Zum Inhalt der Seite

Das Puzzle-Museum und eine Adoption

Tödliches Sudoku
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Der Abschied

Shirley Sylvana Avondale-Donnelly stand in ihrem Zimmer – oder wohl eher ehemaligem Zimmer – und räumte ihre Klamotten aus ihrem Schrank.

Sie sah sich noch einmal in ihrem Zimmer um. Es war groß, fast doppelt so groß wie das ihrer Mutter. Es war einer der Gründe, weshalb sie dieses Zimmer so liebte. Die Wand war in mintgrün gehalten, die Decke war weiß. Der Boden war aus dunklem Parkett. Die Schränke, ihr Bett und ihr Schreibtisch hatten die gleiche Farbe, dunkle Eiche. Mittlerweile sah das Zimmer schon etwas trister aus. Das lag daran, dass Shirley Sylvana schon die Hälfte ihrer Einrichtung eingepackt hatte, die das Zimmer zu einem gemütlichen Ort gemacht hatte.

Vor ihr standen drei Koffer. Zwei davon waren bereits prall gefüllt. Nein, Shirley Sylvana würde nicht Urlaub machen, sie würde umziehen.

Deswegen sollte sie auch nichts vergessen. Ihre Mutter wollte sie aus ihrem Leben wegsperren und zu ihrem Vater schicken, dem Mann den Shirley Sylvana wohl am meisten verachtete. Aber auch für ihre Mutter hegte sie keine rosigeren Gefühle. Das hatte ja schon alles allein mit ihrem Namen angefangen. Denn schon von Anfang an war festgestanden, dass sie nur ein Ausrutscher war. Erstaunlicherweise hatten sich ihre beiden Elternteile dennoch hartnäckig dafür eingesetzt ihre Namenswünsche durchzusetzen. Und damit war das Dilemma geschehen: Sie hatte zwei Doppelnamen. Shirley hatte ihre Mutter ausgesucht, Sylvana ihr Vater. An sich waren die Namen ja recht hübsch, wenn nicht jeder sie immer mit ihrem vollen Namen ansprechen würde. Auf Dauer konnte das ganz schön nervig werden. Denn dann war da ja auch noch ihr Nachname. Ihre Eltern hatten sich nach langem hin und her dafür entschieden ihr beide aufzudrücken. Und mit diesen Namen war sie verflucht. Allein die Schule war so unerträglich. Eine Namensänderung war ihr alles wert.

Doch momentan hatte sie größere Probleme. Sie wollte Boston, Massachusetts nur sehr ungern verlassen. Es war immerhin ihre Heimat. Und dafür würde sie nun nach New Hampshire fahren. Das glückliche, kleine Städtchen, das sie aufnehmen würde, hieß Granville – oder sollte sie eher Dorf sagen?

Grundsätzlich hatte Shirley – wie sich selbst gerne abkürzte – nichts gegen Dörfer, im Gegenteil, aber es war doch eine Art Verlust für sie aus Boston wegzuziehen. Natürlich war es in Boston nicht so einfach einen ruhigen Ort zu finden, aber es hatte auch seine Vorteile. Und immerhin war es ihre Heimat. Zum Beispiel hatte sie das Glück um sich herum lauter große Geschäfte zu haben, in denen sie auch kurzfristig mal einkaufen konnte. Und die Freizeitgestaltung war auch sehr groß. Noch dazu lag Boston am Meer.

Aber ihr Alltag würde sich nun vollkommen ändern und daran würde sie sich wohl oder übel gewöhnen müssen.

Sie faltete gerade ihre Lieblingsjeans zusammen und legte sie in den letzten, geöffneten Koffer. Es war nicht mehr viel übrig. Größere Sachen hatte ihre Mutter ihr bereits abgenommen. Manches hatte Shirley nun auch weggeworfen. Wenigstens das war gut an diesem Umzug, sie konnte ausmisten.

„Shirley, bist du fertig?“, rief ihre Mutter von unten herab. Sie lebten in einem zweistöckigen Haus in einem der wohlhabenderen Viertel Bostons. Nun, eigentlich lebte nun nur noch ihre Mutter hier, stellte sie fest.

„Noch nicht ganz“, rief sie ihr nun zurück. Das hatte sie vor zehn Minuten schon einmal gefragt. Shirley wusste, dass ihre Mutter wegen ihres Vaters etwas aufgeregt war. Er konnte jede Minute eintreffen und ihre Mutter wollte so wenig Zeit wie möglich mit ihm verbringen müssen.

Aber tatsächlich war Shirleys Kleiderschrank fast schon leer. Sie hatte nur noch zwei Jeans und ihre Socken einzupacken. Und dann noch ihre Bücher. Wehmütig blickte sie zu ihrem Bücherregal. Hoffentlich würde sie in Granville ein nicht weniger Großes besitzen. In der letzten Zeit hatte sie unheimlich viele Bücher verschlungen. Und erst gestern war sie noch einmal in ihren Lieblingsbücherladen geeilt und hatte sich noch einige Bücher gekauft. Wer wusste schon wie es in Granville damit aussehen würde? Und sie bezweifelte ernsthaft, dass ihr Vater sie in die nächste Stadt fahren würde, nur damit sie sich ein paar Bücher kaufen konnte. In den meisten Dörfern war es ja so, dass es nur wenige Läden gab und Shirley hatte mit Sicherheit noch keinen Bücherladen gesehen.

Als sie nun das letzte Paar Socken in den Koffer geräumt hatte, widmete sie sich endlich ihren Büchern. Es war merkwürdig sie aus dem Regal zu nehmen. Deswegen hatte sie es auch so lange hinausgezögert.

Sie hörte draußen Reifen quietschen. „Oh nein, das wird er sein“, dachte sie und hörte auch schon eine Minute später die Türklingel läuten.

„Shirley, beeilst du dich bitte!“, rief ihre Mutter noch einmal, dann hörte sie von oben wie sie zur Haustür ging und den Ankömmling begrüßte. Jedoch verstand sie kaum ein Wort.

Liebend gern hätte sie noch ein wenig getrödelt, aber sie wusste, dass sie es ihrer Mutter damit nur schlimmer machte. Eigentlich geschah es ihr recht – und ihrem Vater.

Eilig, aber sorgfältig packte sie also ihre Bücher in den dritten Koffer und verschloss ihn endlich. Nun war ihr Zimmer vollkommen leer geräumt – und es schmerzte. Was würde ihre Mutter wohl nun mit ihrem Zimmer machen? Würde sie ihn bereithalten, falls sie wiederkam? Sicher nicht. Ihre Mutter war doch nur froh, wenn Shirley endlich weg war.

Noch einmal sah sie sich um. Die großen Fenster würde sie besonders vermissen, von denen man einen wunderbaren Ausblick hatte. Aber sie musste sich davon trennen. Irgendwann musste man einmal loslassen. Sicher hingen an diesem Zimmer viele ihrer Kindheitserinnerungen, aber jeder Erwachsene, der seine Eltern verließ, musste damit auch fertig werden.

Hinter ihr knarrten die Treppenstufen, die in den zweiten Stock führten, ihr Zimmer war direkt neben der Treppe. Sie hörte zwei Stimmen immer lauter werden. Nun musste sie der Tatsache ins Gesicht sehen. Es war so weit.

„Hallo, Sylvana“, begrüßte sie schließlich ihr Vater und lächelte ihr von der Tür her entgegen. Allerdings sah es nicht wie ein ehrliches Lächeln aus. Er wollte sie genauso wenig haben wie ihre Mutter. Dass er sie Sylvana und ihre Mutter sie Shirley nannte, war schon immer so gewesen. Und es nervte.

„Hallo, Dad“, entgegnete sie frostig und ließ ihn einen ihrer giftigsten Blicke ernten. Man merkte deutlich wie er schluckte.

„Du bist fertig?“, hakte ihre Mutter nun nach, die im Gegensatz zu ihrem Vater das Zimmer betreten hatte. Shirley nickte langsam. „Hast du gehört, Jacob, du kannst die Koffer in dein Auto bringen“, fuhr ihre Mutter an ihn gewandt fort. Seufzend tat ihr Vater wie geheißen und schleppte die ersten beiden Koffer fort.

„Den anderen kann ich nehmen“, murmelte Shirley. Je schneller die Koffer im Auto verstaut waren, desto schneller würden sie von hier fortkommen. Und das war der Wunsch ihrer Mutter. Natürlich fand Shirley selbst es auch nicht unbedingt toll, dass sie mit diesem Umzug so konfrontiert war. Wenn sie hier weg war, würde sie wahrscheinlich nicht mehr so schmerzlich in Erinnerungen schwelgen. Sie schnappte sich den übrig gebliebenen Koffer, der mit den Büchern, der somit am Schwersten war, und ging mit ihrer Mutter wieder die Treppe hinab. Es fiel ihr nicht leicht das Gleichgewicht zu halten, da der Koffer sie stark nach unten zog. Umso erleichterter war sie also, als sie endlich im Flur angekommen waren. So lang war ihr die Treppe nie erschienen. Ihr Vater nahm ihr den Koffer ab und ließ sie wieder mit ihrer Mutter allein. Jetzt hieß es Abschied nehmen.

„Shirley, du weißt, es ist nur gut für dich“, begann ihre Mutter mal wieder und klang nicht einmal ansatzweise überzeugend. Es war nur gut für SIE.

„Ja, ja, ich weiß. Das hast du mir nun schon tausendmal gesagt. Mach es kurz, ja?“, entgegnete Shirley trotzig. Sie wollte es ihrer Mutter absichtlich nicht leicht machen.

„Pass auf dich auf“, antwortete sie ihr nur und das Mädchen musste es wirklich verkneifen die Augen zu verdrehen. Dann wurde sie in eine sehr kurze und schwache Umarmung gezogen. Sie wusste, dass es ihrer Mutter eigentlich widerstrebte sie zu umarmen.

„Mach’s gut, Mom“, schloss Shirley ab und drehte ihrer Mutter den Rücken zu. „Können wir los?“, fragte sie dann ihren Vater ungehalten und stieg ins Auto. Wahrscheinlich hatte er gedacht, dass sie nicht so schnell gehen wollte. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Und so fuhren sie vier Minuten später schweigend los – und das Schweigen hielt die ganze Fahrt an.

Granville konnte kommen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück