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Straßenjunge

Oder der One-Shot, der einfach keine Ruhe geben wollte
von

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Da war er wieder. Eben wie jeden Tag. Er saß auf der Mauer gegenüber der ersten Haltestelle, die unser Schulbus ansteuerte. Ich sah ihn jedes Mal, bei jedem Wetter, Regen, Sonnenschein, Wind, Schnee und er drehte sich nur sehr selten um.

Zweimal hatte ich sein Gesicht bis jetzt gesehen, zweimal hatte er sich umgedreht und das Gesicht nicht im Schatten seiner Kapuze verborgen gehalten und jedes Mal hatte ich den Atem angehalten.

Ein feines, blasses, fast feminines Gesicht, strahlende, hellblaue Augen und der Blick… er hatte so einen stechenden, fast Angst einflößenden Blick, dass es mir glatt die Gänsehaut den Rücken hinunter gejagt hatte.

Schon beim ersten Blick dachte ich nur: „Wow.“

Ich wusste nichts über diesen Jungen, gar nichts, aber ich war vom ersten Moment an fasziniert. Ja, ich weiß wie oberflächlich es klingt nur wegen seines Gesichts einen Menschen zu mögen… aber so war es, nein, eigentlich nicht mal das, es waren die Augen. Ich wollte mehr über ihn erfahren, soviel mehr, aber das würde wohl nie klappen. Er schien nur um diese Zeit hier zu sein, in diesen fünf Minuten. So war es immer.

Und dann, dann kam der Tag an dem sich alles änderte.

Ich sehnte mich danach ihn zu sehen. Es regnete in Strömen, als ich in den Bus stieg. Er fuhr an.

Das Fenster an dem ich mir die Nase platt drückte war kalt, aber ich zweifelte nicht, er war immer da gewesen, er würde auch heute da sein.

Die Mauer war leer. Ich war entsetzt. Wie konnte er nur? Sofort schalt ich mich dafür. Der Kerl hatte sicher besseres zu tun als auf mich zu warten. Er wusste ja nicht mal, dass ich ihn sehen wollte.

Trotzdem war ich entsetzt.

Aber ich hatte kaum Zeit darüber nachzudenken, da meine Mutter mich zum Geburtstag meiner Cousine scheuchte.
 

Es war bereits dunkel als ich nach Hause ging. Genervt, überarbeitet, müde und meine Mutter war auch nicht da. Also Pizza in den Ofen, vor den Fernseher und irgendwo die Hausaufgaben abschreiben.

Hände in den Hosentaschen, Blick gen Boden gerichtete bog ich in den Weg zu unserem Haus… und erstarrte. Irgendwie hatte ich ein bisschen Panik vor der Gestalt die vor unserer Tür saß. Zaghaft ging ich einen Schritt auf die Haustür zu. Dann noch näher.

War das nicht kalt? Die Person, augenscheinlich ein Kerl, war nass und schmächtig und besonders warm sah die Kleidung auch nicht aus.

Die Jeans war nass und sah klebrig aus, die Kapuzenjacke auch… also, aggressiv sah er nicht aus.

Langsam ging ich in die Knie. Da konnte er ja doch nicht sitzen bleiben. „Hey du“, flüsterte ich und tippte ihn an.

Er zuckte zusammen, starrte mich an und ließ mich deshalb zusammenzucken. Er. Der Junge von der Bushaltestelle.

„Kalt…“, flüsterte er und ich zuckte zusammen. Er klang gebrochen. So hätte ich seine Stimme nie eingeschätzt.

Dann fiel mir ein was er gesagt hatte und wie er zitterte und ich beschloss einfach ihn mit rein zu nehmen.

„Kannst du aufstehen?“ „Bitte nicht wegschicken. Sitzen bleiben.“ Glaubt der ich will ihn wegschicken? Dafür ist er zu faszinierend. Zaghaft hielt ich ihm die Hand entgegen. Er sah müde aus, nicht nur äußerlich, nein, seine Augen. Das eiskaltblaue Stechen war einem schwachen, kränklichen Glanz gewichen.

Unverwandt blickte er auf meine ausgestreckte Hand. „Na komm, hier ist es zu kalt!“ „Du bietest mir nicht wirklich an mit rein zu kommen, oder?“ Auffordernd wackelte ich mit meiner Hand.

Die Hand die meine umfasste war kalt. Nicht nur das, sie war auch schmal und knochig.

Er war definitiv unterernährt.

Ich schaltete das Licht im Wohnzimmer an und schob ihn zum Sofa. „Setz dich!“ „Warum tust du das?“ Seine Stimme war rau und seine Augen forsch. Das Leuchten war wieder da.

„… ich habe dich schon oft gesehen, du sitzt immer an der Bushaltestelle. Und ehrlich gesagt… du bist faszinierend.“

Ich ging hinüber in die Küche, packte uns eine Pizza in den Ofen und holte schnell eine Decke aus meinem Schlafzimmer.

Er saß immer noch dort wo ich ihn zurückgelassen hatte.

Ich setzte mich zu ihm, legte die Decke um seinen zitternden Körper, dann besann ich mich doch eines Besseren und fragte: „Magst du was Trockenes anziehen? Was Warmes trinken? Die Pizza dauert nämlich noch.“

„Ich verstehe immer noch nicht warum du das tust.“ „Du musst was Trockenes anziehen!“, wechselte ich abrupt das Thema und stand auf. „Sag mir warum du das tust!“, begehrte er auf, sprang vom Sofa und warf dabei die Decke von seinen Schultern. Böse sah er mich an.

„Ganz ehrlich?“ Ich sah ihn forsch an. Der Junge zuckte zurück. Wie hieß er überhaupt? „Du bist faszinierend. Ich weiß nichts über dich… aber du hast mich sofort fasziniert. Als ich dich eben draußen sitzen sah hatte ich Mitleid…“ „Ich brauche dein Mitleid nicht!“, knurrte er, doch ich redete weiter: „Aber vor allem hast du mich neugierig gemacht. Ich möchte etwas über dich erfahren… aber erst wärmen wir dich auf.“

Schweigend ging ich in die Küche, stellte Milch in die Mikrowelle und rief: „Wie heißt du überhaupt?“ „Du musst nicht schreien…“, die Decke um die Schultern stand er zitternd in der Küchentür. „Mein Name ist Jakob.“ Ich grinste ihn an, dann reichte ich ihm eine Hand: „Hallo Jakob, ich bin Daniel.“ Er grinste. Sieht schön aus!

Die Mikrowelle piepste.

Kann ich… trockene Sachen haben?“, seine Stimme klang schüchtern. „Wenn du es mir schon angeboten hast… du bekommst sie ja wieder wenn ich geh…“

Ich winkte ihn hinter mir her in mein Zimmer, riss den Schrank auf und fragte: „Wo gehst du dann eigentlich hin?“ Jakob schwieg einen Moment, dann: „U-Bahn Schacht oder so.“ „Du wohnt also wirklich auf der Straße…“ Hatte ich mir schon gedacht.

Ich warf ihm einen Wollpullover und eine Jogginghose entgegen. Und ein paar dicke Socken.

„Bring die Sachen in die Küche, wir hängen sie über die Heizung. Ich… soll ich Kakaopulver oder Honig in deine Milch schütten?“ „Kakao wenn’s geht!“

Langsam ging ich hinüber, riss mich zusammen. Ja, sein Schicksal war schwer… aber konnte ich etwas tun? Stimmte das, was ich tat? Oder war es wie ein Tropfen auf dem heißen Stein?

„Daniel?“ Ich drehte mich zu ihm um, sah ihn in der Küchentür stehen und lächelte beruhigend. „Ist gleich fertig.“ „Ich wollte Danke sagen.“ „Musst du nicht.“

Jakob lächelte schwach. „Du tust das, weil du mich faszinierend findest?“ „Ja.“ „Hast du dich in mich verliebt?“ Ich zögerte einige Sekunden, dann: „Ja.“ So. Jetzt war es raus.

Jakobs Lachen hatte etwas verzweifeltes, dann sagte er verzweifelt fröhlich: „Daniel, du hast dich echt in nen Straßenjungen verliebt, der auf den Strich geht um sich ab und an etwas Geld zu beschaffen!“ „Nimmst du Drogen?“ „NEIN!“ „Okay, okay. Kannst du deine Sachen über die Heizung hängen?“

Jakob nickte, packte seine Sachen auf die Heizung und folgte mir dann ins Wohnzimmer.

Ich setzte mich auf die Couch klopfte neben mich, damit er sich in seine Decke gepackt setzte und reichte ihm Pizza und Kakao.

„Erzähl mir was über dich“, bat ich.

Jakob machte es sich bequem und ich erlaubte mir mich gegen ihn zu lehnen. Er hatte nichts gesagt, ob er mich auch mochte.

Er beschwerte sich nicht über meine Kuschelattacke, im Gegenteil, er legte den Arm um mich, drapierte die Decke über uns beiden und räusperte sich. „Ich war zwölf als mein Vater starb. Kurz darauf heiratete SIE erneut. Ein Jahr habe ich mich schlagen lassen, dann hatte ich wenigstens einen Abschluss. Leider bekam ich keine Ausbildung und die Ersparnisse waren auch nicht das Wahre. Irgendwann bin ich auf der Straße gelandet.“

„Klingt schlimm…“ „Ist es nicht. Wenn man sich daran gewöhnt hat geht es.“ „Aber das ist doch kalt!“ „Nein! Ich halte das aus!“

Ich war satt und blickte von meinem halbvollen auf Jakobs leeren Teller, dann schob ich ihm meinen hin.

Etwas irritierte blickte er mich an. „Na iss schon. Du hast Hunger, ich nicht.“ „Hab keinen Hunger.“ Jakobs Magen knurrte nachdrücklich.

„Na los. Sonst muss ich’s wegwerfen. Also iss. Außerdem will ich, dass du satt bist wenn du hier raus gehst. Du wirst nicht wiederkommen, oder?“ „Nein. Wie stellst du dir das vor, Daniel? Sollen deine Eltern für einen wildfremden Stricher zahlen?“ „Bist du nicht.“ Jakob lachte traurig. „Weißt du, Daniel, du bist echt niedlich! Du stellst dir das so leicht vor!“ „Tu ich nicht.“ „Doch tust du!“, er lachte und ich fühlte mich wohl in seinen Armen. Sehr wohl.

Wir sahen gemeinsam fern – meine Mutter würde wohl heute nicht mehr nach Hause kommen – und irgendwann hörte ich, wie sein Atem ganz ruhig geworden war. Jakob schlief.

Jetzt hatte ich ihn doch zum hier bleiben bewegt.

Glücklich kuschelte ich mich tiefer in seine Arme. Morgen würde er weg sein und wenn ich Pech hatte würde ich ihn nie wieder sehen… aber vielleicht konnte ich ihm doch helfen.

Und wenn nicht… heute Nacht war er hier, satt, gewärmt und sicher. Vielleicht würde ich auch schlafen, vielleicht nicht. Vielleicht würde ich einfach die ganze Nacht in das friedliche Gesicht sehen und lächeln.



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