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Nothing And Everything

von

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Bis spät in die Nacht habe ich am Computer gesessen und Jobangebote studiert, doch die wenigsten kamen für mich in Frage. Entweder wurden die Stellen intern ausgeschrieben, verlangten jahrelange Berufserfahrung oder kamen mir einfach nur zwielichtig vor - was sich nach einem kurzen Blick auf die Gegend, in der die Unternehmen saßen, auch meistens bestätigte. Trotzdem suchte ich ein paar Angebote heraus und beschloss, dort in nächster Zeit ein paar Bewerbungen hinzuschicken. Schaden konnte es ja nicht.

Als ich übermüdet und lustlos bei den Coopers ankam, hatte ich das untrügliche Gefühl, dass mir auch Mr. Cooper, genauso wie ich ihm, aus dem Weg zu gehen schien. Nicht, dass wir uns sonst mit Küsschen und was weiß ich begrüßt hätten, aber er schien noch steifer und angespannter zu sein, als sonst. Auch mied er nicht nur den Blickkontakt, indem er stets knapp an mir vorbeisah, nein! Er schaute gar nicht mehr in meine Richtung, und sein gemurmeltes "Guten Morgen" - das auch sehr missgelaunt klang - hätte genauso gut seinen Schuhen gelten können, die er sich gerade in diesem Moment mit sorgfältigster Präzision anzog. Sollte mir nur recht sein, ich war ebenfalls nicht scharf auf irgendwelche Gespräche mit ihm, auch, wenn mir vollkommen klar war, dass er selbst an der ganzen Sache gar keine Schuld trug.

Bei diesem Gedanken fiel mir auch prompt die schuldige Person ein, die sich anscheinend oben in ihrem Zimmer verkrochen hatte und nicht traute, runterzukommen. Tatsächlich war keiner von den dreien bis jetzt unten aufgetaucht, was mich ein wenig wunderte. Mr. Cooper erzählte seiner Aktentasche, die er nochmals auf dem Tisch abstellte, um darin herumzuwühlen, dass er ein wenig später kommen würde, und ich antwortete dem Kühlschrank, dessen Inneres ich gerade betrachtete, dass das in Ordnung ging. Dann rauschte er zu meiner Erleichterung auch schon davon und ich schloss etwas entspannter die Kühlschranktür, die mir, ich muss es zugeben, nur als Alibi gedient hatte, wieder zu.

Während ich die Brote schmierte - Erdnussbutter für Simon, Erdnussbutter mit Gellee für Maddy und Käse mit Salat und Tomate für Nicky - musste ich mir unwillkürlich eingestehen, dass es nicht Mr. Cooper und seine - zugegebenermaßen - peinliche Ansage war, die mir Kopfzerbrechen, oder besser gesagt, Schamgefühle, bereitete. Nein, es war die Tatsache, dass ich gestern nicht hatte an mich halten können und, nur, um mich aus dem ganzen Schlamassel unbeschadet herauszuholen, mich nur noch tiefer hineingeritten hatte. Was hatte ich da zu ihm gesagt?! Die Erinnerung trieb mir immer noch die Röte ins Gesicht - und dabei werden meine Ohren auch immer ganz heiß, was ich total schlimm finde -, aber ich konnte einfach nicht aufhören, daran zu denken. Es war ähnlich, wie mit den Windpocken: es juckt und man kann einfach nicht aufhören, zu kratzen. Man kann einfach nicht aufhören WOLLEN. Also kamen diese Gedanken immer und immer wieder in meinen Kopf - meine Worte. "Nicht, dass sie kein attraktiver Mann wären - oder nicht begehrenswert. Das sind Sie sogar sehr." Oh. Mein. Gott. Ich konnte es noch immer nicht glauben. Ich hegte die Befürchtung, dass das alles noch viel schlimmer gemacht haben könnte.

Man ging nicht einfach zu seinem Chef hin und nannte ihn einen attraktiven und begehrenswerten Mann. Klar, dass Mr. Cooper nicht schlecht aussah, war mir sofort beim ersten Mal aufgefallen. Auf irgendeine grimmige Art und Weise, wenn man denn auf solche Männer stand. Aber das tat ich nicht. Es war mir lediglich aufgefallen und ich habe es zur Kenntnis genommen. Hunderte von Männern sehen gut aus, aber trotzdem bindet man das denen nicht unbedingt auf die Nase, wenn man nicht will, dass sie etwas Falsches denken. Oder das Richtige. Oder – ach! Überhaupt irgendetwas denken. Und das alles mal außer Acht gelassen - er war mein BOSS!

Ein Geräusch von oben vertrieb meine selbstmörderischen Gedanken und holte mich in die Realität zurück. Ich beschloss, mich ein wenig erwachsener zu benehmen und dieses ganze Debakel zur Seite zu schieben - obwohl ich natürlich wusste, dass mir meine unglückseligen Worte vom Vorabend dennoch weiterhin durch den Kopf geistern würden. Mein rationales Denkvermögen sagte mir, dass es nur ein kleiner Ausrutscher war, und dass das allen mal passierte. Ihm war es bestimmt viel peinlicher, angenommen zu haben, dass seine Angestellte heimlich für ihn schwärmt - und darüber hinaus auch noch mit seiner vierzehnjährigen Tochter über ihre Gefühle für ihn redet. Was nicht das eigentlich das wirkliche Lächerliche an der Sache? Ich konnte darüber jedenfalls nicht sonderlich lachen.
 

Nicky kam in Deckung ihrer zwei Geschwister runter und redete wie ein Wasserfall über irgendwelche unwichtigen Sachen, bloß, damit ich sie nicht auf den Abend zuvor ansprechen konnte. Aber ich hatte auch noch ein Ass im Ärmel, denn sie vergaß, dass ich zehn Jahre älter und somit auch weiser und gerissener war. Na gut, lassen wir das "weiser" weg. Gerissener war.

"Setzt euch schon mal ins Auto", sagte ich zu den beiden Jüngeren. "Heute fahr ich euch ausnahmsweise." Ich lächelte gewinnend, die zwei strahlten - und ich bekam sogleich ein paar Pluspunkte gutgeschrieben. Nicky versuchte, sich unauffällig davonzuschleichen, aber ich legte ihr unbemerkt eine Hand auf die Schulter und hielt sie zurück. Ihren schuldbewussten Blick, als sie zu mir aufsah, konnte sie nicht verbergen.

Sie seufzte, als ihr klar wurde, dass sie sich ihrem Schicksal - im Moment in Gestalt von mir und meinem Ärger - nicht entziehen konnte.

Ich beschloss, ihr eine Chance zu geben, um unbeschadet aus der Sache wieder herauszukommen. "Also?", fragte ich. "Rede."

Sie zuckte die Schultern und spielte das Unschuldslamm. "Was denn?" Ihr Blick schien zu sagen: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts!

Ich hob zweifelnd die Augenbrauen. Musste wohl doch die Initiative ergreifen und auf den Punkt kommen. "Du kannst doch nicht einfach deinem Vater erzählen, dass ich... ich..." Es fiel mir schwer, das auszusprechen. "...Gefühle für ihn habe?!"

Nicole ging in die Defensive, das sah man ihr schon allein durch ihre Körperhaltung an. Sie reckte eigenwillig das Kinn vor und hob den Kopf. "Ich sagte, du stehst auf ihn. Das ist etwas anderes", erklärte sie mir altklug und verschränke widerwillig die Arme vor der Brust.

Ich starrte sie einen Moment lang an. "Nein, ist es nicht! Wie kommst du überhaupt auf so eine bescheuerte Idee?!", verlangte ich erbost zu wissen. Die Kleine konnte einen echt alle Nerven kosten, vor allem, wenn sie so stur war und einem auch noch mit merkwürdigen Widerworten kam.

"Ich wollte eben, dass er aufhört, sich mit Miss Orangenhaut zu treffen!", rief sie aufgebracht, immer noch ihren Standpunkt verteidigend.

"Und wie sollte das helfen?"

"Das hab ich dir doch gestern schon erzählt." Nicky klang genervt. Wahrscheinlich hatte sie schon am Abend zuvor eine Standpauke von ihrem Dad erhalten. Möglicherweise war sie auch deshalb nicht runtergekommen, als er noch zu Hause war. Sie war wütend auf ihn gewesen. "Mir fiel eben nichts anderes ein. Ich kenn ja sonst keinen."

Ich musste mich sehr zurückhalten, um nicht zu grinsen. Das war irgendwie echt... lustig und idiotisch zugleich. "Tolle Idee", sagte ich, so sarkastisch, wie ich gerade konnte. "Und das sollte ihn überzeugen?" Was hatte sie gedacht, würde er dann tun? Vielleicht denken: Oh, Anna steht auf mich - verlasse ich doch meine millionenschwere Freundin und stürze mich auf dieses mittelose junge Ding? Wahrscheinlich hatte Nicky noch nicht mal so weit gedacht.

Vollkommen ahnungslos bezüglich meiner sarkastischen Gedanken sagte sie: "Wenn er schlau wäre, ja." Und das sagte sie so ernst und so trotzig, wie nur ein Kind es konnte, das seine Absichten wirklich für ehrenhaft und überzeugend hielt.

Jetzt konnte ich nicht mehr, ich musste einfach lächeln.

"Hab ich dich in Schwierigkeiten gebracht?", hakte sie dann nach einem Moment Stille doch noch einlenkend nach.

Ich nickte. "Ja, ein wenig."

Das schien ihr nicht zu gefallen. "Entschuldige."

"Schon gut", seufzte ich. Was sollte ich auch sonst sagen?
 

Freitags hatten die Kinder nur bis zwei Uhr Schule und danach musste ich sie zu ihren verschiedenen "Freizeitaktivitäten" kutschieren. So nannte es zumindest Mr. Cooper, ich nannte es reinste Folter. Simon hasste das Basketballspielen und generell einfach jeden Sport, Maddy wollte lieber Klavier statt Geige spielen, Nicky, wenn sie einmal nicht aus Prinzip nörgelte, beschwerte sich, dass sie mit den ganzen arroganten Bonzenkindern - zu denen sie sich anscheinend nicht zählte -, nichts zu tun haben wollte. Drei Stunden kurvten wir - besser gesagt, ich - in Manhattan herum, was vielmehr am verstopften Verkehr lag, als an der Fülle an Aktivitäten, und kamen schließlich, etwa gegen fünf Uhr, wieder zu Hause an. Schnelles Nudelkochen mit Tomatensoße reichte aus, die Kids zufriedenzustellen und auch meinen Hunger zu stillen und nach diesem anstrengenden Tag durfte jeder machen, was immer er wollte. Nicky entkam dem schrecklichen Einfluss, der während des Nachmittags auf sie ausgewirkt wurde, indem sie sich mit Nate zum Baseball im Park verabredete, Maddy hatte ich bei einer Pyjamaparty abgesetzt, in der Hoffnung, eine von den vielen Nannys würde auch auf sie ein Auge haben. Mr. Cooper hatte mir ausdrücklich versichert, dass es nicht nötig war, sie Tag und Nacht zu bewachen und um ehrlich zu sein, hielt ich es auch für ein wenig übertrieben, wenn ich dort noch hätte die Nacht verbringen müssen. Wahrscheinlich in Kindermädchenuniform mit weißer Schürze und Haube oder so. Kein Scherz, manche liefen echt so rum! Was Simon anging, so verzog er sich direkt nach der Ankunft mürrisch in sein Zimmer, immer noch wütend auf die ganze Welt im allgemein und auf seinen Vater im besonderen, dass er sich das antun musste.

Gerade, als ich das Geschirr in die Spülmaschine einräumte und sie startete, klingelte es. Ich wunderte mich. Es war erst sechs und wir rechneten mit niemandem. Mr. Cooper hatte einen Schlüssel und würde ja, wie gesagt, später kommen.

Doch das, was mich draußen erwartete, war eine Überraschung extraordinaire.
 

"Miss... Ashworth?", stammelte ich überflüssigerweise. Ja, es war eindeutig Clementia Ashworth, die da eben vor der Tür stand und mich unsicher anlächelte, die Lippen wie immer aufeinandergepresst, als wäre sie dauergestresst.

"Hallo Anna." Schön, dass mich alle Welt bei meinem Vornamen nannte. Wessen Angestellte war ich hier eigentlich?! "Jack hat gesagt, ich könnte jederzeit vorbeikommen, Sie wären den ganzen Tag über da."

Ich gab mir Mühe, den Mund zu schließen, bevor ich sie verdattert anstarrte. Soso, hatte Jack das? Das war ja wunderbar freundlich von Jack. Jetzt musste ich anscheinend auch noch seine Geliebte babysitten, als wäre ich mit den Kindern nicht ausgelastet genug.

Sie blickte mich fragend an, als wollte sie sagen: Und? Sind Sie da?

"Äh", meldete ich mich hastig zu Wort, als ich bemerkte, dass sie noch immer an der Türschwelle stand und ich ihr den Weg ins Hausinnere versperrte, "dann kommen Sie doch rein."

Ich trat zur Seite und ließ sie herein, was sie mit einem dünnlippigen, angespannten Lächeln quittierte.

"Was füh-"

Ich wurde jäh unterbrochen.

"Anna, hast du meinen Baseballhandsch-" Nicky, die polternd die Treppe heruntergekommen war, blieb auf der Mitte stehen und hielt inne, als wäre ihr von einem vorbeifahren Bus der Weg abgeschnitten worden. Sie sah so aus, als wollte sie sagen: "Auch DAS noch!" Misstrauisch schaute sie Clementia an, umklammerte das Treppengeländer krampfhaft mit einer Hand. "Hi", sagte sie dann skeptisch, lauernd, ohne den Blick von der Freundin ihres Vaters abzuwenden. Oder was auch immer sie war.

"Hallo Nicole", erwiderte Miss Ashworth höflich - und ein wenig schüchtern. Die Art, wie sie "Nicole" aussprach, ließ aber keine Zweifel daran, wie distinguiert sie tatsächlich war. Ich kam mir sofort deplaziert vor.

"Ich heiße Nicky", schmetterte Nicks ihr sofort erbarmungslos entgegen, ohne das wackelige Lächeln ihrer "Gegenspielerin" zu erwidern. Sie war eine harte Nuss und sie kannte keine Skrupel!

Clementia fühlte sich sichtlich einschüchtert von dieser unnachgiebigen Vierzehnjährigen, deren Blicke zwar noch nicht töten konnten, aber wenn sie noch ein wenig übte, es auch bis dahin sicherlich nicht allzu lange dauern würde. "Also gut." Sie verzog wieder die Mundwinkel, sah aber alles andere als glücklich aus. "Nicky."

"...aber nur meine Freunde dürfen mich so nennen", fuhr Nicky unversöhnlich fort, ganz so, als hätte sie es nicht auf eben diese Art von Gespräch angelegt. Miss Ashworth wirkte nun ganz und gar verloren, öffnete den Mund - und schloss ihn wieder.

Ich schloss kurz die Augen und atmete tief ein. Das hier würde anstrengend werden.

"Dein Handschuh ist in Simon's Zimmer. Gehst du wieder mit Nate in den Park?", hakte ich nach. Ich musste schließlich immer auf dem Laufenden sein, wo sich die Kinder aufhielten und so weiter. Das Übliche eben.

"Wieso das denn?", wollte Nicky entgeistert wissen und war schon dabei, auf dem Absatz kehrt zu machen, um in Simon's Zimmer zu stürmen. Das Ganze, ohne Clementia, die von einem auf den anderen Fuß tretend immer noch mit mir im Flur stand, zu beachten.

"Weil ich wissen muss, wo du steckst?!", erwiderte ich pikiert. Immerhin wurde ICH hier dafür bezahlt, die Blagen sicher durch den Tag zu führen, da waren solche Fragen doch überflüssig.

Nicky allerdings rollte nur genervt mit den Augen. "Ich meine, wieso ist der Handschuh bei Simon?!"

Oh. "Weil du ihn dort als letztes hingeworfen hast?!" Hm, 50% der Gespräche zwischen Nicks und mir waren Antworten, die als Fragen oder Fragen, die als Antworten kaschiert waren. Ob mir das zu denken geben sollte? "Gehst du in den Park?!", rief ich ihr ungeduldig hinterher, als sie schon beinahe ganz verschwunden war.

"Jaha", kam es dumpf aus dem oberen Stockwerk.

Nun hatte ich endlich Zeit, mich um meinen - ungebetenen - Besucher zu kümmern. Ich war recht erschöpft und müde und hatte kaum die Energie, jetzt noch eine Fünfunddreißigjährige zu verhätscheln, aber was blieb mir denn anderes übrig? Ich rang mich zu einem Lächeln durch. "Entschuldigen Sie bitte." Ich tat zerknirscht. Nicky's Verhalten war zwar peinlich gewesen, aber nicht für mich. Ich war hier nur das Kindermädchen, das genauso darunter litt. Mr. Cooper war jawohl der Verantwortliche für diese zwei Desaster, die hier wohnten. Und für Maddy. Aber es wurde sicherlich von mir erwartet, zerknirscht zu sein, also tat ich so, als ob. "Ein schwieriges Kind." Seltsam. Das fühlte sich fast so an als ob... ich Nicole in den Rücken fallen würde! Ein merkwürdiges Gefühl, das ein wenig nach Verrat schmeckte, machte sich in mir breit. Schnell schüttelte ich es ab.

Clementia nickte besorgt, zögernd. Höchstwahrscheinlich wagte sie es nicht, etwas gegen Mr. Cooper's Kinder zu sagen, weil sie fürchtete, ich würde es ihm petzen und er sie dann vor die Tür setzen. Wenn sie wüsste...! "Ich fürchte, sie mag mich nicht besonders...", stellte sie leise fest und sah die Treppe hinauf, dort, wo Nicky eben verschwunden war.

Sie hatte natürlich den Nagel auf den Kopf getroffen. "Nicht besonders" war noch sehr untertrieben, aber ich sah an ihrem Blick, dass sie es von mir erwartete - ja mich geradezu anflehte - ihr zu widersprechen. Ich tat ihr den Gefallen. "Ach, was. Sie ist vierzehn. Sie mag niemanden", erwiderte ich trocken und beschloss, dass es besser wäre, so schnell wie möglich in Erfahrung zu bringen, was Miss Clementia Ashworth herführte. Das würde auch den schönen Nebeneffekt haben, dass sie möglicherweise auch so schnell wie möglich wieder abdampfte. Ich musste mich dringend auf die Couch schmeißen und die dreihunderttausendste Wiederholung von "Friends" anschauen, obwohl mir, wie jedem anderen Weltenbürger auch, Ross' verzweifelte Jagd nach Rachel schon langsam in der Seele wehtat.

Clementia stand immer noch unsicher im Flur. Ob sie auf eine schriftliche Einladung wartete, das Wohnzimmer betreten zu dürfen? Ich hatte sie doch schon ins Haus gelassen und so, wie ich das sah, gehörte sie jawohl eher hierher als ich.

"Möchten Sie..." Ich überschlug kurz in meinem Kopf, was ich ihr anbieten konnte. Tee, Kaffee? Dauerte zu lange. Ich wollte sie so schnell wie möglich loswerden. "Einen Keks?"

Hm. Ein Keks war schnell gegessen. Aber so, wie sie aussah, hätte ich ihr vielleicht Sushi anbieten sollen, vom Nobel-Japaner in der Park Ave, oder irgendetwas anderes Nobles aus einem anderen Nobel-Restaurant. Jedenfalls irgendetwas Teures. Mit Diamanten und Blattgold besetzte Schokoladencookies. Ich musste kurz grinsen bei dieser Vorstellung und fing dabei unglücklicherweise einen irritierten Blick ihrerseits auf. Mist.

"Nein, vielen Dank", erwiderte sie höflich. Möglicherweise hatte ich ihr Angst gemacht und sie wollte nun so schnell wie möglich der geisteskranken Nanny Annie - haha - entfliehen. Umso besser. "Ich wollte eigentlich nur meine Handtasche abholen. Vorgestern habe ich sie hier vergessen", erklärte sie mir und wandte sich suchend um. "Jack ist noch nicht zurück?"

AHA! Der typische Ich-vergesse-meine-Handtasche-bei-ihm-zu-Hause-Trick! Pech nur, dass Mr. Cooper heute länger arbeitete und es ihr anscheinend nicht gesagt hatte.

"Nein. Mr. Cooper bleibt heute etwas länger im Büro." Ich lächelte und konnte mir gerade noch ein "Hat er es Ihnen denn nicht gesagt?" verkneifen. Das wäre überaus unhöflich und überaus unprofessionell gewesen. Und überaus spaßig. Aber Nicky war nicht dabei und außerdem, rief ich mir in Erinnerung, war das hier nicht mein Kampf, den es auszutragen galt. Ich war neutral. Ich war die Neutralität persönlich. Ich war... die Schweiz. Auch, wenn dieser Vergleich bereits total ausgelutscht war - die Schweiz war ich trotzdem. "Ich habe Ihre Handtasche gar nicht gesehen", gestand ich ihr. "Wo haben Sie sie denn liegen lassen?" So ein edles Stück von Prada oder Gucci wäre mir sicherlich aufgefallen...

Miss Ashworth wirkte wieder verloren. "Es ist eine cremefarbene Versace-Tasche", half sie mir auf die Sprünge. "Ich glaube, ich habe sie an der Garderobe abgegeben."

An der Garderobe ABGEGEBEN?! Unwillkürlich drehte ich mich um und starrte den Garderobenschrank an. Ein ganz normaler Schrank. Da gab es nichts abzugeben. Die Frau schien mir leicht verwirrt. Wir waren hier doch nicht in einem Nobelschuppen, in dem man seinen Edelmäntelchen abgibt und dann dem Personal einen Hundertdollarschein in die Hand drückt, damit sie auch ja gut auf die Chinchillapelze et cetera aufpassen! Und überhaupt... welches Personal?!

"Na ja..." Sie zögerte. "Das ist nicht so wichtig. Eigentlich bin ich nur gekommen, weil..." Ja, weil was? Weil Sie nicht arbeiten und den lieben langen Tag lang in der Gegend herumkurven und ihren Chauffeur beschäftigen musste, um sich nicht allzu sehr zu langweilen? Dabei fiel mir Luca ein, dieser italienische Typ, der den Limo-Fahrer für sie mimte. Ob er wohl da draußen stand und wartete? Ich reckte den Kopf und versuchte, heimlich aus dem Fenster zu lugen, aber ich war zu weit entfernt und konnte nicht richtig hinaussehen. "...ich mit Ihnen reden wollte."

Huch?! Ich unterbrach meine Verrenkungsversuche und blickte Clementia irritiert an. Ich hatte mich bestimmt verhört. "Entschuldigung...?"

"Ja, nun..." Sie schien das gar nicht seltsam zu finden und plauderte - na gut, plauderte wäre vielleicht übertrieben - so nervös wie die Frau war, plauderte sie nicht, vielmehr stotterte und stammelte sie - einfach weiter, ohne an meiner ungläubigen Miene Anstoß zu nehmen, "Sie scheinen ja gut mit den Kindern auszukommen. Nicole... äh, Nicky... nein, Nicole, sie hat gestern dauernd von Ihnen geredet und nun ja..." Aha, da kamen wir der Sache schon näher. Wollte sie mich etwa abwerben? Für einen kurzen Moment überlegte ich, wen ich wohl bevorzugen würde - Mr. Cooper, die personifizierte miese Laune, oder Miss Ashworth, das reinste Nervenbündel -, und entschied mich für ersteren, hauptsächlich, weil Nicky mir wahrscheinlich sonst Prügel androhen würde. Zu Recht. "Da dachte ich, Sie könnten mir etwas beibringen."

"Was?!" Oh. Hatte ich das etwa laut gesagt?! Wie unhöflich von mir, aber... WAS?!

"Ja, Sie wissen schon. Mir vielleicht etwas erzählen. Wie Kinder so sind. Ich hatte bis jetzt eigentlich noch nie etwas mit Kindern zu tun und... Jack..." Sie schien etwas über ihn sagen zu wollen, besann sich dann aber eines Besseren und änderte ihre Taktik. "Sie kennen sich ja aus."

Aha. Ihr Ich-vergesse-meine-Handtasche-bei-ihm-zu-Hause-Manöver war also gar nicht dazu gedacht gewesen, Mr. Cooper wiederzutreffen, sondern, um das Kindermädchen wiederzutreffen! Irgendwie obszön...

Ich ahnte allerdings, was sie damit bezwecken wollte. Ich wusste es einfach. Sie wollte ihn beeindrucken. Ihm zeigen, dass sie bestens mit seiner Brut auskam. Sie wusste, sie würde nie alleine an erster Stelle stehen, aber zumindest konnte sie versuchen, es eben dorthin zu schaffen, auch, wenn sie sich die Platzierung würde teilen müssen.

Anscheinend starrte ich sie einen Moment zu lange mit offenem Mund an, denn sie setzte wieder zum Sprechen an. "Sie müssen mir nur sagen, was ich falsch mache. Hören Sie - ich weiß, das ist seltsam. Und normalerweise bitte ich das Personal nicht um Hilfe-" An dieser Stelle schnappte ich kaum hörbar nach Luft, "aber Sie sind die Einzige, die mir da einfällt. Sie leben ja mit ihnen zusammen."

Ich musste mich erst mal setzen, aber der Stuhl schien zu weit entfernt zu sein. Ich wusste nicht, was mich mehr aus der Fassung brachte: dass sie mich eben tatsächlich gebeten hatte, ihrem Liebesglück auf die Sprünge zu helfen oder dass sie mich, im selben Atemzug, irgendwie indirekt beleidigt und sich gleichzeitig auf eine viel höhere Stufe gestellt hatte?! Von wegen "ich bitte das Personal nicht um Hilfe". Als ob sie nicht auf die Hilfe ihres Hausmädchens, ihres Chauffeurs und ihrer wahrscheinlich dreißig anderen Angestellten angewiesen wäre. Ich hätte gerne gesagt, dass sie sich doch bitte an das Personal eines anderen Haushaltes wenden sollte, aber ich wollte es mir nicht mit meinem Chef verscherzen. Wer wusste, was sie ihm sonst erzählen würde. "Dein Kindermädchen hat mich zum weinen gebracht" oder so. Und auch, wenn sie nicht auf Platz eins in seinen All-Time-Favourites stand - ich belegte ganz sicher einen weitaus niedrigeren Rang, wenn ich überhaupt in den "Charts" mit vertreten war. Das schien allerdings eher unwahrscheinlich, vor allem nach der gestrigen Katastrophe.

Je länger ich diese Frau kannte - und das war noch wirklich nicht allzu lange angesichts der Tatsache, dass ich sie erst vorgestern kennengelernt und erst heute ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte -, desto mehr kam mein neutraler Schweiz-Status ins Schwanken. Ich fürchtete, ich konnte nicht länger die Schweiz sein, sollte sie noch irgendetwas Verqueres von sich geben - und die Wahrscheinlichkeit dafür war ziemlich hoch.

"Ähm", druckste ich herum - jetzt fühlte ich mich noch schlechter als gestern Abend, allerdings aus einem ganz anderen Grund, "ich fürchte, das ist nicht ganz so einfach... Sie müssen sich eben einfach mit Ihnen anfreunden. Was gemeinsam unternehmen und so..." Mhm, das war sehr vage, was ich da sagte, und das war mir auch bewusst. Nicky und Simon würden wahrscheinlich lieber zu Fuß die 1860 Stufen des Empire State Buildings erklimmen, als dreißig Minuten mit dieser Frau im Zoo zu verbringen. Maddy war da allerdings eher unkompliziert. Sie mochte jeden und jeder mochte sie. Allerdings war sie noch klein und ganz offensichtlich Daddy's Liebling. Sie hatte keine Konkurrenz zu fürchten. Nicht jetzt und nicht in fünfzig Jahren.

Es überraschte mich, dass 'Clemi' sich meine Ratschläge nicht notierte. Sie schien mir so der Typ dafür zu sein. "Und", fuhr ich weiter fort, "sie werden nicht warm mit Ihnen, weil sie merken, dass Sie ihnen gegenüber noch unsicher sind. Und natürlich, weil Sie sich den Vater schnappen wollen."

Clementia riss erschrocken die Augen auf und starrte mich entgeistert an. Hatte ich etwas Falsches gesagt?

"Den Vater... schnappen?", würgte sie hervor, als wäre das eine unverzeihliche Kränkung. Okay, ich geb's zu, das war nicht die schönste Ausdrucksweise, aber hey - ich war ja nur das Personal! Total zurückgeblieben und asozial. Hm, das fing langsam an, Spaß zu machen...

Leider wählte die Gute gerade diesen Zeitpunkt, um wieder aufzubrechen. Wahrscheinlich war sie zu geschockt, um sich weiterhin mit mir über irgendwelche Erziehungsmethoden unterhalten zu können oder wollen.

"Nun gut, Anna... vielen, äh... Dank für Ihre Hilfe. Ich werde demnächst gegebenenfalls auf Ihr Angebot zurückkommen und einen Termin mit Ihnen vereinbaren."

Moment mal... welches Angebot?! War die Frau dreist, oder war die Frau dreist?! Ein Termin mit ihr befand sich auf meiner Liste jedenfalls nicht unter den Top Ten. Oder unter den Top... Ach, was. Es befand sich gar nicht drauf!

"Okay. Sie wissen ja, wo ich arbeite", sagte ich trocken, ohne eine Miene zu verziehen, und dachte: Mist! Sie weiß, wo ich arbeite! Aber gleichzeitig auch: Gott sei Dank weiß sie nicht, wo ich wohne! Ich war mir sicher, sie würde angesichts von Brownsville einen ausgewachsenen Herzinfarkt bekommen.

Sie ging. Und ich fragte mich, wie viel ich eigentlich noch ertragen musste. Die Kinder waren echt problemlos - aber alles andere wuchs mir allmählich über den Kopf.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2009-06-10T07:04:20+00:00 10.06.2009 09:04
Ich finde deine Geschichte einfach genial.
Sie hat Charme und Esprit. Und du kommst sogar ohne blutrünstige Vampire aus.
Ich bin beeindruckt.
Nicky ist übrigens meine absolute Lieblingsfigur. Du beschreibst sie sehr lebensnah und deswegen erinnert sie mich auch irgendwie an mich- du könntest sie ruhig noch öfter auftreten lassen ;).

Von: abgemeldet
2009-06-09T17:48:40+00:00 09.06.2009 19:48
uihh ein neus kapi ^^
clemi ist aufgetaucht... jaja die handtaschenausrede die benutzen wir doch alle XD
wieder ein gelungenes kapitel ^^


glg Mei-linn
Von:  P-Chi
2009-06-09T17:42:43+00:00 09.06.2009 19:42
Uuh..."Clemi" ist echt so...groar ich weiß auch nicht!! Aber ich kann sie nicht leiden!
Oje, hoffentlich wird Nicks nicht sauer...
Naja, bin schon gespannt auf das nächste Kapi^^

lg Angels
Von: abgemeldet
2009-06-09T09:23:48+00:00 09.06.2009 11:23
Gute Geschichte, mach weiter so! ;)


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