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Shadows of the NewMoon

von
Koautor:  Caracola

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8. Kapitel

Fünf Minuten später saß er mit heruntergelassenem Fenster auf der Beifahrerseite und ließ sich den Wind durch die Haare wehen, während Amanda das Steuer übernahm. Die Gegend, an der sie vorbeifuhren, bot wirklich etwas fürs Auge. Die Silhouetten von Bergen, grünen Wäldern und Wiesen und immer wieder ein kleines Bächlein.

Schließlich bogen sie auf einen gut gepflegten Schotterweg ein, der ein Stück durch den Wald führte, ehe sie wieder ins Freie kamen.

Nataniel streckte so unauffällig wie möglich noch ein bisschen weiter den Kopf aus dem Fenster und sah sich genau um. Es roch unauffällig nach Hund, vermutlich auch ein paar Katzen und das, was wohl am Wichtigsten war – Menschen.

Auch das Haus, vor dem Amanda den Wagen wendete, sah alt aber gepflegt aus. Also eine Niete. Nichts deutete auf Gestaltwandleraktivitäten hin. Weshalb sie schließlich das nächste Ziel ansteuerten.

Eine winzig kleine Farm, die einer Familie namens Cleary gehörte. Fünfzehn Minuten von der Stadt entfernt, in einer eher ruhiger gelegenen Gegend. Wenn das überhaupt noch möglich war.

Dieses Mal war die Straße von einigen Schlaglöchern versehen und das Gras an den Seiten stand bereits hüfthoch. Nataniel sagte nichts, auch wenn ihn Unruhe erfasste. Er roch nichts Unauffälliges, aber sein Instinkt warnte ihn.

„Dreh dieses Mal zügiger um“, befahl er tonlos, da er nichts riskieren wollte, in dem der Wagen extra langsamer fuhr, nur damit er besser die Gerüche aufnehmen konnte.

Kurze Zeit später wurde auch klar, wieso das gar nicht so wichtig war. Nataniel hätte 'Bingo' gesagt, wenn er sich nicht ein anderes Ergebnis gewünscht hätte.

Haus und Hof waren leicht heruntergekommen. Verstreut liefen Hühner durch die Gegend. Der Kuhstall war leer und die Tür mit Kratzspuren und rostbraunen Flecken übersät – getrocknetes Blut. Er war sich sicher, auch wenn er es durch den Fahrtwind nicht riechen konnte.

Nataniels Herz begann zu rasen und Adrenalin schoss ihm durch die Venen. Am liebsten hätte er sich sofort in ein Raubtier verwandelt, doch er musste ruhig bleiben.

„Okay, fahr wieder bis zur Hauptstraße“, flüsterte er Amanda so leise und unauffällig zu, als könne man sie hören.

„Lagebesprechung.“
 

Seit sie das Café verlassen hatten, war von Amandas Seite kein Wort zwischen ihnen gefallen. Der Dodge war aus der kleinen Stadt hinaus über die Landstraße gerollt und dann in einen der vielen Waldwege eingebogen.

Der Wald war Amanda nicht unheimlich, aber wenn sie bedachte, dass sich hier hordenweise Wandler herumtrieben, wurde ihr doch ein wenig mulmig in der Magengegend.

Allerdings würde sie den Teufel tun und das vor Nataniel zugeben. Also schwieg sie lieber ganz und konzentrierte sich auf die Fahrt und das, was vielleicht vor ihnen lag.

Sie wusste nicht, was sie erwarten sollte. Der Weg wurde zuerst unwegsamer, mit Schlaglöchern und abgeschwemmten Böschungen, um dann in eine Auffahrt überzugehen.

Amanda warf einen weitschweifenden Blick über das Gelände, das Farmhaus und schließlich zu dem Mann neben ihr. Er hatte die ganze Zeit das Fenster herunter gekurbelt gelassen und jetzt musste sich Amanda stark zusammenreißen, um ihm den Vergleich, der sich ihr aufdrängte, nicht an den Kopf zu werfen.

Es fühlte sich tatsächlich so an, als hätte sie einen Spürhund dabei, der seine Schnauze prüfend aus dem Fenster hielt und keinen erwachsenen Menschen. Aber anscheinend schlugen seine Katzensinne nicht an, weswegen er Amanda zur nächsten Farm weiterbeorderte.

Dort bot sich ihnen ein völlig anderes Bild. Alles hatte eine leicht verlassene Aura und das Blut und die Kratzer an der Holztür ließen Amandas Magen sich ein wenig zusammenziehen.

Gerade wollte sie ihren Fuß auf die Bremse setzen, als Nataniels tiefe Stimme ihre genau das Gegenteil auftrug.

Warum wollte er sich zurückziehen, anstatt sich umzusehen?

Wahrscheinlich hatte er wirklich vor Amanda an der Hauptstraße auszusetzen und sich allein auf den Rückweg zu machen. Bereits jetzt saß er so angespannt auf dem Beifahrersitz, dass sie befürchtete, er würde sich verwandeln, bevor der Wagen überhaupt zum Stillstand gekommen war und auf flinken Pfoten im Wald verschwinden. Das konnte er sich geschmeidig abschminken.

Selbst wenn sie ihn verlor, konnte sie allein zur Farm zurückfahren, um sich dort umzusehen. Amanda brauchte keine Sinne eines Raubtiers, um zu wissen, dass die anderen Felidae sie dort früher oder später finden würden, wenn sie nur lange genug wartete.

Selbst als sie den Dodge anhielt und den Motor abstellte, sagte sie nichts. Sollten sich dieser Kater und sein Ego doch so vorkommen, als wären sie die Leiter dieser Aktion. Immerhin machte das die Sache für Amanda sicher bloß einfacher. Wie lautete doch dieser alberne Spruch? Halt dir deine Freunde nah und deine Feinde noch viel näher.

„Also, Lagebesprechung. Hast du mehr gerochen, als ich sehen konnte?“

Noch wollte sie sich nicht umzingelt vorkommen oder verfolgt. Im Endeffekt waren sie doch hier die Verfolger. Die Anderen wussten nicht, dass sie nach ihnen suchten. Oder hatte sich dieser Vollidiot nicht nur anfahren lassen, sondern auch noch seiner ganzen Familie … seinem Rudel … wie immer man das nannte, mitgeteilt, dass er hier war?

Amanda war kurz davor nach ihrer Waffe zu greifen, als ihr auffiel, wie vertrauensselig sie gewesen war.

Dieser Kerl war ihr Feind. Der Feind der Organisation. Wie hatte sie so ihre Deckung fallenlassen können? Wann war das überhaupt passiert? In der letzten Nacht, die er neben ihr verbracht hatte?

Er hätte sie töten können, aber er hatte es nicht getan. Das hieß aber nicht, dass er es nicht noch tun würde. Vielleicht wollte er sie zu seinen Freunden führen, um seine Beute mit ihnen zu teilen.

Ein kleines Feuer schien langsam in ihrem Inneren zu schwellen, aber noch gab Amanda der Wut nicht nach. Der Kater konnte ihr nützlich sein. Sie musste nur den Schutzschild oben lassen.
 

Während Amanda den Wagen zurück auf die Hauptstraße fuhr, um dort auf einem Seitenstreifen zu parken, war Nataniel so wachsam, wie er es in dieser Gestalt nur sein konnte. Seine Sinne waren zwar besser als die von Menschen, aber perfekt waren sie nicht. Darum konzentrierte er sich auf alles, was er aufschnappen konnte. Die Schatten der Bäume. Irgendwelche auffälligen Geräusche. Fußspuren am Straßenrand, oder dergleichen.

All das galt lediglich, um sicherzugehen, dass man sie weder ertappt noch verfolgt hatte. Denn das dieses Haus alles andere als verlassen gewesen war, hatte er sofort auf den ersten Blick erkannt.

Vielleicht war der Gestaltwandler gerade nicht zuhause gewesen, oder hatte anderweitig zu tun. Auf jeden Fall wäre es ziemlich dumm, dort noch einmal so offensichtlich aufzukreuzen. Was auch immer dort im Haus nun wohnte, war alles andere, als die besagte Familie Cleary.

Als Amanda ihn ansprach, hob er die Hand, um ihr mitzuteilen, dass er einen Moment lang nachdenken musste. Dann schloss er die Augen, stützte seinen Kopf auf seinen Händen ab und versuchte sich noch einmal die Sinneseindrücke in die Gegenwart zu rufen.

Da waren nicht nur Kratzspuren auf der Stalltür gewesen, sondern auch an der Scheune, auf einigen Obstbäumen und auch an der Hausfassade. Allerdings waren diese Kratzspuren viel zu klein, um von einem ausgewachsenen Raubtier zu stammen. Eher wie die einer großen Hauskatze.

Das bedeutete höchstwahrscheinlich, dass die Familie kleine Kinder hatte. Gestaltwandlerkinder. Zumindest deuteten die herumliegenden Spielsachen daraufhin. Es waren nicht viele, aber ein paar hatte er sehen können. Bauklötze im hohen Gras. Ein kleiner Spielzeugtraktor auf dem Sandhaufen. Eine Puppe, die gegen das Fenster mit den Spitzenvorhängen gelehnt da lag. Window-Color-Motive an den Glasscheiben, viele davon stellten Luchse dar. Also mehr als genug Beweise.

Allerdings war die ganze Familie verschwunden. Und wenn die Clearys wie Nataniels Pflegeeltern auch Kühe gehabt hatten, dann würden sie diese definitiv nicht einfach so im Stall töten und auffressen. Denn danach hatte die blutige Tür schwer ausgesehen. Irgendwie fast so, als wäre der Stall geplündert worden und nur die restlichen Hühner waren übriggeblieben, weil sie entweder einfach zu klein oder noch nicht an die Reihe gekommen waren. Dann war da auch noch der flüchtige Geruch eines Leoparden gewesen. Nataniel glaubte aber, dass die Familie, die dort wohnte oder gewohnt hatte, zu den Luchsen gehörte.

Die Bilder an den Fenstern und die kleinen Kratzspuren könnten darauf schließen. Sicher war er sich allerdings nicht. Dennoch, es waren sicher keine Leoparden, ansonsten hätte er mehr als nur einen Geruch aufgeschnappt. Leider verblassten die Duftnoten schnell und in seiner menschlichen Form waren sie nicht hundertprozentig zuverlässig.

Nataniel seufzte einmal tief, ehe er sich wieder aufrichtete und aus dem Fenster sah, um die Umgebung weitestgehend zu überprüfen.

„Also, meine Vermutung ist folgende: Die Familie Cleary wohnt schon seit schätzungsweise einigen Wochen nicht mehr hier, wenn man den Verfall des Hofes bedenkt. Allerdings bin ich mir sicher, dass inzwischen jemand anderes dort unbefugt eingezogen ist. Ein Gestaltwandler. Vielleicht sogar ein Leopard. Er war es wohl auch, der das Vieh gerissen hat. Da er sich aber ansonsten nicht um den Hof gekümmert hat, nehme ich an, dass er nicht mit Erlaubnis dort wohnt. Vielleicht hatte er sogar etwas mit dem Verschwinden der Clearys zu tun.“

Wenn es wirklich Luchse gewesen waren, hätten sie gegen einen Leoparden keine Chance. Dafür waren diese Raubkatzen einfach zu klein. Doch sein Vater hätte niemals zugelassen, dass ein Gestaltwandler anderen ihr Heim wegnahm. Auf so etwas folgten normalerweise harte Strafen. Allerdings war auch sein Vater sicher schon seit einigen Wochen nicht mehr am Leben.

Vermutlich war die Familie Cleary sogar ein Opfer der Rudelübernahme und der neue Hausbesitzer hatte sich auf blutige Weise sein Wohnrecht verdient.

„Sicher kann ich mir bei alldem natürlich nicht hundertprozentig sein, ohne dass ich noch einmal gründlich nachgesehen habe. Allerdings ist es gefährlich.“

Damit meinte er nicht für sich, obwohl das auch zuträfe, weil er im Augenblick nicht seine ganzen Kräfte zur Verfügung hatte, sondern seine Aussage betraf Amanda.

Sie sah ihm wie ein ziemlich harter Brocken aus, der sich garantiert nicht damit zufriedengab, wie ein kleines Kind alleine im Auto sitzenzubleiben.

„Ich werde mir die Sache noch einmal genauer ansehen“, meinte er schließlich, während er sich schon das Hemd über den Kopf zog und auf die Rückbank schmiss.

„Du kannst hier warten oder sonst was tun, aber ich rate dir davon ab, mir zu folgen.“

Mit diesen Worten öffnete er die Tür, und noch ehe sie zugefallen war, war er auch schon im Wald verschwunden, wo er seine restlichen Kleider auszog, um sich zu verwandeln.
 

Glaubte er denn tatsächlich, dass sie hier warten würde? Da er nicht einmal auf ihre Reaktion wartete, war anzunehmen, dass es ihm ohnehin egal war, was sie tat.

Amanda war nicht dumm. Ihr war durchaus klar, dass es gefährlich sein würde, zu der Farm zurückzugehen. Immerhin hatte dieser Gestaltwandler es geschafft, eine ganze Familie zu vertreiben. Aber wenn er nur allein war, sollte er doch keine so große Gefahr darstellen, dass Amanda damit nicht fertig werden konnte. Sie war schon seit Jahren bei der Organisation und das war nicht das erste Haus, in das sie ging, ohne genau zu wissen, wie viele Raubtiere dort auf sie warten würden. Und von Nataniels falschem Heldentum würde sie sich bestimmt nicht aufhalten lassen.

Ganz im Gegenteil, denn sie musste immer noch davon ausgehen, dass er sie die ganze Zeit an der Nase herumgeführt hatte und eigentlich auf der anderen Seite stand. Die Seite, die etwas mit Erics Verschwinden zu tun hatte.

Natürlich war er schnell verschwunden und würde das Haus vor ihr erreichen, aber das machte nichts. In jedem Fall würde sie noch mitbekommen, wie er sich dem anderen Felidae gegenüber verhielt, wenn dieser denn überhaupt noch anzutreffen war. Immerhin war das Auto bestimmt gesehen worden, sollte jemand im Haus gewesen sein.

Amanda rechnete nach den Angaben ihres PDAs mit vier Wandlern. Der Panther hatte sie davon überzeugen wollen, dass es noch einen Leoparden gab, plus ihn selbst. Ergab also sechs Angreifer, mit denen sie möglicherweise allein fertig werden musste.

Amanda stieg aus und lief den Weg entlang, den sie gerade mit dem Auto von der Farm hergekommen waren. Ihre Waffe trug sie bereits in der Hand und erst auf den letzten Metern wurde sie langsamer, sah sich um und versuchte auf jedes kleine Geräusch zu achten, da aus den Bäumen um sie herum kam.

Wie lieb war ihr die Großstadt, in der sie normalerweise arbeitete und in der sie die Geräusche des Angreifers gut vom sonstigen Lärm unterscheiden konnte. Hier konnte jeder knackende Ast alles vom Angreifer bis zum harmlosen Eichkätzchen bedeuten.

Mit dem Rücken an einen großen Baum gedrückt sicherte sie, so gut es ging, die Umgebung ab und blieb im Schatten stehen, um anschließend einen prüfenden Blick auf das Haus zu werfen. Vielleicht konnte sie herausfinden, ob Nataniel schon drin war, ohne zu nah heran zu müssen.

Die Spuren auf dem Kies waren nur als die von Großkatzen zu erkennen, aber nicht näher zuzuordnen. Den PDA herauszuholen, um sie bestimmen zu lassen, war ihr zu gefährlich. Sechs Wandler. Und sie konnten aus allen Richtungen zuschlagen. Amanda schluckte und ihr wurde schlecht bei der Vorstellung, dass sie eventuell beobachtet wurde und eine Katze ihre Aufregung riechen konnte.
 

Nataniel lief so schnell, wie er mit seinem verletzten Bein kam, durch den Wald. Er ließ nur insofern Vorsicht walten, dass er immer wieder einmal kurz stehen blieb, um sich einen Moment lang umzusehen, ehe er weiter rannte. Immerhin hatte er nicht vor, direkt zum Gebäudekomplex zu laufen, sondern machte einen weiten Bogen, damit er auf der anderen Seite des Hauses wieder auftauchen konnte.

Wie er dabei bemerkte, lag der Wald dahinter knapp am Naturschutzgebiet und somit dem Ort, an dem er absolut nichts zu suchen hatte, wenn es nach anderen ging. Er wollte mit seinem Bein im Augenblick auch nicht dort sein, aber das konnte ihn nicht davon abhalten, hier auf dem Hof herumzuschnüffeln.

Zuerst wollte er am Waldrand hinter dem Haus entlang streichen, um es zu beobachten, doch kaum, dass er ein paar Meter weit gekommen war, blieb er stehen und untersuchte den Boden vor seinen Füßen. Das war nicht einfach nur ein Wildwechselpfad, sondern sah nach den Fußspuren zu urteilen so aus, als würde hier regelmäßiger Verkehr von Großkatzen herrschen. Hauptsächlich waren es immer wieder die gleichen Abdrücke, was auf einen einzigen Besitzer schließen ließ, doch ab und zu tauchte auch eine andere Spur auf. Ebenfalls von einem Leoparden, aber vermutlich von einem Weibchen.

Dazwischen sah man immer wieder menschliche Fußabdrücke aufblitzen, doch es war nur zu offensichtlich, dass dieser Weg hauptsächlich als Tier genutzt wurde und er führte direkt von der Hintertür des Hauses in das Naturschutzgebiet. Es handelte sich also eindeutig um ein Mitglied des Rudels.

Da Nataniel nicht wusste, ob jemand zuhause war, hielt er sich in den Schatten verborgen, während er die Gegend erkundete. Dort sah man ihn nicht gleich, sollte jemand zufälligerweise aus den Fenstern sehen.

Die Hintertür war nur angelehnt, also nicht verschlossen. Es lagen keine frischen Duftmarken in der Luft, aber überall waren Spuren von einem Menschen, wie auch die von einem Tier.

Umso länger er sich umsah, umso mehr bekam Nataniel den Eindruck, als wäre der Hausherr im Moment nicht anwesend. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis er hier wieder aufkreuzte. Dennoch, er musste es riskieren. Irgendetwas sagte ihm, dass er in dieses Haus reingehen musste.

Nach kurzem hin und her Überlegen stieß er schließlich mit der Pfote die Hintertür so weit auf, dass er hindurchschlüpfen konnte.

Das Haus war zwar alt, aber vor kurzem sicher noch ein gemütliches Plätzchen gewesen. Jetzt allerdings glich es einem Trümmerfeld und vor allem stank es penetrant nach männlicher Raubkatze, die dies als ihr Heim ansah. Menschen würde der Geruch vermutlich kaum auffallen, aber für Nataniels tierische Instinkte war das wie ein deutliches Warnsignal. Er befand sich gerade im Revier eines anderen und müsste eigentlich sofort die Kurve kratzen, wenn er nicht daran interessiert war, dieses Gebiet zu übernehmen.

Seltsamerweise war der Geruch im Haus stärker und draußen nur sehr schwach, so als kam sich der Besitzer hier sicherer vor, um uneingeschränkt seinen Besitz zu beanspruchen.

Das Haus selbst war mit unzähligen Kratzern in den Wänden, den Böden und sogar an der Decke übersät. Teilweise sahen die Isolierungen und elektrische Leitungen heraus. Die Möbel waren zu Kleinholz verarbeitet worden. Im offenen Kühlschrank gammelten Obst und Gemüse vor sich hin, die Milch war schon längst sauer. Geschirr lag zerschmettert auf dem Boden herum. Nataniel glaubte bei seinem Rundblick durch die Küche unter einem Scherbenhaufen auch ein Babyfläschchen gesehen zu haben, was ihm sämtliche Haare zu Berge stehen ließ.

Auch in den anderen Zimmern sah es ungefähr überall gleich aus, auch wenn einige von ihnen schon lange nicht mehr betreten worden waren. Das große Bett im Schlafzimmer war das Einzige, bei dem nicht überall das Innenleben der Matratzen herausgerissen und die Kissen restlos zerfetzt worden war.

Selbst die Babykrippe in der Ecke war nicht verschont geblieben, was Nataniel mit einem leisen Knurren zur Kenntnis nahm.

Wut begann sich in ihm breitzumachen, je mehr er von dem Haus und den Überresten seiner Bewohner sah. Zwei Kinder, zwei Erwachsene und ein Baby. Alle Familienmitglieder hatten honigfarbenes Haar und goldbraunen Augen. Zumindest war das auf einem der herumliegenden Fotos zu erkennen.

Als Nataniel eines der letzten Zimmer – auf der Tür stand in großen Lettern ‚Lisa‘ – betrat, bebte er förmlich vor rasendem Zorn. Hier musste der Kampf am härtesten getobt haben. Es war zwar nicht sehr viel, aber dennoch entging ihm das Blut auf dem Fußboden nicht.

Seine Krallen gruben sich in das Holz der Dielen, als er daran schnupperte – Luchs.

Mit einem Mal schienen die Wände viel zu beengend zu werden und das gleichmäßige Atmen fiel ihm schwer. So schnell und leise, wie er konnte, rannte Nataniel durch den Flur, die Treppe nach unten, bei der Hintertür raus und blieb wie angewurzelt stehen.

Gerade kam ein Mann Anfang vierzig, mit vernarbtem Gesicht und fettigen braunen Haaren den Trampelpfad durch den Wald entlang auf das Haus zu. Im gleichen Moment, als Nataniel zuerst die Nacktheit des anderen und dann eine seltsame Kette um den Hals des Mannes auffiel, blickte dieser hoch und erstarrte ebenfalls, als er den schwarzen Jaguar sah.

Es war, wie eine heiße Brise, als die Wut des anderen ihn direkt traf. Doch obwohl Nataniel mit seinem Zorn weitaus mehr entgegenzusetzen hatte als der Leopard, versuchte er ruhig zu bleiben.

Zwar mochte es riskant sein, doch er verwandelte sich so schnell wie möglich zurück und stand auf. Von dieser Geste des guten Willens offensichtlich angespornt kam der andere Mann rasch näher und musterte ihn mit geblähten Nasenflügeln, als würde er Nataniels Geruch in sich aufsaugen.

„Was zum Teufel machst du auf meinem Grundstück!?“, fauchte der andere deutlich aggressiv, doch auch wenn Nataniel ihm alleine für diese Behauptung am liebsten den Kopf abgerissen hätte, blieb er ruhig und so weit es sein eigener Stolz zuließ, etwas unterwürfig. Auch wenn er es kräftemäßig vermutlich mit dem anderen aufnehmen könnte, war seine Haltung leicht geduckt und er sah dem anderen nie zu lange in die Augen. Dafür fiel ihm umso deutlicher nun die Halskette des Leoparden auf. Es war ein Lederstreifen, an dem ein Stück verwesendes Fleisch mit Fell hing. Nataniel musste zweimal hinsehen, um es als Luchsschwanz zu erkennen. Zu klein, um von einem ausgewachsenen Tier zu stammen.

Mit eiskalter Wut im Bauch biss er die Zähne zusammen, um sich nicht sofort auf diese Bestie zu stürzen. Er konnte es gerade noch verhindern, dass sich seine Krallen verlängerten, aber das stärker werdende Beben seines Körpers war unmöglich zu verhindern. Zum Glück könnte man das auch als Zeichen der Schwäche oder Angst interpretieren, auch wenn ihm der Geruch dafür völlig fehlte.

„Ich suche das neue Alphatier“, begann er schließlich so ruhig und kühl wie möglich zu sprechen. Seine Stimme zitterte leicht vor unterdrückter Wut, doch der andere schien es nun eindeutig für Angst oder Unsicherheit zu halten. Denn dieser lockerte daraufhin seine steife Haltung etwas und fing sogar zu grinsen an, als wüsste er etwas, das Nataniel nicht wusste.

„Und du suchst das Alphatier bei mir? Ich sollte mich wohl geschmeichelt fühlen. Lass das allerdings bloß nicht Nicolai hören.“ Der Leopard kam näher, da aber dessen Krallen voll ausgefahren waren, soweit das in Menschengestalt eben ging, fühlte sich Nataniel keinen Moment lang sicher.

„Wie heißt du, Kleiner?“ Der Mann streifte ebenso geschmeidig wie dessen Tier in ihm um Nataniel herum. Nur mit größter Mühe konnte der Jaguar in seinem gedanklichen Käfig gehalten werden, obwohl er nur zu gerne angreifen wollte. Doch Nataniel blieb ruhig auf der Stelle stehen, auch wenn es ihm mehr als nur unangenehm war, wenn der andere sich in seinem Rücken befand.

„Josh“, log er ohne mit der Wimper zu zucken. Immerhin konnte er nicht sagen, wie viel und ob die anderen Gestaltwandler überhaupt vom Sohn des getöteten Alphatiers wussten.

„Nicolai ist also das Alphatier dieses Reviers? Wo kann ich ihn finden?“, fragte er weiter, weil er unbedingt so schnell wie möglich die Antworten wissen musste, um rasch abzuhauen. Denn wenn er noch länger auf diesen Luchsschwanz blicken musste, würde er sich nicht mehr zurückhalten können.

Diese verdammte Bestie! Wie konnte er nur Kinder töten? Ausgewachsene Männer, die einem nach dem eigenen Leben trachteten, das würde Nataniel noch verstehen, aber Frauen und Kinder?

Leise knirschend biss er die Zähne aufeinander, während er es nicht vermeiden konnte, den Blick des Leoparden schließlich länger als höflich war, zu erwidern.

„Kommt darauf an, was du von ihm willst.“ Der Tonfall des anderen wurde kälter und seine Haltung versteifte sich wieder. Erneut blähten sich seine Nasenflügel einen Moment lang, ehe Nataniel deutlich die Veränderung in dem Mann sehen konnte, auch wenn er sich nicht wesentlich bewegt hatte.

Die Luft schien sich knisternd aufzuladen, als der Grad ihrer beiden Emotionen den Siedepunkt erreichte. Nataniels Nackenhaare standen ihm zu Berge, seine Pupillen hatten sich so sehr geweitet, dass seine sonst so blauen Augen fast schwarz wirkten und seine Krallen verlängerten sich lautlos, aber deutlich sichtbar.

„Du willst ihn herausfordern.“ Keine Frage, sondern eine Feststellung. Der Leopard kaufte ihm keinen Moment länger die Unterwürfigkeit ab. Er hatte etwas in Nataniels Geruch feststellen können, das den Jaguar auffliegen ließ. Vermutlich der intensive Gestank des Leoparden, der an ihm haftete, seitdem er das Haus betreten hatte.

„Mag schon sein“, knurrte Nataniel leise und bedrohlich. Woraufhin der Leopard zu lachen anfing.

„Du armseliges Würstchen willst den Tiger herausfordern? Träum weiter!“

Gerade, als der andere zu einer neuen Lachsalve ansetzen wollte, donnerte Nataniel ihm die linke Faust ins Gesicht, was den Mann zwar nicht zu Fall brachte, ihn aber einige Schritte zurücktaumeln ließ und ihm das Grinsen aus dem hässlichen Gesicht wischte.

Das war einfach zu viel gewesen. Nataniel hatte vielleicht ein ungesund großes Ego, aber letztendlich waren es die Gedanken an das zerstörte Mobiliar im Haus und den Luchsschwanz um den dreckigen, ungewaschenen Hals dieses räudigen Katers, der ihn zum Angriff verleitet hatte.

Noch bevor der andere zum Gegenangriff übergehen konnte, sprang er auf ihn zu und verwandelte sich, noch während er in der Luft schwebte. Als er den Kerl zu Boden riss, gruben sich bereits seine Pranken in den Brustkorb des Leoparden.

Dieser war zwar von dem raschen Angriff etwas überrascht gewesen, hämmerte ihm dann jedoch mehrmals die Faust gegen Nataniels verletzte Gesichtshälfte und brachte ihn somit dazu, von ihm abzulassen. Kaum dass sich die Sicht des Jaguars wieder scharf gestellt hatte, sah er sich einem ausgewachsenen Leoparden gegenüber. Einen Moment lang umkreisten sie sich noch, doch dann griffen sie laut brüllend an.

Mit allen Waffen, die ihr Körper zu bieten hatte, attackierten sie sich gegenseitig. Prankenhiebe wurden ausgeteilt und eingesteckt. Neue Kratzspuren überzogen Nataniels Rücken und die Seite, doch auch er hatte ein paar Treffer landen können.

Anfangs behielt er die Oberhand, schaffte es sogar, dem Leoparden sein verwesendes Andenken vom Hals zu reißen, woraufhin der Luchsschwanz irgendwo im Gras landete. Doch je länger der Kampf dauerte, umso mehr begann sich die Schwäche in ihm, breitzumachen. Seine rechte Vorderpfote brannte entsetzlich und wurde immer steifer und unbeweglicher, bis er sie gar nicht mehr benutzen konnte und immer mehr Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten.

Noch immer flogen die Fetzen, doch inzwischen war Nataniel es, der haufenweise Haarbüschel und Hautfetzen verlor, während der Leopard ihn systematisch fertigmachte. Schließlich hatte Nataniel Mühe, die malmenden Kiefer des anderen von seinem Hals und Nacken fernzuhalten. Ein Biss würde genügen und er wäre tot. Doch so weit ließ er es nicht kommen. Zumindest nicht kampflos.

Mit letzter Kraft stieß er dem anderen mit ausgefahrenen Krallen die Hinterbeine in den Bauch, so dass der Leopard ihn endlich losließ. Woraufhin Nataniel sich mehr schlecht als recht versuchte in Sicherheit zu schleppen, aber natürlich würde er nicht entkommen.



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