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Shadows of the NewMoon

von
Koautor:  Caracola

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42. Kapitel

Amanda saß am Frühstückstisch und brachte es beim besten Willen nicht mehr fertig, das Theater aufrecht zu erhalten.

Die letzten beiden Tage waren schön gewesen. Irgendwie hatten Nataniel und sie es – auch mit unbewusster Hilfe seiner Familie – geschafft, Amandas Abreise zu verdrängen. Doch jetzt, wo sie mit jeder Minute immer deutlicher näher rückte, schmerzte jedes Lächeln und jeder freudige Satz, der gewechselt wurde.

Alles in Amanda sperrte sich davor, fröhlich zu wirken, wo sie sich doch selbst das Herz in zwei Stunden herausreißen musste, um es hier zu lassen, wo es hingehörte.

Zum wiederholten Male bot Mary Amanda die Schinkenplatte an, obwohl sie schon beim ersten Mal dankend abgelehnt hatte. Nataniel blickte neben ihr stur in den Becher mit seiner heißen Schokolade und war schon seit dem Aufstehen zu kaum einem Wort zu bewegen gewesen.

In den Augen seiner Eltern konnte Amanda Sorge lesen.

Ihre Hand ruhte mit Nataniels Fingern verschränkt auf ihrem Oberschenkel. Wäre es anders gewesen, hätte sie sich vor aufgestauten Gefühlen wahrscheinlich gar nicht auf dem Stuhl halten können. Schon die Nacht war von zerreißenden Gefühlswechseln geprägt gewesen. Amanda hatte sich an Nataniel geschmiegt wie ein Ertrinkender an die rettende Schiffsplanke. Aber auch das hatte die Zeit nicht zum Stehen gebracht.

Unerschütterlich schritt sie voran, bis Amanda gegen Morgengrauen zusammengerollt neben Nataniel eingedöst war. Beim Hochschrecken hatte ihr selbst das leid getan. Es schien wie vergeudete Zeit, obwohl sie nichts Anderes hätte tun können.

"Wir wollen heute auf den Markt fahren. Es ist eine Art Festivität, wo es auch Essensbuden gibt und die größten Gemüse und die besten Zuchttiere ausgezeichnet werden. Ihr kommt doch mit, oder? Wir denken schon seit einiger Zeit darüber nach uns noch ein paar Tiere anzuschaffen. Nataniel, du willst doch sicher bei der Auswahl ein Wörtchen mitreden."

"Das ist eine gute Idee."

Amanda sah Steve in die Augen und drückte Nataniels Hand. Sein Vater kaute sein Rührei mit Speck, während er mit offenem Blick auf die Antwort wartete.

Dass er mit seinem Vorschlag irgendeine Reaktion hervorgerufen hatte, schien ihn einigermaßen zu erleichtern.

"Aber leider werde ich nicht mitkommen können."

Dass Marys Blick nun sogar erschrocken wirkte, ließ Amanda ihren eigenen auf ihren leeren Teller senken. Sie musste tief Luft holen, bevor sie wieder aufblicken und weiter sprechen konnte.

"Ich muss in die Hauptstadt. Es hat sich ein Problem mit … meinem früheren Arbeitgeber aufgetan. Im Moment versucht mein Bruder fast allein damit fertig zu werden und noch länger kann ich ihn das nicht tun lassen."

Es hörte sich wirklich harmlos an. Als würde Amanda nur in die Stadt fahren, ein paar Papiere unterzeichnen, vielleicht zu einem Meeting fahren, sich ein wenig herumstreiten und dann mit einer saftigen Abfindung zurückkommen. Aber selbst Kyle schien den Bluff durchschaut zu haben. Mit großen Augen sah er Amanda und dann Nataniel an. Man konnte förmlich spüren, dass er etwas sagen wollte, aber entgegen seiner sonstigen Art, hielt er den Mund.

Dafür übernahm diesmal Mary die Arbeit, es Amanda noch schwerer zu machen.

"Wann wirst du denn wiederkommen?"
 

Das Essen schmeckte wie in Wasser aufgeweichtes Pappmaché, ließ sich so schwer kauen, wie uralter Kaugummi und beim Schlucken musste er jedes Mal besonders darauf achten, das Ganze – einmal mühsam hinunter gewürgt – nicht gleich wieder hochkommen zu lassen.

Es war nicht nur sein Magen, der sich ständig auszuwringen versuchte, sein Herz machte dabei ebenfalls mit und von seinen Lungen wollte er gar nicht erst anfangen. Es fühlte sich an, als würde ihm ein übergewichtiger Elefantenbulle auf dem Brustkorb hocken und dabei auf und ab wippen, während sein eigener Panther ihm die Krallen in die Eingeweide schlug und darin herum wühlte.

Nataniel hatte das Gefühl, jeden Moment auseinander zu brechen. Alleine Amandas Hand in seiner hielt ihn aufrecht, aber mehr schaffte auch sie nicht. Sein Gehirn hatte sich schon längst aus dem Tischgespräch ausgeklinkt, wobei zum Glück niemand zu erwarten schien, dass er sich einbrachte. Es war wohl offensichtlich, dass er sich an diesem Morgen nicht gut fühlte. Was natürlich die Untertreibung des Jahrhunderts war.

Nataniel starb an diesem Tisch immer wieder kleine Tode, nur um sich erneut lebendig und zumindest körperlich vollkommen gesund, wieder am Leben vor zu finden.

Erst als Amandas Stimme neben ihm zu Wort kam, schaltete sich sein Gehirn wieder ein und er hörte zu, was sie zu sagen hatte.

Dezent und gekonnt umging sie die volle Wahrheit ohne zu lügen. Erst jetzt sah er sich die Gesichter seiner Eltern genau an, um ihre Reaktion auf das Gesagte zu überprüfen.

Fast schon mit einem Schock musste er feststellen, dass sie überaus besorgt aussahen und das vermutlich nicht nur, weil Amanda ihnen mitteilte, dass sie abreisen würde. Sehr bald sogar.

Nein, sie wussten sehr genau, dass etwas nicht stimmte. Waren sich dabei aber auch im Klaren, dass keiner von beiden, weder Amanda noch Nataniel mit dem wahren Problem herausrücken würden. Weshalb sie das Offensichtliche auch nicht aussprachen, wobei seine Mutter versuchte, wenigstens ein paar Informationen aus ihnen beiden heraus zu kitzeln.

Als sie fragte, wann Amanda denn wieder kommen würde, erbleichte er noch mehr, als er ohnehin schon an Farbe verloren hatte und zum ersten Mal seit Beginn des Frühstücks ergriff er das Wort.

„Ich habe noch Einiges zu erledigen, was das Rudel angeht. Rechnet also nicht damit, dass ich in nächster Zeit nach Hause komme.“, gab er tonlos von sich, ehe er sich an Amanda wandte.

„Du kannst mich doch sicher in der Stadt absetzen, ehe du weiter fährst, oder?“

Damit gab er seinen Eltern nicht nur etwas anderes zum Knabbern, sondern als er schließlich auch noch aufstand, sich für das Frühstück bedankte und Amanda mit aus dem Raum zog, machte er alle weiteren Fragen auch so gut wie unmöglich.

Eine Sekunde länger in Anwesenheit seiner Familie und er wäre wirklich wie ein Kartenhaus unter einem Luftzug zusammen gebrochen. So aber steuerte er mit Amanda an der Hand auf Lucys Zimmer zu, um sich von seiner kleinen Schwester zu verabschieden. Denn auch er würde heute gehen müssen, um seine eigenen Pflichten zu erfüllen. Immerhin war er körperlich betrachtet wieder vollkommen geheilt, auch wenn es sich ganz und gar nicht so anfühlte.

Als er seine kleine Schwester aus dem Bettchen hob, die ruhig und vor sich hin strampelnd wach dagelegen hatte, legte er sie sich auf die rechte Schulter und schmiegte sein Gesicht mit geschlossenen Augen an ihren warmen Körper.

Einen Moment lang vergaß er, dass noch jemand anderes im Raum war und gab sich einfach dem tröstlichen Duft des kleinen Babys hin. Puder, Creme und ein unvergleichliches Aroma wie warmes Karamell, der von ihrem Köpfchen ausging. Zudem auch die unglaubliche Ruhe, die von diesem kleinen Wesen ausging und auf ihn übergriff.

In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass selbst wenn aus dieser Nacht mit Amanda kein neues Leben hervorgegangen war, so gab es doch genug andere kleine Wesen, für die sich der Kampf lohnen würde, sofern sie es schafften, deren Zukunft sicherer zu gestalten. Seine eigene Schwester sollte einmal friedlich als das aufwachsen können, was sie nun einmal von Natur aus war und immer sein würde.
 

***
 

Der Abschied von Lucy hatte ihm gut getan. Er war nun gefasster, ruhiger und entschlossener. Denn wenn alles gut lief, würde er Amanda bald nachreisen und dann konnten sie wenigstens Seite an Seite kämpfen, was zwar nicht weniger gefährlich, aber doch zumindest tröstlich war. Bis dahin würde er wieder im Hotel wohnen. Nicht etwa, weil die Fahrt von hier in die Stadt ein unnötiger Aufwand war, um sich mit Palia und ein paar der anderen treffen zu können, sondern weil er es nicht ertragen könnte, alleine in seinem Bett schlafen zu müssen, wo Amandas Geruch doch noch in jeder Faser seiner Bettwäsche hing.
 

Die Fahrt in die Stadt war damit verstrichen, dass Amanda Nataniel so viel von ihren Plänen erzählt hatte, wie sie bis zu diesem Zeitpunkt wusste. Sie würde ihm den Wagen überlassen und mit einem der Langstreckenbusse bis zum Rand der Hauptstadt fahren.

Das Ticket hatte ihr Clea auf dem Handy übermittelt, damit niemand von der Organisation ihr Auftauchen über irgendwelche Kreditkarten oder den Ticketschalter zu früh mitbekam. Am Busbahnhof würde Eric sie in Empfang nehmen und sie ins Hauptquartier des Untergrunds bringen.

Wo sich dieses genau befand, wusste Amanda selbst nicht. Sie hatte es über die Handyverbindung nicht besprechen wollen.

"Sobald ich eine sichere Leitung erwischen kann, rufe ich dich an."

Nataniel hatte die ganze Zeit über so wenig gesagt, wie am Frühstückstisch. Seinen Seesack auf dem Schoß behandelte er wie einen Puffer, um immer wieder seine Krallen darin zu versenken, wenn er dachte, Amanda würde es nicht bemerken.

Sie wusste nicht genau, ob es sie beruhigen oder noch trauriger machen sollte, dass es ihm offensichtlich so schlecht ging wie ihr selbst.

Auf dem Parkplatz des Hotels hielten sie an und Amanda griff sich ihre paar Habseligkeiten von der Rückbank. Der neue Rucksack war nicht so groß wie Nataniels Gepäckstück, aber so wie sie Eric kannte, war auch eher leichtes Reisen angesagt, sobald sie die Stadt erreicht hatte.

Um den Abschied so kurz und schmerzlos wie möglich zu halten, war Amanda so losgefahren, dass der Bus in zehn Minuten um die Ecke am Busstop halten würde.

Sie hatten wenig Zeit und Amanda war es lieber, wenn sie es hier hinter sich brachten.

Vorsichtig stellte sie ihren Rucksack ab und ging ohne Zögern auf Nataniel zu, um ihre Arme um ihn zu schlingen.

"Mach dir nicht zu viele Sorgen, ok?"

Sie war diejenige, die ging. Also sah Amanda es als ihre Pflicht, Nataniel nicht mit zu viel Schmerz im Herzen zurück zu lassen. Egal was sie über das wusste, was sie eventuell erwarten könnte, sie würde schweigen und so viel gute Miene zum bösen Spiel machen, wie sie es nur konnte. Trotzdem konnte sie das Glitzern in den Augenwinkeln nicht verbergen, als sie in Nataniels eisblaue Augen blickte.

Ihre Kehle schnürte sich zu und allein ihr Herzschlag schien ihr die Luft zu nehmen. Amanda hätte jedem sofort geglaubt, der ihr gesagt hätte, dass sie tot umfallen würde, sobald sie Nataniel loslassen musste.

Und dennoch geschah es nicht. Sie küssten sich. Versicherten, dass sie sich anrufen würden. Der Bus kam und Amanda stieg ein.

Die ältere Dame, die neben ihr saß, reichte ihr ein geblümtes Stofftaschentuch, als das Ortsschild hinter dem Bus in die Ferne rückte und Amanda sich endlich erlaubte die Tränen rauszulassen, die sie seit drei Tagen zurückgehalten hatte.
 

Als der Bus um die Ecke verschwand und Amanda sein Herz, seine Seele und so wie es sich anfühlte, auch sein Leben mit sich nahm, drehte Nataniel sich auf dem Absatz herum, stieg in den Wagen und fuhr los. Er stellte das Gefährt auf dem Gästeparkplatz des Hotels ab, ließ sein Gepäck im Auto und drückte den Knopf für die Zentralverriegelung.

Sein Weg führte ihn nicht in das große einladende Gebäude, sondern darum herum, direkt in den Wald der dahinter lag. Während er auf dem Waldrand zuging, stopfte er die Autoschlüssel in die Gesäßtasche seiner Jeans und als er schließlich die ersten Reihen der Bäume hinter sich gebracht hatte, blieb er wie angewurzelt stehen.

Seine Augen waren auf einen Punkt fixiert, den nur er sehen konnte und so wie sein Körper erstarrt war, schien er nicht einmal zu atmen. Doch das änderte sich langsam aber sicher. Erst waren es flache Atemzüge, dann wurden sie immer tiefer und tiefer, bis man den Eindruck gewann, als würde er trotz der vielen Luft einfach ersticken.

Der Schmerz in seiner Brust flammte so überraschend intensiv auf, dass es ihm beinahe die Tränen in die Augen trieb, die trotz der eisblauen Farbe lichterloh zu brennen schienen. Zumindest fühlten sie sich so an.

Sie war fort. Amanda hatte ihn verlassen. Vielleicht nicht für immer, aber selbst wenn er wüsste, sie käme schon morgen wieder, die Qualen ihres Verlusts hätte es ihm niemals nehmen können.

Wie glühendes Feuer brannte der Schmerz durch seine Adern, während sein Herz sich anfühlte, als würde es bei jedem Schlag gegen einen Ring aus Stacheln ankämpfen. Nataniels Gefühle zerrissen ihn. Wortwörtlich.

Schon während er zu laufen anfing, hatte er sich sein Shirt abgestreift, seine Hose geöffnet und hinunter gestrampelt. Danach konnte die Explosion seines Körpers niemand mehr aufhalten.

Als er wieder auf dem Boden aufkam, gruben sich seine Pranken mit den voll ausgefahrenen Krallen tief in den weichen Waldboden und gaben ihm den Halt für noch größere Sprünge, um noch schneller und tiefer in den Wald zu gelangen, bis er glaubte, jeder einzelne Muskeln in seinem Körper müsste vor Erschöpfung ins Koma fallen.

Obwohl seine Lunge wie nach einem Säurebad brannten, brüllte er tobend wie die Bestie, die er war, seinen Schmerz in die Stille hinaus, so dass es jedes Tier im Umkreis von einigen Kilometern in die Flucht geschlagen hatte.

Irgendwann – die Dämmerung brach herein – lag er nackt und wie ein Fötus zusammen gerollt im Dreck. Nachdem er endlich alles was sich in ihm aufgestaut hatte, heraus gelassen hatte, selbst all die ungeweinten Tränen in seinem Leben, fühlte er sich wieder dazu in der Lage, aufzustehen und zurück zu gehen, um sich den Problemen zu stellen.

Der Gedanke, je schneller er sie löste, umso eher könnte er zu Amanda zurückkehren, war dabei sein einziger Antrieb. Denn im Grunde war ihm das Rudel in diesem Augenblick vollkommen egal. Er hatte nicht deswegen so getobt, sondern alleine wegen seiner Gefährtin.
 

***
 

Die beiden Motorräder schlängelten sich hintereinander durch den dichten Feierabendverkehr. Immer wieder ertönte erbostes Hupen und Wutausbrüche entluden sich in wilden Beschimpfungen, die allerdings an den Helmen der Fahrer abprallten oder überhaupt nicht zu ihnen durchdrangen.

Die grüne Kawasaki bewegte sich hinter dem schwereren schwarzen Motorrad her durch die Hochhausschluchten der Innenstadt, über das von Brücken durchzogene Villenviertel, dessen Bauten über dem glitzernden Wasser auf Pontons schwammen und fast wieder hinaus bis zum Yachthafen.

Hier waren die in den Himmel strebenden Glas- und Betonbauten flachen, rein praktischen Lagerhallen gewichen. Solche Gebäude zogen sich den Großteil der Halbinsel entlang, bevor das Gelände in einem bewachsenen Hügel anstieg, um anschließend wieder ins Meer abzufallen.

Die Reichen und Superreichen hatten sich für ihre weißen Schiffe die schönere Hälfte der Landzunge ausgesucht, die allerdings weniger Zugang zum Stadtkern bot. Den hatten die kleinen Fähren und selbst die Transportschiffe, die sich in die Bucht hineindrängen mussten, um am Dock anlegen zu können.

Kräne hievten die letzten Container an Land, bevor in einer guten halben Stunde die Feierabendsirene ertönen würde. Der Gestank von Schmieröl, Abgasen und Schiffsdiesel lag wie eine klebrige Schicht über dem flimmernden Beton, auf dem die Fahrt nun verlangsamt wurde.

Nach mehrmaligem Abbiegen, sah ein Container wie der andere aus. Mochte er auch ein anderes Firmenlogo tragen oder von anderer Farbe sein, jede weitere Reihe führte bloß noch weiter in ein Labyrinth aus Stahl, in dem man sich auf jeden Fall verlaufen konnte.

Die Motorengeräusche hallten von den hoch aufgetürmten Metallwänden wider, bis der Fahrer der führenden Maschine an einer völlig unauffälligen Stelle anhielt. Nichts schien anders zu sein, als all die anderen Gabelungen und Kreuzungen zuvor.

Eine Lache, auf der Öl in Regenbogenfarben schimmerte, warf ein Abbild des schwarzen Stiefels zurück, der sich auf den Boden senkte, um das Gleichgewicht von Fahrer und Motorrad zu halten. Im Leerlauf knirschte das schwere Gefährt auf dem schmutzigen Boden und die Hitze schien sich drückend auf das schwarze Leder der beiden Gestalten zu legen, die sich lediglich durch Nicken ein Signal zu geben schienen.

Anstatt abzusteigen, schoben sie beide die inzwischen verstummten Motorräder auf einen besonders verrosteten Container zu. Die Verriegelung hing locker in den Scharnieren und bloß ein metallisches Kratzen im Inneren, ließ die Ankömmlinge kurz innehalten.

Mit einem unüberhörbaren Ächzen schwang die breite Tür zur Seite und ließ nichts als Schwärze im Bauch des Metallcontainers erkennen, die bereitwillig die beiden Fahrer und ihre Maschinen umfing.
 

Eine lange Neonröhre hing schief in einer Halterung an der Decke und schaffte es nicht ganz, den rechteckigen Raum zu erhellen. Das bläuliche Licht ließ die Gesichter der Anwesenden bleich erscheinen und ihre sorgenvollen Blicke waren wie in ihre Gesichtszüge gemeißelt.

Sie waren zu acht, Männer und Frauen zu gleichen Teilen, aber die Menschen waren eindeutig in der Minderzahl. Amanda blickte gerade aus auf die Projektion an der Leinwand vor ihnen und folgte nur halbherzig Cleas Ausführungen.

"Die Akten der Rudel sind gelöscht worden. Aber eben nur diese. Auf das gesamte Netzwerk und die Backup-Dateien konnten wir in dieser kurzen Zeit keine Rücksicht nehmen. Wir haben so viel zerstört, wie wir konnten, aber mit den richtigen Mitteln, werden sie den größten Schaden innerhalb der nächsten Wochen behoben haben."

Eigentlich hätte sich Amanda auf die Diagramme, Bilder und Erläuterungen konzentrieren sollen. Das hier war wichtig. Ihre nächsten Schritte sollten abhängig von den Möglichkeiten und Reaktionen der Moonleague geklärt werden. Was war passiert? Wie ging die Organisation vor? Was konnte man dagegen tun? Die einzigen drei Fragen, die im Moment in Amandas Hirn eine Rolle spielen sollten. Und doch taten sie es nicht.

Ihr Blick wurde von der Leinwand abgelenkt wie Metallspäne von einem Magneten. Sie konnte die dunklen Augen auf sich ruhen spüren. Ihre Nackenhärchen stellten sich bei diesem intensiven Gefühl halb warnend, halb neugierig auf, während Amanda das Bedürfnis hinunter kämpfte, nervös auf dem unbequemen Klappstuhl hin und her zu rutschen.

"Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch einmal wiedersehen würden."

Mit dieser Begrüßung hatte er ihr die Hand entgegen gehalten und sie mit festem Griff geschüttelt, während Amanda ihm sprachlos ins Gesicht gestarrt hatte. Er hatte sie nicht gefragt, ob sie sich an ihn erinnern konnte. Es wäre lächerlich zu glauben, dass sie ihn je vergessen würde.

Natürlich blitzten ihr jetzt die dunklen Augen unter den fast weißen Wimpern entgegen, als Amanda leicht den Kopf neigte, um über den Tisch, quer durch den provisorischen Konferenzraum zu sehen.

Amanda hatte schon damals vermutet, dass sein Blick nur deswegen so stechend war, weil seine weißblonden Haaren den Gegensatz zu diesen dunkel schimmernden Perlen seiner Iris so intensiv machten. Selbst die gebräunte Haut und die kleinen Fältchen in den Augenwinkeln konnten daran nichts ändern.

Jetzt hoben sich seine Mundwinkel zu einem schmalen Lächeln, während seine Augen wissend glänzten. Oder bildete sich Amanda das nur ein? Er war kein Wandler. Er konnte sie nicht lesen.
 

***
 

"Du hättest es mir sagen sollen."

Eric stand neben Amanda im Schatten eines großen Krans auf dem Dach eines Containerstapels und suchte den Horizont ab. Amanda kannte ihren Bruder zu gut, um ihm im Moment seine Ruhe und Gelassenheit abzukaufen.

"Ich konnte nicht."

"Was soll das bitte heißen?"

"Er ist auch erst gestern hier angekommen. Ich war schon unterwegs, als ich davon gehört habe, dass jemand mit seinem Namen zu uns gestoßen ist."

Amandas Finger fühlten das immer noch warme Metall unter ihren Fingern, die an dem bröckeligen Lack zupften.

"Warum hast du mir nicht zumindest das gesagt?"

Ihre Stimme war ruhig und wirkte gefasst. Amanda war schon immer eine gute Schauspielerin gewesen. Auch vor Eric, der sie immerhin in dieser Welt besser kannte, als jeder Andere. Einmal von Nataniel abgesehen, dem allerdings das jahrelange Zusammenleben mit Amanda abging.

"Ich konnte doch nicht sicher sein, dass er es ist. Es gibt mehr als einen Seth Gregory, denkst du nicht?"

"Nur einen wie ihn."

Eric seufzte tief, wandte seinen Blick aber nicht seiner Schwester zu, sondern suchte weiter den Hafen nach irgendetwas Verdächtigem ab. Die Wachen, die in der Nacht den Containerdock im Auge behielten, waren allein zur allgemeinen Beruhigung aufgestellt worden. Im Ernstfall würde die Moonleague viel zu schnell und viel zu zahlreich hier ankommen, als dass die wenigen Mitglieder des Untergrunds, selbst bei langer Vorwarnung, sich hätten angemessen verteidigen können. Ihre Chance war es, wenn nötig, so schnell und unauffällig wie möglich zu verschwinden. Allerdings war es möglich, dass die Organisation Klasse 5 Sammler als Späher schicken würde. Um denen zu entgehen oder sie gegebenenfalls auszuschalten, überwachten einige der Mitglieder die direkte Umgebung des Hauptquartiers.

In dieser Nacht hatte Amanda sich freiwillig gemeldet, um ungestört und ohne die Gefahr neugieriger Ohren mit Eric sprechen zu können. Der setzte sich nun ein Fernglas an die Augen und ließ seinen Blick einmal quer über die Hafenkante vor ihnen schweifen.

Der zunehmende Mond glitzerte als Spiegelbild auf dem aufgewühlten Wasser. Wenn sie Glück hatten, würde bald der erlösende Regen ein wenig Kühlung für Mensch und Gemüt bringen. Die Hitze der letzten Wochen lastete vor allem in den Metallcontainern auf Mensch und sogar Maschine.

Cleas neu entworfenes Reich in der untersten Reihe, direkt am Boden, war der einzige Ort, an dem sie so etwas wie eine Klimaanlage installiert hatten. Amanda hatte das große Glück sich immer unauffällig dort aufhalten zu können. Was ihr allerdings nachts in ihrer winzigen Koje nichts brachte, als sie sich in wehmütigen Träumen und völlig ausgelaugt hin- und herwarf. Wenn das so weiterging, würde sie schnell so kaputt sein, dass sie dem Untergrund gar nichts mehr nützte. Auch wenn Seth hier war.

"Vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass er gekommen ist. Immerhin ist er..." Unwirsch unterbrach Amanda seinen Wortschwall, indem sie sich von dem Container abstieß und ihm das Fernglas entriss.

"Wir sollten eine Runde machen. Hier ist nichts los."

Hinter Amandas Rücken hob Eric in einer gequälten Geste abwehrend die Hände. In diesem Zustand konnte man nicht mit Amanda reden. Eingeschnappt war sie einfach unerträglich und dieser Seth würde es verdammt schwer haben, an sie heran zu kommen. Wenn da nicht dieses Ass in seinem Ärmel wäre, hätte Eric ihm keinerlei Chance eingerechnet, dass Amanda auch nur ein Wort mit ihm wechseln würde.
 

***
 

Dicke, heiße Dampfschwaden waberten im Raum um ihn herum, als er aus der Duschkabine stieg. Weshalb er auch den Spiegel mit der Hand abwischen musste, um sich selbst darin erkennen zu können … oder auch nicht.

Er hatte dunkle Schatten unter den Augen, seine Haut war bleich und obwohl er sich jeden Tag gründlich rasierte, schien selbst der Bartschatten immer präsent zu sein, was früher nie der Fall gewesen war. Es musste einfach an dem starken Kontrast zu seiner weißen Haut liegen.

Seine Augen wirkten uralt und von einer Erschöpfung gezeichnet, die nichts mit einem körperlichen Empfinden zu tun hatte. Sein Geist, seine Seele waren so müde und obwohl er jeden Tag mit Amanda telefonierte, ihre Stimme ihn kurzzeitig immer wieder neu zum Leben erweckte, waren es doch die Stunden ohne sie, die ihn letzten Endes restlos materten. Außerdem fror er. Ständig. Selbst jetzt überzog eine Gänsehaut seinen ganzen Körper, obwohl er gerade noch unter brühend heißem Wasser gestanden hatte.

Hätte man ihm einmal gesagt, der Verlust einer Gefährtin könnte einen auf der Stelle umbringen, hätte er das niemals geglaubt. Aber es war klar, wenn schon die bloße Abwesenheit von Amanda ihn so zurichtete, was würde dann passieren, wenn er zum Beispiel eine Nachricht von ihrem Tod empfangen würde? Sofortiger Herzstillstand?

Wäre durchaus möglich. Oder ein Schlaganfall. Lungenversagen. Nierenkolik und nicht zu vergessen, die gute alte Methode. Die Sache einfach selbst in die Hand zu nehmen und an der Mündung einer Waffe zu knabbern.

Da Amanda zum Glück jedoch lebte, raffte er sich trotz der schlaflosen Nächte jeden Morgen auf, um mit Palia und dem Rat alle möglichen Punkte der Sicherheit ihres Rudels durchzugehen.

Inzwischen hatten sie Freiwillige auftreiben können, die sich für die Grenzbewachung dieser Gegend einsetzten. Keiner konnte die Leute dafür bezahlen, dass sie Tag und Nacht abwechselnd stundenlang auf eine Straße starrten und nach Verdächtigen Ausschau hielten. Aber letzten Endes war es doch die immer noch drohende Gefahr, die jeden mit Familie dazu brachte, seinen Teil zum Wohl des Ganzen einzubringen.

Weshalb die Familie eine so treibende Kraft war, spürte Nataniel jeden Tag aufs Neue. Gerade weil er sich einsam, isoliert und seinen natürlichen Instinkten vollkommen ausgeliefert fühlte.

Seine animalische Seite in ihm verstand bis heute nicht, weshalb er Amanda hatte gehen lassen. Kein Gestaltwandler, der auch nur annähernd bei gesundem Verstand war, würde seine Gefährtin der Gefahr aussetzen, in die er Amanda übergeben hatte. Selbst wenn es nicht ihr Leben war, das auf den Spiel gestanden hätte, es gäbe noch so viele andere Faktoren, die seine Gefühle förmlich zum Kreischen brachten. Männer. Konkurrenten. Die Möglichkeit, dass sie vielleicht schwanger war, ohne es selbst zu wissen. Oder etwas, das ihre Gefühle für ihn ändern könnte. Unwiederbringlich.

Mit einem deutlich frustrierten Knurren trocknete er sich mechanisch ab, packte sich so gründlich in Klamotten ein, als würde draußen ein sibirischer Winter herrschen und machte sich dann auf den Weg zu der Versammlung. Das Frühstück ließ er wie immer ausfallen. Genauso wie das Mittagessen. Lediglich zu Abend zwang er sich etwas rein, ohne es zu schmecken, damit sein Magen wenigstens über Nacht etwas zu tun hatte, während er vollkommen müde, aber trotzdem hell wach im Bett lag und nur an die eine dachte, bei der er nicht sein konnte. Denn es gab noch so viel zu besprechen, bevor er auch nur den Gedanken an einen Aufbruch zulassen konnte.
 

***
 

Dieses Lächeln schien ihm ins Gesicht gemalt zu sein. Jedes Mal, wenn Amanda ihren Blick in Seths Richtung schweifen ließ, sah er sie so an. Als würde er nur auf einen ersten Schritt von ihr warten. Na, da würde er lange warten. Immerhin. Bloß weil er...

"Entschuldige."

Der derbe Fluch in Amandas Kopf schien dafür gesorgt zu haben, dass sie sich an ihrem Salat verschluckte und heftig husten musste. Es trieb ihr die Tränen in die Augen, als sie versuchte, den Hustenreiz zu unterdrücken, bis er ihr ein erlösendes Glas Wasser hinhielt.

Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte sich Seth an den Tisch, an dem Amanda ihr Mittagessen einnahm.

Sie musste ihm zugute halten, dass es auch der einzige Tisch in dem kleinen Speiseraum war, an dem noch ein Platz frei war.

"Ich weiß, es ist direkt, aber hättest du heute Nacht Zeit?"

Sein Lächeln wurde breiter und sogar ein verschwörerisches Zwinkern flog Amanda über den Tisch entgegen.

Er hatte sie schon einmal gefragt. Heute Morgen, direkt nachdem Amanda mit Nataniel telefoniert hatte und aus Frust auf dem Weg zum Joggen gewesen war. Oder Motorrad fahren. Oder sonst irgendetwas, um sich davon abzulenken, dass sie nicht bei ihm war.

"Du bist ganz schön hartnäckig.", war ihre einzige Antwort, während sich ihre Gabel etwas zu nachdrücklich, um kein Hinweis zu sein, in eine Tomate bohrte.

"Nur weil ich weiß, dass du nachgeben wirst."

Kam ihr dieses Ego vielleicht irgendwie bekannt vor?



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