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Nothing And Everything

von

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N i n e

Keuchend und schnaufend kam ich gerade rechtzeitig bei den Coopers an. Stimmt nicht ganz - ich war sogar fünf Minuten früher als die Kids. Das ließ mir genug Zeit, um die Einkäufe - Chips, Eis und andere Leckerbissen -, zu verstauen, damit die Kinder sich nicht sofort darauf stürzten. Mittlerweile war es schon zur Tradition geworden, dass wir, wann immer ich über das Wochenende blieb, eine kleine Party veranstalteten, mit lauter Zeug, das dem Magen sicherlich nicht gut tat, und mit ein paar Videos. Letztes Mal war es ein Disney-Video gewesen, aber da ich Maddy später zu einer Pyjamaparty bringen musste, würde sie dieses Wochenende nicht anwesend sein, deshalb standen die Chancen gut, dass Nicky, Simon und ich heute etwas "Erwachseneres" gucken konnten. Nicky beschwerte sich schon lange, dass ihr diese Kinderfilme langsam zum Halse heraushingen, aber ich war mir eigentlich ziemlich sicher, dass das nur Wichtigtuerei war.

Ich hatte gerade das Eis versteckt, da kamen die drei schon zur Tür herein und, ohne mich zu begrüßen, waren sie auch schon nach oben abgerauscht. Wirklich, ich fühlte mich hier von Tag zu Tag heimischer, ganz so, als gehörte ich bereits zum Inventar. Obwohl Möbelstücke natürlich nicht den Chauffeur spielten, das Essen zubereiteten und die Betten machten...

Ich warf einen Blick auf die Uhr und entschied, den Kids heute nicht mit meiner ewigen "Macht die Hausaufgaben"-Tour zu kommen, denn es war Freitag und dafür hatten sie noch genug Zeit. Ich erinnerte mich an meine eigene Schulzeit, die noch gar nicht allzu lange her war, und wie ich immer Sonntag abends verzweifelt vor meinen Schulbüchern saß und versuchte, mir irgendwelche Gedichte, Zahlen oder Formeln einzuprägen, bereits wissend, dass ich am nächsten Tag kläglich versagen würde. Jamie, der Streber, machte seine Aufgaben natürlich schon immer direkt nach der Schule. Besonders so eklige Fächer wie Mathe, Chemie, Physik und Biologie lagen ihm - also alles, was auch nur im Entferntesten mit Naturwissenschaften zu tun hatte. Einfach widerlich, fand ich damals, und je länger ich Sonntags an den Hausaufgaben saß, desto mehr perfektionierte ich meine Fähigkeiten in Kunst - oder besser gesagt im "kleine Schmierereien ins Heft kritzeln". Meine Lehrer waren nicht erfreut, meine Eltern nach den Elternsprechtagen noch weniger, aber irgendwie schaffte ich es immer, einigermaßen passable Noten nach Hause zu bringen.

Wie ich dann allerdings nach meinem Studium von "Archivwesen" - ja, ich hielt das damals tatsächlich für eine gute Idee -, und bei meiner Aversion gegen Zahlen bei einem kleinen Finanzberatungsunternehmen landen konnte, das kann ich mir auch heute noch beim besten Willen nicht erklären. Ich muss möglicherweise geistig umnächtigt gewesen sein, oder meine Arbeitgeber müssen geistig umnächtigt gewesen sein, dass sie so etwas wie mich überhaupt einstellten. Nun, letztendlich sind sie ja pleite gegangen, und ich schwöre, es war nicht meine Schuld, obwohl ich so eine Option durchaus im Bereich des Möglichen vermutete.

Ein Gutes hatte es ja, bei Mr. Cooper zu arbeiten. Ich musste weder rechnen, noch mit ätzenden, störrischen Kunden ihre in den Keller gesunkenen Finanzen durchkauen, während ich in einem stickigen, heißen Raum saß, von meinen Kollegen nur durch eine Pappwand abgetrennt und durch sämtlichen Lärm immer wieder gestört. Dagegen war das hier fast schon Luxus, das musste ich mir eingestehen. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb ich so lange wartete, bis ich mich endlich nach einem neuen Job umsah... Ich hatte zwar verschiedene Gesuche ausgedruckt, hatte aber weder eine Bewerbung geschrieben, noch irgendetwas Anderes dafür getan. Es war wie mit den Hausaufgaben am Sonntag, nur, dass es hierbei nicht um den nächsten Schultag ging, sondern um die Zukunft. Und Zukunft, so schien es mir, war ein großes Wort. Eines, dem ich nicht gewachsen war.

Maddy kam runter und unterbrach meine tiefsinnigen Gedanken. Eine Weile lang stand sie nur da und sagte kein Wort, als ob sie darauf wartete, selbst angesprochen zu werden.

Ich tat ihr den Gefallen, obwohl ich es nicht gewohnt war, sie so zurückhaltend zu erleben. "Was ist los, Maddy?", hakte ich freundlich nach und wusch meine Hände über der Spüle.

Sie zuckte unbeteiligt mit den Schultern, wich aber meinem Blick aus. "Nichts."

Na, nach "nichts" sah mir das aber nicht aus, dennoch verkniff ich mir diesen Kommentar. "Müssen wir schon los? Wann musst du da sein?"

"Um sechs erst."

Und so einsilbig war sie heute auch noch. Langsam begann ich wirklich, mir Sorgen zu machen. "Alles in Ordnung?", wollte ich jetzt doch ernsthaft wissen, trocknete mir die Hände ab und machte einen Schritt auf die Kleine zu, doch wieder blockte sie nur ab, schaute weg und nickte. Ich war ratlos. Hatten denn alle Kinder in diesem Haus einen Knacks?

"Tja, dann...", murmelte ich hilflos, "mach dich schon mal fertig. Soll ich dir beim Packen helfen?"

Endlich zeichnete sich so etwas wie ein schiefes Lächeln auf ihren Zügen ab. "Nee. Daddy hat mir gestern schon geholfen."

Aha, "Daddy" also schon wieder. Nach allem, was ich bisher wusste, konnte ich nicht umhin, mir früher oder später eingestehen zu müssen, dass Mr. Cooper doch nicht so ein schlechter Vater war, wie ich ihn mir ausgemalt hatte. Sicher, er schien streng und konservativ und er machte auch immer den Eindruck, schrecklich überarbeitet zu sein, aber er kümmerte sich wirklich um seine Kinder. Irgendwie machte ihn das in meinen Augen weniger furcheinflößend. Menschlicher. Und sind wir doch mal ehrlich - ein alleinerziehender, anständiger Mann läuft einem nicht jeden Tag über den Weg. Also mir zumindest nicht.

Maddy stand noch in wenig in der Küche herum und scharrte mit den Füßen, machte jedoch keine Anstalten, etwas zu sagen, also ließ ich sie in Ruhe. Wenn sie soweit war, würde sie mir schon von selbst mitteilen, was sie auf dem Herzen hatte. Sicherheitshalber sollte ich mir aber dennoch ihre Packtasche anschauen. Ich glaubte ihr zwar, dass schon alles fertig war, aber Mr. Cooper war ein Mann, und Packen und Männer waren nicht unbedingt das Dreamteam schlechthin. Mein Vater zum Beispiel konnte ohne meine Mutter nicht einmal einen Bund Karotten in den Einkaufswagen legen, geschweige denn seinen Koffer reisefertig machen. Andererseits war Mr. Cooper anscheinend schon lange nicht mehr auf die Hilfe einer Frau angewiesen, also könnte es durchaus möglich sein, dass er den Bogen bereits raus hatte.

Trotzdem sollte ich nachschauen gehen.

So in Gedanken versunken merkte ich gar nicht, wie Maddy wieder ging, aber als ich mich nach ihr umdrehte, war sie schon weg. Ich machte mich auf den Weg nach oben, denn das Gästezimmer, das sich dort befand, durfte ich benutzen, solange ich hier war. An Wochenenden war das meine Unterkunft und auch an sonstigen, regulären Arbeitstagen konnte ich mich dorthin zurückziehen.

Es war das typische Gästezimmer: klein, mit Bett und Kommode, einem Fenster mit Vorhängen, einem Nachtschränkchen, einem Papierkorb und einem Schreibtisch mit Leselampe. Also absolut ausreichend für mich, da ich hier sowieso nichts anderes tat, als auf dem Bett zu liegen - mittags, wenn die Kinder in der Schule waren -, oder zu schlafen - nachts, wenn alle anderen auch schliefen. Gegenüber befand sich Mr. Cooper's Schlafzimmer, direkt nebenan Nicky's Zimmer.

Ich warf mich rücklings auf's Bett und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Es war zwar erst Nachmittag, aber irgendwie war ich geschafft. Zum Glück hatte ich noch ein paar Minuten, bis ich Maddy ausliefern sollte und solange die Brut ruhig war, sollte mir das recht sein.

Kaum hatte ich diesen Gedanken zuende gedacht, klopfte es. Ich hob den Kopf und sah Simon leise hereinschleichen. Unsicher blickte er mich an und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Ich setzte mich aufrecht hin.

"Hi Simon, was gibt's?", fragte ich schon wieder, nur ein anderes Cooperkind. Irgendwas schien heute im Busch zu sein.

"Hi Annie", murmelte er, trat ein paar Schritte näher, blieb aber am Schreibtisch stehen und lehnte sich dagegen. Ich bemerkte, dass er ein Blatt Papier mitgebracht hatte und auf seiner Unterlippe herumkaute.

Ich schwieg und wartete auf eine Antwort, aber er sagte nichts, also lächelte ich ihm aufmunternd zu. Was immer er wollte, ich würde ihm schon nicht den Kopf abreißen.

Das schien zu wirken, denn plötzlich kam er zu mir und hielt mir das Blatt hin. Ich nahm es und überflog kurz den Inhalt des Schreibens. Es war von seiner Schule und die Eltern wurden gebeten, Termine für den Elternsprechtag zu vereinbaren.

"So bald schon", murmelte ich, als ich das angesetzte Datum sah. "Das musst du deinem Dad geben, damit er sich schnell einen Tag frei nehmen kann."

Simon verzog das Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse. "Ich dachte eigentlich... also, kannst du nicht einfach stattdessen hingehen?"

Für einige Sekunden war ich sprachlos, aber ziemlich gerührt. Dann schüttelt ich bedauernd lächelnd den Kopf. "Du weißt schon, es heißt ELTERNsprechtag. Nicht Kindermädchensprechtag." Ich zwinkerte ihm zu, um ihn ein bisschen aufzuheitern, aber er blickte mich nur niedergeschlagen und mit hängenden Schultern an.

"Bitte, Annie", flehte er leise, "Dad soll da nicht hin. Er versteht das alles nicht!"

Perplex sah ich ihn an. "Was denn?"

"Dass ich nicht in die Schulfußballmannschaft will. Oder in irgendeinen komischen Schulclub, so was wie Theater und so. Kannst du denen das nicht sagen? Die wollen, dass ich dahin gehe."

Ich fühlte ich ein wenig hilflos, ungefähr genauso, wie Simon aussah, und ich wusste auch nicht, was ich sagen sollte, also griff ich nach seiner Hand und zog ihn auf das Bett, sodass er sich neben mich setzte.

"Wieso sagst du deinem Dad nicht einfach, was du willst und was du nicht willst und dann sehen wir schon, ob er das verstehen wird?", schlug ich vor. In so einer Sache einfühlsam vorzugehen und beiden Seiten gerecht zu werden, war schwieriger, als gedacht.

Simon ließ den Kopf sinken und nuschelte irgendetwas Undeutliches, dessen Inhalt wahrscheinlich der war, dass ein Gespräch mit seinem Dad einer Diskussion mit einem Stein glich. Aber vielleicht waren das auch nur meine eigenen Gedanken.

Ich verstand nicht, warum ausgerechnet Simon sich so vor seinem Vater ängstigte, wo doch Maddy und Nicky bestens mit ihm auskamen. Na gut, Maddy kam bestens mit ihm aus, Nicky legte sich immer wieder mit ihm an und musste das letzte Wort haben, aber immerhin setzte sie sich mit ihm auseinander.

Einem spontanen Impuls folgend legte ich den Arm um Simon's Schultern und drückte ihn kurz an mich, und weil uns das beiden plötzlich unangenehm war, verstrubbelte ich ihm anschließend die Haare, die wunderbar weich waren.

"Hör zu, du kannst mir das hier lassen und ich rede mit deinem Vater, aber auf den Elternsprechtag gehen kann ich wirklich nicht. Die würden mich wahrscheinlich nicht mal reinlassen." An so einer Privatschule für Bonzen, fügte ich in Gedanken hinzu.

"Aber die Lehrerin wird... sie wird ihm erzählen, dass..." Er stockte, als ob er merkte, dass er dabei war, sich zu verplappern und seufzte, schien jedoch wenig überzeugt zu sein von meiner Idee. "Na gut", murmelte er schließlich geschlagen. "Wenn du meinst."

Ein bisschen mehr Vertrauen konnte er mir schon entgegenbringen, dachte ich, doch dann fiel mir ein, dass ich mich soeben freiwillig einverstanden erklärt hatte, mit Mr. Cooper über so ein sensibles Thema zu reden, und mir wurde klar, dass Simon mir genau das Vertrauen entgegenbrachte, das angebracht war.

Trotzdem wollte ich ihn nicht so deprimiert gehen lassen. "Überleg dir schon mal, während ich weg bin, was wir heute Abend gucken wollen, okay?", rief ich ihm fröhlich hinterher, als er aus dem Zimmer schlurfte.

Er murmelte ein "Mhm" und verschwand aus meinem Blickfeld, und ich widmete mich dem Schreiben, das er dagelassen hatte und fragte mich, was die wohl tun würden, wenn ich dort auftauchte anstatt seinem Vater. Und was sein Vater tun würde, wenn ich das tatsächlich machte. Ich grinste schief und legte das Papier schnell beiseite, bevor mir noch weitere Schnapsideen kamen.

Aber was hatte Simon damit gemeint, als er sagte, dass seine Lehrerin seinem Vater irgendetwas erzählen würde? Da war doch noch mehr faul als dieser Unwille, Mannschaftssport zu betreiben. Ich sollte das herausfinden und möglicherweise würde die neunmalkluge Nicky mir eine große Hilfe dabei sein, allerdings würde ich vorher Maddy zu ihrer Pyjamaparty bringen müssen und je schneller ich das erledigte, desto besser. Ein Zusammentreffen mit diesen ganzen Bonzenmüttern und deren Nannys war mir nicht geheuer und es war immer besser, pünktlich zu sein, denn so würde ich ihnen, die generell die vorgeschriebenen fünfzehn Anstandsminuten später kamen, nicht begegnen.
 

Ich läutete die dritte Runde des heutigen Spiels "was ist bei den Cooper-Kids im Busch" ein, als Maddy in den Wagen stieg und mir andauernd wieder diese vielsagenden Blicke zuwarf.

Wir waren nur noch ein paar Autominuten von der Wohnung ihrer Freundin und ich nur wenige Augenblicke davon entfernt, meine Vorsätze, sie selbst reden zu lassen, über Bord zu werfen, als sie endlich den Mund aufmachte.

"Du, Annie", nuschelte sie leise.

"Ja?", fragte ich hoffnungsvoll. Endlich!

"Muss ich Kyle wirklich küssen?"

Ich war kurz davor, auf die Bremsen zu steigen und sofort wieder nach Hause umzudrehen, um mir ein paar Beruhigungstabletten einzuschmeißen. Ich ließ es sein.

"Wie bitte?"

Sie errötete ein wenig. "Er sagte, wenn wir miteinander gehen, muss ich ihn küssen. Das machen Erwachsene auch so, weißt du?"

"Nee", machte ich unwillkürlich, und es hörte sich eher ein wie ein stumpfes "Määh" von einem Schaf.

Maddy schaute mich mit großen Augen an. "Du weißt das nicht, Annie?", fragte sie fassungslos, fast schon vorwurfsvoll.

Natürlich wusste ich das. Aber sie hatte das nicht zu wissen mit ihren acht unschuldigen Jahren!

Mein Gott, ich war nicht vorbereitet auf solche Gespräche. Wenn das schon so anfing, wohin sollte das führen? Wo war ihr Vater, verdammt, das war schließlich sein Job hier!

"Doch, doch", beeilte ich mich schnell zu sagen, bevor sie zum Schluss kommen konnte, dass ich eine unglaublich unfortschrittliche und mittelalterliche, verbohrte Erwachsene war, die nicht einmal wusste, dass man jemanden küsste, wenn man sich lieb hatte. Haha, dabei hätte sie gar nicht mal so falsch gelegen. Das letzte Mal, dass ich jemanden geküsst hatte, war... aber hier geht’s gerade nicht um mich.

"Ich frage mich nur, warum du über so etwas nachdenkst." Ich lachte nervös. Ich wollte am liebsten herumbrüllen und toben, dass sie das Wort "küssen" nicht einmal in den Mund nehmen sollte bis sie achtzehn ist, aber das wäre auch schon das Ende unserer Freundschaft gewesen.

Maddy zuckte mit den Schultern. "Kyle hat das gesagt."

Ach ja, genau, Kyle. Kyle, was ist das überhaupt für ein Name? Und wie kommt Kyle dazu, meinem kleinen Mädchen solch verdorbene Gedanken in den Kopf zu pflanzen? Wenn ich den in die Finger kriege...

"Du musst nichts tun, was du nicht willst", sagte ich diplomatisch, aber es klang so gezwungen, als hätte ich es irgendwo auswendig gelernt und würde selbst nicht so recht dran glauben. Tat ich ja auch nicht, zumindest in diesem speziellen Fall. "Ich meine", fügte ich noch schnell hinzu, nur für den Fall, dass Maddy es doch wollte, "am besten ist es natürlich, wenn man schon älter ist und wirklich weiß, dass man jemanden küssen will. Und was für Folgen das alles haben kann und so weiter..." Oh je, ich redete mich in Schwierigkeiten hinein!

Maddy warf mir einen fragenden Blick zu. "Was denn für Folgen?", wollte sie neugierig und auch ein bisschen ängstlich wissen.

Ich hätte gleich wissen sollen, dass ich mit meiner Schwafelei nur diese eine Frage heraufbeschwören würde. Mensch!

"Äh, also weißt du... manchmal passiert noch mehr und... das sollte einfach nicht passieren."

Mist, Mist, Mist! Hör auf damit!

"Was denn?" Große, braune Augen starrten mich an.

"Zerbrich dir darüber nicht den Kopf und... erzähl deinem Vater bloß nichts davon." Vor allem nicht, was für einen Schrott ich hier verzapfe... "Ah, wir sind ja schon da!"

Mit einem Ruck hielt ich an und sprang aus dem Auto, um Maddy’s Tasche von der Rückbank zu holen. Auch sie stieg aus und betrachtete mich stirnrunzelnd, wartete anscheinend noch, dass ich weitererzählte, aber da kam schon zum Glück der Portier und nahm mir die Sachen ab, um Maddy und mich ins Haus zu begleiten. Diese warf mir noch einen ratlosen Blick zu, sagte aber vor dem netten Mann zum Glück nichts mehr darüber. Er versprach, sie nach oben zu begleiten und ich war froh drum, denn so konnte ich sofort wieder fahren und mich von dem Schock eben erholen. Und mir vielleicht schon mal überlegen, was ich beim nächsten Mal sagen konnte...

Mensch, wenn Mr. Cooper wüsste, wie sehr ich seine Kinde verkorkse, dann würde er mich sicherlich nicht mehr bei sich zu Hause arbeiten lassen, zumindest nicht ohne Aufsicht.
 

Zurück in der Cranberry Street bot sich mir – als wäre dieser Tag noch nicht Strafe genug gewesen -, ein grauenhafter Anblick des Wohnzimmers: Alle Schranktüren standen sperrangelweit offen und der Fußboden schien unter ein Papierlawine begraben worden zu sein. Mittendrin Nicky, die seelenruhig ein paar Dokumente studierte und sich in ihr Schulheft Notizen machte.

Vor lauter Entsetzen konnte ich nicht einmal die nötige Empörung aufbringen, sondern stand nur wie angewurzelt in der Tür und betrachtete fassungslos das Durcheinander.

"Nicky", wimmerte ich hilflos und machte einen wackeligen Schritt auf sie zu, "was zum Teufel machst du da?!" Ich war mir ziemlich sicher, dass es sich um wichtige Papiere handelte, halt alles, was man eben so aufbewahren sollte. Dokumente von Behörden, Pässe, wichtige Schreiben, und so weiter. Alles lag verstreut in der Gegend herum, vereinzelt auch Ordner mit diversen Aufschriften, wie "Ablage", "Arzt", "Bank" und so weiter. Ach du liebe Güte!

Nicky blickte auf und sah so aus, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Zu allem Überfluss zuckte sie auch noch unbeteiligt mit den Schultern, sich keiner Schuld bewusst, und erklärte lammfromm: "Ich musste für eine Schulaufgabe etwas recherchieren."

"Recherchieren?" Meine Stimme klang schrill. "Hier?!" Mit "recherchieren" konnte unmöglich gemeint gewesen sein, das Wohnzimmer zu Grunde zu richten! Aber es war nicht diese Unordnung, die mir in diesem Moment Sorgen bereitete, sondern vielmehr, dass ich dieses ganze Durcheinander nicht mehr beseitigt kriegte, zumindest nicht ganz, denn woher sollte ich bitte wissen, welches Blatt Papier wozu und in welchen Ordner und in welche Reihenfolge gehörte? Mr. Cooper würde denken, ich hätte in seinen Sachen geschnüffelt. Die Kündigung wäre die logische Konsequenz hiervon, schien mir aber in diesem Augenblick nicht das Schlimmste zu sein, sondern die Tatsache, dass er durch diesen Vorfall meine Integrität in Frage stellen würde. Niemals würde ich es wagen, in fremden Sachen herumzustöbern, aber genau das würde er denken!

Ich merkte, dass ich ein wenig überreagierte und holte erst einmal tief Luft, um mich zu beruhigen. Natürlich würde Nicky ihm sagen, dass ich damit nichts zu tun habe.

Kann man diese Kinder denn keine halbe Stunde alleine lassen? Ich hätte einen Babysitter beauftragen sollen, was durchaus ironisch gewesen wäre, da ich ja hier der Babysitter war.

"Wir sollten etwas über unsere Blutgruppe herausfinden. Nächste Woche machen wir eine Führung durch ein Krankenhaus und die erklären uns alles über Blutspende."

"Toll", sagte ich trocken. Das Ganze stieß bei mir auf nur wenig Begeisterung. "Und dafür der ganze Mist hier?" Ich machte eine ausholende Handbewegung und verwies auf den papierbedeckten Boden.

"Dad hat die ganzen Sachen so gut versteckt, da musste ich erst einmal suchen", verteidigte sie sich. "Schau mal, ich hab die Blutgruppe B positiv." Sie stand auf, wedelte mit ihrem Heft in der Luft und grinste ob der Leistung, die sie erbracht hatte. "Meine Lehrerin sagt, nur neun Prozent der Weltbevölkerung haben das."

"Herzlichen Glückwunsch", murmelte ich missmutig, in Gedanken bereits vollauf beschäftigt mit Aufräumen. Als hätte ich hier sonst nichts zu tun!

"Ja. Ich bring das eben weg und dann helfe ich dir beim Aufräumen." Nicky stapfte durch das Papier an mir vorbei und stieg die Treppe hoch.

Ich blieb noch einen Augenblick stehen, betrachtete ihr Werk und seufzte schließlich schicksalsergeben. Je schneller das beseitigt war, desto früher konnte ich zu anderen Dingen übergehen. Ich wette, Nicky hätte sich nie getraut, so etwas zu veranstalten, wenn ihr Vater zu Hause gewesen wäre.

Ich machte mich also daran, alles grob zu ordnen, und setzte mich im Schneidersitz auf den Boden. Arztrechnungen auf einen Haufen, Bankangelegenheiten auf einen anderen. Ganz oft fand ich mir vollkommen unverständliches juristisches Zeug, das auf den "Ich weiß nicht wohin damit"-Haufen kam. Ob Mr. Cooper das alles alphabetisch oder nach Datum sortierte? Na ja, Nicky konnte es mir bestimmt sagen, wenn sie gleich wiederkam. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihr das entgangen sein konnte, wo sie doch so sorgfältig darauf bedacht gewesen war, so viel Chaos wie möglich anzurichten.

Ich nahm ein paar Papiere von dem kleinen Couchtisch und warf einen Blick darauf. Es waren Ergebnisse von einer Blutuntersuchung und Nicky's Name stand drüber. Das Datum allerdings lag schon fast acht Jahre zurück.

Mr. Cooper war ein wirklich gründlicher Mensch, wenn er so was noch aufbewahrte. Ich blätterte den kleinen Stapel Papier kurz durch und es fanden sich auch die Blutergebnisse der anderen beiden darin wieder, alle mit demselben Datum gekennzeichnet. Nicht besonders beeindruckt legte ich das Zeug auf den "Arztrechnungen"-Haufen, und fand es ziemlich witzig, dass alle drei Kinder verschiedene Blutgruppen hatten.

Als ich weiter den Tisch abräumte, fiel mir noch ein Stapel solcher Ergebnisse in die Hände, dieses Mal stand Mr. Coopers Name drauf und auch das Datum lag schon länger zurück als das von den Unterlagen eben.

AB, las ich, und runzelte die Stirn. Irgendetwas in meinem Hinterkopf schlug Alarm, aber ich wusste nicht genau, was das war. Dann blätterte ich auch diese Unterlagen wieder durch, diesmal misstrauischer, und stieß tatsächlich auf das Papier, das an "Mrs. Marie Cooper" adressiert war. Mein Herz begann vor Aufregung etwas schneller zu schlagen. War das etwa seine Ehefrau? Oder seine Ex-Frau, oder wie auch immer? Hier im Haus wurde über sie nicht geredet, und dann fiel mir plötzlich so ein wichtiges Dokument in die Hände! Und sie hatte meinen Zweitnamen! Ich war ganz aus dem Häuschen, schon allein dadurch, dass die unbekannte Frau jetzt einen Namen bekommen hatte.

Ich fühlte mich plötzlich, als täte ich etwas Verbotenes, indem in diese Unterlagen in den Händen hielt. Instinktiv schaute ich mich um, ob mich jemand beobachtete, aber es war natürlich niemand da und von Nicky war noch immer weit und breit nichts zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie es sich oben gemütlich gemacht und dachte gar nicht daran, mir beim Aufräumen zu helfen. Aber im Moment war das nicht meine größte Sorge, denn ich war viel zu fasziniert von diesem einen Blatt Papier, dass die Blutdaten dieser Frau enthielt, die hier anscheinend ein Tabuthema war. Neugierig betrachtete ich die Zahlen, die die Werte der weißen und roten Blutkörperchen angaben, des Cholesteringehaltes im Blut und anderes, wovon ich nicht wirklich etwas verstand. Vielleicht würde dieses Stück Papier mir Aufklärung darüber verschaffen, was mit der Frau passiert war. Vielleicht hatte sie eine Krankheit gehabt. Nicht, dass ich das irgendwie erkannt hätte an diesen ganzen Ziffern, die mir rein gar nichts sagten. Dann fiel mein Blick auf ihre Blutgruppe und das Gefühl des Unwohlseins verstärkte sich plötzlich zusehends. Blutgruppe B. B positiv, aber war da nicht etwas gewesen... etwas, das ich übersehen hatte?

Ich tastete nach den Unterlagen der Kinder, die ich gerade auf den Arzthaufen geschmissen hatte, und suchte nach der Unstimmigkeit, die ich gesehen zu haben glaubte und die mir jetzt fast die Luft abdrückte.

Ich schaute mir alles noch einmal an und überflog die wichtigen Zeilen. Nicole Alexandra Cooper, blablabla, B Rhesus positiv, Simon Andrew Cooper, blablabla, AB Rhesus positiv, Maddison Marie Cooper, blablabla, 00 Rhesus positiv.

Ich bin zwar kein Mediziner, aber selbst ich wusste, dass da irgendetwas nicht stimmen konnte. Eine böse Vorahnung veranlasste mich dazu, all die Sachen, die ich gesehen und gelesen hatte, schnell unter den Stapel mit den Arztrechnungen zu stecken. Dann stand ich auf und fischte mit zitternden Fingern mein Handy aus der Hosentasche hervor.

Ich wählte eine Nummer.

"Ich hab den Kuchen und die Blumen schon bestellt, du Kontrollfreak", begrüßte mich mein Bruder sofort 'liebevoll'. Mein Bruder, der Biologie an der New York University studierte!

"Jamie!", keuchte ich, als wäre ich einen Marathon gelaufen. "Welche Blutgruppen können Kinder haben, deren Eltern AB und B haben?"

Jamie lachte. "Nette Begrüßung", stichelte er, obwohl er nicht weniger unverschämt gewesen war. "Mir geht's gut, danke der Nachfrage, und dir?"

Ich ignoriert ihn; mir war jetzt wirklich nicht nach Späßen zu Mute. "Kann ein Kind mit Gruppe 0 dabei herauskommen?", verlangte ich atemlos zu wissen.

Er kicherte wie ein kleiner Junge, der sich über jemanden lustig macht. "Unmöglich. Hast du denn in der Schule nie aufgepasst?"

Ich schwieg und mein Blick fiel unweigerlich auf ein Foto, auf dem die drei Kinder zusammen zu sehen waren. Simon und Nicky schauten beide ziemlich finster drein, aber Maddy lächelte. Maddy mit den hellbraunen Haaren und dem schmalen Mund und der kleinen Stupsnase. Maddy mit den braunen Augen. Maddy, die plötzlich ganz anders aussah als ihre beiden blonden Geschwister.

"So ein Paar kann höchstens Kinder mit den Blutgruppen A, B und AB bekommen", ertönte Jamie's Stimme an meinem Ohr, stolz, seiner großen Schwester auch mal etwas erklären zu dürfen, das sie noch nicht wusste.

Mir wurde plötzlich ganz schlecht und meinen Bruder, der jetzt doch ein wenig besorgt "Annie? Bist du noch dran?" ins Telefon rief, hörte ich gar nicht mehr richtig.

"Danke, Jamie. Bis dann", sagte ich geistesabwesend und legte den Hörer auf, immer noch das Foto anstarrend.

Das konnte einfach nicht sein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  P-Chi
2010-06-25T11:39:23+00:00 25.06.2010 13:39
Oh. Mein. Gott.
Das ist echt das letzte, womit ích gerechnet hab! o___o
Wie Anna jetzt wohl drauf reagieren wird?? Uuuuh, da bekomm ich ja schon bei dem Gedanken dran Gänsehaut. <.<
Aber spannend! Und wie immer sehr schön und flüssig geschrieben. :DD
Bin gespannt auf das nächste Kapi!! <3

lg


Von:  Monsterseifenblase
2010-03-21T13:14:27+00:00 21.03.2010 14:14
Heyho, bin durch Zufall auf deine Geschichte gestoßen und habe mir gedacht, ich schreib dir mal ein paar nette Worte, damit du was zum freuen hast :)
Also, ich finde du hast einen wirklich angenehmen und gut lesbaren SChreibsil, was es wirklich einfach macht die ganzen Kapitel an einem Stück zu lesen . Rechtschreibfehler gibt es kaum und wenn, dann würde ich sie ehr als Tippfehler bezeichnen...eine sehr schöne Sache, wie ich finde (sein wir mal ehrlich, im Netz stehen manchmal Rechtscheibvarianten, die einfach unerträglich sind...solche FEhler, die einem quasi ins Gesicht springenxD Aber von denen hab ich bei dir gott sei dank keine gefunden:)
Die geschichte an sich ist auch ganz interessant, dass einzige, was ich nur noch nicht ganz durchschaut habe ist die Frage danach, worauf das eigentlich hinauslaufen soll. Also, ob das jetzt einfach nur der Alltag von Anna ist oder ob die Geschichte ein bestimmtes Zeil hat, was es vereinfachen würde, das Genre noch weiter zuzuordnen :D
Was mir auch gut gefällt sind die Charaktere, ich finde du hast sie authentuisch und auch irgendwie symphatisch geschaffen.
Nur ist mir aufgefallen, dass du manchmal Zeitsprünge in deiner Geschichte hast...glaube ich zumindest. Also manchmal schreibst du im PRäsens, dann wieder in der Vergangenheit...das wechselt. Da würde ich dir raten darauf zu achten und dich viellicht auf eins festzulegen ;D
Ich würde mich über eine ENS freuen, wenn es weitergeht.
MFG

Monsterseifenblase
Von: abgemeldet
2009-11-01T16:57:02+00:00 01.11.2009 17:57
Diese FF gefällt mir wirklich sehr gut. Die einzelnen Kapitel
sind sehr schön aufgebaut und man versinkt in der Geschichte!

Schade, dass mom. an der spannendsten Stelle schluss ist, aber mein
Interesse ist geweckt und ich freue mich schon sehr auf das nächste Kapitel!

Wer hätte gedacht, dass Nicky intuitiv wusste was für ein Spiel Clemi spielt und Mr.Cooper scheinbar sehr viel menschlicher ist als Anna sich je hätte vorstellen können...
Von:  Foresight
2009-09-07T18:25:43+00:00 07.09.2009 20:25
Very interesting...
Na da bin ich mal gespannt, wies weitergeht ^^
Von:  il_gelato
2009-09-07T04:09:36+00:00 07.09.2009 06:09
Das ist jetzt echt ne Überraschung!
Ich bin wortlos...

Schreib schnell weiter!!!!!!


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