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The House Jack Built

Supernatural / The Shining – Crossover
von

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Kratzer

===
 

Schnee, dachte er, eindeutig.

Schnee, der zu Boden fiel.
 

Es klang, als ob Äste ihre weiße Last von sich warfen, wenn der Wind sie schüttelte. Erneut drehte er den Kopf. In der Ferne standen ein paar Tannen, aber sie waren zu weit weg, als dass sie als Verursacher infrage gekommen wären. Suchend sah er sich um. Schnee, der vom Dach fiel, konnte es auch nicht gewesen sein, denn das Hotel war gut dreihundert Meter entfernt und für diesen Abstand war das Geräusch war bei weitem zu laut gewesen.
 

Dann stach ihm etwas ins Auge. Grün.
 

Die Spielplatzgeräte – die Wippe, das Karussell, der Tunnel – waren bis zur Hälfte im Schnee versunken und der Zaun, der die ganze Anlage umgab, glitzerte in der Sonne. Das weite Rasenstück, das sich dazwischen erstreckte, war ebenfalls weiß und der Kiesweg war zur Gänze verschwunden. Die einzige Unterbrechung auf der ansonsten ebenen Fläche waren die schneebedeckten, zugewehten Hügel, unter denen sich die Heckentiere verbargen. Unter denen sie sich hätten verbergen sollen, besser gesagt, denn-
 

Thud.
 

Er hatte sich die sorgfältig zurechtgetrimmten Figuren bisher noch nicht aus der Nähe angesehen, nur im Vorbeigehen einen raschen Blick darauf geworfen, deshalb war er sich auch nicht sicher, womit er es gerade zu tun hatte. Dunkles Immergrün leuchtete ihm entgegen, bildete einen beinahe schon hübschen Kontrast zur Schneedecke.
 

Es sah aus wie ein Hund.

Das Tier hatte sich dicht über dem Boden zusammengekauert und selbst auf die Entfernung hin kam es ihm so vor, als ob er die zu einem gefährlichen Knurren hochgezogenen Lefzen sehen konnte... das war Unsinn.

Niemand schnitt dermaßen genau. Die Heckentiere hatten einfach eine beachtliche Dynamik, das war alles. Für den ganzen Rest war seine Fantasie verantwortlich.
 

Seltsam, dass der Hund die einzige Figur zu sein schien, die weitgehend vom Schnee befreit war. Er runzelte die Stirn. Vielleicht der Wind? Andererseits...

Zögernd sah er zurück zum Hoteleingang. Knappe dreihundert Meter. Er wusste, dass Dean gleich in der Colorado Lounge im Erdgeschoss saß, um sich die Mappe noch einmal anzusehen.

Der Gedanke war tröstlich. Bloß den Weg zurück, den er soeben freigeschaufelt hatte – anderthalb Minuten, mehr würde er nicht brauchen, um dorthin zu gelangen. Anderthalb Minuten, das war gar nichts. Das konnte man nicht einmal als wirkliche Trennung bezeichnen.
 

Thud.
 

Das Geräusch hatte etwas eigenartig Penetrantes und kam ihm viel lauter vor als noch vor wenigen Sekunden. Ärgerlich wandte er sich wieder um.

Im nächsten Moment hielt er erschrocken inne. Das konnte doch nicht...
 

War der Hund etwa näher gerückt?

Lächerlich. Das hier war ein Busch. Ein Busch oder wie Dean es vor ein paar Tagen bezeichnet hatte, „gottverdammtes Grünzeug“. So etwas bewegte sich nicht, nicht einmal in ihrer Welt. Wäre ja noch schöner.

Sein Blick wanderte wieder zurück zu dem vor ihm aufragenden Gebäude. Bisher war ihm noch nie aufgefallen, wie wenig einladend das Overlook von außen aussah. Richtig ungemütlich. Wenn man es aus diesem Blickwinkel betrachtete wirkte es fast schon bedrohlich.
 

Etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Zum dritten Mal drehte er den Kopf und diesmal war der Anblick genug, um ihn erstarren zu lassen.

Der Hund... das durfte ganz einfach nicht wahr sein.
 

Jetzt waren keine Zweifel mehr möglich, das Tier hatte sich bewegt. So wenig sein Verstand diese Möglichkeit auch zulassen wollte, eine andere Erklärung gab es nicht. Die ursprüngliche Entfernung war so groß gewesen, dass er die genaue Haltung nicht einmal hatte erkennen können, aber jetzt betrug der Abstand keine fünfzig Meter mehr.

Das Tier wirkte gespannt wie eine Bogensehne, hockte dicht über dem Boden und hatte den Kopf in seine Richtung gedreht. Das geöffnete Maul, gespickt mit messerscharfen (...messerscharf? verdammt, das hier ist Grünzeug...!) Zähnen, kam überdeutlich zur Geltung.
 

„Was zum Teufel...“, murmelte er leise und umfasste den hölzernen Stiel zwischen seinen Händen automatisch fester.
 

Die Schaufel war die einzige Waffe, die er hatte. So absurd es ihm auch vorkam, sich gegen etwas verteidigen zu müssen, das aus Blättern und Zweigen bestand, Vorsicht war besser als Nachsicht. Schließlich war ihm Zeit seines Lebens eingetrichtert worden, dass er vorbereitet zu sein hatte und so wenig er die ewigen Predigten ihres Vaters auch gemocht hatte – ein Großteil davon war, innerlicher Widerstand hin oder her, unweigerlich hängengeblieben.
 

Okay, dachte er und es war Deans Stimme, die durch seine Gedanken hallte, ganz ruhig, dann überleg’ mal. Was kann das sein?
 

Er betrachtete den Hund misstrauisch. Der bewegte sich nicht, sondern stand so stocksteif da, wie man das von einem Heckentier nur erwarten konnte. Ein Geist? Vielleicht war das Ding besessen. Eine etwas seltsame Wahl, zugegeben, aber wer war er, um das beurteilen zu können? Vielleicht der ehemalige Gärtner, der sich geweigert hatte, seien Kreationen nach seinem Tod im Stich zu lassen...?
 

Falls es wirklich ein Geist war, dann war das ungut. Er hatte kein Salz und das Schaufelblatt war aus Aluminium. Keine besonders guten Voraussetzungen für eine Konfrontation. Fast schon zögernd und ohne die Augen abzuwenden fasste er in seine Tasche und zog das Handy hervor. Der Drang, Dean anzurufen, kam unvermittelt und war noch stärker, als er erwartet hatte.

Aber das ging nicht – auch ohne hinzusehen wusste er, dass der Netzempfang praktisch nicht vorhanden war. Ein rascher Blick auf das Display bestätigte diesen Verdacht.
 

Ansonsten schien das Elektrogerät jedoch einwandfrei zu funktionieren, was entweder bedeutete, dass er es nicht wirklich mit einem Geist zu tun hatte oder... verdammt, eine andere Erklärung fiel ihm nicht ein. Leises Schaben veranlasste ihn dazu, wieder aufzusehen und als er es tat, musste er sich stark am Riemen reißen, um nicht zurückzuzucken.
 

Der Abstand hatte sich verringert. Schon wieder.

Inzwischen waren es keine vierzig Meter mehr. Der Hund hatte den Kopf gesenkt, schien zu ihm aufzusehen und eine Pfote hing halb in der Luft. Groteskerweise fühlte Sam sich an das Kinderspiel erinnert, bei dem sich jemand mit den Rücken zu den Mitspielern aufstellte und zählte, während die anderen versuchen mussten, zu ihm zu laufen, um ihn zu berühren. Wenn sich das Ziel aber umdrehte, mussten sie wie angewurzelt stehenbleiben und wer sich trotzdem noch bewegte, schied aus.
 

Es stimmt, dachte er, genau das ist es. Das Ding bewegt sich nur, wenn ich nicht hinsehe.

Der aufkommende Wind klang wie weit entferntes Jaulen und mit einem Mal stand ihm das Bild eines Wolfsrudels vor Augen, das über einen Kadaver herfiel.
 

-Blut, Hautfetzen und Muskelfasern, begleitet von tiefem, gutturalem Knurren-
 

Er stieß den Gedanken gewaltsam beiseite, als ihm der unmittelbare Ernst der Lage klar wurde. Geist hin oder her, bis jetzt waren es nur halbherzige Überlegungen gewesen. Das hier war real, er konnte die Bedrohung förmlich spüren.

Vorsichtig machte er einen Schritt zurück. Er war nicht vorbereitet und hatte noch dazu keine Ahnung, womit er es zu tun hatte, also war geordneter Rückzug vermutlich die beste Option, die er hatte.
 

Sein Blick blieb starr auf den Hund gerichtet, der unschuldig dastand und sich nicht vom Fleck bewegte. Noch ein Schritt. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen.

Die Gefahr war nun allgegenwärtig, ja sogar die Luft schien vor Anspannung zu vibrieren. Er wusste nicht, woher die Panik kam, die urplötzlich durch seine Adern rann wie eiskaltes Wasser – schließlich hatte schon weitaus Schlimmeres erlebt – Fakt war jedenfalls, dass sie da war und ihm das Atmen schwermachte.
 

Mit einem Mal wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass das blöde Handynetz doch funktionieren würde.

Dreihundert Meter, dachte er, während er sich weiter rückwärts tastete, das ist gar nichts. Dreihundert Meter und Dean ist da. Das schaffst du. Keine große Sache.
 

Noch ein Schritt und noch einer... glatt. Der Boden unter seinen Füßen rutschte weg und er landete rücklings im Schnee. Eis, eine Eisplatte, um genau zu sein. Eine, die er vermutlich nicht einmal bemerkt hätte, hätte er den gottverdammten Weg vorhin nicht extra freigeschaufelt. Die Landung war nass, tat aber nicht besonders weh. Im Hinfallen hatte er Übung. Trotzdem rappelte er sich hastig auf, kaum dass er den Boden berührt hatte, obwohl er tief drinnen bereits wusste, was er sehen würde.
 

Der Hund war noch näher gerückt.

Inzwischen hatte er wieder alle vier Pfoten auf den Boden gesetzt, den Kopf hoch erhoben und streckte die Schnauze direkt in Sams Richtung. Wenn man saß, wirkte das Tier noch größer als im Stehen... so groß, als könnte es einem Menschen problemlos mit einem Ruck den Kopf abreißen-
 

-Schnee, der sich rot färbte und langsam anfing zu verklumpen, zufriedenes Winseln und Knurren, begleitet vom leisen Rascheln der Blätter-
 

Diesmal war es die Stimme seines Bruders, die ihn zurück in die Realität holte und die ihm befahl, von dort zu verschwinden, so schnell er nur konnte. Etwas strauchelnd kam er wieder auf die Beine, die Schaufel lag vergessen im Schnee.

Keine Panik. Er bekam das hin. Einfach zurück zum Hotel, wie schwierig konnte das schon sein? Steif ging er rückwärts, um einiges vorsichtiger diesmal und ließ den Hund keine Sekunde lang aus den Augen. Solange er hinsah konnte ihm schließlich nichts passieren.
 

Thud.
 

Er zuckte zusammen, als der Laut wieder zu hören war, aber der Hund hatte sich nicht bewegt. Was hatte das zu bedeuten? Warum war-
 

Thud, thud.
 

Aus den Augenwinkeln erkannte er, was es mit dem Geräusch auf sich hatte. Es war nicht der Hund. Ein Stück weiter weg stand eine kleine Gruppe von Heckentieren, deren Äste jetzt ebenfalls ihre Schneelast abzuschütteln schienen. Teilweise schimmerte das Immergrün bereits durch. Er versuchte sich zu erinnern. Welche Tiere waren das gewesen? Es waren mehrere, ein ganzes Rudel... wonach sahen sie aus? Katzen?

Seine Kehle schnürte sich zu, als ihm schlagartig klar wurde, womit er es zu tun hatte. Keine Katzen. Löwen.
 

Gottverdammte Löwen.
 

Thud, thud, thud...
 

Beinahe fasziniert sah er zu, wie sich die Schneeklumpen lösten und zu Boden fielen – so als warteten die Tiere ungeduldig darauf, ihre weiße Last loszuwerden, obwohl sie sich keinen Millimeter bewegten. Erst, als das leise Schaben erneut zu hören war, fiel ihm siedendheiß ein, dass er einen Fehler gemacht hatte.

Der Hund. Er hatte den Hund vergessen.
 

Die Entfernung war in sich zusammengeschrumpft, betrug inzwischen nur mehr zwanzig Meter. Höchstens. Sam war schlecht. Die Angst kroch seine Gliedmaßen hoch, langsam und unerbittlich und die Gänsehaut hatte nichts mit der momentanen Kälte zu tun. Er stand da wie erstarrt, so als wäre er selbst zu einer Figur geworden, die sich nur dann bewegen konnte, wenn niemand hinsah.
 

-sie beobachteten ihn, warten darauf, dass er die Augen abwandte und wenn er das tat-
 

Wie nebenbei nahm er war, dass seine Hände zitterten. Er wusste, dass er den Bildern, die jetzt seinen Kopf durchfluteten, nicht nachgeben durfte. Sie wollten ihn ablenken und wenn er das zuließ, war alles aus-
 

-Blut und klumpiger Schnee, zertrümmerte Knochen und zerrissene Gliedmaßen und was von ihm übrig war, wurde einfach liegenlassen-
 

Der Hund und die Löwen verschwammen vor seinen Augen. Nein, dachte er verzweifelt, er musste doch hinsehen, er musste sich konzentrieren, er durfte nicht-
 

-Dean stand mit teilnahmslosem Gesichtsausdruck vor den kümmerlichen Resten, die die Tiere übrig gelassen hatten, und nach einer Weile wandte er sich mit einem Schulterzucken ab-
 

Die Stimme hallte in seinem Kopf wieder, laut und klar, so deutlich, als stünde Dean direkt neben ihm und säße keine dreihundert Meter weit entfernt in einem Gebäude. Der hektische, angsterfüllte Tonfall enttarnte das vorhergehende Bild seines großen Bruders, der sich unbeeindruckt abwandte, als das was es war – dumme, haltlose Hirngespinste.

„Sammy, scheiße noch mal, LAUF!!“
 

Er hatte keine Ahnung, ob es eine Erinnerung war oder einfach nur seine Vorstellung davon, was Dean in zu ihm gesagt hätte, wenn er jetzt hier gewesen wäre. Schlussendlich war es auch egal, denn es machte absolut keinen Unterschied. So plötzlich, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, gehörte sein Körper wieder ihm und im nächsten Moment wirbelte er auch schon herum und rannte.

Rannte zurück zum Hotel, so schnell ihn seine Beine tragen konnten, die unheilverkündenden Geräusche von fallendem Schnee und leisem Rascheln laut wie Trommelschläge in den Ohren.
 

Zweimal wäre er um ein Haar ausgerutscht und hingefallen, aber er schaffte es irgendwie, das Gleichgewicht zu halten. Gut zwei Drittel des Weges hatte er bereits zurückgelegt, als er endlich wieder einen Blick über die Schulter riskierte und was er sah, ließ ihn erschauern.
 

Zehn Meter.

Mehr Abstand war da nicht mehr zwischen ihm und dem weit aufgerissenen Maul. Scheiße. Scheiße, scheiße... Keuchend blieb er stehen und versuchte, ruhig zu atmen. Es gelang nicht. Ganz ruhig, sagte er sich, solange er hinsah, konnte sie ihm nichts tun. Das war alles, er durfte nur die Augen nicht abwenden. Kurze Pause, dann konnte er weitermachen.
 

Tatsächlich?, flüsterte eine Stimme in seinem Hinterkopf spöttisch, Glaubst du wirklich, du entkommst ihnen? Du bist doch viel zu langsam...
 

Nein, nein, nein!

Daran durfte er nicht einmal denken. Alles, was er zu tun brauchte, war zu laufen. Das würde er ja wohl noch fertigbringen. Die seltsam irrationale Angst rann durch seinen ganze Körper, als hätte sie jemand von außen in seine Venen gespritzt und mit aller Kraft unterdrückte er den Drang, Deans Namen zu brüllen – nicht so sehr, weil es ihm peinlich gewesen wäre, sondern viel mehr deswegen, weil es rein gar nichts genutzt hätte.
 

Er warf einen letzten Blick auf die inzwischen gänzlich schneefreien Heckentiere, tat einen tiefen Atemzug und drehte sich um.

Als er diesmal losrannte, kamen ihm die hundert Meter bis zum Hoteleingang trotz aller Entschlossenheit unendlich weit vor.
 

===
 

Der ganze Raum roch nach Alkohol.
 

Es überraschte ihn nicht wirklich. Zwar hatte man ihnen glaubhaft versichert, dass den Winter über kein einziger Tropfen im Hotel zurückgelassen wurde, aber das hier war schließlich eine Bar. Der Geruch nach Bier und Spirituosen haftete an, fraß sich gewissermaßen ins Holz der Theke und den Wandverputz, bis man ihn mit allen Reinigungsmitteln der Welt nicht mehr loswurde.
 

Er saß auf einem der Barhocker und starrte schon seit geraumer Zeit in die Luft. Sam war draußen und schaufelte Schnee. Bitte, wenn er unbedingt wollte... Es war verschwendete Zeit, denn spätestens heute Nachmittag würde es wieder schneien und außerdem, wem hätte der freigeschaufelte Weg überhaupt etwas genützt? Andererseits konnte Dean den Drang, hinaus ins Freie zu kommen, nur allzu gut nachvollziehen.
 

Um ehrlich zu sein, er hätte selbst einiges darum gegeben, jetzt irgendetwas unternehmen zu können, aber in Anbetracht der ganzen Spannungen, die es in den vergangenen paar Tagen zwischen ihnen gegeben hatte... so wenig er es sich eingestehen wollte, es tat gut zu sehen, dass Sam sich wieder händefuchtelnd Sorgen um ihn machte. Das war auch bei weitem der einzige Grund gewesen, warum er überhaupt nachgegeben und versprochen hatte, hier drin zu bleiben.
 

Seufzend fuhr er sich mit einer Hand übers Gesicht. Na ja. Es gab vermutlich schlimmeres. Zumindest war sein „Gefängnis“ diesmal bedeutend größer als das handelsübliche Motelzimmer. Die Mappe lag ausgebreitet vor ihm auf dem polierten Holz der Theke, aber besonders weit war noch nicht gekommen.

Er konnte sich einfach nicht konzentrieren, ständig schweiften seine Gedanken ab zu den Dingen, die gestern passiert waren.
 

Die Beretta lag ihm immer noch schwer im Magen und zusätzlich spukte ihm der seltsame Traum mit dem kleinen Jungen im Kopf herum.

...Weil du dir eher selbst was tun würdest als ihm...
 

Ja klar, dachte er bitter, als ob er mit der Aktion gestern nicht genau das Gegenteil bewiesen hätte. Bis vor kurzem war er noch felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sein kleiner Bruder derjenige war, der sich komisch verhielt, aber jetzt war er sich da nicht mehr so sicher. Vor dieser Möglichkeit graute ihm am allermeisten – dass er selber in Wahrheit derjenige war, der hier durchdrehte. Dass er Sam etwas antat und es erst bemerkte, wenn es längst zu spät war.
 

Aus irgendeinem Grund fiel ihm plötzlich ihr Vater ein.

Sorry, Sir, ich hab Sammy erschossen... aber zu meiner Verteidigung, ich hatte irgendwie keine Ahnung, was ich da eigentlich tue...
 

Er war sich nicht sicher, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, dass er sich die Reaktion auf diesen Satz bildlich vorstellen konnte... und wie bescheuert war es eigentlich, dass er über ein derartiges Gespräch überhaupt nachdachte? Er sollte die Zeit besser nutzen, um etwas Sinnvolles zu tun.
 

Es kam über ihn, gerade als er wieder nach der Mappe greifen wollte und dass ihm sekundenlang die Worte „Nicht doch schon wieder...“ durch den Kopf gingen, wäre wohl ein eindeutiger Beweis dafür gewesen, dass er genau wusste, das etwas nicht stimmte. Doch der Satz wischte so schnell vorbei, dass er ihn kaum richtig wahrnahm und im nächsten Augenblick waren seine Gedanken auch schon voll mit anderen Dingen.
 

-John Winchesters Gesicht, so groß und übermächtig, wie es immer schon gewesen war, das mit gerunzelter Stirn beinahe angeekelt auf ihn hinuntersah-
 

Reflexartig streckte er die Hände aus, um sich an der Theke festzuhalten, weil er sonst womöglich vom Hocker gerutscht wäre und seine Umgebung begann an den Grenzen seines Sichtfelds ineinander zu verschwimmen.
 

-die Stimme seines Vaters, die ihm enttäuscht erklärte, dass auf Sam aufzupassen alles war, was man je von Dean verlangt hatte und offenbar bekam er nicht einmal das auf die Reihe-
 

Mit einem Mal hatte er das ungute Gefühl, zehntausend Augenpaare im Rücken zu haben, die ihn forschend anstarrten. Warum war hinter der Bar kein Spiegel? Er wollte sehen, wer ihn da beobachtete... Sein eigenes Keuchen hallte ihm überdeutlich in den Ohren wieder, beinahe schon theatralisch und er wollte etwas sagen, wollte sich verteidigen-
 

-Dean war unwichtig gewesen, von Anfang an, er hatte zu funktionieren, er hatte zu tun was man ihm sagte, das war alles-
 

-immer war es nur um Sam gegangen, das war die traurige Wahrheit-
 

-und anscheinend war er auch dafür zu blöd-
 

-selbst als Sam nach Stanford abgehauen war, war ihr Vater immer noch stolz auf ihn gewesen. Dean wusste das. Insgeheim hatte John seinen jüngstens Sohn dafür respektiert, dass er seinen Willen durchgesetzt hatte, dass er sich von niemandem etwas hatte sagen lassen-
 

-Dean wurde von niemandem respektiert, er war gerade gut genug, um herumkommandiert zu werden und nicht einmal das brachte ihm irgendeine Form von Achtung ein-
 

-ganz im Gegenteil, umso mehr er sich bemüht hatte, umso stärker er versucht hatte, alles zusammenzuhalten, desto schneller war ihm ihre Familie durch die Finger geronnen-
 

-er hatte nicht einmal verhindern können, dass Sam ging, ein einziges Mal hatte er Gelegenheit gehabt, etwas richtig zu machen und selbst das hatte er versaut-
 

-das schlimmste daran war, dass Sam nicht einmal zu schätzen wusste, wie sehr ihr Dad an ihm gehangen hatte-
 

-nein, stattdessen tat er die ganze Zeit über so, als hätte er keine Ahnung davon, wie sehr ihr Vater ihn geliebt hatte, tat so, als wäre er-
 

Lautes Scheppern ließ ihn zusammenfahren und die Welt war so schnell wieder im Lot, dass ihm sekundenlang dunkle Punkte vor den Augen tanzten. Der Alkoholgeruch hing unglaublich stark und durchdringend im Raum und im dunstigen Zwielicht kam es ihm fast so vor, als stünden da tatsächlich reihenweise Flaschen auf den leeren Regalbrettern hinter der Theke.
 

Dann erst dämmerte ihm, dass das Geräusch, das ihn herausgerissen hatte, keine Einbildung gewesen sein konnte und gerade, als er die Füße auf den Boden setzte, um nachsehen zu gehen, ertönte Sams Stimme – gehetzt und hart an der Grenze zur Panik.
 

„DEAN?!“
 

Sein Herz machte einen Sprung und sein Kopf war schlagartig wieder klar. Scheiße.

Fast stolperte er über seine eigenen Füße, als er Richtung Lobby rannte. Scheiße, scheiße, was war denn jetzt wieder passiert?

Als er um die Ecke bog und seinen kleinen Bruder sah, der direkt vor der breiten Glastür des Eingangs auf die Knie gesunken war, machte sich ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend breit.
 

„Sam?“, er durchquerte die Halle mit großen Schritten und der kommandieren Tonfall diente einzig und alleine dazu, um seine Angst zu überspielen, „Was ist passiert? Was ist los, was hast du-“
 

Er stockte, als ihm klar wurde, dass das, was da an Sams Händen klebte, Blut war. Später konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie er die restlichen paar Meter überbrückt hatte, denn das nächste, was er wusste war, dass er neben seinem Bruder kauerte und dessen Hände untersuchte.
 

Sam war verschwitzt und atmete so schwer, als wäre er gerade einen Marathon gerannt. Seine Worte waren kurz und abgehackt.

„Nein“, brachte er mühsam hervor und zog seine Hände weg, „Nicht... das ist nicht...“
 

„Was? Sammy, was?! Bist du verletzt? Woher-“
 

Sam schüttelte frustriert den Kopf, gab die halbherzigen Erklärungsversuche auf und deutete stattdessen auf seine Beine. Dean sah nach unten. Der Jeansstoff war an mehreren Stellen zerrissen, um nicht zu sagen zerfetzt. Die Knie waren aufgeschürft und die Unterschenkel... waren das etwa Kratzer? Die Wunden schienen nicht besonders tief zu sein, aber dunkles Blut sickerte unaufhaltsam daraus hervor.
 

Dean streckte die Hand aus, um den Schaden zu begutachten, wusste dann aber nicht so recht, wie er das anstellen sollte und zog sie wieder zurück.

„Sam?“, fragte er behutsam, „Was hast du gemacht?“
 

Sam hob den Kopf, spähte durch das Glas nach draußen und Dean konnte förmlich spüren, wie sein kleiner Bruder unter seinen Händen erstarrte. Er folgte seinem Blick, konnte aber nichts Auffälliges entdecken.
 

Schnee. Jede Menge Schnee, um genau zu sein.

Aber abgesehen davon... weit hinten ließ sich der Parkplatz ausmachen, noch weiter hinten der Spielplatz und dazwischen waren ein paar zugewehte Hügel, die wohl die Heckentiere sein mussten. Und ansonsten... nichts.

Gar nichts.
 

„Also?“, hakte er nach, „Sam, was?“
 

Sein Bruder schüttelte erneut den Kopf. Seine Kiefer waren fest zusammengepresst und er schluckte schwer, bevor er endlich den Mund aufmachte.

„Nichts...“, murmelte er heiser und Dean wollte verdammt sein, wenn er ihm das auch nur eine Sekunde lang abkaufte, „Gar nichts.“
 

Der Ärger, der in ihm aufstieg, kam einzig und alleine von dem nagenden Gefühl der Hilflosigkeit, das ihn immer überkam, wenn er nicht wusste, was mit Sam nicht stimmte und demnach auch nichts dagegen unternehmen konnte. Den verzweifelten Klang, mit dem sein kleiner Bruder seinen Namen gerufen hatte, hatte er immer noch in den Ohren.
 

„Ah ja“, es klang um einiges aufgebrachter, als er eigentlich vorgehabt hatte, „Gar nichts, alles klar. Deshalb siehst du auch so aus, als hättest du deine Füße in einen Fleischwolf gesteckt, hah?“
 

„Ich...“, Sam räusperte sich und machte Anstalten sich richtig hinzusetzen, um Deans forschenden Händen zu entkommen, was nicht ganz gelang und in einem ziemlich missglückten Fluchtversuch resultierte, „Tja, ich bin... bin hingefallen. Tut mir leid, ich weiß nicht, warum ich deswegen so ’nen Aufstand gemacht-“
 

Dean unterbrach ihn wütend. Aus irgendeinem Grund erinnerte ihn diese Aussage an die typischen, klischeehaften Ausreden, die man von Opfern häuslicher Gewalt erwartete.

Ich hab mich gestoßen. Ich bin die Treppe runtergefallen. Ich war nur...

„Sag mal, für wie blöd hältst du mich eigentlich?“
 

Er erntete einen müden Blick. Ob das daher kam, weil Sam ihm klarmachen wollte, dass er diese Reaktion erwartet hatte und ihn wirklich für einen Idioten hielt oder einfach nur daher, weil er keine Lust darauf hatte, herumzustreiten – Dean wusste es nicht. Es war ihm auch egal.

„Bitte“, sagte Sam lahm, „Wenn du mir nicht glaubst, dann sieh doch nach.“
 

Dean runzelte die Stirn. „Was? Wovon redest du?“
 

Sam deutete nach draußen, in Richtung der Treppe, die hinauf zur Eingangstür führte.

„Da“, sagte er überdeutlich, „Hin-ge-fallen. Irgendeine der letzten paar Stufen. Überzeug dich selbst, mach schon.“
 

Tatsächlich aufzustehen und seinen kleinen Bruder loszulassen kostete Dean mehr Überwindung, als er gedacht hatte. Widerwillig machte er ein paar Schritte, warf einen zögernden Blick zurück und sah direkt in Sams blasses, entschlossenes Gesicht.

„Okay, okay“, murmelte er geschlagen und hob die Hände.
 

Dann stapfte er nach draußen.
 

===
 


 

Haha, das passt jetzt eigentlich überhaupt nicht hierher, aber ich muss es einfach loswerden:

Also, mein kleiner Bruder hat letztens durch Zufall irgend ’ne Supernatural-Folge im Fernsehen gesehen und jetzt ist er gegenüber unserem ganz kleinen Bruder total auf einem „guter-großer-Bruder“-Trip. Und unser ganz kleiner Bruder findet das sehr seltsam und verdächtig und hat überhaupt keine Ahnung, was eigentlich abgeht.

ES IST SOWAS VON GÖTTLICH!! :D
 

Ich könnte mich den ganzen Tag einfach nur wegschmeißen. Irgendwie ist es süß und irgendwie saumäßig lustig.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  genek
2009-06-14T14:24:00+00:00 14.06.2009 16:24
Oh, und zum Gelaber am Ende: Erstens hast du "broßer Bruder" geschrieben. Yay für Neologismen und Alliterationen! :D
Zweitens glaube ich dir auf's Wort, dass das irre komisch sein muss - und süß. Schade, dass mein großer Bruder die Serie nie gesehen hat... (und mich gesalzen. Oh so goes life.)

Von:  genek
2009-06-14T14:21:59+00:00 14.06.2009 16:21
*schon wieder upload verpasst hat*
Und als Wiedergutmachung eine Runde Mitleid für's viele Formatieren (1 in Zahlen. Mehr gibbet nich, kla?) :D
Wieder die Handlungskurve klasse ausgeschrieben, muss blumenpups zustimmen, dass frisst mehr an den Nerven als diese gewissen Filme. Oh, und der Ausdruck "ein Rudel Gewächs" ist ja mal klasse! :D
Und scheinbar ist Dean mittlerweile gesund genug, um auch in den Bann des Overlookhotels zu fallen - wo das noch hinführt?
Gespannt ist weiterhin
genek.
Von:  Engelchen_Fynn
2009-06-13T23:50:33+00:00 14.06.2009 01:50
Mh, ich an Sam's Stelle hätte ja die Wahrheit gesagt. Schon allein deshalb, um meinen Bruder vorzuwarnen, bevor der demnächst auf die Idee kommt den Viechern zu nahe zu kommen. ... *amKopfkratz* Das soll einer verstehen.

Na ja, wie auch immer, das Kapitel war wieder richtig toll. ^^

Ich bin schon ga~nz gespannt wie es weitergeht, was übrigens bedeutet, dass du ga~nz schnell weiterschreiben musst. ^-^
Von:  blumenpups
2009-06-13T12:51:37+00:00 13.06.2009 14:51
Da isse wieder und schreit wieder ihr obligatorisches ERSTÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ in die uninteressierte Welt hinaus! XD
Meine Güte, kann Sam nicht einfach mal die Klappe aufmachen und sagen, was los ist?! Das ist ja zum verrückt werden!
Und diese Hetzjagd gegen den blöden Köter und die Pussycats hat mir ja schon fast den letzten Nerv gekostet =____=
Du beanspruchst unsere Nerven bis aufs äußerste, meine Liebe, bald ist nichts mehr von ihnen übrig wenn du so weiter machst *schauder*
Und als ob Dean einfach so mit den Schultern zucken würde, wenn sein geheiligter kleiner Bruder von einem Rudel Gewächs zerfleischt werden würde >/////<
Oh. Ich würd so gern wissen, was Dean alles mit dem Grünzeug anstellen würde *_* XD Vermutlich würde er sie zu Gartenzwergen umschnibbeln oder so XDDD

Also, wenn du jetzt nicht fix weitermachst, hast du meinen Herzinfarkt zu verantworten, inklusive eines mittleren Nervenzusammenbruchs. Such dir aus in welcher Reihenfolge ^_~
LG, pups


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