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The Longest Journey - Beyond the Veil

Das Ende einer langen Reise steht bevor
von

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3.3 Das neue Bewusstsein

A/N:

Beim näheren Recherchieren von Polizeigraden in den Vereinigten Staaten ist mir aufgefallen, dass das Ranggefälle, was bisher zwischen den Figuren des NPD herrschte, eigentlich hinten und vorne nicht stimmen kann:
 

Eléna Saucédo und Carol Denvers werden meist als Officer angeredet – dabei ist das der unterste Rang in der Polizeihierarchie, und die beiden sind ganz klar höher graduiert als der Rest ihrer Kollegen.

Da Eléna bei der Fahndung trotz ihrer nur 23 Jahre als führende Kraft mitwirkt, sollte sie eigentlich den Rang eines Junior-Sergeants haben. Dies wäre nach den Regelungen des Seattle Police Departments (theoretisch der Vorgänger des Newporter Departments) zwar erst nach fünf Jahren Polizeidienst möglich (wozu sie erst mit zwanzig zugelassen wäre); aber da dies alles zweihundert Jahre in der Zukunft spielt und das NPD ziemlich heruntergekommen ist, wäre eine Änderung dieser Vorgaben ohne weiteres möglich.

Carol Denvers wäre nach der Zahl seiner Dienstjahre eigentlich zu einem höheren Dienstgrad berechtigt und hätte damit mehr Befehlsgewalt als Eléna. Allerdings hat er wahrscheinlich nie einen Beförderungsantrag gestellt und genießt es, als Senior Trooper / Senior Officer die Neuzugänge zu überwachen.

Andrew Johnson dagegen ist nicht, wie bisher gedacht, ein Sergeant (nicht einmal ein frisch gebackener), sondern kann höchstens den Grad eines Erste-Klasse-Officers mit vielleicht drei Jahren Diensterfahrung haben. Er wird außerdem erst vor kurzem Elénas Einheit zugewiesen worden sein.

Krooks, Elénas toter Kollege, dürfte früher Mitglied ihrer Einheit gewesen sein, allerdings ebenfalls niedrigeren Ranges.

Henrik Farlan wurde als Inspektor eingeführt, was sich von den anderen Rängen darin unterscheidet, dass er in Zivilkleidung arbeitet. In den USA kann man sowohl mit als auch ohne Patrouillenerfahrung eine Detektivausbildung absolvieren, und bei Farlan ist letzteres der wahrscheinlichere Fall – seine Profession vor der Boxerkarriere war in der Informatikbranche. Da er Leiter der Netzfahndung und Informatikabteilung ist, dürfte er im gleichen Rang oder oberhalb eines Captains stehen.

Orlando Green ist Polizeichef und Police Commissioner von Newport und damit der höchste Beamte der städtischen Polizei, muss sich allerdings der staatlichen EYE-Abteilung unterordnen.
 

Das EYE selber hat ebenfalls ein militärisches Rangsystem, allerdings wesentlich autoritärer und straffer organisiert. Die national gegliederten Divisionen sind in sogenannten Zirkeln organisiert, die einem Commander unterstehen. Die Zirkel ihrerseits unterstehen Fraktionen im Syndikatsrat, die normalerweise nach gewissen Standards beantragt und genehmigt sein müssen.

Allerdings werden diese Standards schon seit Jahren unterlaufen, und so unterstehen die Zirkel nunmehr einem einzigen Konzern und haben je nach dessen Einfluss eine umfangreiche Exekutivgewalt auch innerhalb des EYE.

Der an dem Einsatz im Haus Ryan beteiligte MT-7 trägt eigentlich den Titel „Nordwestamerikanische Division für den Dreizehnten Zirkel“, hat aber in Sachen Konzernloyalität seine ganz eigene Geschichte...
 

~~~~~~~~~~ {: * :} ~~~~~~~~~~
 

„Wollen Sie noch einen Schluck, Liv?“

„Danke, Charlie – aber der erste Schluck wird vollauf reichen. Sie sagten, das sei haitianischer Kaffee?“

„Meine persönliche ‚Hausmarke‘, könnte man sagen – ich stamme von St. Vincent, das ist dort gleich um die Ecke. Ich hab das Zeug gerne weiterempfohlen, als das hier noch ein Café war. Doch die meisten Leute, die jetzt herkommen, brauchen in der Regel andere Muntermacher.“

„Aber heute nicht?“

„Nein, heute haben wir unsere zweitägige Ruhepause. Wir öffnen erst morgen Abend wieder.“

„Dann werden wir uns bald nach einem anderen Hauptquartier umsehen müssen?“

„Ja, das müssen Sie! Wir haben zu viele Vorbestellungen, und so gern ich auch aushelfe – das Geschäft muss stabil bleiben.“

Schweigend nimmt Olivia noch einen kleinen Zug von dem Kaffee. Der sanfte, rauchige Geschmack lässt sie die Kälte der Garage beinahe vergessen, doch – zu ihrer eigenen Überraschung - könnte auch die derzeitige Gesellschaft dazu beitragen.

Charles Layou (von den meisten Leuten ‚Charlie‘ genannt) schlägt die langen Beine übereinander und schaut über die Schulter zur Einfahrt, wo Inspektor Farlan über den Messenger mit seinem Commissioner spricht.

„Polizeipräsenz ist in meinem Gewerbe nicht sehr förderlich“, sagt er angespannt, „ich hätte Sie ohne Absprache mit meinem Boss eigentlich nicht hier reinlassen dürfen.“

„Mr. Farlan und ich könnten auch das verliebte Pärchen spielen, wenn Ihnen das lieber ist“, scherzt Olivia. „Die exotische Liebhaberin des alten abgehalfterten Junggesellen...“

„Apropos ‚exotisch‘“, unterbricht sie Charlie, „sie kommen doch aus Nordafrika, nicht wahr?“

„Ja“, antwortet die junge Berberin verhalten, „aber das braucht eigentlich nicht jeder zu wissen.“

„Ich werde diskret sein, keine Sorge! Es ist nur so, dass ich vor kurzem Besuch von einer jungen Frau aus Casablanca hatte, und sie hatte eine Freundin namens Olivia. Sie war hier, um nach ihrem Freund zu suchen, und ich verwies sie auf denselben Ort, wegen dem Sie jetzt hier sind.“

Zu ihrem nicht unbeträchtlichen Ärger muss Olivia feststellen, dass ihre Zunge trotz vorprogrammierter Antwort an ihrem Gaumen klebt.

„Ja“, sagt sie dann langsam, „das Victory-Hotel!“

„Hat Zoë Ihnen jemals erzählt, was dort passiert ist?“

„Ich habe Aufzeichnungen darüber gesehen. Sie hat mich über einige Details in Stand gesetzt, aber nachdem sie in WATI City angekommen war, habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ich weiß aber, dass sie den Namen April Ryan erwähnte, und als ich dann genau diesen Namen in der Akte las, bin ich beinah ohnmächtig geworden...“ Sie seufzt theatralisch. „Es war ein viel zu unglaublicher Zufall.“

„Zufall, ja...“

Charlie senkt den Blick. Schon holt er aus, um etwas zu erzählen, als ihn eine Klingel unterbricht.

Hinter ihnen schaltet Inspektor Farlan hastig den Messenger aus.

„Das müssen meine Leute sein. Sind Sie bereit, Mr. Layou?“

„Ich komme gleich“, antwortet dieser, bevor er sich noch einmal Liv zuwendet.

„Bleiben Sie in meiner Nähe! Dann finden Sie vielleicht Ihre Antworten.“
 

Die Außenkameras zeigen wirklich einen Polizeitransporter mit halbblinden Scheiben, hinter ihm gewaltige Schwaden von Eisnebel.

Charlie schaltet schnell die Scheinwerfer über dem Tor ein und richtet sie aus, bis ihr Schein auf

eine uniformierte Frau fällt. Hinter ihr rennt ein junger Mann vom Führerhaus weg zum Heckraum.

„Das ist Sergeant Saucédo“, erklärt Farlan über den Bildschirm gebeugt. „Und der Mann dahinten ist... Jackson, oder so. Viel versprechender Neuling. Irgendwo müsste da auch Denvers sein, einer unserer erfahrensten Streifengänger. Gibt den Frischlingen ein bisschen Starthilfe. Absolute Profis. Ich bin sicher, Ihrer Miss Ryan geht es bestens...“

Die Hecktüren werden zugeknallt und enthüllen zwei Männer, die eine ohnmächtige Frauengestalt in den Armen haben, sowie einen älteren Polizisten, der an der Krücke geht.

Charlie drückt den mit offenem Mund dastehenden Inspektor Farlan etwas unsanft beiseite und betätigt sofort den Knopf für das Rolltor.

Wenig später nimmt er die Gruppe in Empfang und führt sie im Eiltempo durch die Küchenräume zur Lounge, wo Eléna Saucédo (der jüngere Polizist ist zurückgeblieben, um den Wagen hineinzufahren) und ein älterer Herr, der wie ein Priester aussieht, die bewusstlose April auf eine Polsterbank sinken lassen.

„Sie hatte einen ihrer Anfälle“, erklärt der ältere Herr. „Ich habe derartiges schon miterlebt – es scheint Teil ihrer Amnesie zu sein.“

„Eine Panikattacke?“, fragt Charlie

„Das war keine einfache Panik“, stößt Sergeant Saucédo aufbrausend hervor. „Wir hatten keine Ahnung, was da... Sie war wie eine Furie! Wir sind beinahe in die Fahrbahnbegrenzung gekracht. Carol hat sich beim Abbremsen das Bein verrenkt, und wenn ich nicht an seiner Stelle gegengesteuert hätte, wären wir jetzt tot.“

„Eléna, bitte!“, beschwichtigt sie der Priester. „Ich kann mir auch keinen Reim darauf machen, es ist...“

„Pater, kommen sie mir nicht mit Entschuldigungen – wir hätten sterben können!“

„Was genau ist passiert?“, fragt Charlie noch einmal nach, die aufgeheizte Stimmung bewusst ignorierend.

Der Pater pustet unsicher auf seine gefalteten Hände. „Es war Ihr Name!“, sagt er dann in Charlies Richtung. „Sobald sie ihn hörte, fing sie an zu zittern. Sie flüsterte, flehte: ‚Nein, nein, bitte nicht, nein‘. Sie war nicht mehr sie selbst – die Luft um sie herum glühte weiß und vibrierte. Wir - das heißt, der junge Johnson und ich - versuchten auf sie einzureden, aber sie warf uns einfach zur Seite und schlug dann mit beinah dämonischer Kraft auf die Heckraumwände ein. Und ihre Schreie...! Wie gesagt, ich habe all das schon einmal erlebt, aber nicht in dieser Größenordnung! Schließlich brachte sie ein besonders heftiger Schlenker zu Fall und wir konnten uns auf sie stürzen und sie beruhigen.“ Er hält inne, lässt seine Worte einen Augenblick auf Charlie einsinken. „Ich weiß, das klingt alles geradezu unglaublich...“

„Oh nein“, widerspricht Charlie aufrichtig. „Ich verstehe das vollkommen.“

„Was soll das heißen – ‚verstehen‘?“, schreit Eléna Saucédo ihn aufgebracht an. „Denvers braucht vielleicht Tage, um wieder ordentlich laufen zu können, und wir sind sowieso schon so wenige, und... wo ist Green?“, fährt sie Farlan an. „Hängt er etwa immer noch in der Grendel Avenue fest?“

„Er hat noch keinen Anwalt gefunden“, wehrt Farlan irritiert ab. „Glauben Sie etwa, die Leute würden Schlange stehen, um sich mit dem EYE anzulegen? Die haben sich durch alle möglichen Fallstricke schon vor Jahren unangreifbar gemacht...“

„Bei Gott, erklären Sie mir das nachher!“ Die junge Unteroffizierin bricht auf einer Chaiselongue neben Charlie zusammen und reibt sich die müden Augen.

In Charlies Augen macht sie den Eindruck einer sonst unabhängigen Frau, für die außerordentlich viel auf dem Spiel steht... professionell genauso wie persönlich.

„Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, fährt er an Inspektor Farlan gewandt fort. „Ich kümmere mich um April, und Sie gehen erstmal hoch in mein Arbeitszimmer, um ihre Besprechung vorzubereiten. Officer Denvers kann sich solange in unserem VIP-Separee im oberen Stockwerk hinlegen...“

„Ja klar, lassen Sie mich ruhig die ganzen Treppen hochhumpeln“, erwidert dieser trotzig mit hoch erhobener blutiger Nase. „Geben Sie mir lieber was Handfestes zu essen!“

„Gut. Ich hole Ihnen dann was aus der Speisekammer. Wir haben auch ein Badezimmer für das Personal im rechten Flügel“, fügt er mit einem Blick neben sich hinzu. „Ich werde Sergeant Saucédo den Schlüssel dazu geben.“

Der Inspektor nickt abwesend. „Wir müssen dann noch einmal ihre Aussage erfassen. Kommen Sie mit Johnson hoch zu mir, sobald er mit dem Transporter fertig ist. Miss DeMarco – Sie kommen bitte auch mit!“ Dann entfernt sich Farlan mit dem frustrierten Seufzen eines Mannes, der sich selbst extrem bemitleidenswert findet; Olivia folgt ihm, die schwere Laptoptasche fest an sich geklammert, eine Hand an ihren Perlenzöpfen.

Denvers wartet derweil noch auf seine jüngere Kollegin. „Jetzt steh schon auf! Soll ich mich etwa genauso gehen lassen wie du, nur weil ich müde bin?“

Eléna schenkt ihm einen giftigen Blick, doch der alte Offizier kümmert sich gar nicht darum und humpelt unverdrossen in die Küche davon.

Charlie spürt, wie hinter ihm eine Atmosphäre aus Anspannung und unausgesprochenen Schuldgefühlen zurückbleibt: April liegt bewusstlos, aber keuchend auf der Polsterbank; der Pater fingert nervös an seinen Manschetten; und Eléna Saucédo begräbt ihr rotes Gesicht in den Händen, als wolle sie gerade überhaupt nicht angesprochen werden.

Charlie wagt es dennoch und legt vor ihr die Hand auf den Tisch. „Wie gesagt – hier ist der Schlüssel! Das Bad ist das dritte Zimmer im Flur rechter Hand zur Mikrowelle. Das wird Ihnen gut tun“, möchte er weitersagen, da schieben sich Elénas lange braune Finger schon über den Schlüssel und ziehen ihn weg.

„Danke!“, sagt sie steif und steht auf.

„Sie müssen nur ein wenig warten, bis das Heißwasser kommt“, setzt Charlie ruhig nach.

„Sie sind sehr zuvorkommend.“

„Das ist der Service unseres Hauses.“

„Genau wie diese Reproduktion eines emaki von Takeshi Sunuke dort an der Wand.“

„Inwiefern ist sie zuvorkommend?“

„Sie weiß, wann sie den Schnabel zu halten hat.“

Charlie registriert schmunzelnd ein zurückhaltendes Lächeln auf Sergeant Saucédos Lippen und erkennt, dass dies nicht als Angriff gemeint ist.

Doch gleich darauf bemerkt er, wie April sich mit einem Stöhnen zur Seite dreht, und seine Gedanken kehren voller Scham in die Gegenwart zurück, und er sieht noch immer Eléna vor sich stehen, die dunklen Wimpern wie einen Vorhang über ihre Augen gelegt.

An irgendetwas erinnert ihn diese Scheu... diese Verlorenheit...

Als hätte sie ihren Koffer neben sich stehen und würde ihn für die Suche nach einer Wohnung um Rat bitten.

„Ich gehe besser in die Küche“, spricht er zögernd, „bevor ihr Kollege...“

Das Scheppern von zerbrechendem Geschirr, das Fluchen eines alten und das Flehen eines jungen Mannes schneiden ihm das Wort ab.

Eléna schüttelt wehmütig lächelnd den Kopf. „Wissen Sie, wir sind eigentlich alle Profis – auch wenn man uns das nicht ansieht!“
 

~~~~~~~~~~ {: * :} ~~~~~~~~~~
 

Es ist eine schmerzhafte Erfahrung, an Tage des Scheiterns zurückzudenken.

Wenn eine Welt in die Brüche geht, die man nicht bereit ist zu verlieren. Wenn die eigenen Entscheidungen sich auf andere, geliebte Menschen auswirken.

Es ist noch keine zwei Stunden her, dass April diese Erfahrung machen musste, als sie vom Tod ihrer Mutter erfuhr. Und nun schleudert sie ihr Geist auf noch weit ältere Erfahrungen zurück.

Ihr ganzer Körper wird davon geschüttelt. Ein schwerer, betäubender Druck legt sich auf ihre Hände und Unterarme, so dass sie keinen Finger mehr rühren kann.

Viel schlimmer aber ist der endlose Strom an Gedanken und Bildern, die alle miteinander grausam sind.

Sie erkennt, dass sie Rebecca Ryan sehr lange und gleichzeitig nicht lange genug gekannt hat. Sehr gern hätte sie gewusst, was jenseits der allgegenwärtigen Hilflosigkeit sonst noch in diesem Menschen steckte.

Sie war sicherlich sanft gewesen; hatte ihr Geschichten vorgelesen, wenn Vater nicht zu Hause war; hatte sie gelegentlich gefragt, was sie im Fernsehen schaute; hatte sie zum Lesen und Malen... nun ja, nicht gerade ermuntert, aber sie hatte sich wohl dafür interessiert.

Aber was war das für sie? Eine mütterliche Pflicht? Echte Hingabe? Das Amüsement einer Zoobesucherin beim Anblick eines niedlichen kleinen Bären?

Ein Ersatz für Vaters Gefühlskälte?

April kann ihn hören, wie er brüllt. Wie er die Treppe herunterpoltert. Wie er vor Schmerzen stöhnt und April hinterher ruft, sie solle zurückkommen.

Doch sie ist bereits unterwegs, niemand weiß wohin. Es ist ein wahnsinniger, doch bestimmter Wunsch, der sie in die Ferne leitet.

Hohe Wolkenkratzer wachsen um sie herum. Geländer aus korrodiertem Messing und tiefe Abwasserkanäle formen ihren Weg zu einem hohen Reihenhaus direkt vor einer kleinen Bogenbrücke; auf einer Seite ziert ein Wandgemälde mit grünen Schlieren und einem weißen Drachen das Bild.

Sie hört Lachen in diesem Haus, das Scherzen und Gezanke zweier innig verliebter Frauen; Filmklassiker und Dokumentationen auf einem großen Bildschirm... und dann plötzlich: einen Schuß.

Emma - ihre beste Freundin mit den langen schwarzen Haaren und den wilden Ideen – fällt zu Boden.

Zack – ihr schmieriger Zimmernachbar mit dem selbstgefälligen Gehabe – hebt die Hände in Notwehr, doch auch er wird getroffen.

Fiona Chamberlain – ihre Vermieterin – ringt die Hände und weint.

Und über all dem eine weibliche Gestalt im Anzug, ohne Gesicht, mit einer kalten monotonen Stimme, die vom Äther verzerrt wird: eine unnahbare Logik im Dienste eines größeren Übels.

Obwohl sie nicht besonders nah bei April steht, spürt die junge Frau dieses Wesen mit einer kaum zu ignorierenden Präsenz. Es scheint fast, als läge sie wie eine Wolke über jedem einzelnen ihrer Gedanken und könne ihn hören und ersticken.

‘Deine Rolle endet‘, hat er gesagt“, verkündet die Logik mit unendlicher Ruhe und auch ein wenig Traurigkeit. „‘Lass es einfach sein‘, sagte er! Warum hast du dich nicht einfach dran gehalten?“

‚Was meint sie damit?‘, denkt April kraftlos. ‚Was hätte ich sein lassen sollen?‘

Ganz einfach alles!“, antwortet ihr die Stimme kühl. „Sieh dich doch an: Kein Schiff wird bleiben, dass dich fort trägt. Kein neues Ziel erwartet mehr, dass du dich darauf zubewegst. Die Wogen, auf denen dein Lebensschiff reitet, sind längst ermattet. Gib das Leben auf! Es wird dir nur noch wehtun.“

‚Wie kann ich das Leben aufgeben?,‘ fragt April verzweifelt. ‚Gibt es keinen Grund, warum ich überhaupt noch da bin?‘

„Du warst nur da, um seine Ankunft vorzubereiten“, entgegnet die Gestalt. „Was vorher war, spielt keine Rolle mehr. Also auch du!“

April fühlt sich bis ins Mark erzittern‚ aber der Druck auf ihrem Kopf ist zu stark für eine Erwiderung. Das Wesen bleibt auf Abstand, betrachtet sie nur mit fühlbarer, spöttischer Geduld.

„Eigentlich ist es nicht schade drum“, sagt es schließlich. „Papa und Mama hätten dich sowieso den Rest deines Lebens verfolgt. Du hättest niemals einen positiven Einfluss auf die Welt haben können. Nun sind sie beide tot... deinetwegen.“

‚Das ist... nicht wahr!‘, presst April hervor.

Und aller Logik nach sollte das stimmen: Papa starb in einer weltweiten Katastrophe; Mama wurde von einem wahnsinnigen Killer erschoßen.

Doch während sie das denkt, fühlt sie auf einmal das gesichtslose Wesen auf ihrer Brust sitzen, obwohl es doch nach wie vor über ihr in der Luft steht.

„Es ist wahr!“, fährt die Gestalt fort, doch ihre Stimme ist jetzt ein scharfes Flüstern. „Als du in der Zwischenwelt deinen großen Heldenmoment gefeiert hast, ist die Welt der Technik aus den Fugen geraten. Jeder Mensch, der beim Kollaps ums Leben kam, verdankt dies nur deiner Einmischung. Also liefst du weg, weil du dachtest, du könntest Abstand von dir und deinen Opfern gewinnen. Du wurdest zum Monster, denn alles, was du konntest, war Zerstörung. Also lief es darauf hinaus, dass du dich irgendwann selbst zerstören würdest. Aber du bist gescheitert... und deine jetzige Existenz gefährdet alle, die dir noch geblieben sind.“

Warum kennt April all diese Gedanken? Sie scheinen wie ein Bündel in ihrem Herzen eingeschnürt, selbst wenn der Kopf sie längst vergessen hat.

„Du ... du provozierst mich nur!“, krächzt sie zwischen ihren Qualen hervor. „Sei... sei still!“

‘Sei still‘!“ Die weibliche Gestalt spuckt die Worte verächtlich aus. „Hast du immer noch nichts anderes gelernt? Zehn Jahre ist es her, dass du mir dasselbe gesagt hast... und es ist genauso abgeschmackt.“

Ein wenig Ordnung stiehlt sich in Aprils Kopf: Sie ist wie ein zappelndes Zelltierchen, das die Nesseln nach seinen Nachbarn ausstreckt.

April erkennt die Dynamik; erkennt die kalten, zielsicheren Verletzungen.

Und sie fühlt die Nähe einer Hoffnung.

„Du wirst dir meine Worte gefallen lassen müssen“, ruft sie der Logik zu. „Du weißt, dass du mir nicht entkommen kannst. Wir sind unzertrennlich.“

„Natürlich weiß ich das, du Zicke“, faucht das Phantom zurück, ihr Panzer aus Unnahbarkeit nun bröckelnd, ihr Gesicht immer mehr seiner alten Form ähnelnd. „Ich bin bei dir, seit du in diese Welt kamst. Zehn Jahre lang habe ich friedlich mit dir gelebt. Du hattest endlich eingesehen, was für ein kolossaler Fehlschlag du warst. Endlich waren wir Partner. Aber nun beginnt alles von vorne.“

Partner nennst du das?!“, höhnt April, während der Druck auf ihre Hand immer stärker wird. „Du hast eine komische Art das zu zeigen... April.‘

Ihr Gegenüber verzieht das Gesicht, Aprils Gesicht, das nun in jugendlicher Verbissenheit auf sie herab starrt. „Oh, diese Schlauheit von dir!“, gibt sie spöttisch zurück. „Du denkst, wenn du mich mit meinem Namen nennst, dann kannst du mich kontrollieren. Vergiss es! Ich habe die Dinge im Griff. Du kannst nicht anders sein als ich. Ich bin du.“

„Eine Illusion von mir“, antwortet April. „Du bist nicht mehr, als ich glauben möchte.‘

Glauben!“ Die Phantom-April scheint auf einmal zu einer Wolke aus Schatten heranzuwachsen. April fühlt ihre Last auf dem Brustkorb anwachsen, fühlt den Schweiß auf ihrem ganzen Körper rinnen.

„Glauben - das heißt sich an Halbwahrheiten und Hoffnungen zu klammern“, brüllt Phantom-April im Wahn. „Dein Glaube hat dich all deine alten Freunde gekostet. Und Glaube schlachtet nun in der anderen Welt die letzten deiner Kameraden ab. Hättest du mir geglaubt, dann würden sie alle noch leben. Alles wäre gut gewesen!“

Eine Eiseskälte breitet sich in Aprils Kopf aus. Sie fühlt es wieder... die letzten Atemzüge... die schwindende Wärme... Phantom-April möchte sie aufgeben... sie möchte sich selbst aufgeben...

Doch die echte April weiß, dass sie noch eine Chance haben... die Wärme hat sich nur zurückgezogen... doch von anderer Stelle kommt sie zurück.

Ihre taube Hand fühlt einen fremden Druck... zwei lebendige Hände, warm und voller Vertrauen.

Es ist beinah wie damals... sie fürchtet sich, aber die Furcht soll sie diesmal nicht beherrschen...

Der Druck ruht kurz... und schwindet dann mit rasender Geschwindigkeit.

Phantom-April hat sich von Aprils Brustkorb zurückgezogen. Noch steht sie kerzengerade über ihr, aber ihre Ränder beginnen bereits zu verschwimmen.

„Du willst also wirklich bleiben, Zicke – nun gut. Aber die Schlacht ist noch nicht beendet.“

„Noch lange nicht“, bestätigt April, während das Leben in ihre Hand zurückkehrt. „Was ich auch immer zu tun kriege, das werde ich tun. Du wirst nicht an mich herankommen. Ich bin nicht allein.“

„Wir werden sehen“, erwidert Phantom-April. „Wenn du bereit bist... wenn du wieder Zweifel spüren solltest, dann triff mich an dem Ort unseres letzten Kampfes.“
 

„... unseres letzten Kampfes...“

„Sie hat etwas gesagt, Pater!“

„Barmherzigkeit! Schnell – drehen Sie sie auf den Rücken!“

Wie aus einer anderen Welt hört April Dielen knarren und Polstermöbel knirschen. Aber all das ist ihr ganz egal. Noch nie zuvor schien ihr der Klang der eigenen, unverfälschten Stimme so schön und verlockend.

All diese weinerlichen, knurrenden Untertöne; dieses beharrliche Genörgel...

Nicht einmal ihre musikalische Unbegabtheit würde sie jetzt noch daran hindern, ein schmissiges und total geschmackloses Seemannslied anzustimmen.

„Wir lagen vor Madagaskar und hatten... den Mann mit der Pest an Bord...“

„Was singt sie da?“

„Ihr Blick ist immer noch verschleiert. Schenken Sie mir einen Schluck von dem Whiskey dort ein, Pater – nur einen Fingerhut voll!“

„Kann ich ihn bitte auf Eis haben?“

„Natürlich, April...“

Das Männergeplapper hält inne. April kichert leise und hebt ihre Hand vor die Augen, während ihre schweren Lider zu blinzen versuchen.

Doch was sie zu sehen bekommt, erschüttert sie.

Die Innenseite ihrer rechten Hand glüht, als hätte sie gerade eben eine Herdplatte berührt. In der Mitte ihres Handtellers wölbt sich eine rotglänzende Kugel empor, die von einem langen Schlitz gespalten ist. Unter der Haut, die sich wie ein Augenlid öffnet und schließt, funkelt ein weißes Licht hervor.

April krümmt unsicher die Finger und spürt einen festen Gegendruck – das Ding ist ganz bestimmt massiv.

Aber dann stupst sie es mit den Fingern der anderen Hand an, und es zuckt zusammen. Ein Prickeln wie von Nadeln begleitet den Vorgang.

Dennoch hält April mit zusammengebissenen Zähnen an dem Gedanken fest es zu berühren, und das Lid öffnet sich gehorsam und lässt sie gewähren.

Die Oberfläche fühlt sich kalt und glatt an, wie ein Gelee, aber der Glanz in ihm bewegt sich frei und strahlt unabhängig von äußeren Lichtquellen.

Er scheint April lauernd, geradezu begierig anzusehen.

„Unglaublich!“, hört April Pater Marduk kommentieren.

„Was ist das?“, fragt sie schleppend. „Wann...?“

„Es muss während deines Anfalls entstanden sein – du hattest seitdem die Hand zur Faust geballt. Eine Art... Stigmatisation. Das ist eine psychosomatische Erscheinung, bei der Gläubige anfangen, die Wundmale Christi zu generieren.“

Wundmale...?

„Genug damit, Pater“, mischt sich die andere anwesende Person ein. „Überdramatisieren Sie das Ganze nicht!“

April kommt nicht umhin, die Augen kurz wieder zu schließen. Es erscheint ihr einfach so unglaublich, dass sie diese Stimme jemals vergessen konnte, diese Stimme, die ihr in einer dunklen Stunde einst sagte, sie sei nicht allein.

Gerade das hatte die Rückkehr dieser Erinnerungen so grauenvoll gemacht – eine alte, unbegleichbare Schuld.

Doch sie zwingt sich, Charlie wieder ins Gesicht zu sehen, sie erkennt die vertrauten Züge, den alten Glanz in seinen Augen...

Doch er lächelt nicht, als er sagt: „Wie geht es dir? Nicht sehr gut, nehme ich an.“

„... nicht sehr gut, nein“, antwortet sie ungelenk. Sie würde sich gerne aufstützen, aber das Ziehen in ihrem Handteller raubt ihr jegliche Zuversicht, die sie in dieser Richtung hat.

‚Du lieber Himmel, reiß dich zusammen! Das ist nur Charlie – der tut dir nichts.‘

Doch April ahnt, dass das nicht wahr ist - Charlie konnte seinen Ärger schon immer gut verstecken.

Allein, das Mädchen seiner Träume konnte diesen Ärger nicht auf sich ziehen… damals nicht.

„Ich könnte immer noch einen Whiskey vertragen“, sagt sie schließlich.

„Weißt du, das könnte bei näherer Betrachtung keine gute Idee sein... du warst ziemlich lange bewusstlos...“

„Ich werd‘ es aushalten“, antwortet sie schnippisch.

Sie nimmt das Glas mit der linken Hand spitzfingrig entgegen und stürzt es in einem Zug hinter.

Sie braucht dieses Brennen in ihren Adern und den plötzlichen Schock des Alkohols. Ihr ausgelaugter Körper könnte sonst nicht verarbeiten, was sie gleich versuchen wird…

Sie lässt dem Whiskey ein bisschen Zeit, sich auszubreiten. Dann hält sie die Hand mit dem Auge vor ihr Gesicht und konzentriert sich auf den Gedanken von zwei Cowboys im Duell.

Das seltsame Auge zuckt widerspenstig – April fühlt die verspannten Sehnen – aber das ist genau, was sie beabsichtigt hat. Ihre Gedanken ergreifen die Handmuskeln, dehnen sie, ziehen sie ein.

Unter großen Schmerzen zieht sich der Augapfel in die Handfläche zurück. April ballt die Faust und knetet mit den Fingern nach.

Es tut unsagbar weh, doch sie fühlt das störende Rund zerfließen wie ein gebratenes Ei, und sein Material zieht sich bis auf Weiteres in die Knochen zurück – wohin genau, weiß April nicht.

Das Einzige, was von ihm verbleibt, ist ein Symbol auf dem Handrücken: eine Art pupillenloses Auge mit blaugrauer Iris, um das sich zwei Schlangen winden.

Charlie beobachtet verwirrt dieses bizarre Schauspiel, während ihm April – schwach lächelnd - das Glas zurückgibt. Sie fühlt sich ein wenig mutiger.

„Weißt du, es gäbe da eine Menge zu erklären“, setzt sie an, „aber in manchen Sachen bin ich ehrlich gesagt selbst überfragt. Vieles davon ist mir fremd.“

„Verstehe...“, erwidert Charlie knapp. Ihm liegt auf einmal viel daran, das Glas an den Tresen zurückzubringen.

Doch noch bevor er sich erheben kann, umschlingt ihn April schon am Hals und zieht ihn zu sich herunter. Tränen laufen ihr über die Wangen, als sie ihre Augen in seinem Jackett vergräbt.

Wenigstens ist es kein Anfall mehr…

Charlie ist zuerst wie vom Donner gerührt. Dann weint auch er, schweigend.

„Ich habe dich vermisst.“
 

Sie bemerken nicht mehr, wie Pater Marduk sich davonstiehlt. Sie bemerken nicht Eléna Saucédo, die –frisch geduscht und ihrer Rüstung entledigt - in der Tür zum Küchentrakt steht und sie mit steinerner Miene beobachtet. Und sie sehen auch nicht Andrew, der seine Chefin vorsichtig wegzieht und ihr etwas ins Ohr flüstert, woraufhin sie sich abrupt abwendet und die Treppen hochsteigt.

Erst, als Andrew April auf der Schulter berührt, wird diese seiner – mit einem allzu entlarvenden Gefühl von Verlegenheit – gewahr.

„Inspektor Farlan und Sergeant Saucédo erwarten euch im Arbeitszimmer“, sagt er schlicht. „Erst Mr. Layou, dann du. Kommt einfach hoch, wenn ihr soweit seid.“

‚Wenn wir soweit sind...‘

Eine Zeitangabe, wie sie gröber kaum sein könnte. Für April gibt es noch so viel zu entdecken, so viele rohe Eindrücke, so viel fragmentarisches Wissen...

Doch sie möchte es intim halten – der Gedanke, dass jemand Fremdes ihre Geschichte hören und verurteilen könnte, macht ihr Angst.

„Versprichst du mir,“, fragt sie Charlie, nachdem Andrew gegangen ist, „dass wir nachher... nun ja... eine...“

„... ein Symposium haben?“, antwortet Charlie mit einem Lächeln, das nicht den kleinsten Hinweis auf irgendwelche Zweideutigkeiten zulässt. „Sicher. Es wird eine Zeit für alles geben, April. Hab keine Angst!“

April hat gehofft, dass er das sagen würde.

Nur seine Stimme kann diese Worte so glaubhaft machen...
 

~~~~~~~~~~ {: * :} ~~~~~~~~~~
 

„Also, Miss Ryan - lassen Sie mich noch mal zusammenfassen“, fragt Inspektor Farlan mit einem Blick auf die Notizen. „Sie sind am Sonntag, dem 06. August 2209 in das ‚Grenzhaus‘ genannte Miethaus zurückkehrt und wurden dort von einer Meute Roben und Masken tragender Söldner überfallen?“

„Und Energiehandschuhen.“

„Energiehandschuhe, ja ... und ihr Anführer war ein Mann mit weißen Haaren, weder jung noch alt, Trenchcoat, monotone Stimme und gerade Haltung?“

„Als hätte er einen Besenstiel verschluckt. Und er hieß Halloway, Gordon Halloway.“

„Aber sie haben keine Ahnung, was er von Ihnen wollte? Ebenso wenig wie Mr. Layou.“

„Habe ich Ihnen doch gesagt. Das Einzige, was mir nicht aus dem Kopf will, ist dieser... andere Name... ich weiß nicht, es ist...“

Der Inspektor wirft ihr unter seinen buschigen Augenbrauen einen zweifelnden Blick zu. Er nimmt von seiner Assistentin – die April als Miss DeMarco vorgestellt wurde – eine Akte entgegen und blättert einige Seiten durch. „Nur zu – wie war der Name?“

Sein lauernder Ton beunruhigt April. Sie schaut kurz zu Charlie, der neben Eléna Saucédo am Fenster steht, jedoch der bedauernd den Kopf schüttelt.

In seiner Aussage hatte er zwar rekapitulieren können, dass April und der Mann namens Halloway ein längeres Gespräch hatten. Da er aber zu diesem Zeitpunkt von den maskierten Schergen im Hinterhof festgehalten wurde, hatte er nur wenig verstehen können.

Doch selbst für April ist der Inhalt ihres damaligen Verhörs schwer zu erinnern. Sie entsinnt sich einiger Wörter, mit denen sie Grauen verbindet, aber der Sinn der Wörter übersteigt ihren Verstand.

„Jacob... Jacob... nein, Roper... Roper... Roper Mc... Gribbles?“

Andrew, der das Protokoll führt, muss ein Lachen unterdrücken, während Inspektor Farlan stöhnt.

„Es war nicht eher - Sie wissen schon - etwas Anderes?“, sagt er langsam. „Nur damit wir Klartext reden...“

„Entschuldigung, aber noch genauer hab ich’s eben nicht. Können Sie mir nicht einfach die Bilder zeigen?“

Farlan brummt ungehalten, aber schließlich sucht er einige Ausdrucke heraus und reicht sie ihr. „Video-Stills - nicht die beste Auflösung. Die Ursprungsdateien waren verschlüsselt und hatten veraltete Polizei-Codes.“

Wie April feststellen muss, hat er nicht übertrieben – die Bilderfolge ist größtenteils Schnee, und manche der Farben stimmen hinten und vorne nicht. Ein Schnappschuss zumindest zeigt Gordon Halloway in all seiner Kaltblütigkeit, die grauen Augen seelenlos auf den Fotografen gerichtet.

Danach folgt eine Reihe von unbearbeiteten Fernaufnahmen – ein Balkonvorsprung unter gewaltigen Statuen scheint der Fokus zu sein – und schließlich...

„...McAllen.“

Der Inspektor horcht auf.

Es ist eine etwas körnige Froschperspektive. Der alte Mann steht vor einer Wand von Mikrofonen und hat die Hände gönnerhaft ausgestreckt. Dünnes weißes Haar und dichte Brauen geben seinem Gesicht ein beinahe großväterliches Aussehen, doch das Licht der Scheinwerfer und die davon geworfenen Schatten lassen Falten erkennen, die eine rasende Leidenschaft verraten... einen Willen, der jeden Menschen in seiner Umgebung berührte und ihn entweder zum bedingungslosen Gehorsam erhob oder in Demut niederschmetterte.

Er konnte charmant sein, beinah witzig... aber die Seele hinter dieser Fassade war unerbittlich und grausam. Ihre Gefühle sind stark bei diesem Namen, doch sie zeichnen sich nicht durch dieselbe Art von Angst aus wie etwa, als sie Charlies Name hörte.

Es ist eine Angst, die scharf und schneidend ist, sich in die tiefsten Winkel ihres Herzens gefressen hat und in den Fibern ihres Bewusstseins wartet: eine Urangst, die sogar über ihr altes Leben hinausgeht – was auch immer das heißen mag. „Der Name war McAllen“, sagt sie noch einmal lauter. „Halloway und seine Männer... sie haben für ihn gearbeitet. Für seinen Kult.“

Eléna und Andrew lauschen beide ihren Worten, während Charlie gedankenverloren aus dem Fenster starrt.

In Inspektor Farlans Augen aber glüht es regelrecht. Unter seinem braunen Kurzhaarschnitt rotieren eine Menge Räder, doch April hat nicht den Eindruck, als würden sie wirklich ineinandergreifen.

„Ich kann also annehmen, dass sie ihm schon einmal gegenüberstanden?“, hakt der Inspektor nach. „Vielleicht schon einige Stunden später... in seinem Geschäftsbüro in der Grendel Avenue... auf der Spitze des höchsten Turmes?“

„Warum interessiert Sie das so sehr?“, fragt April brüskiert. „Als Nächstes wollen Sie mir noch erzählen, ich hätte ihn er...“ Sie bereut ihre Worte augenblicklich.

Bestürzt schaut April zu Eléna, die ihr doch früher, auf dem Autobahnparkplatz versichert hatte, dass die Anschuldigungen gegen sie sich auf Dinge wie Cyberterrorismus und Industriespionage beliefen.

Wieso erwähnte sie den Mordverdacht nicht?

Aber Eléna wirkt so steinern wie vorher.

Endlich zieht der Inspektor ein Dokument aus dem Stapel und liest es laut vor.
 

„11. September 2209

Auf der Aktionärsversammlung der Firma Malkuth Technologies Incorporated (MTI) wurde vom Aufsichtsrat sowohl der Tod des Geschäftsführers, Jacob McAllen, als auch das Verschwinden seines Stellvertreters, Gordon Halloway berichtet. Das letzte verbliebene Vorstandsmitglied John Bishop (Sicherheitschef und Forschungsleiter der Firma) gab daraufhin einen kurzen Überblick über die finanziellen und moralischen Verluste, die der Firma durch diese und andere Krisen im letzten Monat zugekommen wären. Ferner beklagte er den ungeheuerlichen Druck, den staatliche Organe seit dem Absturz der Station „Morgenstern“ vom 08. August und den damit verbundenen Schäden auf die Firma ausübten. Um den Aktionären weitere untragbare Belastungen zu ersparen, verkündete er die Auflösung der Aktiengesellschaft mit einer großzügigen Abschlagszahlung, und erklärte ferner die Aufnahme von Verhandlungen mit der einzigen Firma, die MTI in Zeiten der Not immer beigestanden hätte: die WATI-Corporation in Hokkaido, Japan.

Der Geschäftsführer und Vertreter der WATI-Corporation, Augustus Gilmore, erklärte sich öffentlich mit der Aufnahme der Verhandlungen einverstanden, mahnte aber konfessionelle und personelle Verschiebungen an, welche die alten Geschäftsideologien, vor allem die Lehren der dem Unternehmen vorgeschalteten Revolutionären Vereinigungskirche (Voltec) aus dem Fokus nehmen würden. Nachdem Mr. McAllens proaktiver Kurs im Kampf gegen die Feinde des Neuen Bewusstseins gescheitert sei, müsse nun ein selbstkritischer Kurs beschritten werden, der unter anderem Säuberung der Markenzeichen mit sich brächte...“
 

„Säuberung der Markenzeichen...“, murmelt April. „Feinde des Neuen Bewusstseins... das bedeutet nichts anderes als...“

„Die Auslöschung alter Brandflecken“, erwidert Farlan. „Die neue Mutterfirma möchte frisch und frei neu Wege beschreiten; aber das kann sie nur, wenn es niemanden mehr gibt, der sich erinnert, dass es etwas zu erinnern gibt. Augustus Gilmore gab seinen Posten als Geschäftsführer später an seine Tochter Samantha weiter. WATI hat seitdem seine Vormachtstellung ausgebaut – manche sagen, dass es nunmehr die treibende Kraft im Syndikat ist.“

„Aber was habe ich damit zu tun?“

„Das kommt weiter hinten. Im ausführlichen Protokoll werden Maßnahmen gegen eine Person angesprochen, die McAllen gelegentlich erwähnte: die ‚Lady Arcana‘.“

‚Hört sich wie ganz schöner Fantasy-Kitsch an‘, denkt April. ‚Wer will denn bitte Lady Arcana heißen?‘

„Der Name steht auch in der inoffiziellen Version ihrer Akte.“

„Das ist nicht ihr Ernst.“

„Lesen Sie’s nach, wenn Sie mir nicht glauben.“

Er reicht ihr einen getackerten Blätterhaufen:
 

Projekt „Arcana“
 

RYAN, APRIL

Col. 0050253254193670 (eingetragen am 08.08.2209)

Alter: 18

Bestandsaufnahme: 01.01.2207 bis 11.09.2209

...

‚Lady Arcana‘ – Zerstörerin der Gerechtigkeit, Feind der neuen Ordnung (Erweckungsschrift 131.4)

Erstmals gesehen in Proph. 23 (G. Halloway) während Sitzung vom 28.07.2209.

Verbindung mit ‚Alter Trugbestie‘, der Blenderin aus tiefstem Schwarz

Anleitung durch ‚Hornträger‘, den Trickster (gef. 31.07.2209)

Antritt der Großen Reise – auf Anweisung der Wächter?

Erfüllung der Großen Aufgaben – Wiedervereinigung der Scheibe

Anweisungen des Kardinals gemäß einmaligen, unwiederbringlichen Erlasses

Verdächtigt im Zusammenhang mit dem Tod des Kardinals, Einladung des Hornträgers

Wurde von Gerold Rosenberg (Portalwächter a.D.) unter eindringlicher Befragung als mögliche Täterin identifiziert

Offizieller Suchauftrag wird mit Erlass von Polizeipräsident Harold Snouser als unverjährbar eingestuft

Eine Kopie dieser Akte wird hiermit an Rechtsnachfolger (WATIcorp, Japan) weitergereicht (Geschäftsführer und neuer Kardinal: Augustus Gilmore)
 

April schwirrt der Kopf. „Was ist das alles?“

Sie reicht das Papier an Eléna Saucédo weiter, die sich ihr vorsichtig genähert hat.

„Religiöse Symbolsprache“, sagt diese nach genauerer Analyse. „Durchdringung des formalen Ablaufes mit Heiligkeitsfloskeln und Euphemismen. Ganz klar das Werk von religiösen Fanatikern.“

„Aber was hat das alles zu bedeuten?“, kreischt April unwillkürlich auf. „Die Bestandsaufnahme beginnt 2207 – damals war ich noch gar nicht in der Stadt. Soll das heißen, sie haben mich...“

„Setzen Sie sich erstmal! Sie sind ja ganz rot im Gesicht.“

Zitternd lässt sich April auf einem Stuhl nieder, den ihr Charlie hinschiebt.

„Sie haben nach einer Figur aus ihren Prophezeiungen gesucht“, klärt sie Eléna auf. „Und sie sind –scheinbar rein zufällig – bei Ihnen fündig geworden. Der Inspektor hat vorhin die Voltec-Kirche erwähnt, erinnern Sie sich? Das war eine gigantische New-Age-Bewegung des 22. Jahrhunderts, die ihren ganzen Kult auf der Schaffung eines neuen Bewusstseins aufgebaut hatte... und sie war ein eingetragenes Markenzeichen von MTI, mit McAllen als Kardinal. Offiziell existiert sie nicht mehr“, fügt sie hinzu, als sie April die Arme voller Angst um den Körper schlingen sieht, „aber wie es aussieht, lebt sie in den Gedanken der WATIcorp weiter... und der Dreizehnte Zirkel, ihre bevorzugte Eingreiftruppe, wird vom letzten verbliebene Vorstandsmitglied der MTI-Corporation, John Bishop, angeführt.“

„Dieser Bishop...“, murmelt April, „den haben Sie schon einmal erwähnt. Beschreiben Sie ihn!“

„Groß und breitschultrig“, antwortet Farlan auf Elénas Nicken hin. „Etwa vierzig, aber glattes Gesicht. Blaue Augen und gewelltes blondes Haar. Ziemlich bombastisch - auf eine unterkühlte Art und Weise.“

April braucht nicht tief in ihr Unterbewusstsein zu greifen – sie erinnert sich noch sehr gut an den Mann mit der befehlsgewohnten hohen Stimme, den sie im Wald beobachten konnte.

Er hatte sie danach verfolgt und beinah geröstet.

‚Und später hat er es bei Mutter zu Ende gebracht‘, denkt sie grimmig.

Ihre Wut und Angst bekommt endlich ein richtiges Gesicht. Wenn sie diesen Bishop ausschalten kann, ist jede Bedrohung aus ihrem Vorleben gekappt. So vieles wäre dann vorbei...

Sie fühlt Charlies Finger auf ihrem Handrücken legen: „Du weißt, dass das sehr gefährlich ist. Bitte überstürz nichts!“

„Dazu ist es zu spät“, antwortet April mit zusammengebissenen Zähnen. „Sie haben mich bereits angegriffen – ich kann mich nicht mehr zurückziehen. Ich hab... ich habe eine Verantwortung.“

„Ich weiß“, erwidert Charlie. „Aber soweit ich verstehe, wird das nicht allein ein persönlicher Rachefeldzug.“ April sieht ihn zu Eléna schauen, die betreten die Augen niederschlägt.

„Wir wollten nur gegen ein Unrecht vorgehen, das an uns begangen wurde“, sagt diese mehr zu sich selbst. „Aber nun wissen wir, dass das Haus, in dem Sie vor zehn Jahren angegriffen und bedroht wurden, für ein ganz neues Unrecht verwendet wird.“ Sie beugt sich unerwartet zu April herab, kniet vor ihr und ergreift ihre Hand. „Es scheint so, als wären Sie der Schlüssel zu einer größeren Geschichte. Wenn Sie uns helfen können, mehr über die Ereignisse vor zehn Jahren herauszufinden, dann können wir vielleicht gegen Bishop und seine Handlanger vorgehen.“

Es liegt eine sonderbar sakrale Ernsthaftigkeit in Eléna Saucédos Stimme, die Aprils Angst gleichzeitig abschwächt und anfeuert.

Ihre Ambition ist groß, doch April sieht wenig Realismus in ihrem Plan: Wenn die WATIcorp so mächtig ist wie gesagt, dann kann Sie schwerlich in einem einzigen Prozess besiegt werden.

Zudem basiert diese ganze Verbindung nur auf Indizien und Vermutungen – der klare Ablauf ist verschwommen.

In diesem Sinne ist es nur verständlich, dass Eléna ihr Wissen braucht.

„Wo wollen Sie denn anfangen?“, fragt sie zögernd.

„Nun, was sie vor ihrer Rückkehr zum Grenzhaus gemacht haben, wäre ein guter Anfang. Danach würden wir uns um die Reaktivierung Ihres Bürgerstatus‘ kümmern – da Sie zuletzt in Newport gemeldet waren, müsste Ihre Nummer noch irgendwo gespeichert sein.“

„Und danach?“

„Danach wird die Stadt Newport sich in den Fall einschalten. Wir werden etwas Hilfe bei der Formulierung der Anklage brauchen, aber mit genug Klägern und ausreichend Zeugen hätten wir zumindest die Mittel, den Prozess fortzuführen.“

‚Bis zum bitteren Ende‘, fügt April hinzu. Sie ergibt sich.

Ihre Finger graben sich unwillkürlich in jenen Handteller, wo das Schlangenauge eingebrannt ist – vielleicht nur ein weiteres Zeichen der Lady Arcana, von dem sie nichts weiß.

Sie merkt, wie der Druck ihre Sinne steigert – sie erinnert sich, wie ausgebrannt sie schon damals war. Als sie sich die Worte aus der Akte vor Auge ruft – Wächter, Scheibe, Kardinal – wird ihr bewusst, dass es noch eine andere Verbindung gibt.

Sie war nicht ganz unwissend nach Hause gegangen – etwas hatte ihren Geist beschäftigt. Etwas wie...

...Misstrauen.

Ein älterer Mann mit dem Kragen eines Priesters... hohe Säulen... Spitzbögen... und dahinter... eine uralte Stimme...

„Ich glaube, ich war in einer Kirche“, verkündet sie. „Neogotisch, mit einer Fensterrose, Wandbildern und... holografischen Kerzen? Ich weiß nicht, jedenfalls ziemlich groß und alt. Ich hab dort mit dem Pater gesprochen.“

Elénas Augen leuchten vor Freude auf. „Danke, das ist ein großer Schritt für uns.“ Sie steht auf und wendet sich dem Inspektor zu. „Meines Wissens gibt es nur eine Kirche dieser Art in Newport – die ehemalige Kathedrale an der Hope Street. Die habe ich mit meinem Vater einmal besucht.“

„Hope Street? Die ist doch im Kollaps komplett zerstört worden.“

„Das ist jetzt nicht das Problem. Wir müssen nur herausfinden, wer dort 2209 als Pater eingesetzt war und ob er noch lebt. Und ob vielleicht noch Kontakte zur dortigen Gemeinde bestehen. Die bischöfliche Verwaltung sollte uns dazu Auskunft geben können.“

„Hhm, gut“, brummt Farlan. „Darum kümmere ich mich. Gehen Sie solange runter und warten Sie auf weitere Befehle! Sorgen Sie auch dafür, dass Denvers auf den neuesten Stand gebracht wird. Weiß der Geier, wie wir aus dieser Sache heil herauskommen...“
 

Als Eléna die Tür hinter Ms. Ryan und Mr. Layou schließt, scheint sich für einen Moment die ganze Welt hinter ihnen auszuschalten.

Sie hat dieses Gefühl bereits befürchtet – es hat sie schon vorhin überfallen, als sie unten im Foyer das Wiedersehen der beiden Freunde mitangesehen hat.

Es ist die gleiche alte Sentimentalität, die sie schon immer heimgesucht hat. Eine Sentimentalität, die ihr eigentlich nicht zusteht - immerhin ist sie jünger als April und bedeutend jünger als Charlie.

Und doch hat Eléna schon mehrmals Leben in ihrer Hand gehabt – jegliche Wehmut ist also noch unangebrachter.

April Ryan verschränkt verdrießlich die Arme vor der Brust. „Ich könnte noch ein bisschen Schlaf gebrauchen. Mein Körper fühlt sich an wie gerädert.“

„Leider habe ich nur ein richtiges Bett hier im Gebäude“, antwortet Charles Layou. „Ich könnte einige der Bänke unten im Foyer herrichten, wenn das ausreicht.“

Eléna rechnet kurz nach, dann schüttelt sie den Kopf. „Wir sind zu acht, und Sie haben maximal drei Bänke dort unten, die groß genug wären. Geben Sie einfach Miss Ryan das große Bett und die Bänke an Pater Marduk und Denvers – wir anderen kommen schon klar.“

Sie will sich entfernen, doch Mr. Layou stellt sich ihr in den Weg. „Sie können um diese Tageszeit nicht mehr viel tun“, drängt er sie. „Gönnen Sie sich wenigstens ein paar Stunden Schlaf.“

„Charlie hat Recht,“ mischt sich April Ryan ein. „Sie haben für heute genug getan. Nehmen Sie das Bett! Ich hab mein Chaiselongue dort unten sowieso schon angewärmt. Und – nein“, unterbricht sie Elénas Widerworte, „ich habe nicht vor, gegen Sie anzukämpfen. Gute Nacht, und vielen Dank nochmal!“

‚Diese Frau...‘, denkt Eléna für sich, als April Ryan sich entfernt. Sie weiß nicht, ob sie einer solchen Frau vertrauen oder in Angst und Panik vor ihr davonlaufen soll: Sie reagiert zwar logisch und nachvollziehbar, doch sie hat mehr als nur einen Knacks davongetragen.

Was natürlich verständlich ist – nach all dem, was in ihrer jüngsten Vergangenheit passiert ist.

Doch was vorhin im Transporter geschehen ist... das war ganz bestimmt nicht von dieser Welt.

Der Pater hatte es kurz darauf als Effekt ihrer Amnesie zu erklären versucht, aber das ist nicht mehr als ein Kratzer in der Patina, die dieses Geheimnis verbirgt.

Sie wendet sich noch einmal an Charles Layou. „Mr. Layou, könnten Sie...“

„Nennen Sie mich ruhig Charlie!“

„... Charlie, könnten Sie vielleicht auf schnellstem Wege eine Wohnung für Miss Ryan finden? Wir können Sie nicht auf dem Revier beherbergen und zurück nach Hause kann sie auch nicht.“

„Ich kenne einige Wohnungsgesellschaften in der Oberstadt, die auf dieser Ebene Grundbesitz haben. Solange sich nichts anderes ergibt, werde ich sie in meiner Wohnung unterbringen... außerhalb von Venice.“

„Gut. Das hier ist kein guter Ort zum Leben... nicht mehr.“

Charlie nickt versonnen. „Sie sind hier aufgewachsen, nicht wahr? Ich erinnere mich an einen Dozenten für Kunstgeschichte an der VAVA, der auch Saucédo hieß.“

„Das war mein Vater – Héctor Saucédo.“ Eléna antwortet ausweichend. Sie mag Small Talk nicht, auch wenn sie zugeben muss, dass ihr Gegenüber gut darin ist, Interesse zu zeigen. „Er hat später ein Antiquitätengeschäft in der Oberstadt aufgemacht“, fügt sie hinzu. „Nicht übermäßig groß, aber es hat zum Leben gereicht.“

„Ja, ich habe dort einmal einen Art Déco-Schrank gekauft: ‚Alvarez Colomar‘– sehr schönes Modell.“ Er lässt den Satz ein wenig in der Luft stehen, als wolle er irgendeinen Vergleich erlauben.

Was durchaus nicht dumm wäre – Art Déco ist einer von Elénas Lieblingsstilen.

Widerstrebend löst sich Elénas Zunge, und schon bald ist sie mit Charlie in ein Gespräch über St. Vincent und andere Teile Mittelamerikas vertieft; über die jährlichen Calypso-Festivals, über die Backsteinfabriken und Bananenplantagen, über die alte Hazienda, in der er wohnte, und über die Fußball-Ligen, die er als Kind mitverfolgte.

Vieles davon kennt Eléna nur vom Hörensagen, doch manches erinnert sie an Familienbesuche in Mexiko. Es spricht eine Note in ihr an, die sie lang vergessen zu haben glaubte...

Sie stehen noch immer da und reden, als Andrew Johnson hinter ihnen die Tür öffnet und sich die Augen reibt.

„Ähm, Sergeant... wollten Sie nicht zu Denvers gehen?“

Eléna hält inne und merkt, dass sie unwillkürlich mit einer ihrer Locken gespielt hat. „Stimmt! Übernehmen Sie das, Johnson! Ich muss noch einmal... telefonieren.“

Sie drückt sich an dem jungen Trooper und Inspektor Farlan vorbei ins Arbeitszimmer, wo die Assistentin des Inspektors, Olivia DeMarco, hinter ihrem Laptop sitzt und eine seltsame rosa Brille in den Händen hält.

Sie wirft Eléna einen fragenden Blick zu.

„Gibt es noch irgendwas, wobei ich Ihnen helfen kann, Miss Saucédo?“

„Einen Anruf“, antwortet sie hastig und versucht, ihr Schamgefühl in den Griff zu bekommen, indem sie jede ihrer Locken fest hinter die Ohren streift. Gleichzeitig lauscht sie darauf, wie Charlie den Inspektor und Andrew Johnson nach unten begleitet. „Sie waren es doch, die diese Netzsingularität für den Inspektor hergestellt hat, nicht wahr? ‚Kahina Damja‘...“

„Eine legendäre Gestalt, da wo ich herkomme“, erwidert Miss DeMarco verträumt und beginnt bereits zu tippen. „Ich benutze das als Ausweichprofil – der ID-Code ist schwerer nachzuverfolgen.“

„Das brauche ich jetzt. Stellen Sie eine sichere Verbindung in die obere Ebene her. Ich würde gern ein Dienstgespräch führen – unter vier Augen, wenn sich das machen lässt.“

Miss DeMarco hält inne und leckt sich angespannt über die Lippen. „Ich glaube nicht, dass Inspektor Farlan das gefallen würde. Er meinte, es müsse die höchste Vertraulichkeitsstufe gelten – in der Gruppe darf es keine Geheimnisse geben.“

„Weshalb Sie auch sicher nicht dabei waren, einen Kameraspeicher in diese Decoderbrille einzulegen?“

Die Berberin errötet. Dann legt sie die aufgeklappte Brille vor sich auf den Tisch. „Es war nur für Sicherheitskopien. Ich hatte bestimmt nicht vor, die Daten über das Netz zu verbreiten.“

„Und wie sicher sind Ihre Sicherheitskopien?“, fragt Eléna, während sie die Brille in Augenschein nimmt. „Haben Sie eine Geheimtasche im Slip oder vielleicht eher... einen Schnappverschluss in den Ohrringen?“

„Nah dran“, erwidert die Berberin seufzend. „Es sind die Haarperlen – die konnte ich nicht einfach so rausnehmen, bevor mich der Inspektor durch den Scanner geschickt hat. Also hat er den Kopf weggelassen.“

„Ich werde nicht fragen, warum sie das tun“, fährt Eléna fort, „aber wenn sie unser Vertrauen behalten wollen, dann werden Sie mich besser so bald wie möglich in diese Geschichte einweihen.“ Sie lässt sich den Speicherchip in die Hand legen und wartet geduldig, bis die junge Frau eine Verbindung zur obersten Ebene von Newport aufgebaut hat.

„Das ist ein Bokamba/Mercer-Kanal“, erklärt Miss DeMarco. „Teil einer Werbespur in der ganzen Stadt, aber nur über ihre Firmen-Server zurückzuverfolgen. Es ist selten genug, dass um diese Zeit noch eine offene Verbindung herrscht, also sollten Sie sich vermutlich ein bisschen beeilen mit ihrem Gespräch, bevor es abbricht.“

„Gut. Wenn Sie dann bitte kurz rausgehen würden...“

Eléna wartet noch eine gute Minute, nachdem Miss DeMarcos Schritte im Flur verhallt sind. Dann steckt sie ihren Messenger an den Laptop und tippt die Privatnummer eines Messengers ein.

Hoffentlich ist es Wut, die ihre Finger so hart zudrücken lässt. Sie wünschte, es wäre nur Wut.

Es dauert eine Weile, bis der Besitzer abhebt. Doch dann ertönt die wohlbekannte Stimme, der gleiche exotische Zungenschlag.

„Eléna?“

Er ist es... der alte Schweinehund.

„Hallo, Greeny!“
 

„Glaub mir, das kam mir ebenfalls sehr ungelegen. Aber als ich bei Metro Channel dieses zweite Sonderprotokoll hinterlegen wollte, haben sie verlangt, dass es sich vom ursprünglichen EXC.PLT unterscheidet. Und weil ich nicht damit gerechnet habe, dass wir so bald mehr werden...“

„Nicht damit gerechnet???“ Elénas Stimme überschlägt sich fast. „Du fängst einen Krieg mit dem EYE an und denkst nie daran, dass wir irgendwann neue Mitstreiter brauchen? Ich glaub’s nicht!“

„So meinte ich das nicht“, verteidigt sich der Commissioner, dem der Schweiß aus jeder Pore tritt. „Ich hatte ja schon dieses Gespräch mit dem Bürgermeister ausgemacht – es sollte übermorgen stattfinden. Aber dann hat dieser Dummkopf von Summers gegen alle Erwartungen doch noch diese Miss Ryan gefunden und ich musste schnell handeln. Ich hatte nie im Leben gedacht, dass das EYE den Computerraum präparieren würde.“

Einen Moment herrscht Ruhe am anderen Ende der Leitung, dann knackt es und Eléna seufzt in ihrer üblichen tiefen Tonlage.

„Darüber können wir ein andern Mal sprechen“, sagt sie dann. „Jedenfalls haben wir sie jetzt.“

„Wer ist das: wir?“

„Erstmal natürlich Farlan und Denvers. Dann hab ich noch den jungen Johnson eingespannt – ziemlich grün hinter den Ohren, aber ich denke mal, er wird durchhalten. Das machen die Hormone“, fügt sie mit leicht diabolischem Ton hinzu.

Green versucht die Kränkung so gut es geht herunterzuschlucken. Es bringt nichts, darüber jedes Mal eine Szene zu machen.

„Hat dir Farlan diese Verbindung eingerichtet?“

„Nein, das war seine neue Bekanntschaft aus der Ausnüchterungszelle. Sehr hübscher Teint, wenn du mich fragst. Und ziemlich... aufgeschlossen.“

„Zum Donnerwetter, lass den Quatsch!“, flucht Green aufgebracht. „Habt ihr sie an einen sicheren Ort gebracht und ihre Aussage genommen? Was hat sie zu dieser Sache sagen können?“

„Also – erstens: ‚haben wir‘, zweitens: ‚haben wir‘, und drittens: ‚das musst du schon selbst herausfinden‘. Ist das genug für’s Erste?“

„Ja... ja, das ist genug“, lügt Green zerknirscht. Er könnte sich in den Hintern beißen für seine Eselhaftigkeit. „Hör zu, ich werde schon bald zu der Bezirksleitung vorgelassen. Bishop persönlich wird mich vernehmen wollen, aber wenn alles klappt, werde ich ihn auf ein Gespräch mit meinem Anwalt vertrösten können.“

„Du hast einen Anwalt bekommen?“

Green stellt mit Genugtuung fest, dass sich Elénas Stimme schon wieder ein wenig sanfter anfühlt. Geradezu fürsorglich.

„Das habe ich“, spricht er weiter. „Eine größere Kanzlei – Harrington, Warden und Klaas. Sie haben bereits damals kurz nach dem Kollaps mit den Bewohnern dieses ‚Grenzhauses‘ gearbeitet und damals eine Menge Schmerzensgeld für diese verletzte junge Frau aus Europolis rausgeschlagen – diese Performance-Künstlerin.“

„Emma de Vrijer – ja. Wir haben mit einem ihrer Mitbewohner gesprochen – er hat sich sehr kooperativ gezeigt. Vielleicht wird er Miss Ryan unterstützen und als Zeuge auftreten, wenn wir Glück haben.“

„Das klingt gut – wirklich gut“, setzt Green eilig nach. „Behalt die Lage erstmal weiter im Griff! Ich werde dann morgen früh bei euch sein – versprochen!“

„Du sagst das so, als sei es eine Selbstverständlichkeit!“

„Ich bin der Polizeichef. Egal, wieviel Einfluss das EYE haben sollte, das Syndikat wird keinen Skandal riskieren, indem sie mir die Lizenz entzieht. Wir haben die öffentliche Meinung auf unserer Seite – eine Widerstandsgruppe im eigenen Haus...“

Eléna seufzt wieder. Green kann sogar ein Schluchzen hören. „Komm schon – reiß dich zusammen!“, beschwichtigt er sie. „Wenn es soweit ist, mache ich alles wahr, was ich dir jemals versprochen habe. Vertrau mir.“

Aber Eléna schluchzt erneut. „Vergiss es – ich habe die Schnauze voll davon. Ich will nur noch meine Leute da durchbringen und dann bin ich draußen. Das war alles ein Fehler, Orlando – ein großer Fehler.“

Green wartet eine Weile, bevor er antwortet. „Es tut mir leid, das zu hören“, sagt er dann sanft. „Wie wäre es damit: Ich lasse dich noch deine Aussage machen, dann suspendiere ich dich und übernehme die volle Verantwortung. Dann werdet ihr – außer als Zeugen – keinen Anteil mehr an dieser Sache haben.“

Elénas Antwort lässt wiederum auf sich warten. „Ich kann diese Sache nicht ruhen lassen – das ist alles zu persönlich geworden. Ich hab mich von dir reinreden lassen, also muss ich jetzt die Konsequenzen tragen.“ Sie schweigt noch ein paar Sekunden, dann sagt sie: „Wenn du uns morgen noch erwischen willst – wir sind im Fringe in Ost-Venice. Dandolucci-Kai.“

„Gut.“ Erleichterung macht sich in Green breit. „Dandolucci-Kai. Ich werde da sein.“ Er will schon auflegen, da hört er noch einmal Elénas Stimme.

„Danke für dein Verständnis! Ich wollte nicht undankbar klingen, aber...“

„Ich weiß“, erwidert er hastig. „Bye.“ Dann drückt er auf den Abbruchknopf.

Gleich darauf geht neben ihm eine Tür auf und ein EYE-Agent aus Japan tritt ein mit donnerndem Schritt in die Verhörkammer. Hinter ihm tritt die etwas müde Gestalt von Commander Bishop in den Raum.

„Dandolucci Kai also“, wiederholt er.
 

Zur gleichen Zeit klingelt irgendwo anders in Newport das Bildtelefon.

Ein älterer Herr mit Halbglatze und einem silber-schwarzen Kinnbärtchen erhebt sich mit mechanischer Leichtigkeit von seinem spärlichen Lager.

Als er auf dem Display ein vertrautes Gesicht erblickt, drückt er sofort auf „Annahme“.

„Entschuldigen Sie die späte Störung, Vestrum“, dringt die Stimme von Augustina Harrington zu ihm. „Aber ich konnte mich nicht früher frei machen.“

„Das ist für mich kein Problem, Augustina“, erwidert der ältere Herr ruhig. „Um was geht es?“

„Um April Ryan, Sir. Sie ist nach all den Jahren zurückgekehrt. Aber es scheint, als hätten die Neuerer die Jagd nach ihr nicht aufgegeben. Bishop selbst ist scheinbar an dem Fall beteiligt.“

„Das sind schlechte Neuigkeiten“, bestätigt der ältere Herr. „Haben Sie mehr dazu herausfinden können?“

„Sie ist bereits in Polizeigewahrsam und auf dem Weg nach Newport. Man hat uns um unsere Unterstützung in diesem Fall gebeten, aber wir müssen noch abwarten, bis sie hier ankommt.“

„Halten Sie mich auf dem Laufenden, Augustina. Mit Gott und dem Gleichgewicht auf unserer Seite mag sich eine Gelegenheit ergeben, mit der wir Bishop zuvorkommen.“

„Ich habe meine berechtigten Zweifel daran, Sir.“

„Das ist nicht ungewöhnlich, Augustina. Aber sie haben nicht Unrecht. Wenn es brenzlig werden sollte, schicken Sie Adrian – er wird April vielleicht sogar nützlicher sein als ich.“

„Das habe ich mir auch gedacht, Sir. Gute Nacht!“

„Möge das Gleichgewicht uns beschützen.“

Trotz der leider allzu fortgeschrittenen Stunde entschließt sich der Vestrum, den Schlaf lieber sein zu lassen und sich auf den folgenden Kampf vorzubereiten.

Er geht zum Regal und zieht ein Handbuch über die kirchenhistorische Bedeutsamkeit der Apokryphen hervor, zwischen dessen Seiten eine Reihe handgeschriebener Blätter steckt.

Eine Abschrift der Schriften des Gleichgewichts, von ihm selbst in seiner Jugend angefertigt und seither sorgsam verwahrt.

Er greift nach seiner Hornbrille und beginnt zu lesen.

In seinen Augen hat der letzte Abschnitt dieser Geschichte längst begonnen...



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