Ein kleines Meeting
Katsu ließ den Chemie-Unterricht für sich ausfallen und überlegte
sich als Ausrede, dass ihm einfach schlecht geworden sei. Natürlich
konnte er auch dann gleich sich ein Schild um den Hals hängen "Ich
lüge sie an!!!", aber das war ihm vorerst egal. Zudem, ihm war schlecht.
"So, dann noch die Fehlstunden eintragen...mal sehen...heute fehlt
nur Katsu-kun, oder? Komisch, er ist doch sonst immer da, weiß einer
von euch, was da los ist?"
Ren starrte in Augen, die nicht weniger fragend als seine waren. Das
konnte nur zwei Sachen bedeuten. Entweder wusste ein Schüler wirklich
nicht, wo Katsu war. Oder die zweite Möglichkeit (und die war ebenso
wahrscheinlich), der Schüler setzte sein Pokerface auf und stellte
sich dumm, in der Regel, um einen Schwänzer zu schützen.
"Wäre denn einer von euch so nett, ihm die Arbeitsblätter zu geben?"
fragte Ren die Masse, welche nur noch in die Pause wollte.
"Hier, ich könnte das tun, Sensei!" meldete sich Midori.
Mit einem erleichternden "Ah, arigatou." bedankte sich Ren und
drückte der lächelnden Midori die Blätter in die Hand.
Für einen kurzen Augenblick dachte Ren, dass Midori beim Lächeln
kampflustig ihre Zähne zeigte.
Die erste große Pause des Tages kam für alle wie gerufen.
Ren führte Aufsicht auf dem Hof und fühlte sich geschmeichelt, wie
die Schülerinnen ihm heimlich hinterherblickten.
Was Ren für die Schülerinnen war, war Hone bei den Schülern. Es war
ein offenes Geheimnis, dass die beiden Neulinge, welche von manchen
Lehrern im Kollegium abfällig als "Jungpädagogen" bezeichnet wurden,
sicher nicht nur wegen ihrer Lehrmethoden so beliebt bei den Schülern und Schülerinnen waren.
Ren und Hone trafen sich wie immer in der Pause mit Wanyudo, welcher
sich als Hausmeister verdiente.
"Mmh, und du magst sie also nicht?" fragte Wanyudo Ren.
"Ja...sie setzt immer so ein gekünsteltes Lächeln auf und tut so, als
ob kein Wässerchen trüben könnte, diese Midori."
Ren lehnte sich lässig an ein Geländer, Wanyudo und Hone stellten
sich zu ihm.
"Du meinst also, dass sie ein Wolfs im Schafspelz ist, was?" fragte
Hone Ren und genoss die Sonnenstrahlen.
"Ja...Sie ist ein gefährlicher Umgang. Besonders bei so Typen wie Katsu."
"So spielt das Leben, lassen wir die Jugend ihre eigenen Erfahrungen
machen." sagte Wanyudo und widmete sich wieder seiner Arbeit, passend
zum Klingeln.
"Und du hast jetzt wieder Sport-Unterricht? Aber überanstreng' dich
nicht, schließlich sind wir nicht mehr die Jüngste mit unseren paar
hundert Jahren, was?" neckte Ren Hone.
"Noch so ein Spruch und es setzt was, du Laborratte!" konterte Hone
und lachte.
Erneut fühlten sie sich alle mehr wie eine Familie als nur ein Team,
dass Menschen die Hölle präsentierte.
Katsu hörte den Gong nicht. Er saß wie benommen auf der Bank und
blickte in die Leere, seinen Rucksack fest umklammert. In Gedanken
war er am Grab seiner Mutter, jedoch mit einem Strauß Blumen in der
linken Hand und die Bento-Box in der Rechten.
Doch waren all diese Dinge zerstört, er und seine Mutter wurden von
Kens Bande erniedrigt. Dieses Lachen hallte immer und immer wieder in
seinem Kopf. Er würde ihnen nie verzeihen. Nie. Das schwor er bei
seiner Mutter.
Midori befreite ihn aus seiner Paralyse.
Erst dachte Katsu, dass Ken ihn an die Schulter tippte. Er wollte
sich schon drauf vorbereiten, sich mit ihm zu prügeln, als er Midoris
Stimme hörte:
"He, Katsu-chan, wo warst du denn? Hier, ich sollte dir noch Arbeitsblätter mitgeben."
"Oh, Midori-chan! Ich, ja, ich...mir war schlecht, wirklich! Ich konnte unmöglich kommen."
"Ach herje, du Ärmster, du siehst ja wirklich übel zugerichtet aus, du bist ja ganz blass! Was ist denn mit dir los?"
Katsu fühlte einen leichten, aber angenehmen Schauder, als Midori ihren Arm um seine Schulter legte.
"Oder waren es...nein!"
"Midori-chan, nein, ich wurde nicht von denen..."
"...diese blauen Flecken, lüg nicht."
"Midori, ich...ich...kann nichts sagen, sonst...drohen Konsequenzen."
"Katsu-chan...okay. Ich verstehe. Trotzdem kann es so nicht weitergehen."
Midori rückte dichter an Katsu.
"Komm, gehen wir endlich, du hattest heute schon eine Fehlstunde. Wir reden ein andermal über dieses Problem."
Sie schlenderten über den Schulhof in das Gebäude. Auf den ganzen Weg zum Klassenraum redeten sie kein Wort miteinander, sie ließen stattdessen ihre Blicke sprechen:
"Ich bin dir so dankbar, dass du mir Beistehst, Midori.", sagten Katsus Augen.
"Mach dir bitte keinen Sorgen, ich bin ja da.", erwiderten Midoris Blicke.
Seine faltige Stirn runzelnd schaute Wanyudo ihnen hinterher.