Delilah ignorierte die Jungs nun vollkommen, während sie sich eine anständige Portion auf das viel zu kleine Teller schaufelte. Sie machte den Gestaltwandlern mit ihrem Appetit alle Ehre. Wie gut, dass es sich bei ihr überhaupt nicht ansetzte.

Als sie damit fertig war, setzte sie sich ohne zu zögern zu den zwei kräftigsten Typen, denen Nataniel je begegnet war. Daneben wirkte sie regelrecht wie ein Kind. Aber bei Bruces und Khans Gestalt war das kein Wunder. Die beiden waren wirklich ein ganz eigenes Kaliber.

Bevor jedoch irgendeiner der Truppe ihre Anwesenheit bemerkte, sprach Nataniel rasch im Flüsterton weiter, damit Amanda sozusagen einen kleinen Vorsprung hatte.

„Also, der Typ mit den dunkelbraunen Haaren und den vielen Narben auf dem Körper heißt Khan. Er ist ein Grizzlybär, was aber anhand seines Körperbaus wohl nicht mehr wirklich überraschen dürfte.“

Obwohl Khan genauso wie Bruce schon relativ alt war, so würde man ihn jedoch niemals für harmlos halten. Allein seine Augen sagten, dass er ein Krieger war. Zwar einer, der sich liebend gerne dem Suff hingab, aber das machte bei einem Wandler wie ihm keinen Unterschied.

„Der Schwarzhaarige mit den silbrigen Strähnen darin heißt Bruce. Er ist ein Gorilla und kann ganz schön unangenehme Sachen mit diesen riesigen Händen anstellen.“

Er war es auch gewesen, der ihm die Unterlippe gespalten hatte. Bei dem Schlag hätte Nataniel schon geglaubt, ihm müsse der Schädel wegfliegen. Nein, noch einmal wollte er nicht Bekanntschaft mit dieser Faust machen.

„Und der letzte des Sixpacks heißt…“

Verwirrt hielt er mitten im Satz inne und sah sich im großen Raum um.

Wo war denn dieser fast zwei Meter große Riese hin?

„Ryon.“, beendete jemand hinter ihnen den Satz, was Nataniel sofort herumfahren ließ, so dass er auf der Stelle zwischen dem Hünen und seiner Gefährtin stand. Nicht, dass er glaubte, der Typ würde ihr etwas tun, es war einfach nur reiner Reflex.

Ryon trug heute einen schwarzen Anzug mit goldgelber Krawatte, die zu einem anderen Farbton seiner Haare passte, als die gestrige. Überhaupt schien sein Haar eine ganze Palette an Farben zu beherbergen. Vor allem diese schwarzen Strähnen passten ziemlich gut zu den ebenfalls nachtschwarzen Augen mit dem goldenen Rand um die Iris herum.

„Freut mich, Sie kennenzulernen.“

Ryon zeigte sich gänzlich unbeeindruckt davon, dass er es geschafft hatte, sich so unauffällig an jemanden wie Nataniel heranzuschleichen. Andererseits waren seine Worte so emotionslos, dass sie fast bizarr klangen, obwohl sie Amanda gegenüber höflich klangen.

„Dann wären wir ja vollzählig.“, knurrte Nataniel etwas, ehe er sich wieder vollkommen gefangen hatte.

Als er sich wieder zum Rest herum drehte, hatten sie bereits die volle Aufmerksamkeit der anderen Mitglieder des Sixpack. Also stellte er allen noch Amanda vor, wiederholte für sie noch einmal die Namen der Anwesenden, ehe sie sich setzen konnten.

Etwas Brunchen konnte nicht schaden, vor allem wollte er noch genau besprechen, wie nun das Ablenkungsmanöver aussehen sollte. Amanda würde ihm da helfen müssen, weil er nicht genau wusste, was sie brauchen würde.

Sie mussten zwei Tische zusammenrücken, um genügend Platz zu haben. An den Stühlen hätte es nicht gelegen, sondern an der Statur von einigen Anwesenden.

Was Delilah mit ihrer zierlichen Gestalt wegmachte, brachten Bruce und Khan dazu. Auch Ryon war nicht ohne, mit diesen breiten Schultern, nur das an ihm kein Gramm Fett zu haften schien. Nataniel fragte sich wirklich, was für ein Geheimnis er in sich trug. Er musste ein Tier sein, daran bestand kein Zweifel. Aber was für eines?
 

Amanda saß hinter ihrem gefüllten Teller am Tisch, die Beine unter dem Stuhl verschränkt und sah sich die Gesichter ihrer neuen Bekannten noch einmal genau an. Die Dame, die sie vor der Tür des Speisesaals getroffen hatten, war wohl keine Anhängerin von Körperverhüllung. Ihr Top und auch das restliche Outfit zogen die Blicke fast sämtlicher anwesender Männer auf sich.

Eine Dame am Nebentisch, deren Partner sich gar nicht mehr auf sein frühes Mittagessen konzentrieren konnte, trat ihn sogar hart gegen das Schienbein, wodurch seine Gabel mit einem Scheppern auf dem Teller landete. Die leicht bekleidete Dame schien sich ihrer Wirkung mehr als bewusst zu sein und zwinkerte zu ihrem älteren Verehrer hinüber – zum Leidwesen der Ehefrau – bevor sie sich wieder ihrem Essen zuwandte.

Soweit ihr die Zwillinge überhaupt die Zeit zum Essen ließen.

Hätte Amanda nicht gewusst, dass es sich bei den beiden jungen Kerlen um Werwölfe handelte, wäre ihr Interesse an den Milchbubis schon nach dem ersten Anblick verraucht. So aber versuchte sie irgendwelche Zeichen für die versteckten Bestien in den beiden Männern zu finden.

Amanda hatte in ihrer Karriere bei der Moonleague nur ein einziges Mal mit einem Werwolf zu tun gehabt. Und da auch nur aus der Ferne. Aber bei der Vernichtungsarbeit, die der Tiermensch angerichtet hatte, war ihr das auch sehr viel lieber gewesen.

Bei den jungen Zwillingen, die sich aufführten wie nicht ganz ausgegorene Halbstarke, konnte sich Amanda beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie sich in solch blutrünstige Fabelwesen verwandeln konnten. Und dazu auch noch willentlich. Das Märchen von der Vollmondnacht enthielt nur sehr wenige Körnchen Wahrheit. Man hatte Werwölfe in jeder Nacht des Monats zu fürchten, wenn sie darauf aus waren, einem zu schaden.

Neben der Dreiergruppe saßen die beiden Männer, die Amanda für Nataniels aufgeplatzte Lippe und auch die Blessuren an seinen Fingerknöcheln verantwortlich hielt. Die beiden waren wirklich mehr als beeindruckende Gestalten. Auch wenn Amanda auf den ersten Blick nur von den körperlichen Argumenten überzeugt wurde. Die Männer schienen nicht von der gesprächigen Sorte. Oder wirkte es neben dem andauernden Geplapper der Zwillinge nur so?

Im Allgemeinen schien jeder am Tisch mehr mit seinem Teller und den Köstlichkeiten darauf, als an gehaltvoller Konversation interessiert zu sein. Ein Gorilla und ein Bär also. Da hatte Nataniel wirklich gute Arbeit geleistet, starke Gegner für die Organisation zu finden. Im Gegensatz zu den breitschultrigen, muskelbepackten Kerlen, wirkte selbst die Gestalt von Amandas Gefährten ein wenig mickrig.

Das Gleiche schien man über den letzten Mann am Tisch sagen zu können.

Ryon, wie er sich vorgestellt hatte, war ein Hüne. Hatte Nataniel überhaupt erwähnt, mit welchem Tier sie es in Ryon zu tun hatten? Der riesenhafte Mann schien jedenfalls der Einzige zu sein, der von Nataniels neuer Truppe hier in diese luxuriöse Umgebung passte. Seine Kleidung war offensichtlich maßgeschneidert und perfekt auf Wirkung ausgelegt. Die Krawatte brachte gleichzeitig seine seltsamen Augen zum Leuchten und betonte die Töne seiner bunt gescheckten Haare. Der Unbekannte mit dem guten Geschmack war auch der Einzige, der Amanda und Nataniel immer wieder ansah. Allerdings ohne irgendetwas von sich zu geben.

Amanda hatte ein ungutes Gefühl in seiner Gegenwart, auch wenn sie nicht sagen konnte, warum das so war. Vielleicht nur, weil Nataniel sich vorhin so schnell zwischen sie beide gestellt hatte, als Ryon sich in ihrem Rücken zu erkennen gab. Aber diese Reaktion konnte reiner Reflex gewesen sein. An solche Sachen hatte sich Amanda noch nicht gewöhnt und tat sich schwer, sie einzuordnen. Sie sollte wohl davon ausgehen, dass mit Ryon gar nichts faul war, sondern sie nur etwas zu extrem aufgefasst hatte.

Um sie herum herrschte nun zufriedenes Schweigen, da jeder sich mit dem Brunch beschäftigte. Amanda folgte nur zu gern dem Beispiel der Anwesenden und langte kräftig zu.

Marmeladenbrötchen. Müsli mit Früchten und dann noch ein Toastbrot mit Schinken und Käse. Danach hatte sie zwar keinen Hunger mehr, aber einen beinahe unüberwindlichen Appetit auf Schokolade. Oder Maiskolben mit viel Salz.

Mit einem Schmunzeln fuhr sie sich sanft über den Bauch und ermahnte das immer noch unwirkliche, aber heranwachsende Leben darin: Bitte reiß dich zusammen. Ich stand noch nie auf Essiggurken.

Das Schaben von Stühlen auf dem Boden und Klimpern von Besteck, ließen Amanda aus ihren Gedanken hochschrecken. Das Sixpack hatte geschlossen ihre Nahrungsaufnahme eingestellt und fixierten einen Punkt in Amandas Rücken.

Alarmiert drehte sie sich um und erblickte ein Gesicht, das gemischte Gefühle in ihr aufkommen ließ.

Seth hatte sie gesehen, blieb aber auf Abstand und nickte Amanda lediglich zu. Mehr brauchte er auch nicht zu tun. Sie wusste selbst, warum er gekommen war. Sofort schnürte sich ihre Kehle zu und ihr Herz schlug schneller. Gehetzt sah sie auf die Uhr und dann zu Nataniel, der neben ihr nur noch auf der Kante seines Stuhls saß. Er sah so aus, als wolle er jeden Moment auf den blonden Schattengänger losgehen, was Amanda nur noch nervöser machte.

Die aufkommende Spannung wurde ihr vor allem in Gegenwart der Fremden zu viel. Automatisch, aber sehr sanft legte Amanda ihre Hände auf die von Nataniel und sah ihm in die Augen.

An den gesamten Tisch gewandt, stellte sie Seth kurz vor. Eigentlich bloß, um dafür zu sorgen, dass sich das Sixpack von ihm und seiner Ausstrahlung nicht bedroht oder provoziert fühlte.

„Wir müssen leider gehen. Die Anderen und ich sollten uns mit euch zeitlich abstimmen, damit alles klappt.“
 

Während des Essens kamen sie nicht wirklich dazu, über irgendwelche Pläne zu sprechen. Die Zwillinge ließen den Rest der Truppe schon von Vornherein verstummen, sorgten zugleich aber auch für eine relativ entspannte Atmosphäre, da keiner sie wirklich ernst nahm. Erst recht nicht Delilah, der die ganzen verbalen Gebärden galten. Sie schien ohnehin eher mit anderem beschäftigt zu sein, was die Zwillinge dazu brachte, sich noch mehr ins Zeug zu legen. Wie sie es dabei schafften, trotzdem noch Unmengen an Essen hinunter zu stopfen, war Nataniel ein Rätsel. Aber er war ihnen überaus dankbar für diese Ablenkung. So musste er sich nicht mit den Dingen beschäftigen, die ihm eigentlich im Kopf herum schwirrten.

Ein eiskaltes Kribbeln im Nacken ließ ihn herumfahren, noch ehe die anderen reagiert hatten. Zielsicher fanden seine nun fast schwarzen Augen die von Seth. Dass der Kerl sich überhaupt traute, hier aufzutauchen, war wirklich ein ganzes Stück. Nataniel sollte ihm am besten gleich…

Fast schon schockiert über seine Gedankengänge rief er sich wieder zur Besinnung. Seth war hier, weil sie alle eine Mission zu erfüllen hatten. Nicht, um ihm Amanda wegzunehmen. Zumindest nicht auf die Art und Weise für die er den Kerl am liebsten umgebracht hätte. Dennoch würde sie mit ihm gehen und an seiner Seite kämpfen, während Nataniel ihr nicht einmal beistehen konnte.

Wie sehr er diesen Mann doch dafür beneidete und zugleich hasste!

Erst Amandas Hand auf seiner rief ihn wieder in die Realität zurück und beruhigte ihn etwas. Sie gehörte zu ihm. Das würde sich nicht ändern. Mehr musste er nicht wissen.

Dem Sixpack schien seine Reaktion nicht entgangen zu sein, aber offenbar bedeutete Seth für sie gesammelt keine zu große Bedrohung, weshalb sie sich auch nicht einfach so auf ihn stürzten. Erst recht nicht, nachdem Amanda ihn vorgestellt hatte. Trotzdem blieben ihre Mienen verschlossen und teilweise sogar unergründlich, bis auf Delilah, die Seth gedanklich gerade auszog. Zumindest ihrem verführerischen und zugleich verwegenen Lächeln nach zu urteilen.

„Ich begleite dich noch zur Tür.“, war alles an Antwort, die er Amanda gab, als sie ihm mitteilte, sie müsse jetzt aufbrechen.

Natürlich würde er noch mit ihr telefonieren, vor allem um sie nach der Zustimmung für das geplante Ablenkungsmanöver zu fragen. Er hatte sich dabei überlegt, die Moonleague ganz offen abzulenken, in dem sie wie Hooligans – danach sahen einige des Sixpacks auch eindeutig aus – einfach in das Gebäude einbrachen und ordentlich für Unruhe sorgten. Da es mitten in der Stadt lag, konnte man nicht gleich offen auf sie feuern, ohne Passanten auf der Straße oder die Leute der umliegenden Gegend auf sich aufmerksam zu machen. Irgendjemand würde das bestimmt hören und die Polizei rufen. Was zusätzlich noch mehr Ablenkung bedeuten würde, weshalb diese sogar willkommen wäre. Hoffentlich hatte die Moonleague nicht auch noch bei den Gesetzeshütern ihre Finger im Spiel.

Draußen vor dem Eingang zog Nataniel Amanda noch einmal in seine Arme. Es war ihm dabei vollkommen egal, wer ihnen dabei zusah. Am liebsten hätte er sie sogar vor aller Augen mit leidenschaftlicher Verzweiflung geküsst, aber das hätte ihm den Abschied nur noch schwerer gemacht.

Wenn alles gut ging, würden sie morgen früh ohnehin wieder alleine sein, um sich noch stundenlang zu küssen. Der Gedanke tröstete ihn etwas. An alles andere, wollte er gar nicht denken.

„Pass auf dich auf.“, flüsterte er ihr noch leise zu, während seine Finger über ihre Schläfe streichelten und dann noch einmal ihr weiches lockiges Haar berührten.
 

Amanda stolperte einen halben Schritt nach vorn, als Nataniel sie schnell in seine kräftigen Arme zog.

Sie drohte nicht zu fallen, auch wenn es ihr nichts ausgemacht hätte, an seiner warmen Brust zu landen. Kaum dass sie sich berührten, schien Wärme in ihr hochzusteigen, die sie nicht spüren wollte. Denn Amanda wusste, dass es Angst war, sich hier nie wieder anlehnen zu können. Ihre Finger wollten sich in seine Seiten krallen und sie wollte sich nur an ihn kuscheln. Sich vor dem verstecken, was sie tun musste. Aber es war nun einmal ihre Schuld gewesen. Jetzt konnte sie sich der Verantwortung nicht entziehen. Dann hätte sie das Schicksal unzähliger Wandler auf dem Gewissen gehabt. Das wog so viel mehr als ihr eigenes, dass ihr die Tatsache beinahe Flügel verlieh. Auch wenn Amanda es hasste, dies beim Anblick von Nataniels eisblauen Augen auch nur in Erwägung zu ziehen... Es wäre trotz allem besser für ihn und alle anderen Gestaltwandler, wenn Amanda bei dem Versuch starb und ihr Ziel erreichte, als wenn sie alle unter dem Joch der Moonleague leben mussten.

Trotzdem brauchte sie nicht lange darüber nachzudenken, Nataniel das Versprechen zu geben, das er ihr abnehmen wollte.

„Du aber auch.“

Ihre Blicke klebten immer noch aneinander, auch wenn Amanda Seth bereits ungeduldig hinter ihr hin und her laufen hörte. Eindringlich grub sie nun doch die Finger ein wenig in Nataniels Shirt, um sicher zu sein, dass er die Dringlichkeit ihrer Worte auch so verstand.

„Und was auch passiert. Nataniel, bitte versprich mir, dass du dich nach dem Ablenkungsmanöver in Sicherheit bringst.“

Ihr war klar, dass sie nicht von ihm verlangen konnte, dass er zur Farm seiner Eltern zurückkehrte. Auch wenn ihr das am allerliebsten gewesen wäre. Sollte der Plan scheitern, war er dort zumindest fürs Erste aus der Gefahrenzone.

Das winzige Zittern, das sie in seinen Augen sehen konnte, ließ ihr Herz schmerzhaft mitten im Schlag aussetzen.

Es tut mir so leid.

Immerhin konnte sie nur allzu gut nachvollziehen, wie er sich fühlte. Sie selbst hatte Nataniel zu einer Mission aufbrechen sehen, die ihn das Leben hätte kosten können. Das Gefühl der brennenden Haut, der verzweifelten Wut, die sich beim Warten immer weiter sammelte, hätte sie ihm zu gern erspart. Aber sie konnte es nicht. Deshalb machte sie es lieber kurz, als ihn noch länger mit ihrer Anwesenheit und der drohenden Trennung zu quälen.

„Eric wird dich später wegen eurer Pläne anrufen. In vier Stunden bin ich in dem Gebäude. Gebt uns eine Stunde Zeit, unbemerkt reinzukommen und die Codes einzugeben.“

Mehr um gegen ihre eigenen klettenden Wünsche anzukommen, schob sie sich ruckartig von ihm, küsste ihn nur kurz auf die Lippen und versuchte dann ein Lächeln.

„Wir sehen uns später.“

Endlich machte sie sich ganz von Nataniel los und drehte sich zu Seth um, der mit einer Grabesmiene neben dem Springbrunnen auf sie wartete.

Erstaunt bemerkte Amanda, dass sein Blick an ihr vorbei zielte. Als sie sich noch einmal umwandte, sah sie, dass Seth und Nataniel anscheinend eine non-verbale Absprache trafen, die sie selbst nicht verstand. Aber nachdem Seth kurz genickt und Amanda mit einem Arm auf der Schulter in Empfang genommen hatte, schien Nataniel seltsam ruhig in den Speisesaal zu verschwinden.

„Lass' uns gehen.“, kommandierte Seth gelassen und seine Augen verrieten nicht, was er empfand.

Auch als sie das Hotel verlassen und mit dem Taxi außer Sichtweite waren, sagte der Blonde lange nichts und richtete seinen Blick aus dem Fenster auf die vorbei gleitende Stadt. Dabei wäre es Amanda gerade jetzt recht gewesen, wenn er sie etwas von dem Gedanken abgelenkt hätte, der sich wie eine Leuchtreklame in ihrem Hirn einfach nicht abschalten ließ.
 

Nataniel versprach ihr nicht, sich nach der Aktion in Sicherheit zu bringen, egal was kommen würde. Er konnte es nicht versprechen. Genauso gut hätte er versuchen können, einen Tag lang die Luft anzuhalten. Es war einfach wider der Natur und dagegen würde er sich nicht wehren. Wenn es sein musste, er würde bis zum bitteren Ende ausharren, bis sie beide entweder dabei draufgingen oder er seine Gefährtin in Sicherheit wusste. Erst dann würde er sich um sich selbst kümmern. Amanda ging vor. Das würde sie immer tun.

Das machte Nataniel auch Seth klar, als sie sich von ihm gelöst und ihm den Rücken zugekehrt hatte. Ein einziger Blick genügte, um dem blonden Kerl mitzuteilen, an wen die Rechnung ging, sollte Amanda auch nur irgendetwas zustoßen. Der Panther war ein mörderischer Eintreiber, wenn es um den Begleich von Rechnungen ging. Man sollte sich lieber nicht mit ihm anlegen.

Um seiner Gefährtin nicht auch noch beim Wegfahren zusehen zu müssen – denn das würde noch tiefer in der Wunde schmerzen – riss Nataniel sich mit einem Ruck los und kehrte ins Hotel zurück, mit dem einzigen Gedanken, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren.

Er würde den beiden Schattengängern exakt eine Stunde geben, um die Codes einzutippen. Danach gab es kein Zurück mehr. Es wurde ohnehin an der Zeit, dass die Moonleague dem Dämon einmal ins Auge blickte, den sie schon seit so vielen Jahren jagte und zu unterwerfen versuchte.

55. Kapitel

Obwohl es sich um einen großen, rostigen Lieferwagen einer Paketdienstfirma handelte, war der Platz darin dank ihrer Truppe ganz schön beengend. Gut, dass Nataniel vorne auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, während Ryon sich in einer bei ihm schon fast befremdlich wirkenden Lässigkeit auf dem Lenkrad abstützte. Er sah noch sonderbarer aus, als ohnehin schon, trug er doch wie der Rest der Truppe nun ausgewaschene, teilweise aufgerissene Jeans mit Nieten und Ketten daran. Das schwarze Shirt mit dem Totenkopf darauf spannte sich so sehr um den breiten Oberkörper, dass man jeden Muskel darunter erkennen konnte. Inklusive einer kleinen Ausbuchtung auf der Brust, die wohl irgendein Anhänger oder so etwas in der Art verursachte. Ansonsten schien Ryon weniger der Schmuck tragende Typ zu sein.

Es war fast unmöglich gewesen, ein Shirt in seiner Größe zu finden, das an ihm nicht aussah, als wäre es beim Waschen eingegangen. Aber vermutlich würde es nach dem Startschuss ohnehin nicht mehr lange leben. Darum war es egal.

Auch der Hüne trug ein paar Narben an den Oberarmen, doch alle sahen sehr gut verheilt aus und gaben keinen Rückschluss darauf, wie sie entstanden waren. Bis auf die um seinen starken Hals. So wie die dünne Narbe sich rund herum zu ziehen schien, wirkte es fast, als hätte man ihm entweder den Kopf abtrennen oder ihn durch Strangulation umbringen wollen und zwar mit einem dünnen Draht oder etwas das ähnlich großen Schaden anrichten konnte. Kein Wunder, dass der Typ immer Krawatten und ein faltenloses Hemd trug. Diese Narbe fiel einem sofort ins Auge, wenn man sie sah.

„Warum hast du den überhaupt mitgenommen?“, durchbrach die Stimme von einem der Zwillinge seine Gedanken, woraufhin sich Nataniel zu den anderen herumdrehte.

„Ich steh auf harte Knüppel, was sonst?“

Delilahs Tonfall klang so, als wäre das absolut offensichtlich gewesen, während sie den metallenen Baseballschläger mit ihren zierlichen Fingern streichelte. Das Teil schien in ihren Händen riesig groß zu sein, aber sie hatte offensichtlich keine Mühe, ihn zu halten.

Die Wölfin hatte wie sie alle eher schlichte Klamotten an, aber auch bei der Jeans und dem Shirt hatte sie es geschafft, jegliche Grenze des Anstands zu durchbrechen. Die einst langbeinige Hose war zu einer sehr knappen Hotpen umfunktioniert worden und das schwarze Shirt mit dem Playboy-Bunny darauf war so abgeschnitten, dass es gerade noch so ihre Brüste bedecken konnte. Sie trug keinen BH, was jeder anwesende Mann im Wagen nur zu deutlich sehen konnte. Delilah schien das alles sehr zu genießen.

„Na, wenn das so ist, Baby. Wieso legst du das Spielzeug nicht weg und begnügst dich mit was richtig Hartem?“, schnurrte D ihr ins Ohr, so dass alle es hören konnten.

Khan konnte sich ein Lachen nun kaum noch verkneifen.

Er und Bruce schienen sich wohl über irgendetwas einig zu sein, das sonst keiner verstand. Aber Nataniel konnte sich schon denken, um was es ging, da beide mit den Augen rollten und leicht die Köpfe schüttelten.

„Sorry, Jungs. Aber bevor ich mich mit zwei Milchbubis wie euch abgebe, schiebe ich lieber eine Runde mit einem von den beiden. Das sind wenigstens richtige Männer.“

Sie lächelte Bruce und Khan entwaffnend an, aber in ihren Augen konnte man erkennen, dass sie es nicht ernst meinte. Auch die beiden Bulldozer schienen das so zu sehen, denn sie waren nun offensichtlich amüsiert darüber, wie empört sich die Zwillinge gespielt beleidigt, von Delilah abwandten.

Na wenn du es lieber mit Opas treibst, bitte.“, knurrten die Brüder synchron.

Der Gorilla und der Grizzly sahen sich einen Moment lang abstimmend an, ehe sie sich dafür entschieden, die Beleidigung vorerst einfach hinzunehmen.

Hier war definitiv nicht genug Platz, um den Welpen ein paar aufs Maul zu hauen.

Nachdem das geklärt war, drehte Nataniel sich wieder nach vorne und blickte aus der Windschutzscheibe in die anbrechende Nacht hinaus. Sie standen auf einem unauffälligen Parkplatz ganz dicht an dem Gebäudekomplex der Moonleague.

Ein Blick auf die Uhr teilte ihm mit, dass Amanda wohl schon dabei war, die Codes einzutippen. Nur noch eine halbe Stunde und sie würden den Laden stürmen.

Hoffentlich ging der Großteil des Sixpacks bis dorthin nicht schon im Wagen aufeinander los.

Wegen Ryon machte er sich absolut keine Sorgen, der verhielt sich unauffälliger denn je und hatte auch die ganze Zeit nichts zu sagen. Eigentlich war er schon seit dem Frühstück seltsam ruhig gewesen, obwohl Nataniel deutlich spüren konnte, dass da etwas in dem anderen vorging, was nicht mit dieser Mission zu tun hatte. Aber er würde sich davor hüten, danach zu fragen. Diesen Mann konnte er einfach nicht einschätzen. Diese Emotionslosigkeit konnte einen daher ganz schön verwirren.
 

***
 

Der Geruch des Raumes war Amanda sofort unangenehm bekannt entgegen geschlagen. Es roch immer leicht nach Möbelpolitur, gemischt mit kaltem Zigarrenrauch.

Als Kind hatte sie sich immer die Nase zugehalten, wenn Derek im Wohnhaus oder auch nur irgendwo in der Nähe diese Dinger geraucht hatte. Ihr war übel davon geworden, wenn der Dunst dicht in den Räumen gehangen hatte. Jetzt hätte sie es gern genauso gemacht, wie damals das kleine Mädchen, aber wahrscheinlich hätte es noch nicht einmal etwas gegen dieses kalte Stechen in ihrem Inneren geholfen.

Es fühlte sich so seltsam an, hier zu sein.

Bereits als Seth und sie sich ins Innere des Gebäudes geschmuggelt hatten, durch die leeren, dunklen Gänge geschlichen und immer wieder Wachen durch Schattengänge aus dem Weg gegangen waren, war das ungute Gefühl in Amanda gewachsen.

Das hatte nicht daran gelegen, dass sie ihrem Ziel und daher auch der direkten Gefahr immer näher gekommen waren. Stattdessen schien Amanda ihrer Verbindung zur Moonleague mit jedem Schritt weiter zu entwachsen. Sie würde sie endgültig zerstören. Nur die Tür zu Dereks Büro und das Passwort des Computers hielten sie noch davon ab.

Seth war es der Amanda im Moment des Eindringens in das Gründerbüro aufrecht hielt.

Es war nur natürlich, dass er, der noch niemals hier gewesen war, sich kurz umsah. In dem riesigen, beinahe leeren Raum, war es allerdings nicht schwierig, sich zurecht zu finden.

Beherrscht wurde das Büro von dem schweren Schreibtisch aus dunklem Holz, der den Blick von der Tür aus auf sich und den großen, bequemen Sessel dahinter zog. Der blonde Schattengänger maß mit langen Schritten durch das düstere Zimmer und prüfte bereits die Oberfläche des Möbels auf eventuelle Alarmanlagen. Druckknöpfe oder Ähnliches. Laserschranken hatten sie schon während des Eintretens ausgeschlossen.

Mit einer nebensächlichen Handbewegung, die keinem auffallen sollte, wenn sie doch durch Kameras beobachtet wurden, gab Amanda Eric zu verstehen, dass alles in Ordnung war. So weit so gut würde auch ihr Bruder nun ruhiger atmen, während er auf einem der Dächer der Nebengebäude hockte und durch sein Zielfernrohr verfolgte, was hier drinnen vor sich ging.

Er war die Absicherung. Das letzte Netz, das die beiden auffangen konnte, sollte irgendetwas doch noch schief laufen.

Amandas Atem ging unnatürlich flach, als sie Seth folgte und gerade rechtzeitig den Tisch erreichte, als der Laptop vor ihm zum Leben erwachte.

Aus ihrer Jackentasche zog Amanda den Decodierer und steckte ihn an den Laptop an. Zahlen fingen an zu rattern, bis sie mit hektischem Blinken einrasteten. Die Sekunden schienen sich ins Unendliche zu dehnen, während Amanda Seths Geruch einatmete.

Es war nicht das erste Mal, dass sie ihm so nahe war, aber gerade in diesem Moment erschien ihr sein Duft als bestes Gegenmittel gegen die Übelkeit, die sie wegen des Zigarrengestanks überkam.

Noch zwei Ziffern. Dann eine. Amandas Herz schien nur noch im Takt der blinkenden, grünen Zahlen zu schlagen, die schließlich alle still standen, um dann endgültig zu erlöschen.

Adrenalin schnellte ihr durch die bereits damit angestauten Adern, als das bekannte Werbesignal der Softwarefirma erklang.

Sie waren drin.

Unwillkürlich drängte sie Seth mit ihrem eigenen Körper zur Seite und klickte mit der Maus ein paar blaue Fenster an. Dann gab sie Befehle ein, die das Programm für die Eingabe des Codes vorbereiteten.

Nur noch Sekundenbruchteile. Der Code war vierstellig – schnell und unkompliziert einzugeben. Gleich. Nur noch die Entertaste drücken.

„Wenn du dich nur einen Millimeter bewegst, werde ich dir eine Kugel durch den Kopf jagen, Schatz.“

Amanda, Seth und Eric pressten zur gleichen Zeit die Augen zusammen, um dem Lichtblitz zu entkommen, der in dem großen Raum plötzlich aufflammte.

Es schien Amanda so, als wäre sie von den UV-Scheinwerfern regelrecht eingekesselt. Was wohl auch der gewünschte Effekt der ganzen Aktion war.

Sie versuchte ihre Augen abzuschirmen. Wenn es auch nicht nötig war, um zu wissen, wer gerade in das Büro getreten war.

Dad...

Das Wort in dem Ohr, in dem ihr Empfänger steckte und Erics leise, entsetzte Stimme, ließen beinahe körperliche Schmerzen durch Amandas Inneres fahren. Sie selbst hatte Derek nie als ihren Vater angesehen und ihn auch nie 'Dad' genannt. Aber dennoch war eine gewisse Verbindung zu dem Mann vorhanden, der damals nach dem Mord an ihren Eltern für sie gesorgt hatte. Und der jetzt mit einem Revolver direkt auf Amandas Gesicht zielte.

Ein trauriges Lächeln lag auf seinen Lippen.

„Amanda, ich hätte dich wirklich lieber unter anderen Umständen wiedergesehen. Vielleicht zu einem Abendessen im Kreise der ganzen Familie.“

Wen er genau damit meinte, ließ der Mann offen. Er hatte sich, wie die beiden Schattengänger, die er bedrohte und die zusätzlich durch die starken Scheinwerfer in der Mitte des Raumes wie festgepinnt waren, nicht bewegt. Amanda konnte noch nicht einmal sagen, ob irgendjemand geatmet hatte, seit er sich zu erkennen gegeben hatte.

„Ich wäre dir am liebsten nie wieder begegnet. Aber das wäre wohl zu einfach gewesen.“

Er lachte. Ein ausgelassenes, tiefes Lachen, das in dieser Situation beinahe wahnsinnig wirkte.

Hinter ihr versuchte sich Seth zu bewegen. Amanda merkte es nur an dem Umhang, der ihre Hand streifte, als der Blonde sich zur Seite lehnte.
 

***
 

Nataniel blickte zuerst auf seine Armbanduhr, dann auf die von Ryon und schließlich auf die Anzeige im Armaturenbrett. Die Frist war abgelaufen.

„Showtime.“

Ohne mit der Wimper zu zucken, startete Ryon den Wagen, fuhr auf die halb verlassene Straße, fast am Eingang zum Moonleaguegebäude vorbei und blieb dann stehen, um den Rückwärtsgang einzulegen.

„Na, dann Mädels, lassen wir es mal so richtig krachen.“, jubelte Delilah, die schon ganz heiß auf einen Kampf zu sein schien. Doch sie war nicht die einzige.

„Lasst mir bloß einen übrig.“, knurrte J und bekam ein zustimmendes Nicken von seinem Zwilling.

„Sollten sie euch beiden Großmäuler in die Pfanne hauen, werde ich mit Freuden dabei zu sehen.“, meinte Khan trocken, ehe man das Quietschen der durchdrehenden Reifen hören konnte und der Lieferwagen auch schon über den Pflasterstein schoss, direkt mitten durch die Glastüren der Lobby.

„Vergesst nicht. Erst wandeln, nachdem der Rauch sich ausbreiten konnte, klar?“, ermahnte Nataniel das Sixpack noch einmal, ehe die Türen aufgestoßen und ein paar Rauchbomben Marke Bruce geworfen wurden.

Die ersten Wachleute, die auf sie zugeeilt waren, konnten noch genau sehen, was da aus dem Wagen kam, aber schon wenige Sekunden später, war die ganze Eingangshalle so vernebelt, dass nur noch Wesen mit einem sechsten Sinn sich ohne Probleme zurecht fanden.

Nataniel war kurz nach Ryon als zweites aus dem Wagen gesprungen und machte sich sofort über den ersten Wachmann her, den er finden konnte.

Mit bloßen Händen genügte ein gezielter Schlag mitten auf die Neun und der Kerl lag flach am Boden und träumte von Sternchen.

„Und jetzt sorgen wir hier so richtig für Stimmung!“, rief Delilah total entzückt, von irgendwoher durch den Rauchnebel hindurch.

Einen Moment später wummerte Rob Zombie durch die große Empfangshalle und übertönte jegliche Kampfgeräusche. Von der Straße aus, musste das ein ganz schön skurriles Bild abgeben. Ein Loch mitten im Eingangsbereich, dort wo eigentlich die Glastüren sein sollten. Dazu noch undurchdringlich dicker Nebel, der höchstens schemenhafte Gestalten zeigte und untermalt wurde das alles von lauter Musik, die zur Kampfstimmung passte. Wer das sah, musste wirklich glauben, sie nicht mehr alle zu haben. Aber Hauptsache, es erzielte die richtige Wirkung.

Wenn also nicht schon jemand die Polizei wegen des Einbruchs gerufen hatte, dann doch bestimmt wegen der Lärmbelästigung.

Das Ziel des Sixpacks war es lediglich so gut wie möglich für Chaos zu sorgen und das in so vielen Räumen wie möglich in diesem Gebäude, weshalb sie sich schon vor der Abfahrt in Gruppen aufgeteilt hatten.

Khan nahm sich mit Bruce das Erdgeschoss vor. Delilah und die Zwillinge würden sich in den ersten Stock begeben und Nataniel machte sich zusammen mit Ryon über den zweiten Stock her. Es war egal, wie weit sie kamen. Hauptsache sie ließen sich nicht umbringen und schalteten zugleich so viele Wachleute aus, wie sie finden konnten.

Weshalb sie sich auch gründlich in den ihnen zugeteilten Ebenen austoben sollten, ehe sie sich weiter nach oben arbeiteten.

Der Plan war simpel, die Durchführung allerdings schon weniger einfach. Denn es waren wesentlich mehr Wachleute, als angenommen in diesem Gebäude und im Grunde hatte jeder seinen eigenen Kopf, was die Mission anging. Das sah man auf den ersten Blick.

Kaum dass die Lobby ‚gesäubert‘ war, blieb ihnen auch schon nichts mehr anderes übrig, als sich so richtig ins Zeug zu legen.

Delilah ging noch eine Weile mit ihrem metallenen Baseballschläger auf alles und jeden los, der das Pech hatte, sich ihr in den Weg zu stellen. Die Zwillinge fackelten ebenfalls nicht lange und besorgten sich Schlagwerkzeuge, mit denen sie noch ihre richtigen Kräfte schonen konnten.

D hatte sich für einen sechs Liter Feuerlöscher entschieden, den er handhabte, als wäre er eine Spielzeugrassel, während sein Zwilling mit einem Metallstuhl auf seine Gegner los ging, bis dieser zu sehr verbogen war, um ihn noch gebrauchen zu können. Doch Ersatz war schnell gefunden.

Bruce und Khan brauchten keinerlei Hilfsmittel, um über ihre Gegner hinweg zu fegen. Ihre schiere Masse war Waffe genug und vor allem Bruces Fäuste brachen dem ein oder anderen mehr als nur eine Nase. Ein paar von denen würden nie wieder aufstehen.

Nataniel selbst gab sich voll und ganz dem Gefühl hin, das ihm seine ausgefahrenen Krallen gaben, wenn sie durch Haut, Muskeln und Sehnen fetzten. Schon nachdem er nicht nur den Geruch des Nebels, sondern auch von menschlichem Blut in die Nase bekommen hatte, drängte das Tier in ihm an die Oberfläche, doch er hielt es noch zurück. Es würde schon noch seine Chance auf einen richtigen Kampf bekommen.

Ryon war seit der Rauchbombenattacke regelrecht verschwunden. Ab und zu konnte Nataniel noch gurgelnde Laute oder Todesschreie aus der Richtung hören, in die der Hüne verschwunden war. Aber er selbst schien sich vollkommen im Nebel aufgelöst zu haben, als wäre er ebenfalls nicht mehr als nur ein Schatten. Doch seine Opfer, über die Nataniel ab und zu steigen musste, waren alles andere, als nur einem Geist begegnet. Oftmals nur mit einem einzigen gezielten Angriff getötet, sahen sie dennoch ganz schön grauenvoll aus.

Aufgeschlitzte Kehlen. Köpfe die im falschen Winkel vom Körper abstanden. Bäuche die ihren Inhalt preisgaben. Der Kerl war nicht nur emotionslos, er war auch eine regelrechte Tötungsmaschine.

Endlich heraus aus dem Nebel wurde es so richtig gefährlich. Nun, da man sie auch sehen konnte, obwohl bereits irgendjemand am Sicherungskasten herum gespielt und die Notbeleuchtung ausgelöst hatte, wurde nun offen auf sie geschossen.

Nataniel und den anderen blieb nichts mehr anderes übrig, als sich zu verwandeln, um ihre vollen Sinne zur Verfügung zu haben. Die brauchten sie auch dringend, um einigen von den tödlichen Geschossen gerade noch rechtzeitig ausweichen zu können.

Während seine schwarze Fellfärbung ihm in dem düsteren Licht zu Hilfe kam, fiel Delilah mit ihrem weißen Wolfsfell auf wie ein bunter Hund, aber von der bestialischen Gestalt der Zwillinge begleitet, war sie in guten Händen. Immerhin waren Werwölfe alles andere als nur bloße Wölfe. Sie waren um einiges größer, muskelbepackter und mit einem Kiefer, das es locker mit dem von Nataniel aufnehmen könnte. Eigentlich konnte man sie mit keinem Tier richtig vergleichen. Sie waren eben einfach ... Werwölfe.

Einen Grizzly oder Gorilla erblickte Nataniel während seines Raubzugs durch das Gebäude zwar nicht, aber er wusste, sie wüteten irgendwo vor sich hin und erledigten ihren Job, so wie es hier jeder tat.

Auch Ryon von dem auch weiterhin jede Spur fehlte. Zumindest von seiner Gestalt, denn den Weg, den er entlang gegangen war, konnte man nicht übersehen.

Überall lagen leergeschossene Patronen auf dem Boden verteilt, Blutspritzer und blutige Spuren an den Wänden. Leblose Körper. Zerstörtes Mobiliar in den Büros. Der Kerl war eindeutig am Arbeiten und zwar gründlich.

Nataniel folgte seinem Beispiel ohne zu zögern, dabei immer vom harten Rhythmus der Musik begleitet, der seine Muskeln regelrecht zum Vibrieren brachte. Seine Gedanken waren leer. Er konzentrierte sich nur auf seine Aufgabe, alles andere verdrängte er.

Hätte er in diesem Augenblick auch nur einmal gewagt, an Amanda zu denken. Er hätte sich sofort auf die Suche nach ihr begeben, um nach ihr zu sehen. Doch er hatte hier ohnehin selbst um sein Leben zu kämpfen, denn manche Geschosse verfehlten ihn eben nicht nur Meterweit, sondern haarscharf.

An manchen Stellen fuhren sie ihm sogar brennend durch das Fell. Es war pures Glück, dass ein paar von den Wachleuten noch nicht die Gelegenheit gehabt hatten, ihn direkt abzuschießen, was nur daran lag, dass es mit der Zeit immer weniger von den Männern gab, die ihnen noch gefährlich werden könnten.
 

***
 

Erics Atem ging langsam und kontrolliert. Der Wind zupfte nur ein wenig an den blonden Strähnen, die unter dem Baseballcap hervor schauten. Er rührte sich keinen Millimeter von seiner Position, die er vor einer Stunde eingenommen hatte. Bloß die kalten Finger krümmten sich von Zeit zu Zeit ein wenig, um für wärmende Durchblutung zu sorgen.

Von dem flachen Dach mit der kniehohen Brüstung konnte er die Zentrale gut einsehen. Zwar lag Dereks Büro nicht auf der Frontseite des Gebäudes, aber Eric hatte von dieser Seite trotzdem keine Probleme den Parkplatz einzusehen. Und den Wirbel, den Nataniel und seine neuen Kumpels gerade veranstalteten, konnte sowieso niemand ignorieren.

Bereits als der klapprige Lieferwagen in die Glastüren gekracht war, hatte die Alarmanlage losgeschrillt und die Wachen der Moonleague waren wie ein Ameisenhaufen in Bewegung gekommen.

Eigentlich hatte das der Zeitpunkt sein sollen, den Amanda und Seth nutzten, um sich ungesehen aus dem Gebäude zu verkrümeln. Nach Eingabe der Codes.

Um einen geäußerten Fluch zu unterdrücken, biss Eric sich auf die Wange.

Amanda konnte ihn hören. Sein Funk war die ganze Zeit eingeschaltet. Und als ihm vorhin dieses beschissene einzelne Wort entkommen war, hatte er sich bereits Vorwürfe gemacht. Als wäre es für seine Schwester da drin nicht schon schwierig genug.

Der Lichtschein in dem Zimmer war immer noch durchdringend und unangenehm. Vor allem durch das Zielfernrohr, das sich nur schwer auf den Mann einstellen ließ, der mit einer gezogenen Waffe das Büro betreten hatte.

Nie im Leben hätte Eric gedacht, dass er einmal auf seinen Ziehvater zielen würde. Schon gar nicht, weil dieser drohte, Amanda zu erschießen. Scheiße, wie war es nur so weit gekommen?

Und dumm war Derek leider auch nicht. Vorhin, als er zur Tür herein gekommen war, hatte er wie unter einem illuminierten Pfeil in Erics Fadenkreuz gestanden. Jetzt bewegte er sich langsam um den Kreis der Scheinwerfer herum, in dem Amanda und Seth wie die Fliegen am Fliegenfänger klebten. Er kannte seine Kinder. Amanda konnte in diesem UV-Hagel nicht einfach verschwinden. Und Eric würde niemals riskieren seine Schwester zu treffen, wenn der Mann sich hinter ihrem Körper versteckte. Aber man sollte sich nicht in Sicherheit wiegen, nur weil man glaubt, jemanden zu kennen.

„Er ist rechts von dir. Du stehst genau im Schussfeld.“

Durch eine winzige Drehung gab Amanda ihm zu verstehen, dass sie verstanden hatte. Sie sprach mit ihrem Ziehvater. Schon die ganze Zeit, seit er anwesend war. Nein, um es besser zu treffen, müsste man sagen, inzwischen brüllte sie ihn an.
 

„Wie konntest du das zulassen?!“

Spätestens bei der Erwähnung des Herodes-Projekts war in Amanda die Beherrschung flöten gegangen. Wahrscheinlich konnte sie jeder in den angrenzenden Räumen und auf dem Flur hören. Jeder, der nicht von den Sirenen und dem anderen Chaos abgelenkt war.

Dass Nataniel und das Sixpack angefangen hatten, ihren Plan durchzuziehen, hatten die Schattengänger nur über Funk mitbekommen. Die Gründerbüros lagen so weit vom Eingang entfernt, dass sie selbst die Sirene nur gedämpft hören konnten. Und dieses Geräusch überschrie Amanda gerade nur allzu gern.

„Ihr habt nicht nur unschuldige Wandler, sonder KINDER UMGEBRACHT!“

„Würdest du dich bitte beruhigen.“

„WAS?!“

Gerade noch so schaffte es Amanda ihre Hand unter dem Ärmel ihrer Jacke verschwinden zu lassen. Das rasende Brennen des UV-Lichts auf ihren sich auflösenden Fingerspitzen war zwar befriedigend gewesen. Aber noch befriedigender wäre es, damit dem Mann zu ihrer Rechten das verkümmerte Herz herauszureißen. Er durfte nicht wissen, dass dieser Lichtkegel sie nicht gefangen halten konnte. Noch nicht.

„Ich sagte, dass du dich beruhigen sollst. Wir haben ein paar wilde Tiere abgeschossen, die uns hätten gefährlich werden können. Schon immer war die Moonleague dazu da, die Menschen vor diesen Wesen zu beschützen. Das weißt du, Amanda. Du hast uns geholfen. Die Organisation ist deine Familie. Deine Welt. Warum willst du jetzt gegen sie ankämpfen?“

Es fühlte sich an, als würden siedend heiße Lavaströme durch ihren Körper laufen. Amanda drohte sich allein deswegen auf der Stelle aufzulösen, damit sie den Schmerz, den ihr Derek in diesem Moment zugefügt hatte, übertünchen konnte.

Ihre Stimme war ruhig und klang vollkommen hohl, als sie antwortete. Ihre Augen hefteten sich auf den nur undeutlich zu erkennenden Umriss ihres Ziehvaters und sie drehte sich langsam zu ihm um. In ihrem Ohr konnte sie Erics Warnung hören. Sie stand genau im Weg. Das hatte sie auch ohne seine Worte gewusst.

„Du hast Recht.“

Ein tonnenschweres Gewicht legte sich auf ihre Schultern und zwang sie sogar dazu, ihren Blick etwas zu senken.

„Die Moonleague war meine Familie. Ich glaube sogar, dass ihr bei der Gründung nur daran gedacht habt, die Menschen zu schützen. Aber die Wandler sind in jedem Fall noch mehr Mensch als ihr...“

Die versengende Hitze in ihrem Inneren machte sich in Tränen Luft, die ihr heiß über die Wangen liefen. Amandas Blick wurde hart und jede Muskelfaser in ihrem Körper spannte sich, als sie die Hand wieder aus dem Ärmel streckte und sich somit endgültig für eine Seite entschied.

Die Schüsse, die einen Herzschlag später die Luft zerissen, folgten so kurz hintereinander, dass sie sich wie einer anhörten.
 

Erics Finger, der den Abzug immer noch krampfhaft in seiner Position hielt, zitterte. Es war das erste Mal, dass er am ganzen Körper bebte, nachdem er geschossen hatte.

Sein sich überschlagender Atem konnte mit seinem rasenden Puls kaum mithalten. Selbst sein Blick schien für einen Moment verschleiert, bevor er wieder in das gleißend helle Zimmer sehen konnte. Hektisch lud er nach, als ihm klar wurde, dass er sie nicht sehen konnte.

„Scheiße... Amanda! Seth!“

Tote Leitung. Es war nur Rauschen zu hören. Was allerdings auch an seinen Ohren und dem darin pulsierenden Blut liegen konnte.

Mit zusammen gebissenen Zähnen versuchte Eric irgendetwas zu erkennen. Nur eine Bewegung. Irgendwas, das darauf hindeutete, was zwischen den beiden Schüssen passiert war. Nichts war zu erkennen, außer einer winzigen Buchstabenreihe auf dem Laptop.

Files deleted.
 

Das Blut, das zwischen ihren Fingern herausquoll, wollte einfach nicht aufhören zu fließen. So fest Amanda auch mit einem Stück Stoff darauf drückte, es hörte nicht auf. Doch erst als sie ihm ins Gesicht sah, traf sie die Erkenntnis so hart, dass sie einen gequälten Aufschrei nur mit Gewalt unterdrücken konnte.

Seth verlor so viel Blut, dass er schon fast grau im Gesicht wirkte. Sein Atem ging rasselnd und er stöhnte immer wieder unter Schmerzen. Auch wenn er sich dafür, dass die Kugel ihn zentral getroffen hatte, noch ziemlich gut hielt.

„Wir bringen dich hier raus, keine Sorge. Die Polizei ist sowieso schon hier. Da ist ein Krankenwagen nicht weit. Halt nur noch ein bisschen durch.“

Die Worte kamen nicht nur zur Seths Beruhigung aus ihrem Mund. Amanda selbst war in Tränen aufgelöst und zitterte am ganzen Körper, während sie weiter versuchte, die Blutung an seinem Bauch zu stoppen.

„Amanda...“

Die Hand, mit der er ihren Arm berührte, war beinahe kalt. Um es ihm leichter zu machen, lehnte sich Amanda über Seth und hielt ihr Ohr nur wenige Zentimeter über seine Lippen.

„Eigentlich sind sie blau.“

Es war nur ein Flüstern, doch es schien alle Dämme in Amanda brechen zu lassen, als sie nach Sekunden, die eine Ewigkeit zu dauern schienen, endlich verstand, was er damit meinte.

„Du wirst nicht sterben, hörst du!“

Mit aus Verzweiflung zehrender Kraft presste sie ihre Hände stärker auf seine Wunde und versuchte gleichzeitig ihn wach zu halten. Dabei war ihre Stimme so brüchig wie dünnes Glas und erstickt von Tränen, während sie ihn beinahe anschrie. In Gedanken betete sie nur darum, dass endlich jemand kommen würde, um ihnen zu helfen...

56. Kapitel

Bei dem ganzen Lärm hatte Nataniel das rollende Geräusch direkt neben sich nicht hören können und schon gar nicht, als das erkannt, was es war – eine scharfe Handgranate.

Gerade noch im letzten Moment, als er sie im Augenwinkel erblickte, war es ihm gelungen zur Seite zu springen, als sie auch schon los ging und die Wände regelrecht zum Erzittern brachte.

Sein Raubtierkörper wurde zur Seite geschleudert und krachte durch die nächste Bürotür, bis er benommen liegen blieb und ihm die Ohren gewaltig klingelten. Aber soweit er es beurteilen konnte, war noch alles an ihm dran. Seine ausgezeichneten Reflexe hatten ihm wieder einmal den Hintern gerettet.

Allerdings kamen sie jetzt zu Viert und allein die Tatsache, dass sie nicht mit Schusswaffen sondern Elektroschockern und Knüppel auf ihn los gingen, machte klar, wie stink sauer die Männer über ihre getöteten Kameraden sein mussten, um ihn nicht gleich umzubringen.

Mit einem lautstarken Knurren kam Nataniel wieder auf die Beine.

Diese Wichser würden ihn sicherlich nicht davon abhalten, auch weiterhin nach Amanda zu suchen, während der Rest der Truppe noch ein bisschen mehr Chaos veranstaltete.

Blut lief ihm aus der Schnauze direkt ins Maul, doch das war nur ein geringer Preis dafür, dass er soeben eine explodierende Handgranate so relativ unversehrt überlebt hatte.

Als ihn der erste Stromstoß in der Flanke traf, fuhr er automatisch herum und schnappte sich die Hand, die ihm diesen Schmerz zugefügt hatte. Seine Kiefer mahlten sich durch Fleisch, Knochen und Sehnen, so dass der Kerl vor Schmerz gequält aufschrie, während seine Kollegen nun nicht nur versuchten, sich an Nataniel zu rächen, sondern ihn dazu zwingen wollten, diesen verdammten Arm loszulassen. Doch egal wo ihn die Knüppel und Stromstöße trafen, er ließ nicht los, sondern schlug stattdessen mit seinen Pranken nach seinen Angreifern und biss nur noch fester zu, bis ein Hieb ihm fast den Kiefer brach.

Schmerzen explodierten in seinem Schädel, als er nun doch gezwungen war, das Fleisch zwischen seinen Zähnen los zu lassen. Noch mehr Blut lief ihm aus der Nase und ein pochender Schmerz breitete sich über seine Schläfe aus.

Benommen taumelte er auf unsicheren Beinen zurück. Sah mit einem Mal alles doppelt, als auch schon die nächsten Schläge auf ihn nieder prasselten.

Wütend und nun auch mit blinder Verzweiflung schlug er nach allem, was er erwischen konnte, doch so sehr er auch ein Raubtier war, er war in der Unterzahl.

Völlig in die Ecke gedrängt, musste sich Nataniel eingestehen, dass er diesen Kampf wohl verlieren würde, selbst mit der Tatsache, dass nur noch drei Angreifer Einsatzfähig waren.

Mit einem Mal stand plötzlich Ryon hinter seinen Angreifern. Sein Gesicht ausdrucksloser denn je, das Shirt inzwischen zerrissen, aber ans

onsten noch immer voll bekleidet. Er hatte sich also noch immer nicht verwandelt. Wäre Nataniel der Sinn nicht nach anderen Dingen gestanden, er hätte sich gefragt, was mit dem Kerl los war. Er war eindeutig kein einfacher Mensch, aber warum blieb er dann in dieser schwachen Form?

Im nächsten Augenblick wurde klar, dass der Hüne keine Krallen und Zähne brauchte, um stark zu sein. Er packte zwei der Angreifer beim Hals und schlug ihre Köpfe so fest gegeneinander, dass ein grauenvolles Knacken den Raum erfüllte, bevor beide regungslos zu Boden gingen.

Der dritte Angreifer hatte noch gar nicht registriert, was soeben passiert war, da gesellte er sich auch schon zu seinen Kollegen. Erstklassiger Wirbelsäulenbruch.

Der letzte Typ, der sich noch immer den völlig zerfetzten Arm hielt, starrte panisch auf die Szene, doch Ryon ignorierte ihn einfach.

„Geh! Suche deine Gefährtin. Lass dich bloß nicht noch einmal, von diesen Typen aufhalten, klar?“

Zum ersten Mal, seit Nataniel Ryon kannte, brannte so etwas wie Wut in dessen fast gänzlich schwarzen Augen. Die erste und einzige Emotion, die er je an ihm gesehen hatte.

Nataniel zögerte keine Sekunde länger. Er kam wieder auf die schmerzenden Beine, schenkte dem Hünen noch einen dankbaren Blick, ehe er los sprintete.

Bevor die Handgranate ihn überrascht hatte, hatte er immer wieder Spuren dieses Gestanks aufnehmen können, der Amanda immer anhaftete, wenn sie durch die Schatten ging. Außerdem hatte er einmal geglaubt, sie gehört zu haben, aber er könnte es sich auch nur eingebildet haben, denn nun war alles still.

Dennoch, er beschleunigte seine Schritte, angetrieben von dem Drang, seine Gefährtin zu finden, um sie aus dieser Hölle hier heraus zu holen. Dabei war es ihm egal, dass ein paar der Wachleute, an denen er einfach nur noch vorbei zischte, auf ihn schossen. Auf ein paar Streifschüsse mehr oder weniger, kam es jetzt auch nicht mehr an.
 

Schlitternd kam Nataniel zum Stehen, als er an einer Tür vorbei gelaufen war, hinter der er sowohl Blut, als auch Amandas Geruch wahrnehmen konnte und auch der Geruch von Schatten war sehr viel stärker. Hatte er sie etwa gefunden?

Ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob er in eine weitere Falle lief, stürzte er sich auf die Bürotür. Sie hatte einen Drehknauf, den er in dieser Form nicht betätigen konnte, doch seine blinde Verzweiflung war alles, was er brauchte, um die Tür zu öffnen. Er brach sie regelrecht auf.

Heftig keuchend, da er nicht mehr durch die gebrochene Nase atmen konnte, blieb er schließlich geblendet stehen.

Seine Raubtieraugen gewöhnten sich relativ schnell an das helle Licht, doch an den Anblick würden sie sich wohl nie gewöhnen können.

Nataniel brauchte einen Moment, bis er überhaupt begriff, was er dort sah. Da war so viel Blut!

‚Amanda!‘, rief er, doch aus seiner Kehle kam nur ein verzweifeltes Fauchen. Sie sah grauenvoll aus. Aber soweit er das erkennen konnte, ging es ihr gut. Aber Seth…

Nataniels Verwandlung begann, noch ehe er sich bewusst darauf konzentriert hatte.

Es tat ungleich mehr weh, da sein ganzer Körper bereits schon so viel hatte erleiden müssen, aber es war ein gutes Gefühl, sich endlich wieder zu seiner vollen Größe aufrichten zu können.

„Amanda.“, sagte er noch einmal, jedoch viel leiser. Ohne auf den Kerl auf dem Boden zu achten, über den er einfach hinweg stieg, kam er zu seiner Gefährtin geeilt und kniete sich zu ihr, um auch den anderen Schattengänger zu betrachten. Scheiße, den hatte es ganz schön erwischt. Er blutete beunruhigend stark.

„Wir müssen ihn in ein Krankenhaus bringen.“

Das war offensichtlich.

„Die Polizei müsste schon hier sein. Das Sixpack wird sich inzwischen wohl langsam zurück ziehen. Es ist zwar gefährlich, aber wir sollten es riskieren, ihn zu einen der Krankenwagen zu bringen. Ich weiß leider nur nicht, wie viele Wachleute hier noch herum rennen.“

Hoffentlich hielt keiner von denen sie auf, denn Amanda würde Seth nicht tragen können.

Rasch blickte er sie an, musterte sie nach möglichen Verletzungen, kam dann aber zum Schluss, dass es ihr soweit gut ging. Also griff er nach einem Revolver, der neben dem toten Mann am Boden lag und drückte ihn Amanda in die Hand.

„Hier, benutz sie, falls wir aufgehalten werden sollten.“

Rasch überflog er Seth aschfahles Gesicht und obwohl er den Kerl eigentlich überhaupt nicht ausstehen konnte, so schien er Amanda doch einiges zu bedeuten. Sie sah wie am Boden zerstört aus.

„Halt noch etwas durch, okay? Wir bringen dich hier heraus.“, sprach er zum ersten Mal sanft zu dem anderen Mann, während er ihm ein aufmunterndes Lächeln schenkte, das leider nicht lange hielt. Sie hatten keine Zeit zu verlieren.

„Amanda, du musst weiterhin die Wunde zudrücken, während ich ihn trage.“, befahl er seiner Gefährtin in typischem Alphatiermanier. Bevor er den Mann vorsichtig wie ein Kind hoch hob, obwohl es ungleich seltsamer aussah. Aber Nataniel war stark genug, um mit dem Gewicht von Seth fertig zu werden. Sie hatten ohnehin nicht die Zeit dafür, über den seltsamen Anblick nachzudenken, den er als nackter Mann abgab. Es war absolut egal. Hier ging es um Leben und Tod.
 

Die Zeit schien sich zu ziehen wie erkaltendes Karamell, während Seths Blut unaufhaltsam zwischen ihren Fingern hindurch rann. Sogar seine Lippen waren inzwischen so blass, dass Amanda vor Angst beinahe den Verstand verlor.

Sie redete pausenlos auf ihn ein, stellte ihm Fragen und versuchte ihn auf alle erdenklichen Arten wach zu halten. Er hielt sich wirklich tapfer, aber lange würde er das nicht mehr durchhalten. Sein Körper zitterte bereits vor Kälte und Überlastung, obwohl es im Licht der starken Scheinwerfer so heiß war wie in einem Solarium.

In ihrem Kopf wiederholte Amanda nur immer die gleichen Worte. „Bitte, jemand muss uns helfen. Bitte. Bitte...“

Als sie ihren Namen hörte, hielt sie es für bloße Einbildung. Außerdem wollte sie den Blick nicht von Seth wenden, aus Angst, er könnte ihr genau in diesem Moment unter den Fingern wegsterben. Gerade jetzt entrang sich ihm ein leises Stöhnen, als ein Schatten auf sie beide fiel.

Erst als er neben ihr kniete und etwas von Krankenhaus sagte, erkannte Amanda Nataniel überhaupt. Sein Anblick, das ebenfalls Blut überströmte Gesicht und seine doch so beschützende Ausstrahlung, ließen Amanda noch mehr verzweifeln.

Nur mit einem lauten Schluchzen reagierte sie auf ihren Gefährten und wagte nicht zu widersprechen oder sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Sie war so froh, dass Nataniel hier war und die Sache offensichtlich in die Hand nehmen wollte.

Schließlich musste sie eine Hand von Seths Wunde nehmen, um ihre blutigen Finger um den Griff des Revolvers zu schließen.

Das Metall der Waffe, die Seth diese Verletzung zugefügt hatte, war fast schmerzend kalt und lag schwer in Amandas Hand. Ekel überkam sie bei der Vorstellung, dass dieses Ding noch mehr Menschen verletzten konnte. Dass sie selbst jemanden damit töten könnte.

Deshalb steckte sie den Revolver nur zu gern hinten in ihren Hosenbund, als Nataniel ihr befahl, weiter Seths Wunde zuzudrücken.

Als er hochgehoben wurde, stöhnte Seth laut auf. Amanda verfiel in Panik, er könnte das Bewusstsein verlieren. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie zwischen dem Verletzten und Nataniel hin und her, der bereits die ersten Schritte tat, um den Raum endlich zu verlassen.

Sie schafften es ohne Zwischenfall ins Erdgeschoss. Bei den Büros der Gründer hatte sich bei dem Trubel auf den anderen Stockwerken keine Wache aufgehalten und Dank Amandas Kenntnis des Gebäudes, hatten sie einen der Fahrstühle nehmen können. Das sparte Nataniel etwas Kraft und Seth wurde weniger bewegt. Endlich schien auch die Blutung nachzulassen. Auch wenn Amanda sich nicht sicher war, ob sie das positiv werten konnte. Vielleicht war bloß kein Blut mehr übrig, das er verlieren konnte.

„Seth!“

Sie beschmierte seine Wange, als sie sein Gesicht leicht anhob und ihn in die blasse Haut zwickte.

„Nicht einschlafen! Wir sind gleich da. Gleich kümmert sich jemand um dich. Bleib wach!“

Amanda erkannte ihre eigene schrille Stimme nicht wieder, aber das war jetzt alles völlig egal. Sie mussten ihn hier raus bringen. Nach vorn, zu den Krankenwagen. Und das, ohne der Polizei mitten in die Arme zu laufen. Und da war auch noch ein anderes Problem.

„So werden sie uns nie helfen, ohne Fragen zu stellen.“

Das hätte Amanda selbst nicht getan. Wenn eine Frau, besudelt mit Blut und ein nackter Mann einen Schwerverletzten zum Krankenwagen gebracht hätten.

„Nataniel, was sollen wir machen? Ich kann ihn nicht tragen, aber wenn sie uns nicht sofort helfen...“

Sie waren fast da. Hinter der schmalen Glastür des Nebeneingangs konnte Amanda sogar Blaulicht leuchten sehen. Sie waren so nah und doch fühlte sie sich doch so weit entfernt.

Selbst wenn sie es schaffte Seth bis zum Ausgang zu bringen, würde seine Wunde dabei bestimmt wieder anfangen zu bluten. Womöglich brachte sie ihn mit der Aktion am Ende noch um.

Noch dazu war Nataniel ebenfalls verletzt. Seine Nase schien gebrochen zu sein und selbst wenn er einigermaßen fit aussah, hieß das nicht, dass er keine anderen Wunden davon getragen hatte. Amanda wusste beim besten Willen nicht, was sie tun sollte. Einfach einen der Krankenwagen zu kapern war keine gute Idee. Immerhin brauchten sie die Hilfe der Sanitäter und eines Notarztes.

„Scheiße!“

Mit einem Krachen landete die Tür an die Hauswand, als Amanda sie aufstieß. „Komm.“

Sie würde die beiden in ein Krankenhaus bringen. Was immer es kostete. Selbst wenn sie einen der Sanitäter mit einer Knarre bedrohen musste.

Aber so weit kam es nicht. Die Leute waren dazu ausgebildet zu helfen. Egal wie die seltsame Dreiergruppe aussah, die da aus dem Gebäude kam. Dass der blonde Mann gegen den Tod kämpfte, war nicht zu übersehen. Wenn man ihm nicht auf der Stelle half, würde er es nicht schaffen.

Doch selbst als Seth auf einer Trage lag, man sich um ihn kümmerte und Nataniel in eine Decke gehüllt wurde, ließ das panische Reißen in Amandas Innerem nicht nach. Nach Nataniel war sie dabei in den hinteren Teil des Wagens zu klettern, als man sie ebenfalls fragte, ob sie verletzt sei.

Amanda sah dem jungen Notarzt nur völlig unverständig ins Gesicht.

„Nein, ich... er...“

Selbst wenn sie gewollte hätte, wäre es Amanda nicht möglich gewesen, über den Strom der Tränen hinweg etwas zu sagen. Aber der Mann hatte verstanden und ließ sie neben Nataniel in dem engen Wagen Platz nehmen, während sich sein Kollege um Seth kümmerte.

Die ganze Fahrt über und sogar bis sie in der Notaufnahme gezwungen wurde loszulassen, hielt sie Seths Hand. Er durfte einfach nicht sterben.

„Kommen Sie, während man sich um ihren Freund kümmert, sehen wir uns mal Sie beide an.“

Die Schwester mit der fast unnatürlich weißen Uniform war nett, aber bestimmt. Genau das, was Amanda im Moment als Einziges bewegen konnte. Mal von der Tatsache abgesehen, dass jemand Nataniel helfen musste.

Um ihn machte sie sich ebenfalls Sorgen, auch wenn sie unter der Last von Seths Zustand beinahe verschüttet worden waren. Jetzt brachen sie umso stärker hervor und Amanda krallte sich an seinem Arm fest.

Prüfend und ängstlich glitt ihr Blick über seinen Körper. Da war wieder so viel Blut.

Amanda konnte nicht mit Sicherheit sagen, wie viel sein Eigenes war. Aber das war egal. Sie war einfach völlig fertig und als man sie neben eine Liege auf einen Plastikstuhl setzte, von dem aus sie bei Nataniels Versorgung zusehen konnte, blieb sie einfach reglos sitzen.

Was war nur passiert?

Derek war tot. Seth war schwer verletzt. Die Codes waren eingegeben. Die Moonleague sah ihren Untergang.

Und Amanda kam sich klein und nichtig vor, wie sie dort auf dem Plastikstuhl saß, ihre blutverschmierten Hände ineinander verschränkt und am ganzen Körper zitternd.
 

Da das Alphatier in ihm vollkommen die Situation erfasst hatte, war es auch der einzige Teil in ihm, der im Augenblick die Kontrolle in der Hand hielt.

Hätte Nataniel auch nur einen Moment lang zugelassen, seine Emotionen mit einzubringen, wäre die ganze Rettungsaktion von Seth missglückt. Denn egal wie schwer der Mann verletzt war und vermutlich auch sterben würde, es wäre Amanda gewesen, um die er sich vorwiegend gekümmert hätte, nach dem er erkannt hätte, dass sie nahe eines Nervenzusammenbruchs stand. So aber war er durch und durch der Anführer auf den man sich in solchen Situationen verlassen konnte.

Vorsichtig und doch so schnell wie möglich trug er den Verletzten mit Amanda im Schlepptau die weite Strecke vom Büro zu den Fahrstühlen, durch unzählige Korridore, bis sie es endlich zu einem Nebeneingang schafften. Das immer wieder aufflammende Blaulicht, das den Nebel in der Lobby erleuchtete, war ein deutliches Zeichen für die Anwesenheit der Polizei und Rettung. Was einerseits gut und einerseits absolut schlecht war. Amanda hatte es richtig erfasst. Es würden verdammt viele Fragen aufkommen, wenn sie so bei einem Krankenwagen erschienen. Aber Nataniel würde in diesem Moment noch so viele Befragungen über sich ergehen lassen, wenn er dafür endlich Seth in fachkundige Händen wusste.

Das schien auch Amanda so zu sehen, denn sie bahnte ihnen einen Weg ins Freie. Da auch hier draußen noch einigermaßen für Rauch gesorgt war, kamen sie relativ unbehelligt von der Polizei zu einem Krankenwagen. Immerhin richtete diese ihre Hauptaufmerksamkeit auf die völlig zerstörte Eingangshalle.

Nataniel konnte nicht sagen, was genau in den Rettungsleuten vorging, als sie ihre kleine Gruppe so sahen, aber offensichtlich sahen sie ganz und gar nicht bedrohlich aus. Viel mehr absolut hilfsbedürftig. Wenn jemand vollkommen nackt und blutüberströmt war, weckte das auf jeden Falls so etwas wie Mitgefühl, vor allem mit einem schwer Verletzten in den Armen und einer sich in Tränen auflösenden Frau daneben.

Erst als Nataniel Seth auf eine Trage legte, wurde ihm klar, wie verkrampft seine Arme von der Last bereits gewesen waren. Doch erst jetzt spürte er das Brennen und Zittern der Überanstrengung. Dennoch, er hätte ihn auch noch länger getragen, ohne ihn loszulassen.

Jemand warf ihm eine große Baumwolldecke um, ehe er als letztes zusammen mit Amanda in den beengenden Wagen stieg.

Während der Fahrt über, machte er sich so klein wie möglich, während er dabei zu sah, wie sich die Sanitäter um die Erstversorgung von Seth kümmerten und Amanda unentwegt die Hand des Blonden fest hielt.

Nataniel machte es nichts aus, dass sie im Augenblick ihre ganze Konzentration auf den Schattengänger gerichtet hatte. Was auch immer in diesem Raum vor sich gegangen war, es hätte sie treffen können. Und nach allem was Nataniel über Seth wusste, würde er ihm sogar durchaus zutrauen, dass dieser die Kugel, die eigentlich seiner Gefährtin gegolten hätte, selbst abgefangen hatte. Er selbst würde nicht anders handeln. Darum war er dem Blonden unglaublich dankbar und hoffte wirklich inständig, dieser würde seine Heldentat überleben.

Als seine Gefährtin schließlich doch gezwungen war, Seth los zu lassen, legte Nataniel ihr seine Hand zwischen die Schulterblätter, um sie sanft aber energisch mit zu nehmen, während man sie in einen anderen Behandlungsraum brachten.

Amanda war vollkommen außer sich, das war nicht zu übersehen. Sie brauchte jetzt unbedingt jemanden, der sich um sie kümmerte. In diesem Zustand würde sie keinesfalls alleine klar kommen und das hätte Nataniel auch gar nicht zugelassen.

Nur widerwillig nahm er es daher hin, dass er auf einer Liege verfrachtet wurde, auf der er stur sitzen blieb, um Amanda immer im Blick zu haben. Die energische Schwester befreite ihn grob von dem ganzen Blut, das hauptsächlich nicht sein eigenes war. Das musste auch der Frau klar sein, doch sie sagte nichts dazu. Vermutlich glaubte sie, es wäre das von Seth.

„Kann ich Sie einen Moment alleine lassen, um Dr. Malcom zu holen, der sich um Ihre Wunden kümmert?“, fragte die Schwester Nataniel schließlich und sah ihm dabei eindringlich in die Augen, als würde sie nach irgendwelchen Anzeichen von Schock oder so etwas in der Art suchen. Weshalb er sich auch dazu zwang, einen Moment lang seinen Blick nur auf die Frau zu richten, um ihr ruhig seine geistige Gesundheit mitzuteilen.

„Ja, das können Sie. Aber beeilen Sie sich bitte.“, antwortete er schließlich.

Die Eile war nicht so sehr wegen ihm nötig, sondern wegen Amanda. Langsam begann die Sorge um sie ihn wie ein Hammerschlag nieder zu ringen. Doch noch war sein Gesichtsausdruck ruhig und der Situation angepasst gefasst genug, um glaubwürdig zu sein.

Die Schwester nickte schließlich und eilte aus dem Raum. Kaum, dass die Tür hinter ihr zugefallen war, glitt Nataniel von der Liege und kniete sich vor Amanda und dem Plastikstuhl auf den kühlen Linoleumboden.

„Amanda, sieh mich an.“, befahl er sanft, aber bestimmt, während er sich ein paar Tupfer schnappte und damit begann, ihr gründlich die blutigen Finger zu reinigen.

„Man kümmert sich um Seth. Also bitte versuche, dich etwas zu beruhigen. Das Schlimmste ist vorbei.“

Hoffte er zumindest. Denn so viel Stress konnte unmöglich gut für das Baby sein, erst recht, da es noch so klein war.

Die schmutzigen Tupfer warf er einfach in den Müll, ohne kaum eine Sekunde hin zu sehen, ehe sein Blick auch schon wieder auf dem Gesicht von Amanda lag. Noch immer strömten ihr Tränen über die Wangen, ohne dass sie sie vermutlich überhaupt zur Kenntnis nahm.

Nataniel nahm einen Zipfel seiner Decke und wischte ihr damit das Gesicht ab, ehe er sich aufrichtete und sie eng in seine Arme zog.

Sein ganzer Körper tat dabei verdammt weh, weil man ihn grün und blau geprügelt hatte, aber das war ihm im Augenblick so egal. Sein Herz war es, das am meisten schmerzte.

„Es wird alles gut, Amanda.“, flüsterte er ihr sanft zu, während er ihr durch das zerzauste und teilweise blutverklebte Haar strich. Seine Worte könnten sich als Lüge herausstellen, doch manchmal musste man sie einfach sagen und hören.

Eine Weile hielt er sie so im Arm, wiegte sich sanft mit ihr im Rhythmus seiner streichelnden Hände und flüsterte ihr beruhigend zu, bis schließlich wieder die Schwester mit einem älteren Mann in einem Arztkittel auftauchte, der zwar einen genauso energischen Gesichtsausdruck wie die Schwester aufgesetzt hatte, aber dennoch freundlich drein blickte.

Nur ungern löste sich Nataniel wieder von Amanda, aber während er wieder auf der Liege platz nahm, kümmerte sich die Schwester um sie. Sah sich die ein oder andere Blessur an und übernahm nun sehr sanft und freundlich alle weiteren Beruhigungsversuche.

Was auch gut so war, in der nächsten Stunde musste sich Nataniel auf sich selbst konzentrieren. Zuerst richtete der Arzt ihm seinen gebrochenen Nasenknochen wieder ein, was auch höchste Zeit wurde. Er wäre sonst vermutlich falsch zusammen gewachsen, so schnell wie Nataniel heilte.

Danach sah der Arzt sich seinen schwer ramponierten Kiefer an. Seine Lippe war erneut aufgeplatzt, als der Schlag mit dem Knüppel ihn getroffen hatte und erst jetzt war Nataniel aufgefallen, dass ihm zwei oder drei Backenzähne fehlten. Diese Wichser hatten wirklich Glück, dass sie bei ihm wieder nachwachsen würden. Sonst wäre das eine teure Zahn-OP geworden.

Nach seinem Gesicht folgten noch unzählige Torturen durch Abtasten seines ganzen Körpers. Ab und zu schien sich der Arzt ernsthaft darüber zu wundern, wie Nataniels Innenleben so unbeschadet die Verletzungen hatte überstehen können, die man ihm äußerlich wohl zugefügt hatte.

„Ich frage lieber nicht, woher sie die ganzen Streifschussverletzungen haben.“, meinte der Mann schließlich kopfschüttelnd und nahm Nataniel das Fieberthermometer aus dem Mund, um es sich anzusehen.

Der Arzt erstarrte offensichtlich, warf Nataniel dann jedoch einen Blick zu, der alles andere als überrascht war.

„Schwester Beatrix? Können Sie sich bitte nach dem Zustand des Notfallpatienten erkundigen, der mit der Schussverletzung?“

Die Schwester nickte und verließ den Raum. Der Arzt wartete noch ein paar Sekunden ab, nachdem die Tür zugegangen war, ehe er Nataniel das Fieberthermometer vor die Nase hielt. Es zeigte exakt 42,6° an.

„Eigentlich müssten Sie schon längst an Kreislaufversagen leiden bzw. tot sein.“ Da aber beides nicht in Nataniels Fall zutraf, schien der Arzt dementsprechend bescheid zu wissen. Weshalb er wohl auch die Stimme deutlich senkte.

„Hören Sie. Wenn Sie innerhalb der nächsten paar Minuten unauffällig das Krankenhaus verlassen, kann ich verhindern, dass die Polizei unangenehme Fragen stellt.“

Der Arzt kramte in seinem Kittel herum und überreichte Nataniel schließlich eine kleine Visitenkarte.

„Noch sind Sie nicht in irgendeiner Kartei aufgenommen worden und die bereits aufgeschriebenen Daten kann ich verschwinden lassen. Ich weiß was Sie sind und stehe auf ihrer Seite. Mein Schwager ist ebenfalls einer von Ihnen. Darum weiß ich, dass ich das Richtige tue.“

Er warf kurz einen Blick auf Amanda.

„Rufen Sie mich in sechs Stunden an, dann dürfte die OP Ihres Freundes vorbei sein. Ich werde Ihnen sagen können, wie es um seine Gesundheit steht und wie es weiter gehen soll. Aber bis dahin, halten Sie sich an meinen Rat und bleiben Sie dem Krankenhaus fern. Sonst kann ich Ihnen nicht helfen.“

Schwester Beatrix kam gerade mit einer Karteikarte und einer Plastiktüte herein.

„Unverändert, er ist soweit stabil, aber mehr können sie noch nicht sagen.“

Dr. Malcom löschte die Anzeige auf dem Fieberthermometer und nahm der Schwester die Plastiktüte ab.

„Hier, damit Sie nicht länger frieren müssen.“, meinte er mit einem wissenden Lächeln und zog für Nataniel ein paar Klamotten hervor, die ihm gerade mehr schlecht als recht passen müssten.

„Schwester Beatrix und ich kommen in ein paar Minuten wieder, wenn Sie sich angezogen haben.“

Als die Schwester einen konzentrierten Blick auf die Krankenakte in ihren Händen warf, zwinkerte Dr. Malcom Nataniel zu, worauf dieser dankend nickte. Mit einem Fingerzeig und einem kaum hörbaren: „Der Hinterausgang liegt links.“, verließen die beiden den Raum.

Nataniel sprang von der Liege, warf die Decke zu Boden und zog die gebrauchten Klamotten an, ehe er die Visitenkarte einsteckte und Amanda in den Arm nahm.

„Komm.“
 

Von Beruhigen konnte nicht die Rede sein, aber Amanda hatte trotzdem das Gefühl, dass sich der Sturm in ihrem Inneren legte. Es war still und ließ sie ohne Gedanken, Angst oder andere Empfindungen allein. Nur deshalb konnte sie die Fragen der Schwester beantworten. Ihr fehlte nichts. Keine Verletzungen, keine Übelkeit. Allerdings war der Schock nicht zu bestreiten. Amanda war kalt, obwohl ihr Schweiß auf der Stirn und den Handflächen stand. Sie konnte sich auf nichts konzentrieren und starrte einfach geradeaus auf das Namensschildchen an der Uniform der Schwester, ohne dass auch nur der Name darauf in ihr Gehirn drang. Es war nicht wichtig.

Als Amanda ein unangenehmes Knacken vernahm, stellte sich das als richtig heraus, was sie schon befürchtet hatte.

Ihr Blick schnellte zu Nataniel hinüber, der nur kurz die Augen zusammen gepresst und den Mund vor Schmerz verzogen hatte. Neue Sorge traf sie wie ein Schlag in die Magengegend, als der Arzt die Untersuchung fortsetzte und irgendetwas von Streifschüssen erwähnte. Auf Nataniel war geschossen worden?

Die Schwester hielt Amanda mit Händen wie Schraubstöcke auf dem Stuhl fest und sah ihr mit solcher Befehlskraft in die Augen, dass sie gar nicht auf die Idee kam, noch einmal zu versuchen aufzustehen.

„Er ist in guten Händen. Wenn Sie sich allerdings jetzt überanstrengen in Ihrem Schockzustand, muss der Doktor sich mit Ihnen beschäftigen und nicht mit ihrem Freund. Verstanden?“

Amanda nickte und saß still. Sie hatte sehr gut verstanden. Und im Innersten wusste sie auch, dass die Frau Recht hatte.

Hätte Amanda getan, was sie vorgehabt hatte, nämlich aufzuspringen und die paar Schritte zu der Liege, auf der Nataniel saß mit einem Sprung zu überwinden, dann wäre ihr vermutlich schwarz vor Augen geworden.

Nein, sie musste sich zusammen reißen und endlich ruhiger werden. Sie waren im Krankenhaus. Nataniel und auch Seth wurden von Ärzten versorgt. So weit war alles gut. Trotzdem konnte Amanda ihren Puls beim Gedanken an Seth und sein bleiches Gesicht, sein gequältes Stöhnen und das viele Blut nicht hinunter kämpfen.

Auch wenn sie dachte, dass es nicht möglich war, schien ihr Herz noch schneller und unangenehmer zu klopfen, als Dr. Malcom Nataniels Natur erkannte.

Sie sollten aus dem Krankenhaus verschwinden. Sonst würden sie auffliegen und am Ende verhaftet werden.

Diesmal hielt es Amanda doch nicht auf dem Stuhl, auch wenn sie ihren sich überschlagenden Gedanken keinen Ausdruck verleihen konnte. Sie mussten weg? Was war mit Seth? Sechs Stunden? Bis dahin konnte er tot sein! Amanda wollte ihn keinesfalls allein hier in diesem Krankenhaus sterben lassen.

Deshalb musste Nataniel sie auch mehr oder weniger gewaltsam aus dem Untersuchungsraum und den Hinterausgang schieben. Sie wehrte sich nicht, weil ihr durchaus klar war, dass sie keine wirkliche Wahl hatte. Aber ihr war alles Andere als wohl dabei. Wohin wollten sie denn eigentlich?

Nataniel schubste sie in ein Taxi und gab dem Fahrer die Adresse des Hotels, in dem sie übernachtet hatten. Der Mann sah sie beide etwas skeptisch an, was Amanda nur allzu gut nachvollziehen konnte. Sie standen beide immer noch vor getrocknetem Blut, sahen aus, als hätten sie ewig nicht geschlafen und Amanda war trotz dem sie sich äußerlich etwas beruhigt hatte, immer noch völlig aufgelöst.

Ohne zu wissen, wie sie dort hingekommen war, stand sie schließlich in ihrem Hotelzimmer.

Alles sah noch so aus, wie an diesem Morgen, als sie es verlassen hatten. Es war dunkel und dabei beließ sie es auch, während sie ins Bad unterwegs war. Dort stellte sie die Dusche an und sah dem Wasserschwall eine Minute lang zu, wie er auf die dunklen Fließen klatschte und dann im Abfluss verschwand.

Tränen brachen wieder aus ihr heraus, als sie Nataniel hinter sich an der Badtür hörte. Um ihm ihre Zerbrechlichkeit nicht noch mehr zu zeigen, trat sie einfach in die Glaskabine und stellte sich mitsamt Klamotten unter den heißen Wasserstrahl. Mit gesenktem Kopf sah sie zu, wie ihre Haare sich im Wasser dunkel färbten und es leicht rötlich aus den Strähnen auf den Boden lief.

Vieles davon war Seths Blut.
 

Nataniel konnte inzwischen mit Vielem umgehen, aber wenn es um Amanda ging, fühlte er sich wie ein hilfloser Anfänger. Er selbst war total aufgewühlt, fragte sich nach dem ganzen Desaster noch nicht einmal, ob ihre Mission gelungen oder ob alles um sonst gewesen war. In diesem Augenblick erschien das auch absolut nicht wichtig.

Kaum dass sie im Hotelzimmer angekommen waren, schrieb Nataniel eine SMS an Dr. Malcom und dass er ihnen Bescheid geben sollte, wenn sich an Seths Zustand schon jetzt etwas ändern sollte.

Gerade wollte er das Handy weglegen, da bekam er auch schon eine Antwort. Der Zustand des Schattengängers war zwar kritisch, aber im Augenblick stabil. Mehr konnte man erst nach Beendigung der OP sagen.

Absolut nicht im Geringsten beruhigt, ging Nataniel zum Badezimmer hinüber, wo das einzige Licht in ihrem Hotelzimmer brannte. Amanda stand regungslos vor der laufenden Dusche.

Gerade als er etwas sagen wollte, stieg sie samt Klamotten unter den Wasserstrahl. Sie war vollkommen neben der Spur, was Nataniels Magen gewaltig durch die Mangel drehte. Ihm wurde fast schlecht vor Sorge.

Schweigend, da er ohnehin nicht die richtigen Worte gefunden hätte, trat er ein, zog sich die fremden Klamotten aus und stieg zu Amanda in die Duschkabine.

Ohne zu fragen, begann er ihr wie ein kleines Kind die Sachen auszuziehen und ließ diese einfach in einer Ecke der Dusche auf den Boden klatschen. Sie waren sowieso vollkommen ruiniert.

Danach schnappte er sich die Shampooflasche, gab sich eine großzügige Portion auf die Hand und begann seiner Gefährtin gründlich die Haare zu waschen.

Mit dem Rest ihres Körpers verfuhr er nicht anders, bis sie schließlich beide so sauber waren, dass das Wasser zu ihren Füßen klar blieb.

Mit einer rationellen Bewegung drehte er das Wasser schließlich ab, stieg aus der Kabine und schnappte sich ein großes Badetuch in das er Amanda einhüllte, nachdem er sie aus der Dusche gezogen hatte.

Er rieb ihren Körper trocken, verknotete das Badetuch so um ihren Körper, wie sie es normalerweise tat und nahm noch ein Handtuch für ihre Haare. Sich selbst trocknete Nataniel nur grob ab, band sich dann ein Handtuch um die Hüften, ehe er sich Amandas Bürste schnappte und mit ihr zusammen ins Schlafzimmer zurück ging, wo er sie mit sanfter Gewalt auf dem Bett zum Sitzen brachte.

Nataniel kniete sich so hinter sie auf die Matratze, dass seine Oberschenkel ihre Hüften sicher umschmiegten. Danach rubbelte er mit dem Handtuch noch einmal über ihre Haare, ehe er es auf den Boden warf und damit begann eine Strähne nach der anderen glatt zu bürsten, während er jeden einzelnen Knoten vorsichtig löste.

Selbst als er ohne Probleme mit einem Strich durch ihr Haar kam, hörte er nicht damit auf. Es gab einfach nicht mehr viel, was er sonst noch hätte tun können. Immerhin entging ihm das Zittern ihres Körpers keinesfalls und soweit er wusste, versuchte sie immer noch, die Tränen in den Griff zu bekommen. Stumm ertrug sie einfach ihr Leid, ohne es mit ihm teilen zu wollen. Selbst jetzt noch, wollte sie sich vor ihm nicht ihren Gefühlen hingeben. Eine Tatsache, die ihm die Kehle zuschnürte und ihn zugleich ganz schön verletzte. Immerhin konnte sie ihm, egal was auch passierte, vertrauen.

Schließlich gab er es auf, ihr Haar zu bürsten, bis es trocken war, sondern legte die Bürste stattdessen zur Seite.

Nataniels Arme schlossen sich von hinten um Amandas Körper und zogen sie auf seinen Schoß. Er hielt sie fest an seiner Brust, während er ihr leise zuflüsterte: „Es ist gut, Amanda. Lass es einfach raus. Bitte, friss es nicht noch mehr in dich hinein. Bitte, tu mir das nicht an.“

Seine Stimme zitterte ebenso sehr, wie ihr Körper an seinem, doch das Einzige woran er zerbrechen könnte, wäre Amandas Leid. So schrecklich Seths Zustand auch war, es kümmerte ihn weit nicht so sehr, wie der seiner Gefährtin.

57. Kapitel

„Es ist nicht so einfach.“

Der erste Satz, den sie seit dem Verlassen der Moonleague gesprochen hatte und er erklärte einfach überhaupt nichts. Außer, dass Amanda nicht ausdrücken konnte, was sie in diesen Momenten fühlte.

Das war doch genau das Problem. Wie gern hätte sie sich Nataniel anvertraut, sich in seinen Armen ausgeheult und Schutz gesucht. Aber sie wusste noch nicht einmal, wo sie anfangen sollte, ihm zu erklären, was passiert war.

„Derek ist aufgetaucht. Ich hab nicht mit ihm gerechnet. Es war dumm... Immerhin ist es sein Büro und... Aber ich hätte nicht gedacht...“

Sie zog Nataniels Arme fester um ihren Körper und war bloß dankbar, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Ihr schossen noch jetzt die gleichen entsetzlichen Gefühle durch den Körper wie zu dem Zeitpunkt, als sie Erics Stimme in ihrem Ohr gehört hatte.

„Er hat es nicht verstanden, Nataniel.“

Ihr Körper wurde von seinem Zittern geschüttelt, das die Kälte, die Amanda empfand, nicht ansatzweise ausdrücken konnte.

„Derek, der Mann der Eric und mich als seine eigenen Kinder aufgenommen hat... Er hält euch wirklich für Tiere. Wesen, die man fürchten muss. Und die man...“

Ihre Stimme brach ab und sie musste sich über die wieder tränennassen Augen wischen.

„Die man einfach abschießen kann, wenn sie einem im Weg sind.“

Vor einer Stunde hatte sie noch brennende Wut darüber empfunden. Jetzt war es reine Verzweiflung.

„Wie habe ich das nicht sehen können? Mein Leben habe ich damit verbracht, zu tun, was sie von mir verlangt haben. Ohne nachzufragen! Und jetzt hat Eric seinen Ziehvater erschossen und Seth liegt im Krankenhaus, weil... Verdammt noch mal, eigentlich hat er auf mich geschossen!“

Obwohl Nataniels Arme sie festhielten, zog Amanda die Knie an und rollte sich zusammen. Die Hände vor das Gesicht gepresst, ließ sie sich von den Emotionen mitreißen.

Seth durfte einfach nicht sterben. Nicht, weil er sie gerettet hatte.

„Ich hab ... gar nichts getan. … Er hat ... die Codes eingegeben. Ich wollte... Ich war so...“ Wütend. Verletzt. Und verzweifelt. Genau das Gleiche, das sie jetzt empfand. Und wieder konnte sie nichts tun. Amanda wollte nur, dass es Seth gut ging. Und dass er ihr vergeben würde.
 

Wenigstens sprach sie wieder mit ihm. Wenn auch nicht gerade in verständlichen Zusammenhängen, so versuchte sie doch zumindest auszudrücken, was sie fühlte und das war auf jeden Fall besser zu ertragen, als lediglich zu spüren, dass etwas in ihr vor ging, ohne dagegen vorgehen zu können.

So aber zog Nataniel sie noch enger in seine Arme und strich ihr sanft über den Rücken, während sie immer stärker zitterte.

„Was passiert ist, kannst weder du noch ich ändern. Genauso wenig können wir in einen Menschen hineinsehen, um ihn vollkommen zu begreifen. Kann schon sein, dass dieser Derek euch gut behandelt hat und von meiner Art etwas ganz anderes dachte, aber das war seine Denkweise, nicht deine.“

Er seufzte leise.

„Manchmal sind wir doch alle blind, wenn es darum geht, uns selbst zu schützen. Ich hätte vor dir auch nie gedacht, dass nicht jeder in der Moonleague böse und verachtenswert ist und was Seth angeht, so habt ihr beide unter Einsatz eures Lebens viele unschuldige Geschöpfe gerettet, die der Organisation vielleicht noch zum Opfer gefallen wären. Noch ist nicht entschieden, dass Seth sterben wird, darum können wir ohnehin nichts weiter tun, als an ihn zu denken und auf seine Genesung zu hoffen.“

Belanglose Worte. Er wusste es. Aber die Tatsache, dass es endlich vorbei war, konnte er bisher ebenso wenig verarbeiten, wie er Amanda trösten konnte. Es blieb ihnen wirklich nichts anderes über, als zu warten.

„Was ist eigentlich mit Eric? Hattest du seither Kontakt mit ihm?“

Soweit Nataniel wusste, war ihr Bruder nicht in dem Gebäude gewesen und hatte sich bestimmt in Sicherheit bringen können. Weshalb er sich um den Scharfschützen weniger Sorgen machte. Aber vielleicht lenkte der Gedanke an ihren Bruder, seine Gefährtin etwas ab. Immerhin wussten sie beide nicht, ob die Trauer nun wirklich angebracht war oder lediglich unnötige Energie kostete, da sich am Ende doch noch alles zum Guten wenden könnte. Obwohl mitfühlende Gedanken und Gefühle nie verkehrt waren.
 

Weiterhin, aber inzwischen still, weinte sie an seiner Schulter und versuchte endlich, sich zu beruhigen. Nataniel hatte Recht. Sie konnten nichts tun, außer warten.

Und zu trauern, bevor sie Genaues wussten, war vielleicht sogar ein schlechtes Omen. Außerdem brachte es nichts, wenn sie hier in Selbstmitleid zerfloss.

Noch einmal wischte sie sich mit der Hand übers Gesicht und sah dann in Nataniels blaue Augen. Wie sanft wiegendes Meerwasser, würden sie wahrscheinlich immer eine beruhigende Wirkung auf Amanda haben, wenn sie es dringend brauchte.

Sie war fast ein wenig stolz, dass ihre Stimme schon fester klang, als sie auf seine Frage antwortete.

„Nein, ich habe nichts von ihm gehört...“

Ihr Blick schnellte kurz in Richtung offene Badezimmertür, woraufhin sie seufzte. „Und so, wie ich das einschätze, wird das auch nicht so einfach sein, da ich das Handy in der Hosentasche hatte.“

Das Telefon war, so zu sagen, Baden gegangen, genauso wie der Revolver. Wahrscheinlich hatte es das nicht ausgehalten. Aber um Eric machte sich Amanda trotzdem weniger Sorgen.

„Er stand die ganze Zeit nicht nur mit mir, sondern auch mit Clea in Kontakt. Wäre etwas passiert, hätte sie uns längst über sämtliche Leitungen, die zur Verfügung stehen, informiert.“

Wie zum Beweis schepperte in diesem Moment irgendwo Nataniels Handy.

Amanda riss sich wie von der Tarantel gestochen los und krallte sich das schwarze Telefon. Sie sah gar nicht auf das Display, sondern drückte nur mit hektisch zitternden Fingern auf den grünen Knopf.

„Hallo?“

Ob sie nun das Handtuch an ihren Körper drückte oder versuchte sich selbst daran festzuhalten, machte gerade keinen Unterschied. Die Worte, die sie zu hören bekam, drohten ihr ohnehin den Boden unter den Füßen zu entziehen.

Sie nickte, bedachte dann, dass der Anrufer sie nicht sehen konnte und antwortete mit Ja oder Nein auf die Fragen, die ihr gestellt wurden.

„Ja, ist gut. Danke.“

Sie legte auf und sah Nataniel an, der dicht neben ihr stand. Anscheinend war er gleich nach ihr aufgesprungen und wirkte sogar so, als wäre er darauf gefasst, sie aufzufangen, falls sie straucheln sollte. Aber ihr war überhaupt nicht danach, sich ihrer Schwäche hinzugeben. Ganz im Gegenteil.

„Das war Eric. Ihm geht’s gut. Und er ist im Krankenhaus.“

Niemand würde ihn dort verdächtigen. Er war völlig unverletzt geblieben und stellte sich am Empfang lediglich als Freund des verletzten Seth vor, der bei ihm sein wollte, wenn er aufwachte. So hatte Amanda doch noch jemanden vor Ort, dem sie mehr traute, als allen Ärzten und Schwestern zusammen. Eric würde keine Sekunde zögern, sie zu informieren, falls es Neuigkeiten gab. Egal welcher Art sie auch immer sein mochten.
 

***
 

„Du siehst grässlich aus.“

Seine Stimme war kratzig und kaum zu verstehen. Zwischen den ganzen piepsenden Geräten, hätte man sie glatt überhören können. Aber Amanda hatte schon seit einer Stunde neben dem Bett gesessen und ihren Blick nicht von seinem Gesicht genommen. Jeder Muskel, der nur eine Winzigkeit gezuckt hatte, ließ Hoffnung in ihr aufkeimen. Die Ärzte hatten gesagt, dass er es gut überstanden hatte. Man müsse jetzt nur noch Geduld mit ihm haben.

Was Amanda im Moment hatte, war allerdings keine Geduld. Sie platzte fast vor Freude über dieses miese Kompliment.

„Gleichfalls.“

Sie drückte Seths Hand und strahlte wie ein Honigkuchenpferd, als sie spürte, wie sich seine noch immer kühlen Finger ebenfalls um ihre schlossen.

„Du hättest ruhig früher aufwachen können. Ich hab mir Sorgen gemacht.“

Das Lächeln schien ihm schwer zu fallen. Mit den ganzen Beruhigungs- und Schmerzmitteln im Blut kein Wunder. Trotzdem sagte er noch etwas, bevor ihm die müden Augen wieder zufielen.

„Gern geschehen.“
 

***
 

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Amanda langsam über den Berg war, weil Eric ihnen schließlich doch noch eine als positiv zu wertende Nachricht über Seths Zustand überbracht hatte, konnte er sie verhältnismäßig leichter alleine ins Krankenhaus fahren lassen.

Seine Gefährtin sah lange nicht so ramponiert aus wie er und würde daher noch weniger auffallen. Außerdem hatte er schließlich selbst eine Weile für sich alleine gebraucht, um sich wieder richtig zu sammeln. Danach hatte er sich auf die Suche nach dem Sixpack gemacht.

Das erste Zimmer war das von Delilah gewesen. Doch noch bevor er klopfen konnte, hielten ihn eindeutige Geräusche darin davon ab. Mit einem Kopfschütteln suchte er das Zimmer der Zwillinge auf. Auch wenn er wusste, dass sie nicht da waren. Offenbar waren sie als Werwölfe wesentlich beeindruckender gewesen, als in ihrer menschlichen Erscheinung. Delilah hatte sich ihrer am Ende doch noch erbarmt. Weshalb sie nicht allzu schwer verletzt sein konnten.

Bruce und Khan fand er ebenfalls nicht an. Ihr Zimmer war leer und als er sich beim offensichtlich leicht beunruhigten Hotelmanager nach ihnen erkundigte, meinte er, sie hätten bereits vor ein paar Stunden ausgecheckt. Das gleiche galt für Ryon. Dieser hatte Nataniel jedoch eine Visitenkarte hinterlegt, auf der nichts weiter als eine Nummer stand, mit der Anmerkung: Für Notfälle

Hoffentlich würde dieser nie wieder in solchem Ausmaße eintreten.

In seinem leeren Zimmer angekommen, streckte er sich auf dem Bett aus und zog zum ersten Mal seit Tagen sein Handy hervor, um Palia anzurufen.

Er wollte wissen, wie es dem Rudel ging, damit er auch an dieser Front beruhigt sein konnte.

Kaum zu glauben, dass nun alles vorbei sein sollte. Nataniel war noch immer nicht gänzlich davon überzeugt. Das würde er wohl erst wieder sein, wenn er in seinem eigenen Bett, mit seiner geliebten Gefährtin in seinen eigenen vier Wänden schlief. Dann konnte er glauben, dass der Alptraum endlich ein Ende hatte.
 

***
 

Amanda entstieg dem Taxi und sah zum wiederholten Male beeindruckt die Fassade des Hotels hinauf.

Erst jetzt, da sie mit eigenen Augen gesehen hatte, dass es Seth gut ging, konnte sie über alles andere nachdenken. Es war unfassbar, aber sie hatten es geschafft. Jeder ihrer Schritte wurde beschwingter als der vorangegangene, bis Amanda fast auf den Fahrstuhl zurannte.

Sie hatten es geschafft!

Die Wandler waren in Sicherheit und die Organisation gekippt. Wie stark sie sich auch erholen mochten, sie würden Jahre brauchen, um derart viele Beweise dafür zu sammeln, dass so etwas wie Gestaltwandler, Werwölfe und andere Wesen unter den Menschen lebten. Und auch wenn es ein utopischer, romantischer Gedanke war, hielt Amanda es in diesem Moment, wo der gläserne Aufzug sie zu ihrem geliebten Gefährten brachte, nicht für unmöglich. Vielleicht würden sich die Zeiten ändern. Vielleicht hatten die Halbmenschen in ein paar Jahren, oder mochten es auch Jahrzehnte werden, keinen Grund mehr, sich vor der Entdeckung zu fürchten.

Leicht strich sich Amanda über den Bauch, bevor sie den Fahrstuhl verließ und in den Flur ihrer Etage trat.

Vielleicht würden noch mehr Menschen verstehen, dass sie durch Gestaltwandler nur an etwas Wertvollem gewinnen konnten.

Leise schloss sie die Tür auf. Nataniel lag auf dem Bett, das Handy auf dem Bauch und schlief tief und fest.

Eine Weile stand Amanda einfach nur da und betrachtete ihn. Inzwischen konnte sie sich kaum noch daran erinnern, was sie empfunden hatte, als sie sich das erste Mal begegnet waren.

Was war er damals für sie gewesen? Ein Feind, etwas das sie fürchten gelernt hatte...

„Und ein Vollidiot...“, sagte sie leise grinsend, bevor sie sich auf leisen Sohlen zum Bett bewegte.

Nataniel regte sich benommen, als sie sich zu ihm legte und die Arme um ihn schlang. Sie küsste ihn sanft auf die Lippen und wartete, bis er ihr kurz müde entgegen blinzelte.

„Ich liebe dich, mein Schmusekater.“
 

Verschlafen blickte Nataniel zu seiner Gefährtin hoch, die sich ohne sein Wissen zu ihm gelegt hatte. Die letzten Tage waren furchtbar anstrengend gewesen, weshalb sein Schlaf nun fester und tiefer war als bisher. Aber solange er so sanft geweckt wurde, würde er nichts dagegen haben. Weshalb er auch lächelte, während er Amanda enger an sich heran zog.

„Nicht immer, aber immer öfter.“, meinte er auf den Kosenamen hin. „Aber lieben werde ich dich immer.“

Er schnurrte leise, als er sein Gesicht in ihrem Haar vergrub und wieder die Augen schloss. Erst da fiel ihm das Handy auf, das zwischen ihren Körpern gerutscht war.

Er legte es bei Seite. Denn dem Rudel ging es gut. Alles war ruhig und Palia genoss offensichtlich bereits so eine Art Sonderstatus als Mädchen für alles. Jeder der etwas brauchte, kam vertrauensvoll zu ihr und da die single Pumalady ohnehin für ihre Art zu leben schien, ging sie voll und ganz in dieser Aufgabe auf.

Nataniel war ihr sehr dankbar dafür, dass sie ihm zwar immer noch die Führung überließ, ihm aber auch ordentlich unter die Arme griff. Geteilte Verantwortung war nun einmal leichter zu tragen.

Ohne sein bewusstes Zutun, hatte Nataniel damit begonnen, Amanda über den Bauch zu streicheln, während er sich an sie kuschelte.

„Wenn es Seth wieder besser geht, können wir dann nach Hause fahren?“, wollte er flüsternd wissen, als müsse er selbst jetzt noch eine schlechte Antwort fürchten. Dabei war es nun vorbei. Endgültig. Sie alle hatten alles gegeben, was sie konnten und gewonnen.

Etwas Frieden sollte ihnen daher vergönnt sein. Hoffentlich einer, der noch lange anhalten würde. Immerhin würden sie in ein paar Monaten alle Hände voll mit ihrem Nachwuchs zu tun haben. Außerdem wollte nun auch Nataniel unbedingt heiraten. Jeder Beweis ihrer Zusammengehörigkeit, den er bekommen konnte, wollte er nutzen. Denn der verblassende Knutschfleck war dafür nicht genug. Aber blieb auch sicherlich nicht der Letzte, wie er mit einem schelmischen Lächeln gedanklich feststellte. Amanda mochte zwar ein Mensch sein, aber er hatte bereits die Wildkatze in ihr erlebt. Diese zu reizen würde ihm unermessliches Vergnügen bereiten.

Epilog

„Kyle, würdest du mir mit den Tellern helfen?“

„Klaro!“

Mit einem Klappern, das Amanda bloß auf das Geräusch von Scherben warten ließ, rannte Nataniels Bruder mit dem Tellerstapel zum Tisch hinüber. Dort setzte er ihn allerdings fein säuberlich ab und legte an jedem Platz das Gedeck aus.

Amanda selbst trug ihm die gefalteten, bunten Servietten und ein paar Gläser hinterher und stellte sie ebenfalls auf der blütenweißen Tischdecke ab.

In der Mitte der Tafel prangte schon jetzt eine beinahe lächerlich große Schokotorte, daneben standen Schokoküsse, Gummibärchen und andere Leckereien, für die sich das Geburtstagskind aber wahrscheinlich hauptsächlich wegen des Knisterpapiers interessieren würde.

„Mein Gott, schon wieder was zu essen. Als hätte der ausgiebige Brunch nicht schon sämtliche Hosenknöpfe gesprengt.“

Was die Familie verdrücken konnte, brachte Amanda immer wieder zum Staunen. Da konnte sie selbst mit ihrem gewachsenen Appetit niemals mithalten.

Gerade wollte sie zur Küchentheke zurückgehen, als sie Motorengeräusche auf der Einfahrt hörte.

„Da sind sie ja.“, nahm ihr Mary das Wort aus dem Mund und machte sich auf den Weg zur Eingangstür.

Nataniel und sein Vater hatten Palia angeboten, sie aus der Stadt abzuholen. Der Pumadame hätte es zwar sicher nichts ausgemacht, bis zur Farm zu laufen, aber in diesem Schneegestöber hätte man sich selbst bei ihr Sorgen machen müssen, dass sie sich erkältete.

Wie in einem Weihnachtsfilm schwang die Tür nach innen auf und es stoben erst einmal eine Menge Schnee und Palia herein, bevor zwei ebenfalls verschneite, größere Gestalten folgten.

„Hallo! Na, seid ihr gut durchgekommen?“

Mary küsste Palia auf die Wange und sah sich dann die Bescherung an, die Steve und Nataniel mit ihren schweren Stiefeln und dem Schneematsch daran veranstaltet hatten.

„Ja, ging ganz gut. Immerhin ist Steve gefahren. Bei Nataniel hätten wir wahrscheinlich trotz Allrad laufen müssen... Hey!“

Palia hatte Amanda entdeckt und kam mit strahlendem Gesicht auf sie zugeeilt. Eine feste Umarmung folgte, bis die Pumalady sie von sich wegschob und den Bauch mit einem Zwinkern bedachte.

Dann legte sie ihren Arm um Amandas Schultern und flüsterte ihr, für alle gut hörbar ins Ohr.

„Schafft dein Gefährte es noch, dich zu umarmen? Immerhin hat er jetzt Konkurrenz.“

„Er legt sich ins Zeug.“, erwiderte Amanda grinsend, bevor sie von Palia noch näher heran gezogen wurde.

„Hast du's ihm schon gesagt?“

Mit einem Seitenblick auf ihren Mann schüttelte sie andeutungsweise den Kopf. „Nein. Ich weiß noch nicht mal, ob er's wissen will, bevor es da ist.“
 

Unter dem wachsamen Blick von Mary zogen Nataniel und sein Dad sich die schmutzigen Stiefel aus und stellten sie feinsäuberlich auf den dicken Putzlappen, der extra dafür hingelegt worden war, um unnötigen Dreck zu vermeiden. Danach schälten sie sich aus den Winterjacken, während sich die Frauen bereits überschwänglich begrüßten.

Die Stichelei von Palia über Nataniels Fahrkünste, steckte er locker weg. Immerhin hatte die Pumalady absolut recht damit. Besonders im Winter war er kein sehr guter Fahrer, aber dafür fiel er mit Fell absolut in der weißen Landschaft auf, wenn die Natur einmal wieder rief. Was aber inzwischen eher seltener vorkam, denn – wie sollte es auch anders sein – es zog ihn ständig zu seiner Gefährtin hin.

Weshalb Nataniel schließlich die beiden Frauen für einen Moment trennte, um sich mit Amanda in die Ecke unter der Treppe zu stehlen, wo er sie nicht nur ausgiebig umarmte, sondern ihr auch einen sehnsüchtigen Kuss schenkte. Es war gerade Mal eine Stunde her, dass sie sich getrennt hatten und trotzdem hatte er sie bereits wie wahnsinnig vermisst.

Sein Dad hatte ihm in einer ruhigen Stunde bereits darauf vorbereitet, dass nicht nur die Hormone der Mutter während einer Schwangerschaft schwanken würden, sondern auch er als werdender Vater ganz neue Seiten an sich entdecken würde.

Nachdem er seine Gefährtin ausgiebig begrüßt hatte, begab sich Nataniel auf die Knie und drückte sein Ohr gegen den angeschwollenen Bauch, während er mit einer Hand darüber streichelte.

„Dich hab ich natürlich auch vermisst.“

Er gab Amandas Bauch einen Kuss, ehe er sie kurz von unten her regelrecht anhimmelnd anlächelte.

„Hey, Nataniel. Die Party steigt im Wohnzimmer. Schon vergessen?“

Mit einem kleinen Welpenblick seufzte er und stand schließlich auf.

„Ist alles bereit?“, fragte er an seine Mom gewandt, die daraufhin nickte.

„Hol das Geburtstagskind und sorg dafür, dass sie möglichst ohne Pelz zu der Feier kommt.“

„Einmal Geburtstagskind alla Mensch, kommt sofort.“

Nataniel küsste noch einmal Amandas Lippen, ehe er die Treppe nach oben flitzte, um Lucy zu holen, die gerade mit ihrem Mittagsschlaf fertig sein müsste.
 

Es war kaum zu glauben, aber nachdem das Geburtstagslied gesungen, ein paar Geschenke ausgepackt und alle bei Tisch waren, fingen die Reihen der köstlichen Speisen in Windeseile an sich zu lichten.

Nataniels Dad hatte Lucy auf seinem Schoß, um ihr jeden Wunsch von den Augen ab zu lesen. Dass er dabei selbst nicht zu kurz kam, verdankte er Mary. Auch Nataniel sorgte inzwischen regelmäßig dafür, dass seine Frau nicht vom Fleisch fiel, was das Essen anging. Ihre Stühle klebten regelrecht aneinander fest, während er ihr immer wieder appetitliche und sorgfältig ausgewählte Köstlichkeiten zwischen die Lippen schob und dabei nur noch Augen für sie zu haben schien, obwohl er sich trotz allem an den ausgelassenen Tischgesprächen beteiligte.

Würde man diesen Tag mit dem ersten Abend vergleichen, an dem Amanda hier bei ihnen zu Tisch gesessen hatte, würde sich ein enormer Unterschied auftun. Dieser Tag war also auf alle Fälle eine Feier in vielerlei Hinsicht und stimmte ihn daher umso glücklicher, als er es ohnehin schon war.
 

Vor dem prasselnden Kaminfeuer war es angenehm warm, während draußen dicke Schneeflocken in der Dunkelheit verschwanden.

Inzwischen hatten sich die Anwesenden in kleinen Grüppchen überall im Haus verteilt, weshalb er hier alleine mit Amanda auf dem weichen Schaffell saß und sie in seinen Armen hielt, während seine Hände über ihren Bauch streichelten, um die Bewegungen des Kindes zu spüren. Sein Kopf lag neben ihrem, so dass ihre Wangen sich aneinander schmiegten.

„Ich kann es kaum erwarten, bis es bei uns beiden selbst so weit ist.“, gestand er Amanda leise raunend und schloss die Augen. Seine Hand suchte die ihre, bis sich ihre Finger umschlangen und die Eheringe sich berührten. Ja, jetzt war sie wahrhaftig für jeden ersichtlich seine Frau, Gefährtin, Geliebte, Liebe und Leben. Für immer.
 

-ENDE-
 

Danksagungen:
 

Wir möchten uns hiermit bei allen Lesern bedanken, die uns durch die Geschichte begleitet haben und denen wir hoffentlich ebenso viel Unterhaltung bieten konnten, wie wir sie beim Schreiben empfunden haben.

Unser besonderer Dank geht an mausi-caro, die mich persönlich mit ihren unterschützenden Kommentaren dazu angetrieben hat, immer weitere Kapitel online zu stellen, auch wenn ich mal keine Lust dazu hatte. Vielen lieben Dank an dich, denn ohne dich, hätte ich sonst noch Monate dafür gebraucht und würde jetzt nicht so darauf brennen, die nächste Geschichte online zu stellen. Danke :)
 

Hier nur eine Anmerkung zur nächsten Geschichte: Falls sich jemand gefragt hat, was es mit dem seltsamen Ryon vom Sixpack auf sich hat, nun, der kann es in unserer Geschichte Dark Circle herausfinden. Es war zwar damals nicht geplant, dass er eine eigene Geschichte bekommt, aber ich finde, es hat sich ausgezahlt.
 

Den weitere Verlauf von Delilahs Geschichte und den Zwillingen könnt ihr unter Delilah - Die Liebe einer Wölfin verfolgen. Ich habe diese Story im Alleingang zu schreiben begonnen und würde mich daher sehr freuen, wenn ihr mal vorbei schaut.
 

Vielen Dank noch einmal an alle für's Dabeisein. Es war uns eine Ehre.
 

manekiCarrie & Darklover



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Kommentare zu dieser Fanfic (13)
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Von:  Shizana
2014-10-20T16:48:14+00:00 20.10.2014 18:48
Ich melde mich auch mal wieder zurück.
Eigentlich habe ich bisher bis zum 13. Kapitel gelesen, aber weil dort schon Kommentare stehen und hier noch nicht, dachte ich, schummle ich ein wenig und verpasse der 12 eine Zahl. Ich gehe ohnehin nicht auf den Inhalt einzelner Kapitel ein, sondern fasse meinen bisherigen Lesestand zusammen.

Die Geschichte ist nach wie vor sehr packend. Seit dem letzten Mal, dass ich mich gemeldet hatte, ist viel im Handlungsverlauf passiert und ich hatte viele Überraschungsmomente. Amanda und Nataniel durchlaufen beiderseits eine sehr interessante Entwicklung. Sehr faszinierend finde ich hierbei, dass die beiden zwar so irgendwie zusammenarbeiten, und doch jeder weiterhin seinem eigenen Ziel folgt. Jeder von ihnen kommt diesem auch schleichend näher, muss sich Herausforderungen und neuen Informationen stellen, die das Ganze im Hintergrund allmählich ins Rollen bringen.
Was ich nach wie vor sehr eindrucksvoll finde, sind die ganzen Details. Immer und überall. Ich habe keine Möglichkeit, einen Favoriten unter dem Pärchen zu wählen, da sie gleichermaßen mit sehr viel Liebe gestaltet wurden. Und immer wieder überraschen sie mich mit diesen kleinen Wtf-Momenten, wenn sie mal wieder aneinandergeraten, was man durchaus nachvollziehen kann. Ich habe das Gefühl, dass sie allmählich Respekt zueinander aufbauen, von Vertrauen jedoch kann bei beiden noch keine Rede sein. Es wirkt noch ein wenig wie eine Zweckgemeinschaft, was seinen Reiz hat, denn umso mehr bin ich gespannt auf die kleinen Entwicklungsschritte, die sie noch gemeinsam gehen werden.
Ich bin auch ein großer Fan davon, dass sich in der Handlung nichts überstürzt. Langsam aber sicher merkt man, dass sich da etwas anbandelt – für die Raubkatze in Nataniel gesprochen ;) –, aber die Geschichte nimmt sich Zeit, was ich wirklich sehr, sehr gut finde. Ich liebe das sehr.

Was mir definitiv in Erinnerung geblieben ist bisher, ist einmal die Kampfszene zwischen Nataniel und dem Leoparden. Ich habe das Kapitel regelrecht verschlungen und lese es auch heute noch sehr gern. Ich kann meine Begeisterung schwer zum Ausdruck bringen, kann aber sagen, dass ich sowohl fasziniert als auch begeistert vom Ausgang war, den man doch anders erwartet hätte. Was Nataniel direkt eine ganze Ladung an neuen Sympathiepunkten eingebracht hat. Ich liebe ihn sehr und feuere ihn heftig an!
Auch für Amanda habe ich ein Lieblingskapitel. Das Sechste, wo sie unkontrolliert gewandert ist. Da steckte so viel … "viel" eben drin und war außerdem entscheidend für die beiden, indem Amanda unwillentlich eine Lücke geboten hat, an der Nataniel anschließen konnte. Wirklich sehr schön gemacht.

Ich bin jedenfalls immer noch der Überzeugung, dass sich diese Geschichte auch sehr gut als Roman machen würde. Ich stehe ganz hinter Shadows of the NewMoon und bin mir sicher, wäre es auf Roman ausgelegt – auch stilistisch –, würde ich es mir sofort kaufen. Es ist wirklich sehr schade, dass sich scheinbar so wenig Leute bisher hierhergefunden haben.


Wie dem auch sei. Auf jeden Fall werde ich mich weiterhin an der Version auf meinem eReader erfreuen und die nächsten Kapitel wie die bisherigen in vollen Zügen genießen. :)
Shizana
Von:  Shizana
2014-08-22T05:11:19+00:00 22.08.2014 07:11
Ich habe die Geschichte jetzt auch endlich mal angefangen, nachdem sie bereits seit einer gefühlten Ewigkeit in meinen Favoriten lag. Ich hatte Lust auf ein längeres Original, um mal etwas Abstand zu den FFs zu gewinnen und zu schauen, was andere Köpfe so Schönes schaffen.
Die Geschichte erinnert von der Art her, wie sie stilistisch aufgebaut ist, sehr an ein RPG. Es erfolgt immer ein Wechsel zwischen Amandas und Nataniels Sicht. Was an sich nicht stört, sogar recht interessant ist, nur an manchen Stellen streckt es den Handlungsablauf sehr und bringt zeitverzögerte Wiederholungen wie auch Szenensprünge mit sich. Was insbesondere bei Dialogen wenig günstig ist, da man sich als Leser im Hinterkopf behalten muss, was gesagt oder gefragt wurde, bis erst nach einiger Zeit die Reaktion darauf erfolgt.
Die Handlung ist bisher sehr interessant. Die Entwicklung erfolgt in einem gemächlichen Tempo, wirkt auf mich bisher nicht zäh. Für ein letztes Lesestündchen vorm Schlafengehen genau richtig. Ich empfinde es als sehr angenehm.
Die Ideen sind bisher toll, für Amanda gesprochen außergewöhnlich. Und ich bin wirklich sehr begeistert von den vielen Details, besonders aus Nataniels Richtung gesprochen. Die Darstellung, z.B. mit dem juckenden Verband, ist sehr realitätsnah und schürt meine Erwartungen an den weiteren Verlauf. Hoffentlich hält es sich. :)
An einigen Stellen geriet ich ins Stolpern, da Informationen fehlten, die erst später aus der anderen Perspektive angesprochen wurden. Ich hatte es schon drei Mal, dass ich zurückgeblättert habe, um zu schauen, ob ich nur vergesslich werde oder da tatsächlich etwas gefehlt hat.

Auf jeden Fall bisher sehr interessant gestaltet. Ich freue mich jetzt immer auf meinen wohlverdienten Feierabend, wenn ich ein, zwei Kapitel auf meinem eReader in meinem Bettchen genießen darf. Und bei 57 Kapiteln habe ich einige Abende vor mir, yay! :)
Ich werde wieder von mir hören lassen, wenn ich mit der Handlung etwas weiter vorangeschritten bin.


Vielen Dank für diese Geschichte.
Shizana
Antwort von:  Darklover
24.08.2014 15:23
Hi, Shizana!

Ich möchte dir für deinen so ausführlichen Kommentar danken und es freut mich sehr, zu lesen, dass die Geschichte dir nun eine Weile die Abende bereichert. Hoffe ich zumindest. ;)

Dass dich die Geschichte vom Stil her stark an ein RPG erinnert, liegt natürlich daran, dass sie eigentlich eines ist. Meine Freundin und ich haben viel und oft in Form von RPGs miteinander geschrieben und irgendwann waren wir uns einig, dass auch andere an den Charakteren und ihrem Leben teilhaben sollen, wenn sie der Stil nicht allzu sehr stört.
Ich hatte auch mal kurz in Erwägung gezogen, das Ganze umzuschreiben, doch im Endeffekt fehlt mir einfach die Zeit dazu. Ich hoffe aber dennoch, dass es sich lesen lässt, gerade weil ich mich beim Korrigieren sehr bemüht habe, alles verständlicher zu machen. Du hättest mal die Originalfassung lesen sollen, da mussten wir auch oft selbst noch mal zurückblättern und die Dialoge nachzulesen.^^

Ich hoffe dennoch, die Story hinterlässt mehr einen bleibenden Eindruck wegen des Inhalts und nicht wegen des Stils und dass dieser nicht allzu sehr stört beim Lesen.

Vielen dank noch mal, dass du uns deine Gedanken mitgeteilt hast. Ich werde es auch an meine Freundin weitergeben, sobald ich mal wieder Kontakt mit ihr habe. Sie ist übrigens auch die Erschafferin von Amanda und alles was zu ihr gehört. Nataniel hingegen ist mein Katerchen. Also schön, dass ich durch ihn das vermitteln konnte, was ich wollte und ich hoffe, das bleibt auch so.

Ganz liebe Grüße an dich.
Darklover
Von:  Catan
2012-10-10T19:31:28+00:00 10.10.2012 21:31
Eine wunderbare Geschichte, welche ich leider (oder zum Glück?) erst entdeckt habe nachdem sie nun abgeschlossen ist.
Für mich natürlich herrlich da ich mich in den letzten drei Tagen durch diese fantastische Welt schmöckern konnte ohne ständig auf heißen Kohlen sitzen zu mussen bis ein weiteres Kapitel von den Autoren erstellt und freigegeben wird.

Die Geschichte um Nataniel und Amanda ist vielseitig und ereignisreich mit allen ihren Höhen und Tiefen, es ist eine Schande und auch ein Jammer das hier so wenige Kommentare abgegeben wurden.

Liebe Grüße,
Catan
Von: abgemeldet
2012-09-11T19:00:49+00:00 11.09.2012 21:00
eine super geschichte ich bin total begeistert!!!! hab sie regelrecht verschlungen und die charaktere sind der wahnsinn... das habt ihr echt soo gut gemacht!
ich freue mich riesig auf die nächste story die ich mir auch ganz genusslich durchlesen werde ;)....

ein super großes lob und danke an euch !!!! <3
Von:  FallenHealer
2011-08-27T14:13:51+00:00 27.08.2011 16:13
Hey,
eine weitere grandiose Geschichte die ein fesselndes Konzept hat und absolut charismatische Charaktere. Der Schreibstil ist ausgeprägt und hat meiner Meinung nach absoluten Wiedererkennungswert. Amanda ist mir aüßerst symphatisch, was wahrscheinlich an ihrer Entwicklung liegt und das sie so menschlich und echt wirkt. Sie handelt manchmal ohne unbedingt ersichtlichen Grund und das haben einige der Charaktrere die bereits duch die Fandoms turnen nicht, sie wirken aufgesetzt und das ist bei euch nicht der Fall.

xoxo Fallen
Von:  mausi-caro
2011-07-26T16:34:05+00:00 26.07.2011 18:34
na da gings jetzt aber zu sache ^.* hehe :)
amanda und nataniel sind jetzt so süß zusammen :) einfach nur toll...
aber das wieder iwas kommen muss das die beiden trennt war ja klar -.- ^^ aber naja sonst wärs ja au zu eintönig^^ na da binc ih ma gespannt wie die drei tage verlaufen und vorallem ob und wie nataniel sie gehen lässt...0.o
das mit seiner kleinen schwester fand ich unheimlich süß...konnte sie mir richtig als katzenbaby vorstellen :)) toller einfall!
warte wie immer gespannt wies weiter geht :) macht weiter so!!

liebe grüße

caro ^.*
Von:  mausi-caro
2011-07-24T21:42:46+00:00 24.07.2011 23:42
also erstma muss ich hier etwas schreiben : WENN DAS JEMAND LIEST DANN FANGT AN DIE GESCHICHTE ZU LESEN!!!LASST EUCH NICHT ABSCHRECKEN WEIL SIE NOCH FAST KEINE KOMMIS HAT ;) SIE IST SUPER UND LANGLEBIG...NICHT NUR 5 KAPIS ODER SO ;) ALSOOO LOOOOOOOS :)
so damit hab ich mal an die anderen leser für euch appelliert ;)
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wuhuhuhu neue kapis *.* sorry das ich jetzt erst was hinterlasse aber war ne woche in berlin und da bin ich nich dazu gekoomen ins internet zu gehen ;))
also es geht ma wieder super spannend weiter und endlich is der doofe tiger besiegt^^ muss sagen das es mich garnet so gestört hat das ihr das mim kampf usw eher kurz gehalten habt...fand ich gut^^ das nataniel und amanda nun wirkliche in richtiges paar sind find ich suuuuper :)( aber eure geschichte is eh klasse) und das sie trotzdem noch meinungsverschiedenheiten haben und streiten find ich garnicht schlimm sondern eher im gegenteil gibt der ganzen sache nochma " das gewisse etwas" :) aber ma ne frage....sagt mir jetzt bitte nicht das die geschichte bald vorbei ist?!?! denn das wäre mein untergang o.0 aber hier und da könnte man raushören das die geschichte noch andere bahnen einschlägt???
bin sehr sehr gespannt wies amanda mit nataniels pflegefamilie geht ...und wies bei den beiden weitergeht...hach ich freu mcih einfach au die weiteren kapis :))
ihr seid super macht weiter so :)) ^.*

lieeeebe grüße

caro ^.*
Von:  mausi-caro
2011-06-27T18:32:55+00:00 27.06.2011 20:32
huhu :)
wollt mich mal melden und fragen wo die nächsten kapis bleiben :P :D hehe
nee ma im ernst, is jetzt schon länger her dass etwas on kam...is was passiert? 0.o
wie auch immer mich interessierts wirklich wie es weitergeht???!!! :)

würd mi freun bald wieder was zu lesen :)

lg
Von:  mausi-caro
2011-06-21T22:08:12+00:00 22.06.2011 00:08
ou man :O was´n jetzt los...von einer sekunde auf die andere ändert sich ja alles 0.o brutal^^ hätte nich gedacht das es so weitergeht...was wiederrum aber auch gut is....macht das ganze viel spannender!;) aber baff bin ich trotzdem^^ und warum aufeinmal die moonleague von ihnen weis und auch gleich da sind 0.o und was amanda wohl vorhat und vorallem wie gehts nun mit ihr und nataniel weiter...hmm fragen über fragen^^ lauter fragezeichen in meinem kopf :D
na da bin ich ma gespannt :) schnell weiter on stellen :))

Von:  mausi-caro
2011-06-20T14:20:07+00:00 20.06.2011 16:20
wuhuhuhu mein lieblingskapi bis jetzt *.* endlich sind sie sich näher gekommen zwar nicht ganz aber ein stückchen...aber genau das find ich so gut an eurer geschichte...da passiert alles nicht von jetzt auf nachher sondern brauch seine zeit und das sie sich trotzdem noch weiter angegiftet haben fand ich auch klasse :D macht das ganze wirklich sehr unterhaltsam , sowie das beide nicht genau wissen was sie wollen bzw der andere will ;D
die geschichte wird von kapi zu kapi besser finde ich deswegen schnell weiter online stellen :))

liebe grüße :)



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