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Schokolade

von

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Isabel hat Marko eine Tafel Schokolade mitgebracht. Wie immer. Sie sagt, ihre Mutter arbeitet in einer Schokoladenfabrik. Vielleicht weiß Marko, dass es nicht stimmt. In der Nähe gibt es gar keine Schokoladenfabrik. Isabel erzählt die Geschichte trotzdem gerne. Marko sitzt auf dem Fensterbrett und schiebt sich ein Stück in den Mund. Er isst mit Genuss. Es dauert eine Ewigkeit, bis Marko eine Tafel Schokolade aufgegessen hat. Viel zu lang, findet Isabel. Je länger Marko an seinen Schokoladenstücken herumlutscht, je länger sich Isabel die Bewegungen seiner Zunge vorstellt, die sie von außen erahnen kann, dort wo Markos Wangen Beulen bekommen, desto länger dauert es auch, bis er sie wieder bittet, eine Tafel vorbeizubringen. Es ist doch eine sehr gute Sache, dass Markos Mutter ihm das Süßigkeiten Essen verboten hat. Isabel lehnt sich an die steril weiße Wand und schließt die Augen. Sie stellt sich Markos Zunge in ihrem Mund vor. Markos Zunge und ein Stück Schokolade. Dazu wird es wohl nicht mehr kommen. Isabel erinnert sich, wie Markos Zimmer vor ein paar Wochen noch ausgesehen hat. Überall Fußballposter an den Wänden. Heldenfiguren auf den Regalen. Comichefte auf dem Fußboden verstreut. Jetzt nicht mehr. Jetzt sind die Wände weiß und im Zimmer stehen Kartons herum. Umzugsatmosphäre. Nach England also. Sicher schön dort, für Marko. Natürlich will er ihr schreiben. Er wird es vergessen, wenn er erst einmal die englischen Mädchen kennen gelernt hat.

Isabel geht zum Fensterbrett, setzt sich zu Marko, bricht sich selbst ein Stück Schokolade ab, steckt es in den Mund, kaut kurz, schon ist es weg. Stückchen für Stückchen verschwindet in ihrem Mund. Isabel ist gierig. Sie ist keine Genießerin, nicht so wie Marko.

„Marko, was machst du, wenn du einmal richtig viel Geld hast?“ Irgendetwas Persönliches muss sie ihn doch fragen. Wo sie sich so lange kennen. Wo er jetzt wegzieht. Etwas, das nichts mit Schule und Sportverein zu tun hat. Sie findet, es ist eine gute Frage. Marko überlegt. Schiebt beim Überlegen die Schokolade in seinem Mund hin und her.

„Schokolade kaufen.“

Isabel lächelt. „Nur Schokolade?“

„Eine ganze Schokoladenfabrik.“

„Ich finde das gut. Ich meine, ich finde das richtig, richtig gut. Wer anders hätte gesagt, er will sich ein Haus kaufen, oder eine Weltreise machen, aber das finde ich langweilig. Wenn du Schokolade herstellst, kannst du viele Leute glücklich machen.“

„Ich habe das Geld doch gar nicht.“

„Aber wenn du es hast, tust du’s wirklich? Wenn du es hast, kann ich deine Miteigentümerin sein? Ich verspreche dir jetzt, wenn ich das Geld habe, kaufe ich eine Schokoladenfabrik für uns beide. Versprichst du’s auch?“

Marko drückt Isabels Hand und verspricht. Zwar genuschelt, aber versprochen ist versprochen. Auch oder gerade weil Isabel nicht glaubt, Marko jemals im Leben wieder zu sehen, prickelt es ihr beim Gedanken an das Versprechen im Bauch. Da ist etwas Großes, das sie verbindet, eine Regel, die Isabel einhalten muss und Marko auch. Isabel glaubt nicht, jemals Besitzerin einer Schokoladenfabrik zu sein, aber sie weiß schon ganz genau, was sie mit der Schokolade vorhat. Kein Gramm will sie verkaufen. Alles verschenken. Mit hundert Schokoladentafeln will sie durch die Straßen laufen und allen Leuten eine in die Hand drücken, ganz gleich, ob sie nett aussehen oder nicht. Ganz gleich, ob sie’s verdient haben oder nicht. Einen Turm aus Schokoladentafeln will sie bauen, bis unter den Himmel. Darauf will sie steigen und der Sommersonne beim Aufgehen zuschauen, und dann wird die Sonne die Schokolade schmelzen, bis der Turm wie etwas Gewachsenes aussieht, gar nicht mehr wie rechtwinklige, akkurat voneinander getrennte Tafeln. Dann werden die Sorten ineinander verschmelzen, alle Sorten Schokolade, die es gibt, und es wird nur noch eine einzige Sorte Turmschokolade geben und die ist lecker. Da fällt Marko ein, er will seine Schokolade auf dem Herd schmelzen. Vollmilch und weiß und Zartbitter. Und dann wird er Bilder damit malen, ganz hässliche Bilder aus Schokolade. Die wird er im Kunstunterricht seinem Lehrer präsentieren. Der wird nur so schimpfen, weil der Marko sich so wenig Mühe gegeben hat, doch dann wird er die Schokolade riechen und die Bilder ablecken, weil sie doch so unglaublich lecker sind. Und Marko bekommt eine glatte eins. Obwohl er doch überhaupt gar nicht malen kann.

Wir werden uns ein Haus aus Schokolade bauen, unsere Kinder nennen wir Hänsel und Gretel, fügt Isabel hinzu. Die weltgrößten Schokoladenfiguren werden wir bauen, prahlt Marko. Ein Düsenjet aus Schokolade, ein Rolls-Royce aus Schokolade, ein ganzes Fußballstadion aus Schokolade. Schokolade mit Brausepulvergeschmack. Schokolade mit Stachelbeergeschmack. Schokolade mit Kaugummigeschmack. Isabel wird in Pralinen baden, das ganze Stadtbad badet in Pralinen, der Badeschaum ist aus Mousse au Chocolat.
 

Das ganze weiße Zimmer duftet nach Schokolade, als seien die Umzugskartons nur so voll davon. Ein Blick aus dem Fenster und Isabel weiß, dass es Abend wird. In einer Küche ein paar Straßen weiter kocht ihre Mutter für sie. Als Isabel geht, sagt sie nicht „Auf Wiedersehen“, sie sagt nicht „Mach’s gut“. Sie sagt: „Versprochen?“

Marko will sich noch ein Stück Schokolade in den Mund schieben. Er greift in die Packung, doch sie ist leer. Enttäuscht zerknüllt er das Glitzerpapier und wirft es aus dem Fenster. Es regnet feinste Schokoladenkrümel im Hof.
 

30 Jahre später
 

Jetzt ungefähr müssten die Mitarbeiter der Schokoladenfabrik bemerken, dass der Angestellte Marko Seiler nicht an seinem Schreibtisch sitzt. Noch gehen sie sicherlich von einem verspäteten Zug aus. Marko selbst weiß es besser. Er sitzt nicht im stets unpünktlichen Bummelzug. Nein, denn ihm gehört die ganze Freiheit der Autobahn. Das Fortbewegungsmittel: Ein gestohlener LKW. Die Ladung: 10.000 Tafeln Schokolade. Mindestens. Die Beifahrerin: Isabel, mit einem anderen verheiratet, mit einer Berufslaufbahn ausgestattet, die sie vergessen kann. Das Ziel: Ein Traum.



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Kommentare zu diesem Kapitel (16)
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Von:  GodOfMischief
2013-05-20T12:58:42+00:00 20.05.2013 14:58
Das Ende hat mich zum Schmunzeln gebracht.
Die Geschichte ist wirklich schön geschrieben, anfangs vielleicht ein wenig traurig darüber, dass die beiden Abschied voneinander nehmen müssen, am Ende dann aber trotzdem ihren wahnwitzig Traum ausleben.
Es hat, finde ich, ein wenig was vom echten Leben, auch wenn keiner von uns so viel Schokolade klauen würde, aber es zeigt auch genauso gut, dass man seine Träume verfolgen sollte.
Mir fällt auch gerade auf, dass ich die Geschichte schon mal vor einiger Zeit gelesen habe, aber sie hat nichts von ihrem Charme verloren :)

lg
Von:  Chirokee
2009-11-04T00:24:44+00:00 04.11.2009 01:24
Moah, wie toll *___* Ich finde die Geschichte wundervoll. Die ist so kurz und trotzdem fesselnd. Du hast einen tollen Schreibstil!
Im Gegensatz zu Pigeon fand ich das Wort "akkurat" toll. Ich weiß nicht, aber der Ausdruck "akkurat voneinander getrennte Tafeln" ist mir irgendwie am besten im Gedächtnis geblieben.
Und das Ende ist auch toll. Es ist kein perfektes Happy End (ich hätte gedacht, dass sie die Fabrik wirklich bekommen :D), aber trotzdem total schön.
Mach weiter so :3
Von:  Pigeon
2009-10-27T22:16:46+00:00 27.10.2009 23:16
Unglaublich toll und fesselnd geschrieben. Ich vin ernsthaft beeindruckt. Das ganze ist zwar wie eine Geschichte für Kinder geschrieben, aber hat gleichzeitig so eine Tiefe und erinnert mich an die Tage und Momente in denen ich als Kind mit jemanden Schokolade gegessen habe :)
Wirklich wundervolle Geschichte. Das einzige was ich ein wenig störend empfand, war auf Seite zwei das Wort 'akkurat'. Ich weiß nicht warum, vielleicht weil es sonst nicht so unbedingt in den eher 'simpel' gehaltenen kinderbuchartigen Schreibstil hineinpasst, ich weiß nicht so recht. Aber ansonsten...wirklich toll...

Stück Schokolade? ;)
Von:  Naomi9
2009-10-23T16:23:26+00:00 23.10.2009 18:23
Diese Geschichte ist so süß, dass mir die Worte fehlen! XDD

Es ist wirklich toll. Ich bin begeistert! Eine wirklich tolle Story!^^
Von:  kruemmel_13
2009-10-20T18:59:43+00:00 20.10.2009 20:59
Die Geschichte ist soo schön!!
das YUAL hast du dir wirklich verdient!
Richtig richtig tolle idee. und auch der schreibstil ist super.

lg kruemmel_13
Von: abgemeldet
2009-10-20T15:07:01+00:00 20.10.2009 17:07
das ist wirklich super
die geschichte ist richtig schön und süß geschrieben^^
und das ende ist wirklcih witzig XD
also wirklch ich kanns nur wiederholen
die story ist super
Von:  CarterBrooks
2009-10-12T13:28:19+00:00 12.10.2009 15:28
Ich hab Gänsehaut bekommen. Die Geschichte ist wirklich wunderschön, der einzige Kritikpunkt den ich habe ist dieses "dreißig jahre später" das bringt einen Bruch rein, den ich unpassend finde. Aber sonst: Ganz große Klasse.

Von:  -MissVerstaendnis
2009-10-12T00:27:17+00:00 12.10.2009 02:27
Manchmal hab ich das gefühl, hoffnung und so, näh. ich will an gutes glauben, aber wenn cih so alleine dran glaube, kommt mir das so kindisch so allein und fast schon träumerisch vor. ich find es genial, dass ich nicht allein so denke. das gibt halt und keien ahnung sowas wie ein vetrauen in dieses gefühl. also in hoffnung. Solche versprechen hab ich auch mit einer guten freundin geschlossen.
Ich bin auf jedne fall froh darüber, diese geshcichte jetzt gelesen zu haben.
Von:  -Moonshine-
2009-10-10T16:45:01+00:00 10.10.2009 18:45
Wunderbar. :3 Und lässt an Träume glauben. ^^
Von: abgemeldet
2009-10-08T17:36:29+00:00 08.10.2009 19:36
Deine Geschichte ist so süß... wie Schokolade.
Ich glaube, dass Völlerei eine Todsünde ist, aber wegen Deiner Geschichte möge
man mir verzeihen.
Ich liebe sie.
Wunderschön.
Ich glaube, dass der Geschmack Deiner Schokoladen-Geschichte Zartbitter wäre.


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