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Nackte Worte und erotische Fantasien

Was ist nur mit uns los?
von

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Würgespielchen, schlechte Träume und Morgenmuffel

Es machte für den Halbjapaner keinen Unterschied ob er am Freitagmorgen um 10 Uhr aufstand, oder erst um 11. Eigentlich hätte er auch bis um ein Uhr dösen können, es wäre sowieso keinem nennenswerten Individuum, das sein Leben auf dieser Welt verlebte, aufgefallen. Wieso also machte ihm sein unwilliger, am letzten Abend mehrmals zugerichteter Körper dann einen Strich durch die Rechnung und hieß ihn an sich leise aufzusetzen, oder eher langsam aufzuwachen. Eine sehr merkwürdige Frage, die er in seiner momentanen Verfassung des halben Schlafes nicht klären wollte. Denn würde er ebendies machen, könnte er sich von seiner wolligen Position des Denkens verabschieden und würde schlagartig vollständig erwachen und sich entscheiden, wieso er solche Schmerzen in seinem Rücken hatte, weshalb der Untergrund auf dem er schlief so unglaublich hart und kaum etwas mit der Weichheit seiner Bettmatratze gemein hatte und wieso er fast vollständig unbekleidet auf diesem Möbelstück, oder was auch immer es darstellen sollte, lag. Seine Schlaffrequenz schlug innerhalb weniger Sekunden von dem Dämmerzustand in den hochgefahrenen Modus und er setzte sich ruckartig auf dem Sofa auf. Die Sache war ganz klar - Er und Nath hatten letzte Nacht in diesem Wohnzimmer wilden hemmungslosen Sex gehabt und er war kurz nach der Orgie eingeschlafen und hatte Nath im Schlaf ausversehen aus dem Behilfsmässigen Untergrund verdrängt. Um seine zusammengedachte Aussage, oder eher Fantasiegeschichte, bestätigt zu wissen blickte er sich panisch aus den dunklen Augen um, nahm den Umstand war, das sein armes kleines Hündchen auf dem Teppichboden lag, der wahrscheinlich gemütlicher als die Couch war, dass die Kaffemaschiene dringend gereinigt werden musste und sich unter dem kleinen Röhrending eine kleine Pfütze gebildet hatte und ebenso, dass sein Nathaniel nicht aufzufinden war.
 

Oder blickte er einfach in die falsche Richtung? Probehalber versuchte er den Kopf leicht um die eigene Achse zu drehen und verzog schmerzvoll das gebräunte Gesicht, als ein kleines Knacken im Nackenmuskel die Revolution seines Körpers ankündigte. Aber auch da war keine Spur von seinem Mitbewohner. Merkwürdig. Wieso war sein Körper dann so verspannt und wieso schlief er dann auf dem Sofa und hatte nichts an, was die wichtigsten Stellen seines Leibes ansatzweise bedeckte? Yun war nie Freund von FKK gewesen, besonders dann nicht, wenn auch noch merkwürdige notgeile alte Säcke auf dem Strand herumliefen. Was allerdings eher eine angeborene Abneigung war, konnte gleichfalls eine Art Phobie sein, denn wem garantierte dem armen Kerl denn, dass er am Ende seines Lebens nicht genauso verzweifelt - nackt - durch die Gegend wackeln würde und versuchte, mit dem letzten Rest seines Geldes ein wenig Anti-aging-creme aufzutreiben? Grauenvoll. Der Schwarzhaarige schüttelte andächtig seinen Kopf und schwor sich lieber vom nächsten Hochhaus zu springen, als eine solche Puppe des Klischees aus sich machen zu lassen. Ein erneutes Knacken sollte die Fingerknöchel dehnen und er musste zugeben das er nichts gegen das Geräusch an sich hatte, sondern er mochte es deshalb nicht, weil solche merkwürdigen Laute nur bei ihm entstanden und kein anderer seiner Kumpanen bis jetzt davon getroffen worden war. Oder wussten sie es einfach besser als er zu verbergen? Es gar zu verheimlichen, vor seiner angeborenen Fähigkeit jeden Tratsch und Klatsch im Umkreis von vier Meilen zu wittern und aufzudecken? Böser Yun. Was dichtest du dir schon wieder für einen Scheiß zusammen. Mach lieber was sinnvolles. Etwas was deine grauen Gehirnzellen ein wenig anstrengt und nicht dieser Mist, den man sonst so auf den Straßen zusammenträgt. Bist du ein Mann, oder eine Blondine? Was hatten eigentlich alle gegen Blondinen? Blondinen waren zwar meistens nicht besonders gebildet, aber sie hatten wenigstens Erfahrung im Bett und schmückten sich gerne für kurze Nächte mit einem neuen Liebhaber. Diese dummen Vorurteile gegen Blondinen. Wo kamen die bloß her?
 

Sinnvolles. Er sollte etwas sinnvolles machen. Hatte das sein schlechtes Gewissen ihm nicht grade offenbart? Ebenso wie es dir offenbart hat, dass diese Frau von gestern Abend keinen Freund hatte und was war - sie hatte einen Freund. Wie konnte das eigene Bewusstsein eigentlich auf solch herrliche Weise einen solch starken Hang zum Zynismus besitzen? Konnte das ihm vielleicht mal jemand verraten? Nicht das er etwas gegen tiefsinnige Gespräche mit sich selbst hatte, aber bitte nicht gleich nach dem Aufstehen. Wenn er lieber nicht redete, aus der Angst sich über Nacht eventuell diese schlimme grauenvolle Pest eingefangen zu haben. Wie nannte man die Krankheit doch in den Fachkreisen der Schüler- und Studentenschaft? Mundgeruch... Ihm lief unweigerlich ein eisiger Schauer über das Rückrat. Mit dem modischen Ich beschäftigt setzte er vorsichtig den linken Fuß auf die dazugehörige Seite neben seinem Haustier und den rechten Fuß auf die andere Seite des treuen Freundes und brachte sich mit einem Ruck zum stehen. Sein Blick fiel für kurze Zeit auf das Handtuch, was so sinnlos und zusammengeknittert - unbrauchbar - in der Ecke neben den Kopfkissen lag und sich nicht mehr rührte. Zeitweilig spielte er mit dem Gedanken sich lieber zum Schutz eben jene Bekleidung anzueignen, aber wenn Nathaniel bis jetzt noch nichts gesagt hatte, oder eher geschlafen hatte, würde er auch bald nicht aufstehen und hysterisch durch die Gegend kreischen, weil ein nackter Mann in seinem Wohnzimmer stand. Ein besitzanzeigendes Fürwort. Unangebracht. Nannten wir es lieber - 'ihrem Wohnzimmer', dass kam der Wahrheit näher.

So jedenfalls suchte er sich seinen Weg, auf reichlich zittrigen Füßen und so wie Gott ihn schuf, zu dem weiß gekachelten Raum, der gegen alle seine Phobien eine Antwort wusste. Meistens jedenfalls.
 

Er umschlag mit den beiden Fingern, die er grade dazu überreden hatte können seiner Anweisung folge zu leisten, den Griff der Badezimmertür, zog die Tür auf, trat über die Schwelle und knallte sie beinahe hinter sich zu. Ein Aufweckmanöver, damit der Jungspund von Indianer auch mal den Weg aus den Federn fand. Er wollte nicht die einzige Person sein, die sich an diesem Morgen dreckig fühlte. Wenn wir leiden, dann zusammen. Alleine machte es keinen Spaß. Yun jedenfalls betätigte die Dusche ein zweites Mal an diesem Tag und diesen zweiten Versuch bekam er keine Milde, denn er stellte den Strahler auf kalt, bis er bibbernd und frierend - gar zitternd, aber wir wollen es nicht so genau nehmen - nach einer zweiminütigen Tortur endlich erkannte, dass er den Hebel einfach nur in die andere Richtung schieben musste um ein wenig Hitze zu bekommen. Hatte er neuerdings ein Problem die Seiten voneinander zu unterscheiden, oder war er unfähig geworden etwas zu lesen. Oder Farben zu erkennen? Blau = kalt, rot= warm. Eindeutig. Gabs nichts zu diskutieren. Er hauchte sich probeweise auf die angelaufenen Finger und erlebte seinen nächsten Schrecken als er sich an der Wassertemperatur zeitweilig die Schultern verbrannte. Frustriert schreiend schlug er mit der geballten Faust auf den Duschhahn ein, hätte diesen beinahe lebensbedrohlich verletzt, bis er sich soweit beruhigte, das er ein und aus atmen konnte, ohne dabei zu hyperventilieren und endlich das Gewünschte erhielt. Nach dem Duschvorgang mit Hindernissen schüttelte er kurz die nassen Haare, die sich liebevoll an seinen Kopf schmiegten, betrachtete sich mit einem Lächeln im Spiegel und suchte den Weg in den Bademantel, der so wundervoll rein und weiß am Harken neben der Tür hing.
 

Im Wohnraum angekommen erkannte er seine Aufgabe wieder. Die SINNVOLLE Aufgabe, derer er sich bis jetzt so gut erwehrt. Nun gut, jeder musste etwas gutes Tun, auch wenn es an Tagen wie diesen war. Mit zusammengebissenen Zähnen fixierten seine Fingernägel - man beachte - Fingernägel - einen Schwam am Rande der Spühle und wischte die Kaffeeflecken weg, die ihn so in seinem Schönheitsempfindungen gestört hatten. "Verdammte Scheiße." Bei all dem Lärm war der Kerl noch immer nicht aufgewacht. Da musste man zu härteren Methoden greifen. Er wrang den Lappen aus, schmetterte ihn angeekelt in die hinterste Ecke des Waschbeckens und wischte seine Hände ab.

Danach stieß er mit der Fußspitze, mit der gekonnten Art eines angelernten Hausmannes, die Tür des Wandschrankes auf und balancierte auf den Fußspitzen ein kleines Tablett ans Tageslicht. Er bückte sich, hob es hoch und packte danach, mit einem wohlwissenden Grinsen, einen Teller, eine Tasse mit Inhalt und ein wenig andere essbar erscheinenden Artikel darauf. Aller Anfang war schwer, aber am Ende sah das Ding schon fast heimelich aus. Es hatte einen ... man musste es nicht übertreiben mit den selbstheischenden Empfindungen, oder eher mit dem Wringen um Gunst.

Obwohl er wusste, dass es seinen Tod bedeutete, ging er auf Zehenspitzen gen dem Raum, der als einziger in der WG tabu war und öffnete die Tür, die sehr leise seiner Anforderung nachgab. Er war darauf versessen ein - Früüühstüüück - in den Räumlichkeiten, aber beim Anblick des schlafenden Nathaniels kniff er in der letzten Sekunde vor dem Ausbruch die Lippen aufeinander und fixierte die Zunge mit den Zähnen auf der Stelle. Er schlich weiterhin über den Boden, bedacht darauf keinen Laut zu machen und stellte das Tablett, gut sichtbar für Nath, sofern er die Augen öffnete, auf die Erde und beugte sich zu ihm hinab. Gleichsam hielt er die Strähnen seines leicht nassen Haares nicht fest, so dass sie dem Mitbewohner über die Wange streichelten. "Lieeebling. Früüüühstüüück." Wie kam es bloß, dass seine Stimme so rauchig klang, wie die einer älteren Frau.
 

Er hatte sich das Privileg genehmigt die ihm nach folgenden Worte des anderen mit Missachtung zu strafen und sie stattdessen durch das leise Zuschnappen seiner Tür zu einem bloßen, nicht mehr verständlichen Murmeln herabzudämpfen, das seinerseits rasch verschwand. Teils aus seinen Kopf ausgeblendet, teils weil sie von sich aus verstummt waren, nachdem der Asiate seine Abwesenheit registriert hatte.

Der Indianerstämmige vermutete nicht, dass dieser sich noch lange darüber ärgern würde, ob er nun mit Abwesenheit glänzte oder nicht. Er war wohl durchaus mit wichtigeren Dingen beschäftigt, die wie er sich mit einem verärgerten Stirnrunzeln eingestand, allerdings mindestens genauso viel mit seiner Wenigkeit zu tun hatten – eine Tatsache, die der Mitbewohner ja durchaus und unmissverständlich deutlich gemacht hatte. Nun gut, was betraf es ihn, wenn der andere seine körperliche Befriedigung in den Gedanken an ihn fand? Solange er nicht dafür sorgen musste, sondern der andere selbst Hand anlegte - im Sinne des genannten Wortlautes - mochte es ihm doch durchaus gleich bleiben... Wobei es dennoch eine Überlegung wert war, ob dieser Fall unter gegebenen Umständen schon als sexuelle Belästigung galt und es seiner eigenen Person möglich war, den anderen vor einem jener Häuser anzuklagen, die mit der Aufgabe betraut waren dem Volke Recht zu sprechen. Aber warum, verschwendete er seine Gedanken an einen weiteren verachtenswerten Menschen dieser Welt, von denen er sich abzugrenzen er sich doch geschworen hatte? Noch schlimmer, warum drangen wie von selbst sofort derartige, die oben erwähnten Dinge für seinen Geschmack zu detailliert darstellende Bilder in seinen bisher diesbezüglich so unbefleckten, schlichtweg desinteressierten Geist, der daraufhin unangenehm interessiert reagierte?

Widerwillig schüttelte er den Kopf, vertrieb sie aus den Windungen seiner Gedanken und ignorierte das verräterische Summen in seinem Hinterkopf, das ihn drängte darauf aufmerksam zu werden, was nur flüchtige derartige Gedanken für körperliche Reaktionen heraufbeschworen hatten. Rasch wich das Handtuch frischen, rot-schwarz karierten Boxershorts, die tatsachlich das einzige Kleidungsstück darstellten, das bei ihm öfter einmal von dem kontinuierlichen, monotonen Schwarzton abwich, den er davon abgesehen zu Leibe trug. Ohne Frage, besaß er auch solchermaßen gefärbte, doch unter diese mischten sich hier und da schwarz-rot karierte, grün-schwarz karierte oder blau-schwarz karierte.

Neben diesen Boxershorts, war er, abgesehen von dem kleinen, schwarzen Wildlederbeutel, der an seiner Schnur auf seine Brust herab hing und den er nur zum Duschen oder Schwimmen ablegte und mit Habichtsaugen hütete mit Nacktheit geschlagen.
 

Nun doch mit relativer Müdigkeit geschlagen, hatte er diesen Abend zwar nicht wie fast alle seine Mitschüler mit einem berauschenden Ball ausklingen lassen, was allein seiner abgrundtiefen Abneigung gegenüber Menschen an sich und Menschenmassen im Besonderen zu verdanken war, allerdings diese Zeit auch nicht müßig verbracht, sondern mit allerlei diversen Tätigkeiten, darunter auch einigen Stunden des Lernens ausgefüllt, ließ er sich nun in das breite Bett sinken, das neben den anderen Möbelstücken des Raumes den üblichen, den Studenten zur Verfügung gestellten Standards entsprach, die er lediglich seinen Wünschen gemäß umgeordnet hatte.

Der quadratische, mittelgroße Raum erschien auf den ersten Blick relativ nüchtern - wenn auch keineswegs ungemütlich - ganz so als ob der Bewohner es vermeiden wollte, seinen Charakter so ersichtlich nach außen zu tragen.

Nur hier und da standen oder hingen einige persönliche Gegenstände, die zumeist ebenso schlicht, wie auch unauffällig waren und den wenigsten einen näheren Blick wert schienen, was nun ja auch durchaus Sinn und Zweck war. Zwar betrat sowieso niemand ohne ausdrückliche Erlaubnis und Begleitung seinerseits je seine vier Wände, da er diese verteidigte, wie der Löwe seine Höhle oder, ein ebenfalls zutreffender Vergleich, die Bärenmutter ihre Jungen. Er mochte es nicht, wenn irgendjemand in seinen privaten Dingen herumschnüffelte, ganz einfach auf der Tatsache begründet, dass er nicht wollte, dass jemand auch nur das geringste über seine Persönlichkeit wusste, das vermieden werden konnte. Er wollte Rauch sein, der ihren Finger entwischte, wenn sie danach trachteten ihn zu fassen.

Niemand dieser verachtenswürdigen, in seinen Augen so widerlichen Kreaturen, die diese Erde verseuchten sollte sich in seiner Nähe aufhalten, niemand auch nur die kleinste Kleinigkeit über seine Persönlichkeit wissen, denn es verlieh ihm ein Gefühl des ausgeliefert seins, der Verletzbarkeit.
 

Auf dem einfachen Nachtschränkchen neben seinem Bett, stand lediglich ein schwarzer, durchaus mit feinen, geschwungen Linien in einer schlichten Schönheit glänzender Bilderrahmen, hinter dessen gläserner, penibel staubfreier Scheibe ein Foto zur Schau gestellt wurde, das ein kleines, denselben hellen Braunton der Haut wie er aufweisendes Mädchen mit zu einem kurzen Pferdeschwanz gebundenen schwarzen Haaren und grüngrauen Augen zeigte, das fröhlich in die Kamera strahlte, hinter ihm das hellgrüne, bunt getupfte Wogen einer kleinen Waldlichtung. Kleine, kräftig rote Blümchen waren in das Gummi geklemmt worden, das seine Haare zwar im Nacken hielt, allerdings einige Strähnen nicht daran hindern konnte, das durchaus hübsche Gesicht zu umspielen, das dieselben, leicht auf die indianische Abstammung hindeutenden Züge wie das seine aufwies, lediglich ein wenig jugendlicher und auch weicher, fein geschwungener und nicht ganz so verschlossen.

Während er die weiche Bettdecke über seinen bloßen Körper zog, fiel sein Blick auf das Bild und seine sonst so unlesbaren, desinteressierten Züge wurden für einen flüchtigen Moment von einer ungewohnten Weiche und fast schon Zärtlichkeit abgelöst. Sah man die mittlerweile Elfjährige so auf dem Bild, konnte ein unwissender, flüchtiger Betrachter nur ein fröhliches Mädchen sehen, das keine Sorgen und keinen Kummer der Welt kannte. Doch er, er sah die feinen Unterschiede, die kleinen Hinweise, die sich bereits jetzt unabänderlich in ihre Züge gegraben hatten und nie mehr schwinden würden. Er sah die beginnende Verschlossenheit in den grünen Augen, die bereits jetzt weniger nach außen hin auszusagen schienen, als es sein sollte. Sie wirkten wie Türen, die bereits im Begriff waren zuzufallen.

Er bemerkte die unnatürliche Ernsthaftigkeit die hinter dem strahlenden Lächeln zu erahnen war, eine Ernsthaftigkeit, die sie noch nicht kennen sollte. Und es war auch nicht nur seiner Vorbildfunktion zuzuschreiben, dass die Farben der Kleidung des Mädchens nicht so leuchtend und bunt waren, wie sie sein sollten und sie stattdessen ein dunkelgraues T-shirt über einer langen Hose trug, obwohl das Wetter warm war.

Trauer und Wut wallten in gleichem Maße in seinem Inneren auf. Keine Wut auf das Mädchen, sondern Wut auf denjenigen, der Schuld an all diesen feinen Veränderungen, Abweichungen war, die nicht zu einem Elfjährige Mädchen gehören sollten. Gleißend heiße Wut auf den eigenen Erzeuger, der in seinem trunkenen, geistig umnebelten Zustand nicht einmal bemerkte, wie er seine eigene Tochter bereits jetzt für alle Zeit ihres Lebens geprägt hatte.

Und noch ein anderes Ziel fand dieser Zorn, dieser Hass in seinem Inneren. Ihn selbst, der er dieses Mädchen, das doch seinen Schutz brauchte, doch nur ihn auf dieser Welt hatte, alleine gelassen hatte um zu studieren. Es half nicht, dass er selbst wusste, dass er nur so ihnen beiden eine Zukunft schaffen konnte. Er hatte sie im Stich gelassen, den prügelnden Händen des Vaters schutzlos ausgeliefert und das würde er sich nie verzeihen.
 

Ein Knirschen ertönte, als die oberen Zähne über die unteren schabten, während er den Kiefer fest aufeinander presste. Energisch zog er die Hand von dem Bilderrahmen zurück, drehte den Körper von dem Gegenstand ab, vor dem lediglich noch ein aufgeschlagenes Buch lag, auf die andere Seite. Diesseits auf dem Nachttisch stand ein anderer, in Einsamkeit prangender, Gegenstand, der nun seinerseits seinen Blick auf sich zog. Ein recheckiges Holzkästchen, auf Hochglanz poliert mit feinen, verzweigten Schnitzmustern verziert, die einer sehr begabten, sehr ruhigen Hand entspringen mussten. Lautlos schwang der Deckel hinauf, als er die Metalllasche hochklappte und gab den Blick auf den auf dunkelrotem Samt ruhenden Inhalt wieder. Eine selbst geschnitzte Flöte lag dort, nur wenige Löcher aufweisend, aus einem einzigen Stück Holz gefertigt und augenscheinlich der gleichen, begabten Hand entspringend. An einer dünnen, durch eine kleine Öse laufenden Schnur unterhalb des Mundstückes hingen zwei kleine Bussardfedern.

Liebevoll strichen die überaus feinfühligen und für einen Jungen ungewöhnlich kleinen Hände des Neunzehnjährigen über das Musikinstrument, ehe der Deckel wieder zugeklappt wurde, er sich nunmehr endlich in die Mitte des Bettes legte und sich nach einigen ruhigen Atemzügen bereits in jenen traumlosen Zustand versetzt hatte, den er bei den Cree Indianern erlernt hatte. Es war ein Zustand der sich irgendwo zwischen Schlafen und Dösen befand, den andere vielleicht als eine Form der tiefen Meditation bezeichnet hätten. Er erlaubte seinem Körper zwar nicht das gleiche Maß an Erholung wie ein normaler Schlaf - was nach all den Nächten in denen er sich nur dies gestattet hatte Grund für die dunklen Ringe war, die oftmals unter seinen Augen lagen - aber er gestattete eine gewisse Bewusstheit über seinen Zustand und konnte bis zu einem gewissen Grade gesteuert, in jedem Falle aber beeinflusst werden. So konnte er sich jeglicher Form des Träumens fern halten, welche einen Störfaktor für den in gewisser Weise durchaus als kontrollsüchtig zu bezeichnenden Studenten darstellten, waren sie doch selten mit dem Verstand greifbar und führten sie dem Schlafenden auch oftmals unangenehm treffend jene Dinge vor Augen, die man in wachem Zustand zumeist in die hintersten, dunkelsten Tiefen des Bewusstseins drängte. Es schien ihm zumeist, als wäre der Schlaf der Schlüssel, der das so fest verschlossene Tor öffnete, hinter dem er derlei Dinge einzupferchen pflegte.
 

Da ihm diese Kontrolle, die er benötigte sich in den meditativen Zustand zu versetzen allerdings nur gestattet war, wenn er vollkommen ruhig und geistig beherrscht war und ihm dies nicht möglich war, war er von Verwirrung, Ärger und einigen anderen, durch seinen lästigen Mitbewohner und seine eigenen Reaktionen auf diesen hervorgerufenen Gefühlen beherrscht, fiel er allerdings doch alsbald, gegen seinen Willen, in den richtigen, so gerne gemiedenen Schlaf.
 

Unter einem lauten Knall schlug eine Tür zu, ließ den Dunkelhaarigen, zuvor so friedvoll auf einem abgewetzten Ledersessel Sitzenden tief in die Welt der schwarz gedruckten Buchstaben vor sich Versunkenen aus eben dieser auftauchen und den modrigen Verputz der Sozialwohnung von den Wänden rieseln. Ein leises, ängstliches Geräusch drang an die Ohren des inzwischen in ernster Aufmerksamkeit Aufblickenden, der auch sogleich die Augen von der Wohnzimmertür ab- und dem kleinen, vor ihm aufgetauchten, dünnen Mädchen zuwandte. „Shh, komm her Sarah, komm her.“ Murmelte er, während er immer wieder wachsam den Blick zur Tür hebend, die Schwester auf die Arme hob und aus dem Raum trug. Beruhigend strich der Ältere ihr über die Haare, ehe er sie in dem engen, gemeinsamen Zimmer unter dem Schreibtisch absetzte, das einzige halbwegs Sicherheit bietende Versteck, das dieser Raum bot. Zwei Betten beanspruchten den größten Teil des Zimmers, ließen in der Mitte nur noch einen sehr schmalen Gang frei. Der restliche Platz wurde vollkommen von dem kleinen Schreibtisch, dem noch schmaleren Schrank und dem einzige, wackeligen Stuhl eingenommen, sodass man kaum wagte zu atmen, aus Angst der Platz würde dafür nicht genügen. Während seine Schwester sich in die hinterste Ecke des Tisches kauerte, die aufgerissenen Augen hinter den Beinen des Stuhles hervorspähend, bezog er Stellung in der Mitte des Raumes, zwischen den zwei Betten eingekeilt, den Blick auf dem dunklen Holz der Tür festgenagelt, alle Muskeln zum Zerreißen angespannt, die Sinne zum höchsten Grade geschärft.

Auf eine irreale Art und Weise, wie es nur im Träume möglich war und auch durchaus schon vorgekommen war, begann sich nun auf einmal sein Körper zu strecken, seine Wirbelsäule änderte ihre Form, seine Gelenke verschoben sich, Kleidung wich dichtem silbergrauem Fell, Nase und Mund wölbten sich zu einer Schnauze, die Zähne wurden lang, spitz und scharf und die Ohren wanderten den Kopf hinauf, stellten sich letztendlich auf.

Bernsteinfarbene, schräg gestellte Augen blitzen in dem nunmehr einem Wolf angehörenden Gesicht, das Nackenfell des Tieres, das nun seine Verkörperung darstellte, sträubte sich, der Kopf war in lauernder, abwartender Haltung gesenkt, die Lefzen kaum merklich erhoben, einen Spalt der elfenbeinfarbenen Zahnreihe, die in dem mächtigen Kiefer prangte, entblößend und die Ohren zuckten, schienen jeden Moment bereit sich flach anzulegen. Sein ganzer Körper, glich einer bis zum Anschlag aufgezogener Feder, bereit im Bruchteil einer Sekunde hoch zu schnellen.
 

Es war schon ab und an einmal vorgekommen, dass er in seiner Träume nicht im Körper eines Menschen weilte, sondern sich denjenigen seines Totems zu Eigen machte. Viel häufiger jedoch erschien ihm dieses im Träume, verkörperte Rat, Hilfe, aber auch Rätsel, die zu lösen ihm nicht immer gelangen. Seit jener Nacht der Mannesprüfung in dem ihm sein Totem offenbart worden war, war der Wolf sein ständiger Begleiter geworden, wie es der Ordnung entsprach.
 

Wütende Schreie erklangen gedämpft und doch für die so überempfindlichen Ohren gut hörbar hinter der Tür. Dumpfe, hallende Klänge, als würden Fäuste auf einen metallenen Gegenstand eintrommeln, dann Stille. Alles umhüllende, bedrohliche Stille, vergleichbar dem tiefem Atemholen vor dem nahen Gewitter und von ebensolcher unabänderlicher Gewissheit, dass nichts das Kommende würde mehr aufhalten können. Dann Schritte. Leise, kaum hörbar. Untypisch für den verhassten Vater, aber er war seit jeher für seine Unberechenbarkeit bekannt und so schien es keinen weiteren Gedanken mehr wert zu sein. Und was folgen würde, das war allemal berechenbar. Der Wolf, der zugleich der Indianerstämmige war, kauerte sich auf den Boden, bereit, wartend, geistig in kühler Gelassenheit, konträr zu der angespannten Haltung des Körpers. Die Tür schwang auf, die Feder löste sich, der Wolf sprang, schnellte im Traume empor.

Der Dunkelhaarige hingegen, der zuvor noch halbwegs friedlich in den Laken geruht hatte, schnellte seinerseits empor. Waren es im Traum die Tod bringenden Kiefer, die sich um den Hals des verhassten Erzeugers schlossen und die Knochen unter einem grässlichen Knacken zum Bersten brachten, waren es in Realität die blassen Hände des Neunzehnjährigen, die sich um den Hals des über ihn Gebeugten schlossen und mit aller, nicht unermesslichen Kraft, die ihnen zu eigen war, zudrückten. Gleich hingegen war in Traum wie in Realität das tiefe, bedrohliche Grollen, das aus der Kehle des noch im Halbschlaf Weilenden drang. Gleich war ebenfalls das gefährliche Feuer in den Tiefen der Augen, die sich nur in ihrer Farbe unterschieden.
 

Ein Blinzeln, das lodernde Feuer flaute zu einem dennoch bedrohlichen Funkeln herab, als er vollständig erwachte. Die Hände zuckten wie verbrannt vom Hals des Japaners zurück, von dem sich nunmehr weiß die Abdrücke seiner Hände abzeichneten, als er diesen erkannte. Seine Mundwinkeln waren hinter den wild in sein Antlitz fallenden Haaren zu einem seltsamen Zähnefletschen verzogen, die Stimme von solch schneidender Kälte, dass es ein leichtes gewesen wäre mit ihr Wasser zu gefrieren, als er langsam, deutlich, jedes Wort betonend sprach: „Ich frage dich nur einmal Yun und rate dir, dir deine Antwort genau zu überlegen. Was – machst – du – hier?“ Der Blick der obsidianfarbenen Augen, deren Iris sich in ihrer Farbe so wenig von den Pupillen unterschieden, dass man es kaum wahrnehmen konnte, heftete Antwort fordernd auf den Augen seines Gegenübers, schweiften kein einziges Mal von ihnen ab, den nackten, durchaus ansehnlichen Körper hinab. Vielleicht, nein, sicher sogar, hätten sie das, wäre die Situation eine andere, hätte der andere ihn nicht aus jenem Traum aufgeschreckt, wäre die Wut des ansonsten so kühlen, verschlossenen Jungen in diesem Moment nicht so klar und deutlich umrissen, wie ein knapp unter der Eisfläche eines Sees eingefrorener Fisch. Ein kleiner Stein genügte und das Eis sprang auf, der Fisch wurde aus seiner Starre gerissen. Sie war spürbar, wie der kommende Schnee an einem klaren Wintermorgen, spürbar wie die Tatsache, dass es so gut wie keine mögliche Ausrede gab, die das Verhalten des Mitbewohners in irgendeiner Weise rechtfertigen konnte und ihn somit vor einem mehr als grausamen Ende zu bewahren vermochte.
 

Yun wiederstand mit einiger Kraftanstrengung dem Reflex seiner Kiefer, beziehungsweise um es genauer ins Auge zu fassen - der Zähne - sich in einer Art Biss um die Ohren des Indianers zu legen und ihn somit gewaltsam aus dem Land der Träume in seine Arme zu zwingen. Eigentlich wäre es für Nathaniel zwar nur ein kleiner Austausch von Traumwelten gewesen, aber das konnte sein Mitbewohner nicht ahnen. Denn schließlich war er keine Esper, oder doch? Schuldbewusst schüttelte der schwarzhaarige Japaner seinen struppigen Schopf und schob überlegend die Unterlippe vor. Hätte man ihn nicht genau gekannt, wäre ihm an jener Stelle eine Naivität unterstellt worden, die einfach nicht zu ihm gehörte und wegen solcher Aktionen war er schon oft unterschätzt worden. Jedenfalls solange, bis es zu den Bettgeschichten kam und da lag Yun immer oben. Es gab keine einzige Sachen als oben liegen. Schließlich war er nicht so ein dämlicher kleiner Uke, der jeden Wunsch von den vollen Lippen seines Meisters las. So etwas konnte und wollte er nicht werden. Apropos Lippen. Die von dem Indianer waren mehr als gut und bei der Vorstellung sie mit den Seinigen kurzweilig zu berühren stellten sich seine Nackenhaare so stark auf, das man seine Reaktion unweigerlich als Gänsehaut betiteln konnte und er lügte sich nicht so weit an, das er bestritten hätte, das betreffende Person ihn nicht unglaublich anmachte. Aber genau wie gestern schob er seine eigenen Bedürfnisse schmerzlich zurück und wollte sich eigentlich für die gefallenen Worte vom Vortag ein wenig entschuldigen, obwohl es offiziell nichts wirkliches gab. Gut, wenn er ehrlich war, wollte er einfach nur in der Nähe seines Mitbewohners sein und dessen gleichmässige Atmung genießen, die besagte, das er keine harschen Bemerkungen einheimsen musste, dafür dass er hier saß und sich um einen Schlafenden bemühte. Wäre da nicht dieser starke Trieb irgendwo tief in seinem Körper verankert gewesen, hätte er es sich nicht nehmen lassen, ewig auf eine Reaktion des Mitbewohners zu warten, die viel schneller kam und in einer ganz anderen Form als er es erwartet hatte.
 

Kurz bevor er dem naturellen Drang seiner Beißerchen dann doch nachgegeben hätte, legte sich diese kräftige Hand um seinen Hals und drückte zu. Unverständnis flackerte in seinen dunklen Augen auf und er fixierte erst scharf, dann immer verschwommener die Konturen seines neu geborenen Feindes, der es wie aus dem Nichts auf ihn abgesehen zu haben schien. Seine Atmung wurde unangenehm flach und dünne Schweißperlen traten auf die Haut seiner immer blasser werdenden Stirn. Ein gurgelnder Laut kam versuchsweise aus seiner Kerle - deren Laut wohl eigentlich ein 'Nathaniel' darstellen sollte, aber nur ein 'Nthr' herausbrachte. Es war sein eigener Instinkt, in dem sich seine Fingernägel ausstreckten und mit ganzer Kraft in das Handgelenk des Angreifers schlugen. Okay, aus der Sicht eines Drittens wäre es eine sehr mädchenhafte Art gewesen sich zu verteidigen, aber Yun war viel zu panisch, als dass er sich damit länger beschäftigen konnte. Er wollte nicht sterben. Er wollte auf garkeinen Fall sterben. Irgendwie verlangsamte sich die Zeit um ihn herum und kam ihm wie eine feste graue Masse vor. Was war gleich grau? Ach, genau. Das Kaugummi. Das Kaugummi, was er gestern eine Stunde zu lang aus Langeweile gekaut hatte und dann unter eine der vielen Bänke im Studienraum während der Vorlesung geklebt hatte. Er erinnerte sich ebenfalls daran, dass einer der Dozenten ihn dabei erwischt hatte und ihn gleichsam erst einmal das Schulhaus zu säubern hieß und er wiederwillig dieser Aufforderung gefolgt war und halb schmollend vor sich hindämmerte, während laute Musik seine normalen Gehirnfunktionen weghämmerte. Eigentlich kam dieses Gefühl dem, was er jetzt empfand, sehr nah. Er fühlte sich ebenfalls sehr lasch, müde, unnatürlich kraftlos und schwach. Er hasste es schwach zu sein und seine Fingerspitzen bohrten sich weiter in das weiße Fleisch vor ihnen. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Überhaupt nicht vorgestellt. Hatte er sich eigentlich genauer damit befasst? Nein, nicht wirklich. Wieso hatte er nicht alles genau abgewogen? Unbewusst stellte der halbe Japaner eine Liste jener Dinge auf, die er unbedingt vor seinem Tod hätte machen wollen. An erster Stelle war der Jumpingsprung, an zweiter Stelle das Eis essen im Winter innerhalb einer katholischen Kirche und irgendwo auf der verdrängten dritten Position der Sex mit dem Indianer.
 

Es hätte eine Ehre für Nathaniel sein können, dass er so weit oben auf der Wunschliste von Yun stand, aber mit jener Sekunde, wo er weiter dessen Hals traktierte erstarb dessen Wunsch nach ihm immer mehr, bis er am Ende ganz verpuffte. Gott, wie er den Schwarzhaarigen in dieser Sekunde hasste und ihm alles Schlimme dieser Welt an den Hals wünschte. Oder eher - an seine Hände. Er wollte ihn kratzen, beißen... schlagen... einfach fertig machen. Das unangenehme schwarze Flackern in seinen Augenwinkeln sorgte dafür, dass er sich bewusst wurde, dass er es bald nicht mehr schaffen würde sich für diesen Angriff zu wehren. Aber in jener Sekunde wo der - in seinen Augen als Mörder abgestempelte einen recht unnormalen Laut zwischen seinen Lippen hervorstieß war das Märtyrium augenblicklich zu Ende und er taumelte, mit dem Bewusstsein kämpfend, einige Meter zurück, bis er ausglitt und nach hinten auf seinen Hintern fiel. Ein Schmerzensausruf entkam seiner geschundenen Kehle und er schützte sein Gesicht mit den beiden flachen Händen, von deren Nägeln bei seiner Befreiungsaktion drauf gegangen waren und die er jetzt nicht mehr zu erretten vermochte. Er nahm die eisgekühlte Aura seines Mitbewohners nicht wahr. Sie interessierte ihn nicht im Geringsten. Er hatte so etwas nicht erwartet und der Hass wollte einfach nicht verschwinden. Was fiel diesem kleinen dämlichen Bastard eigentlich ein?! Der Blick, den er jetzt in Richtung seines momentanen Zimmergenossens warf sprach Bände. Hass. Angst. Eine Spur von verwischtem Verlangen und eine ziemlich große Dosis von Unverständnis. Oder gar - Gekränktheit? War der Halbjapaner etwa darüber wie ein kleines Mädchen eingeschnappt, das er so eben von seinem gewünschten Date angegriffen worden war? Wenn man dem auf dem Grund ging, war die Antwort einfach - Ja, er war sehr gekränkt.
 

Er hatte es einfach nicht erwartet. Er war es nicht gewöhnt und er war unglaublich sauer. Die Stimme die nun Nathaniel antwortete war wegen dem Angriff einige Oktaven höher als sonst. "Frühstück - du blöder Penner!" Ungeachtet der Tatsache, das es sich grade um einen geschundenen und unbekleideten Yun handelte, der in diesem Tonfall mit ihm sprach, konnte man es wirklich als eine unterschwellige Drohung verstehen, dieses Murren was tief unten hinter jedem Wort nachvibrierte. Er wollte keine Erklärung. Eigentlich gab es nichts, womit der Schwarzhaarige ihn momentan beruhigen konnte und ein Husten kam zwischen seinen eigenen Lippen hervor, als er versuchte tiefer einzuatmen. Das Husten wollte so lange nicht enden, bis es mitleidvoll fast zu einem Erbrechen gekommen wäre, aber es war kein Grund für ihn jetzt den Rückzug zu machen. Er war zu müde sich zu bewegen. Er wollte sich nicht bewegen. Eigentlich wollte er garnichts mehr. Vor allem aber keine gemeinsamen Stunden mit seinem Gegenüber mehr. Dem Husten folgte ein Schniefen. Ein Schniefen was sich verdächtig nach einem kraftvoll unterdrückten Heulanfall anhörte und er wischte sich mit der Handfläche über Augen und Gesicht. Ehe er in tieferen Regionen verweilte und mit seinen, nun sehr kalten Fingerspitzen über die Hautstellen fuhr, die sich nicht ganz von der Behandlung erholt zu haben schienen und eine unangenehme Färbung angenommen hatten. Das wirst du mir büßen. Er hatte keine Lust den Gedanken laut auszusprechen, oder eher, er hatte Angst vor einem erneuten Anfall solch unkontrollierter Gewalt, deren Ziel sein eigener Leib war. Klasse. Jetzt muss ich wie ne dumme Tucke mir Halstücher und so nen Scheiß um meinen Hals machen, sonst halten die Leute mich für so nen Psycho, der versucht hat sich zu erhängen. Wunderbar. Hat mir grade noch gefallen. Klasse. Drei Monate oder mehr keinen Sex mehr. Das wirst du mir büßen.
 

Mit einem Mal war die Vorstellung des sich in Schmerzen windenden Mitbewohners immer willkommener in der grafischen Datei seines Gehirns und er beschwörte mehrere Vorstellungen auf einmal. Nur dies hielt ihn davon ab, sich selbst einmal auf den Raben zu stürzen und unkontrolliert auf dessen starres Gesicht zu schlagen. Erschießen. Erschlagen. Vergewaltigen. Töten. In Stücke hacken. Auspeitschen. Schlagen. Die Herrlichkeit brachte seine Atmung in ruhigere Gefilde und es war für ihn ein leichtes alle möglichen Stellen von ehemaligen Hardcorepornos in sich abzurufen. Vergewaltigungsfantasien... SM... Nein, das alles war nicht schlimm genug. Es wäre vorzüglicher, wenn Nathaniel als ein Opfer von Hannibal Lecter endete, oder auf dem Operationstisch irgendeiner durchgeknallten Kuh, die grade für ihre Versuche keine Tiere mehr hatte. Sühne. Sühne für mich. Blödes Arsch. Ich hasse dich. Büße für mich. Sühne. Verdammt. Unbewusst sich vor Augen geführt, wie sehr er an seinem eigenen Aussehen hang, warf ihn nicht in eine tiefe anhaltende Depression, sondern gab ihm die Kraft sich dem Feind entgegenzustellen und wenn erfordert ihn so weit herunter zu putzen, dass dieser nicht einmal am Ende wusste wo oben und unten war. Bestimmt nicht. Er würde nicht zählen können, nicht mal mehr Sprechen, wenn er ihm gleich von Anfang an die Zunge rausschnitt. Aber er brauchte diese gepeinigten Schreie doch, um sich zu beruhigen. Also verwarf er die Sache mit der raschen Zungenop schnell wieder und eigentlich bestanden seine Gedanken aus einem nicht endenden Zirkel von Bestrafungen für Leute, die es auf ihn abgesehen hatte und deren Reflexe besser waren als die seinigen.
 

Normalerweise, gewiss, wäre der andere noch gelyncht und bestialisch gefoltert worden, ehe sein Hintern sich noch auf so unelegante, augenscheinlich sehr schmerzvolle Art und Weise auf dem Boden des Halbindianers abgesetzt hätte. Doch die Wut des Dunkelhaarigen, ausgelöst durch den Alptraum und leicht durch die noch benebelten, verwirrten Sinne geströmt, die sonst so sehr unter seiner geistigen Kontrolle standen, war bereits am Abflauen. Er kehrte in die Realität zurück. Der Traum war, nach der anfänglichen Wut nicht spurlos an ihm vorüber gezogen. Sein nackter Oberkörper, entblößt von der längst beim Aufrichten hinab geglittenen Decke glänzte von einer Spur mittlerweile kalten Schweißes. Er zitterte leicht, seine Schultern waren kaum merklich herabgesunken und er starrte auf den Japaner hinab, der dort, den Kopf in den Händen vergraben saß, wie ein, nebenbei nacktes, Häufchen Elend. Die ohnehin blasse Haut des zierlichen Zimmergenossen trat am Hals weiß hervor, begann aber bereits sich in anderen Tönen zu färben. Zwei seiner sonst so perfekt manikürten Fingernägel waren abgebrochen, das lange, schwarze Haar hing wirr in das von so vielen Gefühlen gezeichnete Gesicht. Er wirkte reichlich lädiert und keineswegs mehr so strotzend vor Selbstbewusstsein, wie sonst. Mitleid schwappte, entgegen der sonstigen, normalen Verachtung in dem Indianer auf. Mitleid und Scham, Reue. Gewiss, es war in einem Zustand des Erwachens, noch halb in der Traumwelt und im Bewusstsein, dass es der verhasste, trunksüchtige Vater wäre geschehen. Dennoch, es hätte ihm nicht passieren dürfen. Er hätte dem anderen, so sehr er ihn sonst auch nicht leiden konnte niemals wehgetan, wäre er sich dessen bewusst gewesen und er hätte es auch jetzt nicht dürfen.
 

Er sprang auf, schwankend, noch immer zittrig, selbst verwirrt und irgendwie nicht ganz in seiner sonstigen, kontrollierten Form. Wankte die paar Schritte zu dem anderen hinüber und kniete sich vor ihn, im Bewusstsein dessen, dass er sich gut und gerne einen kräftigen Faustschlag oder auch andere derartige Gewalttaten, gewiss aber böse Worte einfangen würde. Vor dem Japaner auf dem Boden kauernd, dieser nackt, er selbst nur in Boxershorts, beide irgendwie angeschlagen, der eine mehr psychisch, der andere, hoffentlich, mehr physisch, kam er sich mit einem mal reichlich seltsam vor. Auch wusste er nicht, was er tun konnte. Sein Blick fiel kurz auf das Frühstück. Er zog eine Augenbraue hinauf. Natürlich, normal hätte ihn das auch nicht sanfter gestimmt, vor allem, wenn man die reichlich seltsame Zusammenstellung des Essmaterials auf dem Tablett näherer Betrachtung unterzog, aber jetzt, jetzt ließ es sich ihn nur noch ein wenig schlechter fühlen. „Ich, hm…ich schätze ein "es tut mir Leid" reicht nicht ganz, hm?“ versuchte er es mit einem jämmerlichen Abklatsch seiner sonstigen Redegewandtheit und nur einer winzigen Spur von Trockenheit. Er überlegte kurz, den Blick dabei eher unbewusst auf das Bild seiner Schwester gerichtet. Der Dunkelhaarige befand sich in einer reichlich unschönen Zwickmühle. Einerseits wollte er den anderen tatsächlich dafür entschädigen, was er ihm unabsichtlich angetan hatte, andererseits war ein solches Angebot selbst bei einem angeschlagen Yun mehr als nur verfänglich und würde gar in Torheit ausarten. Das geistige Bild einer Maus, die sich selbst in eine Mausefalle manövrierte, bot sich ihm.
 

Er wusste, er sollte den andern nun eigentlich mit einem harschen „Zieh dir was an oder, nein am besten und raus hier.“ vertreiben und das ganze vergessen, allerdings war er für dessen Verfassung verantwortlich und, auch wenn man dies vielleicht so manchmal ob seiner üblichen Worte und Umgangsformen denken sollte, war er doch kein Unmensch. Im Gegenteil. Es war eine geheime Tatsache, dass er eigentlich ein recht sanfter, liebevoller Mensch war – zumindest unter der abweisenden Schicht aus Kälte und Sarkasmus, die er zur Schau trug. Gewiss war der einzige Mensch, der diese ungebrochene Sanftheit bisher miterleibt hatte, seine Schwester, um die er sich normaler Weise rührend kümmerte und sorgte, aber diese tief unter der Oberfläche verankerten Eigenschaften ließen ihn doch nicht kaltherzig und gefühllos sein. Grund genug also, warum der andere noch immer in seinem Raum verweilte und er sich sogar bereits entschuldigt hatte, wenn das auch eine reichlich mickrigen Entschädigung war. Er würde sich noch umschweifender Entschuldigen, weniger um sein eigens Selbstwertgefühl wieder aus dem Tal der Selbstverachtung, Schuldgefühle und Vorwürfe zu ziehen, an dessen steinigem Grund er gerade ohne Taschenlampe auf Erkundungstour zu gehen schien, sondern vielmehr um die so misslich scheinende Lage des, wohl zudem äußerst verstimmten Mitbewohners zu verbessern, an der er schließlich Schuld trug.
 

Arsch. Krepiere. Stirb. Sühne. Erstech ihn doch jemand. Gnyah. Krepiere.

Der Halbjapaner fixierte den Anderen weiterhin voller Verdruss. Mit großer Gekränktheit und einer sauertröpfischen Miene. In solchen Fällen war er eine geborene Zicke. Es gab nichts, was ihn dann noch gütig stimmen konnte. Gut, fast nichts. Solche Leute hatten verschissen. Bis sie ihn nie wieder sahen, dann gab er sich irgendwann damit ab, seine Feindschaft ruhen zu lassen. Aber wehe der Kontakt flammte noch einmal auf. Er strich liebevoll und andächtig über seinen Hals, der jetzt rötlich wurde und nicht mehr blass war. Wo hab ich ein Halstuch? War die erste Frage, die sich in seinem Kopf nach der langen Zeit wirklich dominierend breit machte. Er konnte sie nicht lösen, egal wie sehr er auch seinen heimatlichen Kleidungsschrank durchforstete. Solche Trends waren nicht seine. Er liebte es zwar auffällig, aber dabei elegant. Nun gut, ein kleiner Wechsel sollte nicht schaden. Das würde schon keinem auffallen. Aber davor musste er Nathaniel ordentlich auf den Kicker nehmen, bis dieser es bereute, ihn jemals kennen gelernt zu haben. Er hob schmollend die Unterlippe hervor und wurde sich endlich bewusst, das er hier entspannt saß, in dem wie Gott ihn schuf und sonst nichts. Gar nichts. Kein einziger Fetzen Kleidung hang an seinem Leib und in solchen Momenten hatte er heißen geilen Sex und nicht gerade die prüdeste Behandlung seines Lebens hinter sich. Es gab so etwas wie Scham in seinem Bewusstsein nicht, aber das, was er jetzt empfand, kam dem am Nächsten und hieß ihn dazu, die Beine ein wenig anzuwinkeln und somit den eher deutlichsten Teil seiner Existenz zu verbergen und auch den flachen Bauch, auf dessen angedeutete Bauchmuskeln er so unglaublich stolz war. Das verdeckte zwar nicht viel, präsentierte ihn aber nicht mehr auf dem Servierteller und schützte ihn vor Blicken, die nicht kommen würden, weil derjenige, von dem sie alleinig hätten kommen können, anscheinend grade seine Intelligenz wiedererlangt hatte und erstarrt war.
 

„Ich, hm…ich schätze ein "es tut mir Leid" reicht nicht ganz, hm?“

Hatte er das grade wirklich gehört? War das wirklich die richtige Aussage von Nathaniel gewesen, oder besaß er neuerdings ein Problem mit seinen Ohren? So weit er sich erinnen konnte. Nein, er hatte keines. Aber was nicht war, konnte werden. Aber der abwartende, teilweise sehr beängstigende Ausdruck in dem Gesicht seiner angedeuteten Rothaut verschwand nicht und er wusste, dass er das Richtige aus dessen Mund vernommen hatte. Er war kurz davor zu schreien. Sich die abstehenden schwarzen Haare raufen und Kreischen wie ein durchgeknalltes Mädchen, was gerade seinen größten Schwarm getroffen hatte. Die Antwort lag ihm auf der Zunge. Er war kurz davor sie in dieses Gesicht zu schleudern. Nur wenige Millimeter fehlten zwischen ihm, seinem Ausspruch und Nathaniels seelischer Bestrafung. Nein du dummer Arsch. Natürlich reicht das nicht. Fick dich. Bis ihn irgendetwas davon abhielt. Es war nicht seine Art Rücksicht auf die Gefühle anderer zu nehmen. Aber sein Gegenüber wirkte wirklich verzweifelt. Vielleicht... Yun fing an unbewusst Ursachen für das Verhalten seines erhofften Bettgespielen zu finden. Eventuell war er missbraucht worden. Als kleiner Junge. Von seinem Vater. Immer und immer wieder. Das würde seine eigenen Chancen aber mit einem einzigen Mal für Null und nichtig erklären. Denn Männer mit einem solchen Trauma, ließen keine anderen an ihren Hintern. Das war eine Devise. Such dir niemals jemanden aus, der ein starkes Trauma mit solchen Dingen verbindet. Das gibt nur Unglück. Oder er hatte einfach geträumt und bei Yuns Anblick an einen nackten Irren gedacht, der ihn hatte vergewaltigen wollen. Er wusste nicht, wie weit er von der Wirklichkeit entfernt war, aber Spekulationen waren unglaublich gut um sein fließendes Blut zu beruhigen.
 

Er wurde ruhiger. Mit jedem Atemzug kehrte die Ruhe ein wenig mehr in seine Person zurück und um sie mehr zu unterstützen griff er an einen Fleck an seinem Oberschenkel. An jene Stelle, wo normalerweise die giftstarken Nikotinmonster auf ihn warteten. Aber da war nichts, stellte er zu seiner Enttäuschung fest. Nur Leere und nackte Haut. Nackte Haut, die seine eigene war und auf der sich langsam eine Gänsehaut zu bilden schien. Was sollte er dagegen machen? Nunja, half nur eines. Er legte die blanke Handfläche ganz an seinen Oberschenkel und rieb ein wenig an ihm hoch und runter... Sich nicht bewusst, wie das eigentlich auf andere Vertreter seines Geschlechtes wirken musste. Er wollte nur das unangenehme Gefühl aus den Knochen vertreiben. Achja, die Antwort. Er war nicht allein. Man erwartete etwas von ihm. Er hob leicht sein Gesicht, sah Nathaniel trotzig wie ein Kleinkind an und das erwartete Donnerwetter scheiterte. "Nein. Wahrscheinlich nicht..." Er ließ den Satz einfach in der Leere des Raumes ausklingen und atmete erneut entspannt ein. Es konnte nicht mehr schlimmer kommen als jetzt. Er war Nathaniel zu nahe und wenn dieser ihn jetzt irgendwie von seinem Hass abbringen konnte, würde etwas sehr sichtbares und sehr unangenehmes mit verschiedenen Stellen seines Körpers passieren und es schien ihm peinlich und angebracht. Gott bewahre uns davor. Nicht jetzt. Er hatte grade so viel gerettet. Er? Nein, sein Mitbewohner hatte grade viel gerettet und irgendwie schien dieser die Atmosphäre entspannen wollen. Sie hatten das erste tiefsinnige Gespräch seit Monaten, in denen keine versteckten Feindseligkeiten lagen. Er konnte mit dieser Konversation nicht verlieren. Er konnte von seinem Standpunkt aus eigentlich nur dazu gewinnen. Wieso also sich nicht darauf einlassen und den Anderen die Führung überlassen? Sollte der sich etwas einfallen lassen, wie er ihn gnädig stimmen konnte.
 

Okay. Sie saßen sich hier auf dem Fußboden seines Zimmers gegenüber, der eine gänzlich unbekleidet, in der vollen Pracht, in der ihn Gott auf die Welt gesetzt hatte und den anderen trennten auch lediglich Boxershorts vor diesem Urteil. Der Hals des Japaners begann sich rötlich zu verfärben und in den schwarzen Augen des Indianerstämmigen glänzte zum ersten Mal, seit ihn die meisten kannten, Mitleid und Scham. Bizarrer konnte es wohl kaum noch werden.
 

Ja, natürlich war ihm bewusst, dass er eigentlich etwas sagen sollte. Nicht, wie er es stattdessen tat, einfach anfangen am Bund seiner Boxershorts rumzuspielen, nur um etwas zu tun zu haben. Aber hey, er war keiner dieser Fernsehentertainer, die es fertig brachten an die 200 Wörter pro Minute zu sprechen. In 99 von 100 möglichen Fällen, war das, was seinen Mund verließ in beißenden Sarkasmus gepackt und Entschuldigungen waren eine derartige Rarität, dass man sie allgemein als unmöglich betrachtete. Nun, eine Erklärung der Ereignisse wäre dem Mitbewohner vielleicht ebenfalls Recht gewesen, aber, wenn es etwas gab, dass noch seltener aus dem Munde des Neunzehnjährigen zu vernehmen war, als Entschuldigungen, dann waren es Dinge, die etwas über seine Wenigkeit preisgaben. Und das hätte eine Erklärung der Sachlage zwangsläufig mehr als ausschweifend getan. Ergo – er gab sich trotz vehementer Gewissensbisse weiterhin dem Schweigen – und dem Bund seiner Boxershorts – hin.
 

Eine Bewegung aus dem Augenwinkel veranlasste ihn dann allerdings doch zum misstrauischen Aufblicken.

Eine Augenbraue zuckte in panisch-skeptischer Geschwindigkeit in seinem Gesicht hinauf. Was um alles in der Welt…? Der Tätowierte begann doch tatsächlich mit seiner Hand über eine Stelle seines Körpers zu reiben, die sich allen Anscheins nach, sehr nahe an einer sehr kritischen Körperzone befand. „Ich wäre dir verbunden, wenn du solche Aktivitäten nicht in meinem Zimmer veranstalten würdest Yun, ich steh' nicht so auf Flecken auf meinem Boden.“ Der trockene Satz war eher leise gesprochen, er war sich nicht einmal sicher ob der andere ihn wahrgenommen hatte. Zum einen war es die Panik, die ihn so leise sprechen ließ, zum anderen war er sich noch immer unsicher, wie weit er nach vorangegangenem „Missgeschick“ mit Worten gehen sollte. Nicht, dass er vorhatte diesen selbstgefälligen Trottel in Zukunft mit Samthandschuhen anzufassen. Genau genommen wollte er ihn gar nicht anfassen. Außerdem schien er dazu ja auch gar nicht nötig, der andere war ja augenscheinlich nur bereit diesen Job selbst zu übernehmen. Aber er wollte um des Gottes, an den er nicht glaubte, Willen nicht dabei zusehen!
 

Er runzelte ganz leicht hinter dem Vorhang schwarzen Haares die Stirn und erhob sich.

Dass der andere noch nicht in hohem Bogen aus seinem Zimmer geflogen war lag einzig und alleine an der Tatsache, dass er entgegen der weit verbreiteten Meinung doch so etwas wie ein Herz hinter der Schale kalten Sarkasmus und fast arroganter Distanz zu jeglicher Form menschlichen Lebens verbarg. Allerdings bedeutete das nicht, dass er nicht weiterhin für jedes zweibeinige Individuum der Rasse Homo Sapiens Sapiens empfand - vor allem nicht für solche die den natürlichen Trieben, in seinen vier Wänden nachgingen.

Es war schon eine so tief verankerte Art der Weltanschauung, dass sie schon fast als Instinkt durchzugehen drohte. Und gerade diese seine ureigene Art machte es ihm gänzlich unmöglich ein halbwegs vernünftiges Gespräch mit einem nackten, auf seinem Fußboden sitzenden Mann zu führen. Irgendetwas an dieser Tatsache blockierte seine Gehirngänge. Seltsam? Wohl eher nicht. Zudem war es ihm ja bereits beinahe unmöglich ein vernünftiges Gespräch mit einem bekleideten Menschen zu führen, ging er doch zumeist einfach von der Tatsache aus, dass alle ihn umgebenden Menschen schlichtweg verachtungswürdig und beschränkt waren. Nun, wer mochte es ihm verübeln? Der Großteil unter ihnen war es ja tatsächlich.

Also, da er ja, so gerne er es vielleicht tun würde, den anderen unter diesen Umständen kaum aus seinen vier Wänden vertreiben konnte, musste er ihn wohl für den Augenblick erdulden.
 

Noch immer rieb der andere mit stoisch gleichem Rhythmus über die blasse Haut seines Oberschenkels. Der Schwarzhaarige war ihm nahe genug, die feinen Härchen zu sehen, die sich dort aufgestellt hatten, nahe genug den leichten Atem zu hören und die Würgemale, die sich unter der Haut seines Halses abzuzeichnen begannen. Nahe genug das leichte Anheben der muskulösen Bauchdecke zu bemerken, wenn er einatmete und das daraufhin folgende Absenken. Ebenfalls nahe genug mit seiner bloßen Haut das leichte Ausstrahlen der fremden Körperwärme wahrnehmen zu können. Kurz gesagt, ZU nahe. Unangenehm nahe, wenn man zudem bedachte, dass sie beide kaum angekleidet waren. Das hier war nicht gut. Gar nicht gut.
 

Fast schon fluchtartig, erhob er sich, die gleitende Geschmeidigkeit seiner Schritte wurde von der etwas zu offensichtlichen Geschwindigkeit etwas herabgemildert, als er sich zu einem kleinen Schränkchen hinüber begab, aus dessen Schublade er anschließend eine schwarze Boxershorts zog und dem Japaner kommentarlos zuwarf. Er war nun mal kein Freund der großen Worte und, wenn es nicht gerade um ein sarkastisches Wortgefecht sondergleichen ging, wie sie es sich sonst zu liefern pflegten, eher schweigsam. Er hatte es nicht mit Gesellschaft. Vor allem nicht hier. In seinem Zimmer. In seinem privaten Reich.

Der Neunzehnjährige lehnte sich an den Schrank, verschränkte die Arme vor der nackten Brust, auf der lediglich der schwarze Wildlederbeutel hing und blickte zu seinem Mitbewohner. Noch immer hatte er sich jeglicher Antwort entbehrt, fiel ihm doch schlichtweg keine ein. Vor allem nicht, weil er nicht wusste, wie die Laune des anderen einzuschätzen war, wie er zu reagieren hatte. Er wartete darauf, dass der andere etwas sagte, etwas tat. Dass er sich entschuldigt hatte und ihn in seinem Zimmer duldete, war seiner Meinung nach Zeichen genug. Ebenso die Tatsache, dass er noch kaum etwas vernichtendes hatte verlauten lassen.
 

Es hätte ihn nicht gewundert, wenn der Andere einfach mit der blanken Faust auf ihn losgegangen wäre, je länger er darüber nachsinnierte, was er eigentlich gerade machte. Am Anfang war für ihn die spontane Aktion ganz klar gewesen, ein Reingehen, ein Flachlegen und wieder Rausgehen, aber irgendwie stellte sich Nathaniel um einiges tiefsinniger und interessanter vor als er ihn bis jetzt empfunden hatte. Wie sollte er mit einem Gegenüber umgehen, der ihn sowohl mit seinen Zungenfertigkeiten manchmal überrannte - oh Verdammt - dieses eine unüberlegte Wort ließ ihn schon wieder an angenehmere Dinge denken, als auf dem Teppich zu sitzen und um das aufstauende Blut von seiner Körpermitte abzulenken biss er geräuschvoll die Zähne aufeinander. Sollte die Rothaut sich nun auch über ihn lustig machen und sonst was für Fantasien entwickeln, was interessierte ihn das? Schließlich hatte der Andere ihn gerade beinahe zu Tode gequält, ihn erwürgen und erniedrigen wollen und das alles nur weil er unbekleidet war? Gegenseitige Akzeptanz hatte ihn aber dazu gebracht sich zu beruhigen und er wollte diesen Zustand um nichts auf der Welt wieder ändern, denn er hatte ihn schon seit vielen Tagen nicht mehr empfunden und war sich vollends bewusst, dass er ihn auch nicht mehr so schnell erreichen würde. Diese gegenseitige Verletzlichkeit, Yun in seiner Körperlichen und Nathaniel mit seiner bloßen seelischen hatten ihn dazu verleitet Milde walten zu lassen mit seiner Wut und am Ende war sie - ohne dass er viel dafür machen musste - einfach abgeflaut. Nun sehnte er sich nur danach das Gespräch in Ruhe mit dem Anderen zu suchen und eventuell - so nargte ein Stück Neugier an ihm - den Grund für die wilde Attacke zu erfahren, aber er war nicht so dumm, gleich darauf einzugehen, denn solche Dinge musste man vorsichtig und mit viel Einfühlvermögen aus einem herausziehen und wenn er jetzt offensiv sich danach erkundigte, würde der Verschluss des Anderen und die Zerstörung der einigermaßen entspannten Atmosphäre die Folge sein, aber der Japaner war Zicke genug, um das alles nicht ohne Strafe auf sich sitzen zu lassen, die Frage war nur, wie er den Anderen am Besten in die Defensive treiben konnte und diesen noch einmal spüren lassen konnte, dass er eindeutig im Unrecht gewesen war mit seiner Attacke.
 

Es war wie verhext, denn weder Kopf noch Körper wollten ihm so schnell eine Lösung für seine Tatkräftigkeit servieren und er nargte deprimiert auf seiner Unterlippe. Auf eben jener Unterlippe, wo er gerade noch so schmerzvoll stark seine Zähen versenkt hatte, aber solche Kleinigkeiten verdrängte er schneller als alle seine Gegenüber zusammen. Schmerzempfindlichkeit war nicht seine Sache, es war nur eine Ablenkung gegenüber von Dingen, die man im Moment nicht wollte, oder nicht zeigen konnte. Genauso wie diese leichte Erregung von seinem besten Stück wenn er den Blick der dunklen Augen über jeden einzelnen Zentimeter seines Gegenüber's Körper's gleiten ließ und es irgendwie genoss, trotz aller Nähe am Ende nichts tun zu können und irgendwie hilflos war. Er nahm Nathaniel nun jetzt nicht mehr als alleiniges Objekt der Begierde, er nahm ihn als Herausforderung und als solche musste er auch bereit sein umzudenken und sich in ein Paar neuen Gewässern des Jagens zu bewegen. Würde sein Kopf nicht so eindeutig überfordert sein und die Zigarette zwischen seinen Fingern fehlen. Dieser wundervolle graue Rauch, der seinem Mund nicht entwich und den er auch nicht inhalieren konnte. Gott, was litt er gerade unter Entzug und an allem war wieder dieser halbe Indianer schuld, oder was auch immer dieser auch darstellen sollte. Seine Hand ließ nun von der Stelle seines Körpers ab, als er irritiert die Worte des Anderen vernahm und sie ein paar Sekunden später auch richtig deuten konnte. Wieso war der Gegenüber so hohl und dachte von ihm, er würde solche dummen Dinge tun? Es würde ihm am Ende nichts bringen. Selbstbefriedigung war langweilig und hatte vor den Augen einer Person sowieso keinen Sinn. Oder wollte Nathaniel damit eine Vorliebe von ihm aufdecken? In jedem steckte schließlich teilweise ein Voyeur. Er hatte damals in den Zeiten seiner Kindheit auch gerne durch das Fenster die Wäscherfrau mit seinem Vater betrachtet, wie sie es auf die eine oder andere wilde Art trieben und es hatte ihn für die Nachwelt sehr inspiriert - zum Leidwesen seiner ersten Freundin. Die von ihrem ersten Mal eigentlich nur Romantik und Sanftheit erwartet hatte, aber eher etwas völlig geschultes und einstutiertes erlebt hatte. Wie typisch war das ein Zeichen von jungen Männern, aber solche Zeiten hatte der Halbjapaner schon lange hinter sich und er belächelte sie im Nachhinein, auch wenn er sich zu sehr ihrer schämte, als wenn er sie Anderen aus einem flüchtigen Witz heraus erzählen würde. So etwas wurde am Ende doch nur gegen einen gewandt, aber was interessierte ihn eigentlich eine Meinung, die nicht seine eigene war? Schließlich steckte in seinem Körper genug Narzissmus und Egoismus, um solche kleinen Stöhrungen im Verlauf seines hochentwickelten Egos einfach zu überbrücken. Einige mochten es Hochmut nennen. Er nannte es kontrollierte und unwiderstehliche Ausstrahlung.
 

Aber der kleine Tiger hatte ihn offensichtlich mit seinen Worten bestürzen wollen und das erforderte gezielte und wohldozierte Rache an eine empfindliche Stelle und wie er sie ansetzen konnte, dass wusste er schon in der ersten Sekunde, wo die spitze Bemerkung gefallen war. Er ahmte den Ton des Anderen auf eine beharrliche und penetrante Art so gut es ging nach, was ihm nur teilweise gelang und es gab dem Ganzen einen noch zynischen Anklang. "Nur weil du mein lieber Nathaniel im Zusammenhang an meine Gestalt ständig an Sex denken musst, ist das noch lange nicht meine Absicht gewesen. Der einzige Grund, wieso meine Hand an diese Stelle gekommen ist, war die Offenbarung wie kalt es in diesem Raum auch ist und ein leicht erschreckter Körper kann sich, unter dem Motto der halben Erwürgung auch leicht unterkühlen. Wenn du mir aber von Anfang an gesagt hättest, dass du auf solche Spielchen stehst, hätten wir meinetwegen darüber nachdenken können, ob wir sie miteinander ausprobieren können. Nur du musst verstehen - solche Offensive bin ich dann doch nicht gewöhnt." Eventuell hatte er gerade ein wenig übertrieben, aber er hatte es gern getan und Nathaniel verdiente es. Die Wirkung seiner Sätze wurde aber durch das anhaltende leichte Zittern seines nackten Leibes ein bisschen angekratzt, trotzdem aber hatten sie eine große Chance direkt in das empfindliche Schwarze zu treffen. Es war so leicht sich in die Gedankenwelt eines anderen Menschens einzufressen und ihn nach besten Methoden zu verletzen, aber es war zu neckisch gemeint und es verwirrte Yun, wie sanft er es am Ende doch ausgesprochen hatte. Wie eine kleine Liebelei und nicht wie der Versuch, den Gegenüber in ein Tränenmeer zu stürzen und ihn in Verlegenheit zu bringen. Es war ein unbekannter Charakterzug, den er an seiner eigenen Person gerade erkannte. Der Schwarzhaarige vor ihm erweckte tatsächlich tief in seinem Inneren einen kleinen Funken an Mitleid, der ihm bis ebend völlig fremd gewesen war und den er auch nun wo er ihn empfand, nicht ganz deuten konnte, selbst nicht mit konzentrierter und vollständiger Kraft. Da fehlte wieder die entspannende Zigarette, die seine überhitzten Zellen ein wenig entspannen konnten. Von wegen Rauchen war schädlich, es war die einzige Möglichkeit im Leben nicht vorzeitig einen Schlaganfall wegen Überlastung zu bekommen.
 

Herr Niimura - aber Bitte nicht so mit der Herzenswärme übertreiben und sich am Ende eine vollständige Blöße geben. Deshalb genoss er das fluchtartige Aufspringen des Anderen, womit dieser ganz offensichtlich seine Körpernähe mied und auch ein Zeichen von Schwäche gegenüber seiner Person signalisierte. Ein raubtierartiges Lächeln ließ seine Lippen auseinander gehen und eine Reihe von gepflegten weißen Zähnen entblößen. "Mein liebes kleines Kätzchen, zeig doch bitte nicht so offensichtlich, dass es dir eigentlich am Ende ganz gut gefällt und gib einfach deinem tiefen Verlangen nach." Er war gut darin zu verletzen, aber erneut war es nur ein sanftes Necken, kein wirklicher gezielter Angriff und er bedauerte es fast, denn mit so etwas hätte er bei der richtigen Betonung bestimmt Punkte gesammelt. Aber anstatt sich weiter Gedanken darum zu machen fing er verwundert - wegen den ausgeprägten Reflexen - die schwarze Boxershorts auf und beäugte den Stoff mit einem solchen Misstrauen, als dachte er, die Rothaut habe ihm gerade einen Sack voll Schlangen zugeworfen. Als er aber - nach mehrmaligem Wenden - entdeckte, dass es sich wirklich nur um eine Unterleibsbekleidung handelte wurde sein angespannter Gesichtsausdruck weicher. Es war eine merkwürdige Art der Zuneigung - denn so etwas gehörte wirklich nicht zu den Dingen - die man jeden Tag nach ein bisschen Langeweile an alle möglichen Menschen verschenkte, oder aber dem Anderen war es wirklich peinlich, dass er hier nackt auf seinem Fußboden saß und irgendwie an sich rumrieb. Hätte seine Erscheinung den Anderen nicht ganz kalt gelassen - so wäre es ihm bestimmt schon ein wenig aufgefallen - hätte Nath nicht eine sehr gute Körperbeherrschung, wovon er aber bedauerlichweise ausgehen musste. Somit war er verpflichtet mit verdeckten Karten zu spielen und er ließ sich in die Defensive Rollen drängen, in dem er schweigend und ohne jedes Wort der gezielten bösen Verachtung in die dargebotene Boxershorts stieg und sich der Stoff sehr angenehm an seinen Körper schmiegte. Hätte er die Zeit und die Lust auf Fantasien gehabt - wären bestimmt in diesem Moment welche entstanden. Schließlich hatte sein Tigerchen das Ding bestimmt schon öfters getragen und das Stöhnen wäre beinahe aus seiner Kehle entstiegen, aber sie war noch zu malträtiert, um so tiefe Laute zuzulassen und so entsprang ihr nur ein merkwürdig hohes Krächzen.
 

Er bedauerte die Standhaftigkeit des Anderen und das dieser sich nicht mehr bewegte, denn das war es, was er wirklich an ihm liebte. Diese geschmeidige und tänzerische Art sich zu bewegen. Dieser Schleichgang einer Raubkatze und er wollte ihn nicht in die Ecke treiben, ihn gerade auch nicht verletzen, nur nach seinen sarkastischen Wörtern ein wenig die entstehende Vertrautheit genießen. Obwohl er es sich nicht eingestehen wollte, wurde ihm bewusst, dass auch von ihm jetzt etwas positives kommen musste, nicht nur etwas, was den Scham von Nathaniel in das Unermässliche steigern würde. "Entschuldige übrigens, dass ich dich so überrumpelt habe." Für ihn war eine Entschuldigung leicht, sofern er wusste, dass er sich im Unrecht befand - aber er bemerkte es oft nicht, wenn es so war und überging es lieber. Somit musste der Andere diesen Satz als eine Art Heiligtum beachten und ihn nicht dafür strafen - sofern ihm irgendetwas an dem entstandenen Frieden hing und er nicht Bekanntschaft mit einer geballten Zusammensetzung von Wut und gleichzeitigem beißenden Humor machen wollte. Yun aber maß ihn weiter mit den Augen ab, hatte eigentlich für keine einzige Sekunde aufgehört ihn anzusehen, selbst dann nicht, als er sich in das schützende Kleidungsstück gezwängt hatte, dass ihm auf merkwürdige Weise ein wenig zu groß war. Was an dem unterschiedlichen Körperbau der beiden Männer liegen konnte, aber Yun mochte es nicht gerne überragt zu werden, also mogelte er ein bisschen mit den Zehenspitzen, um sich aufzurichten. Ein kleiner Trick, den er so todsicher beherrschte, dass es nur einem geübten Beobachter auffallen konnte, dass er genau dies tat. Die Geste war eine Zwickmühle für den guten Nathaniel, wenn dieser ihn darauf ansprach um ihn zu verletzen, offenbarte er, dass er ihn auf genauste Art im Auge behielt und damit konnte er wiederrum ihn necken. Wenn er es aber überging, nahm er ihn ganz einfach als einen gleichstarken Rivalen hin, der mit ihm auf der gleichen Höhe war. Oh ja, Gemeinheit war schon etwas schönes. Kein Wunder, dass er bei Spielen wie Mühle niemals den Kürzeren zog.
 

Er stand an den Schrank gelehnt da. Das kühle Holz ließ seinen Körper kurzzeitig leicht erschaudern, schickte eine Gänsehaut über seinen bloßen Oberkörper. Unbewusst hatte er einmal mehr in einer distanzierten, fast abwehrenden Haltung die Arme vor der Brust verschränkt. Auch wenn er schon lange nicht mehr der schmächtige, blasse Junge war, zierliche Junge war, wenn natürliches Wachstum und Krafttraining seine Gestalt größer, breiter, sehniger gemacht hatten, so wurde er manchmal unbeabsichtigt, ungewollt, grade nachts oder in schwachen Momenten von der Vergangenheit überrollt, dann war er wieder für einen Augenblick lang der kleine vierzehnjährige Junge, der versuchte sich und seine Schwester vor den Schlägen des Vaters zu schützen. Dann war er einmal mehr der kleine Junge auf den der breite Ledergürtel niederprasselte, der sich zusammenkrümmte in der törichten Hoffnung weniger Oberfläche zu bieten, weniger zu leiden. Der verschüchterte Junge der flehte, weinte, bettelte, nicht verstand, warum sein Vater zornig war, was er falsch gemacht hatte.

Es gab Momente, da brannten die blassen Striemen auf seinem Oberkörper, brannten, obwohl sie schon längst verheilt waren, ließen ihm keine Ruhe, gaben ihm keine Möglichkeit zu vergessen. Die Angst, die Schmerzen und vor allem den grenzenlosen Hass, zu dem diese später geworden waren. Jeder Schlag, brannte in seinem Gedächtnis, hatte sich eingefressen, wollte gerächt werden. Und wenn er wieder einmal hilflos in seine Vergangenheit gerissen, fortgespült wurde, so wie jetzt, ohne, dass er etwas dagegen tun konnte, dann war er sich der Linien auf seinem Körper nur zu deutlich bewusst. Er war sich ihrer auch jetzt bewusst, wusste, dass er noch immer nahezu entblößt vor dem Japaner stand, entblößter vielleicht sogar, als der andere trotz seiner eigenen gänzlichen Nacktheit jemals sein konnte. Er war sich seiner momentanen Schwäche überdeutlich bewusst, spürte seit langem einen Anflug von Panik, hoffte der andere würde sich ihrer nicht auch bewusst werden, sie ausnutzen, sie hinterfragen. Unbewusst presste er die ohnehin schmalen Lippen aufeinander, versuchte die Angst zu unterdrücken, hatte sich doch geschworen nie mehr schwach zu sein, nie mehr Angst zu haben. Er unterdrückte sie, drängte sie mit all seiner Willensstärke zurück, die Angst davor entblößt zu werden, die Angst davor, dass alles in diesem einzigen, schwachen Moment ans Tageslicht dringen könnte, er einmal mehr einem Menschen vollkommen ausgeliefert sein würde, denn das wäre er unweigerlich, wenn ein anderer von seiner Vergangenheit erfuhr. Er wusste es, wusste, dass dann all seine Stärke zusammenbrechen würde, er wieder der kleine Junge sein würde, der sich der Macht eines anderen unterwarf.
 

Ein leises Knirschen riss ihn aus seinen Gedanken, aus dem Strudel der Angst mit der er innerlich rang, das Knirschen seiner eigenen Kiefer, die fest aufeinander trafen. Dieser so reale Laut brachte ihm einen Funken Wirklichkeit, brachte ihm die Kraft, die Angst zu unterwerfen, seine Fassung, seine kühle, stoische, distanzierte Ruhe wiederzuerlangen. Vielleicht waren dem anderen die Narben aufgefallen, aber dafür war es ohnehin zu spät, er wusste es. Wenn nicht gestern, nach dem Duschen, so hatte er sie spätestens jetzt erblickt und wie er auch darauf reagieren mochte, Nathaniel würde sich keine Blöße geben, würde nicht zulassen, dass seine mühevoll aufgebaute Maske daran zerbrach. Ein neuerliches Knirschen ließ seinen Blick zu dem Japaner hinüberhuschen, der sowieso bereits seine Gedankenwelt beherrschte, wenn vielleicht auch auf andere Art, als sich dieser wünschen mochte. Oh, gewiss, hätte der Neunzehnjährige sich bereits eingestanden, dass ihn der andere auf eine gewisse Art anzog, hätte er daraus bereits den richtigen Schluss gezogen und wäre sich der ganzen Situation richtig bewusst geworden, so hätte der Japaner gewiss seine Gedanken auch auf diese Art – und wohl mehr als nur bildlich – geprägt und in gewisser Weise nahm er trotz seiner anderen Gedanken auch jetzt noch das Bild, das sich ihm bot viel zu genau wahr, war sich viel zu genau jedes Fünkchens nackter Haut des anderen bewusst. Dennoch, da eben diese Erkenntnis nicht der Fall war, wenn überhaupt bisher nur aus einer kleinern, überaus leisen Stimme in seinem Hinterkopf bestand, die ihn leise fragte, warum ein nackter Mann in seinem Zimmer ihn eigentlich derartig außer Fassung brachte und selbst diese Stimme von tausenden möglichen Gründe für diesen Zustand ertränkt wurde, zum schweigen gebracht wurde, und auch die noch eben ausgestandenen, immer noch irgendwo in seinen Gehirnwindungen präsenten Ängste ihn davon abhielten, war es nicht verwunderlich, dass er in keiner sichtbaren Art auf den anderen reagierte. Dass ihn die weißen Zähne des anderen, die nun begannen, scheinbar unbewusst, die zartrosa Unterlippe zu traktieren ihn allerdings in irgendeiner ihm noch unerklärliche Weise verwirrte, diese Erkenntnis war nicht zu leugnen, wenn er es auch niemals, nicht mal vor sich selbst und in Gedanken zugegeben hätte. Irgendwie zogen diese malträtierten Lippen immer wieder seinen Blick auf sich und unbewusst befeuchtete er seine eigenen, ehe er sich selbst dabei ertappte, die schwarzen Augen leicht verengte und den Blick bewusst auf die Augen des anderen haftete.
 

Abwartend, noch immer schweigend, und seltsam unwohl in seiner Haut, stand er noch immer unbewegt an seinen Schrank gelehnt da. Er hasste derartige Situationen. Unter normalen Umständen hätte er den anderen bereits beim ersten Aufschlagen seiner Augenlider unter bissigen Kommentaren aus seinem Refugium vertrieben und gut wäre gewesen. Aber natürlich waren dies keine normalen Umstände, warum verlangte er auch derartig unmögliche Dinge vom Leben? Mittlerweile müsste er doch zu der glorreichen, weisen Erkenntnis gelangt sein, dass das Leben gerne genau das tat, was man am wenigsten wollte. Hachja, wie schade, dass man trotz heutiger Luftfahrttechniken noch immer nicht dazu in der Lage war, die Götter zu besuchen und ihnen vor ihre wolkigen Eingangstüren zu pissen. Manchmal hätten sie es echt verdient. Aber nein, stattdessen musste man sich mit ihren äußerst unwitzigen Attacken schwarzen Humors herumplagen. Sobald er tot war, würde er diesen göttlichen Gesichtern einiges zu sagen haben. Die Worte des anderen zogen ihn aus seinen beißend sarkastischen Gedanken und in die Wirklichkeit zurück. Ohne sein Zutun zuckte seine Augenbraue hinauf und ein spöttisches Lächeln zupfte im Ansatz an seinen Mundwinkeln. Seit seinem eigenen, inneren Kampf, war er nicht mehr ganz so unsicher, wieder mehr er selbst, wieder mehr der distanzierte, sarkastische Neunzehnjährige, der sich von der Welt im Allgemeinen und den Menschen im besonderen durch diese verbale Mauer abschirmte. Gewiss, er war noch immer vorsichtig dem anderen gegenüber, hatte er diesen doch tatsächlich unbeabsichtigt verletzt, beinahe erdrosselt, aber wenn ihm Spott entgegen gebracht wurde, so reagierte er nur zu gerne mit solchem, auch wenn er nicht ganz so verachtend klang wie sonst, eher mit dem gleichen Touch Verspieltheit, der auch den Worten des Japaners angehangen hatte. Seltsam, dies, aber irgendwie hatte die besondere Situation ihren Umgang in einer Weise beeinflusst, die er noch nicht abzuschätzen mochte, die ihn aber misstrauisch stimmte, wie alles, das er nicht gewohnt war. „Ich würde wagen zu behaupten, dass eindeutig du derjenige von uns beiden bist, der häufiger an Sex denkt, als ich. Zudem füge ich den Hinweis hinzu, dass die Temperaturen in diesem Raum wohl gänzlich meine Sache sind, da ich der einzige bin, der das Recht hat diesen Raum zu betreten und zu bewohnen und es gänzlich deine eigene, wenn ich hinzufügen darf, nicht gerade von mir gebilligte Entscheidung war hierher zu kommen. Des Weiteren hatte ich nicht vor irgendwelche meiner Bettvorlieben auch nur annähernd mit dir zu diskutieren, geschweige denn auszuleben, es ist mir gänzlich egal, wie offensiv du deine Sexualpartner gewöhnt bist. Und bevor ich es vergesse zu erwähnen, es ist auch nicht meine Schuld, wenn du durch dein unerwartetes und unerlaubtes Eindringen in meine Privatsphäre zufällig Ziel einer Attacke wurdest, die nicht deiner Person galt und zudem im Traumzustand geschah.“ Bei seiner letzten Aussage, flackerte für einen Moment eine Kälte in den schwarzen Augen auf, die unweigerlich verirrt, dass besagte, eigentlich gemeinte Person diese Attacke durchaus mehr als nur verdient hätte. In diesem kurzen, nur flüchtigen Moment beherrschte Hass die sonst so versteinerten, kühlen Züge des Schwarzhaarigen.
 

Er zwang sich selbst zum Durchatmen, zwang sein Gesicht dazu, die übliche Maske beizubehalten, zwang die aufkommende, bittere Magensäure wieder nach unten, erstickte den flammenden Hass, den er immer noch verspürte. Der andere musste fort, musste irgendwie aus seinem Zimmer, weg von ihm. Er befand sich noch zu sehr in seinem Traum, war noch zu wenig er selbst, war noch zu labil. Immer wieder verlor er seine Maske, er merkte es. Doch er konnte ihn nicht rausschmeißen, konnte es einfach nicht nach dem, was er ihm angetan hatte. Und doch war es gefährlich, er hatte schon zuviel verraten, wenn es nach ihm ging. Wieder presste er seine Kiefer aufeinander, diesmal, um noch mehr Worte zurück zu halten und um die Ausdruckslosigkeit in seinem Gesicht zu halten.
 

"Mein liebes kleines Kätzchen, zeig doch bitte nicht so offensichtlich, dass es dir eigentlich am Ende ganz gut gefällt und gib einfach deinem tiefen Verlangen nach." Gnarz. Er hätte nicht so hastig aufspringen dürfen, das wurde ihm jetzt allzu deutlich klar. Gewiss, er hatte die Nähe des anderen nicht länger ertragen, sie hatte ihn nur unnötig verwirrt, ihn noch schwächer gemacht, als er sowieso in diesem Moment bereits war, nur noch unnötig seine Maske gefährdet, die gerade sowieso einen Tanz auf Messers Schneide zu führen schien. Dennoch hätte er langsamer gehen sollen, so als diene sein Gang einem bestimmten Zweck – nun gut, tat er ja auch, der Flucht. „Oh ja, mein tiefes Verlangen… das da bitte wäre? Dich jetzt und hier auf der Stelle flachzulegen Yun? Glaubst du wirklich, ich wäre derartig primitiv? Ich habe kein Interesse an derartig animalischen Trieben, auch wenn du ihnen noch so gerne frönst. Vielleicht findest du ja jemand anderen, der sich noch nicht so sehr aus der Steinzeit heraus entwickelt hat und sich gerne anbetteln lässt, dich zu ficken, wenn du das so gerne möchtest.“ Er wählte bewusst solch ordinäre Worte, um seine Verachtung deutlich zu machen, seine Verachtung für die Menschheit, die nur zu oft durchblitzte, seine Verachtung für all die Menschen, die sich derartig hingaben, derartig ihre Selbstkontrolle aufgaben. Vielleicht rührte diese Verachtung ebenfalls von seinem Vater, daher, dass er für ihn immer ein Beispiel dieses Verlustes an Selbstkontrolle gewesen war. Vielleicht zwang er sich deshalb selbst so zur vollkommen Beherrschung, weil er nicht so werden wollte, wie sein Vater. Vielleicht hatte er deshalb ein solch verachtendes Bild von Alkohol und Sex. Vielleicht.

Natürlich war es auch Absicht gewesen, dem anderen die passive Rolle zuzuschreiben, provozierende, neckische Absicht, die die vorangegangene Verachtung unbewusst herabmilderte in ihrer erneuten Verspieltheit, die Situation entschärfte, war auch ihm daran gelegen den seltsamen, ungewohnten Frieden zumindest für die Dauer aufrechtzuerhalten, in der er noch immer nicht genau wusste, wie mit dem anderen umzugehen.

Seine Hände kramten in der Schublade, noch ehe er sich dessen richtig bewusst war. Irgendwie begann die Nacktheit des anderen ihn zu stören. Sie irritierte ihn, passte nicht in diese Situation, machte ihn und den anderen verlegen, lenkte ihn ab, auch wenn er sich dies nicht eingestand.
 

Das seltsame Krächzen des anderen, als dieser die zugeworfene Boxershorts anzog, ließ ihn abermals leicht perplex eine Augenbraue heben, wusste er doch nicht recht, wie er diesen Laut einzuordnen hatte und wovon er hervorgerufen worden war. Jedoch hatte er kaum Zeit, sich darüber zu wundern, als er auch schon mit noch mehr ungewohnten Dingen überrumpelt wurde. "Entschuldige übrigens, dass ich dich so überrumpelt habe." Die zweite Augenbraue gesellte sich zur ersten und er strich sich erst einmal die Strähnen schwarzen Haares aus den Augen, musterte den anderen kurz mit leicht schräg gelegtem Kopf. Er wusste nicht Recht, wie auf diese Entschuldigung zu reagieren. Wieder eine dieser Situationen, die er hasste. Um überhaupt irgend etwas zu tun, seinen Körper zu beschäftigen trat er wieder auf den anderen zu, ging jedoch einen Schritt an ihm vorbei und beugte sich zum Nachtschrank hinunter, aus dessen Schublade er alsbald eine Zigarettenpackung zu Tage förderte. Heute ganz Genleman – Vorsicht Ironie! – hielt er sie zunächst dem anderen unter die Nase, ehe er sich selbst eine Nikotinstange herausfischte und sie zwischen seine Lippen gleiten ließ. Ein kurzes Aufschnappen des Feuerzeuges, ein fast schon automatisches Zuflattern der Augenlider und ein tiefes Inhalieren später, fühlte er sich ruhiger, ausgeglichener. Sanft ließ er den weißen Rauch über die leicht geöffneten Lippen in den Raum gleiten. Erst dann antwortete er. Sarkasmusfrei, ehrlich und neutral. Wow, was war in dieser Zigarette? Wahrheitsserum? Anti-sarkasmus-säure? „Ich kann wohl kaum sagen: Schon okay… also nehme ich die Entschuldigung vorläufig an und schlage vor, du merkst dir, dass es nicht ganz ungefährlich ist, sich in meiner Nähe aufzuhalten, wenn ich schlafe.“ Okay, das leichte Grummeln in seiner Stimme wegzulassen, wäre eindeutig Überforderung seinerseits gewesen, aber hey, für seine Verhältnisse waren diese Worte echt freundlich, fast schon sanft gewesen und das mochte etwas heißen! Mehr konnte man also wirklich nicht erwarten.

Er ließ sich an der Wand herab gleiten, sodass er bald darauf angelehnt dort saß, inhalierte erneut den Qualm der Zigarette, die Augen geschlossen, den Kopf scheinbar entspannt nach hingen gelehnt, sodass die Haare ausnahmsweise einmal nicht die Hälfte seines Gesichtes verdeckten, sondern neben diesem herab, ob des überstreckten Halses, über seine Schultern fielen und seine Kehle kurzzeitig entblößt wurde. Natürlich war er sich der Anwesenheit des anderen immer noch überdeutlich bewusst, auch wenn er gerade versuchte sie auszublenden. Natürlich war er nicht annähernd so entspannt, wie er sich gab, lauschte sogar auf jede Regung des anderen.



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