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Rattenprinzessin

Von der Suche nach schwarzen Beeren
von

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Reisen

Einmal in England angekommen, fiel es Marc leicht, sich zwischen den Ortschaften umherzubewegen. Eine neue Generation war herangewachsen, die Nachkriegsgeneration, die ihre Schulabschlüsse in Ruhe feiern und genießen konnte ohne fürchten zu müssen, dass man sie wie ihre Väter bald an Kriegsfronten beordern würde. Und in England war es, wie Marc schnell feststellte, absolut üblich, dass die Schulabsolventen und künftigen Studenten, meist in seinem Alter, in der freien Zeit zwischen Abschluss und Studiengang per Anhalter quer durch das Land reisten. Genauso üblich schien es zu sein, dass man diese jungen Leute, obgleich fremd, in fast jedem Haus freundlich aufnahm, dass fast jedes Auto für sie anhielt, und dass jedes Motel und Hostel mit ihnen um die Zimmerpreise verhandelte. Ein in Manchester am Flughafen gekaufter Reiseführer bewahrte den Franzosen zusätzlich davor, ausgenommen zu werden oder zu teure Jugendherbergen anzusteuern. Zwar hatte er keine eigene Wohnung mehr und musste sich allnächtlich seine Schlafzimmer mit mindestens zwei bis sieben Altersgenossen teilen – aber er fühlte sich wohl, frei und irgendwie zuversichtlich, so als ob ihn der Wind schon in die richtige Richtung wehen würde. Eine Weile reiste er von Manchester aus wild herum, wobei ihn seine Fahrer mal wieder näher an die Stadt brachten, mal aber auch in kleine Örtchen mit verschlafenen Namen wie Oldham und Rochdale mitnahmen, die man ausschließlich aus roten Backsteinen und guter Laune gebaut zu haben schien. Er lernte Fish and Chips kennen, gewöhnte sich an getrennte Wasserhähne für heißes und kaltes Wasser und kaufte sich sogar ein Souvenir – ein kleiner roter Füllfederhalter mit dem Wappen Oldhams und dem Motto der Stadt: „Sapere Aude“. Habe den Mut, klug zu sein. Gemeinsam mit einer kleinen, verniedlichten Eule am Ende des Stiftes, die aus großen Murmelaugen in die Welt blickte, erwählte er diesen Spruch zu seinem künftigen Reisebegleiter. Etwas zu wagen, etwas Neues, fühlte sich gut für ihn an.
 

Dann beschloss er, aus einem Impuls heraus, nach London zu reisen. Er wusste nicht genau warum, vielleicht hatten die Lobpreisungen im Reiseführer bei ihm angeschlagen, vielleicht reizte die Großstadt schlicht den Touristen in ihm – aber dieser plötzliche Entschluss gab seinem mittlerweile wochenlangen ziellosen Treiben endlich eine Richtung, und so gab er ihm sofort nach.
 

Normalerweise bevorzugte Marc, Autos an den Straßenrand zu winken und einzusteigen. Das bescherte ihm regelmäßig angenehme Unterhaltungen, und besonders Fernfahrer schienen sich darüber zu freuen, gegen ihre Müdigkeit jemanden zu haben, mit dem sie reden konnten. Aber oft waren die Wagen nur in der Region um Manchester herum in Bewegung, und nachdem Marc einen Morgen und Vormittag damit verbracht hatte, erfolglos einen Fahrer nach London oder Umgebung zu suchen, ließ er sich von seiner Ungeduld dazu bewegen, sich für den Zug zu entscheiden.

Er hatte schon öfter beobachtet, wie sich Obdachlose und Reisende mit leeren Taschen in die unbeobachteten Güterwagons einiger Warenzüge einschlichen, um dann später, nahe ihren geplanten Ankunftsorten, mit waghalsigen Sprüngen die Strecken zu verlassen ehe sie entdeckt werden konnten.

Auch Marc versteckte sich zwischen frisch ausgeladenen Kisten und Containern, sobald er einen passenden Zug in ungefähre Richtung Londons ausgespäht hatte, und schlüpfte in einem unbeobachteten Moment in den halbvollen Wagon, wo er sich zwischen einigen gut gesicherten Containern versteckte. Erleichtert stellte er fest, dass er bisher allein im Wagon zu sein schien. Oft genug hatte er von hässlichen Auseinandersetzungen in Güterzügen gehört, die verschiedene unangenehme Ausgänge nehmen konnten – von einfachem Raub bis hin zum Tod durch Genickbruch oder Messerstiche. Insgeheim lobte er sich für seine feinsinnige Intuition, die ihn scheinbar genau davor bewahrt hatte, als er ein leises Schlurfen hörte.

Der Franzose versank noch tiefer zwischen den Containern, einen möglichst dunklen Winkel dafür auswählend, vorsichtig an ihnen vorbei zu spähen. Zwei zerlumpte Gestalten ließen sich gerade leise in eine Ecke plumpsen, von der sie wohl erwarteten, dass sie dort niemand entdecken würde. Sie sahen auf unangenehme Weise grobschlächtig aus und ihr Gestank schien siffig über den Boden zu schwappen, um Marcs Nase mit einem olfaktorischen Hammer aus Alkoholfahne, menschlichen Ausscheidungen und allen übelriechenden Körperausdünstungen eines lebenden Wesens zugleich zu betäuben. Unwillkürlich hielt er sich die Hand vor Mund und Nase, eine Bewegung, die nur ein leises Rascheln seiner Kleidung verursachte und trotzdem einen der beiden Güterzugzombies aufhorchen ließ wie ein alarmiertes Raubtier.

Na wunderbar., drängte sich dem Franzosen in Gedanken auf, und sämtlicher Stolz auf seine Intuition war verflogen. Wieso zur Hölle bin ich überhaupt hier reingegangen?!

Eine Erinnerung – oder besser gesagt: Das Gefühl einer vergessenen Erinnerung – klopfte an seinen Verstand. Aber Marc beschloss, gedanklich keine Zeit zum Grübeln zu haben. Stattdessen nutzte er den Lärm des startenden Zuges aus, um sich bequemer zu positionieren, ohne dass die beiden Zugestiegenen es merkten, zog sich einen Schal fest um Mund und Nase und genoss dann zurückgelehnt das rythmische Rattern der Räder auf den Gleisen. Eines schien er den beiden immerhin voraus zu haben: Er wusste von ihnen, aber nicht umgekehrt. Unter diesen Umständen würde er sicher rechtzeitig vor London aus der Tür stürzen können, ohne in Konflikt mit ihnen zu geraten.

Beruhigt von seinem Plan, der Müdigkeit eines Reisenden und dem Wiegenlied des Zuges glitt er überraschend schnell in einen seltsam heißen Schlaf.
 

Er war dreizehn, und er wachte alleine auf. Alleine und... unbekleidet. Der Gedanke traf ihn schlagartig, noch vor jedem anderen, der sonst einen Weg in seinen Verstand fand, wenn er erwachte. Und Scham stieg hitzig in ihm auf. Er sprang aus dem Bett und knickte sofort ein, denn Schwindel traf ihn wie der Schlag und ihm wurde so schrecklich übel, dass er Mühe hatte, sich nicht direkt auf den Teppich zu übergeben. Seine dünnen Arme zitterten, und er stellte erschrocken fest, wie blass sie waren, als er an ihnen herabsah. Trotzdem hob er eine Hand, um wenigstens seine Unterhose zu sich zu ziehen und sich, den Rücken stützend ans Bett gelehnt, damit zu bedecken. Als nächstes wagte er sich an die Hose. So dreckig es ihm ging, er konnte nicht zulassen, dass seine Eltern ihn so sahen! Wo war seine Hose? Er erinnerte sich und zog sich mühsam am Bett hinauf. Da lag sie. Er ließ sich neben sie auf die Decke fallen und zog sie im Liegen an. Eine Karte fiel heraus. Fast blendend weiß und schlank. Er ergriff sie, hielt sie sich vor die Augen – und die Schrift darauf schien das Einzige zu sein, das nicht verschwamm:

„16 Uhr. Bahnhof London Road, Manchester. London North and Eastern Railway. Güterwagon No. 67.“

„Nummer 67. Hast du verstanden?“, fragte eine sanfte, junge Stimme. Marc ließ die Karte sinken. Es ging ihm besser. Er war auch nicht mehr dreizehn, sondern zwanzig... zwanzig... und in England! Er setzte sich leicht auf. Das Bett, in dem er lag, was das seiner Jugendherberge, und vor ihm stand ein junger Mann, der auf keinen Fall mehr Lenze als er selbst zählte. Der Junge schaute ihn weltvergessen aus dunklen Augen an, sich ein paar Strähnen zerzausten, braunen Haares aus dem schmalen, erfahrungsgegerbten Gesicht streichend. Ein wenig erinnerte er Marc an Mad Hatter – er wirkte fehl am Platz in dieser Welt, in seiner Kleidung, in dieser Zeit. Obwohl sein Körper nicht älter als 20 war, wirkte er, als habe er seinen Geist irgendwo auf dem Weg hierher verloren. Sein Gesicht erschien vollkommen blank, aber gerade deshalb imstande, jede menschenmögliche Emotion widerzuspiegeln, und der Rücken des Fremden wurde durch einen markanten Buckel verunstaltet, der ihn um fast zwei Köpfe kleiner machte als den Franzosen.

„Hast du verstanden?“, hakte er sanft nach. Apropos Franzose – er sprach eindeutig Französisch. „Es ist wichtig, dass du Nummer 67 nimmst. Egal was geschieht.“

“Nummer 67.“, wiederholte Marc, sich irgendwie willenlos fühlend. Sein Gegenüber nickte und strahlte für einen Moment Zufriedenheit aus.

„Du wirst vergessen, dass ich da war. Du wirst vergessen, dass wir miteinander gesprochen haben. Mich gibt es nicht und das ist nie passiert. Dies ist nur ein Traum, wenn überhaupt etwas – du wirst nur dem Befehl folgen, den du empfangen hast, als wäre er deine eigene Idee.“

Der junge Mann zerplatzte zu einer Wolke aus Rauch, durch die sich das hässliche Gesicht eines fast zahnlosen alten Mannes schob, begleitet von einem Gestank, der Marcs Traumwelt brutal zerriss.

Der hässliche Kerl grinste, vergilbte Zahnstummel und eine noch schlimmere Atemwolke enthüllend.

„Na, gut geschlafen, Missy?“



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