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Zerspringende Ketten

von

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Vereint

Takaya wusste nicht, was er sagen sollte. Musste er überhaupt antworten? Schließlich hatte Naoe keine Frage gestellt, sondern ihm eine Tatsache offenbart. Er war sich nur nicht sicher, ob der Mann dabei von der Vergewaltigung sprach, oder von etwas anderem. Aber es wäre erschreckend, wenn Naoe so über den sexualisierten Übergriff dachte. Was würde dieser damit bezwecken wollen? Naoes Worte erinnerten ihn zwangsläufig an die Videos, die dessen Folterungen festgehalten hatten. Allein der Gedanke an Shishidos Gräueltaten ließ seine Körpertemperatur vor Wut unkontrolliert ansteigen.

Takaya konnte nur spekulieren, was für psychische Spuren die gewalttätige Gefangenschaft bei Naoe hinterlassen haben musste – und sie musste Spuren hinterlassen haben. Dafür brauchte er sich nur die eigene Vergangenheit vor Augen zu führen, um zu wissen, dass Folter jeglicher Art Wunden hinterließ, die sich nur schwer schlossen.

Die Frage war also, ob Naoe bereit war, die Wunden zu teilen, um den Schmerz zu lindern. Oder dieser sie unaufgearbeitet verdrängte, und damit größeres Leid für sich selbst und andere erzeugte. Takaya selber hatte es nicht besser gemacht. Er hatte alles in der hintersten Ecke seiner Seele verborgen und mit einem Siegel zu versehen versucht, dass inzwischen in die Jahre gekommen war, und letztlich auseinanderzubrechen drohte.
 

Takaya musterte Naoe aufmerksam, der sich unterdessen die zweite Zigarette anzündete. Sein Freund saß schweigsam in kurzer Distanz neben ihm auf der Wiese. Dieser hatte zwar lässig die Beine aufgestellt und die Arme über die Knie gelegt, aber von Entspanntheit war bei dem älteren Mann nichts zu erkennen. Im Gegenteil, Naoes Unruhe war förmlich greifbar.

Seit Naoes irritierenden Worten waren inzwischen Minuten vergangen, und weder dieser noch er hatten die noch immer anhaltende Stille mit ihren Stimmen durchbrochen. Takaya konnte nicht einschätzen, ob Naoe auf etwas Bestimmtes wartete, oder dieser einfach nicht weiter darüber sprechen wollte. Was auch immer Naoe beabsichtigte, Takaya konnte dieses Schweigen nicht länger ertragen und beschloss, dieser erdrückenden Situation zu entkommen.

„Ich weiß nicht, ob bei einer Vergewaltigung von „miteinander schlafen“ gesprochen werden sollte…“, erwiderte er leise, und wartete nervös auf eine Reaktion. Wenn Naoe von sich aus nichts erzählen mochte, so hoffte Takaya, würde dieser vielleicht dann auf seine Fragen anspringen.

Erneut trat Stille ein und Takaya überlegte, ob Naoe ihn vielleicht nicht gehört haben konnte, weil er zu leise gesprochen hatte. Aber dieser Gedanke war unbegründet, denn er sah, dass Naoe mit zitternder Hand die Zigarette ausdrückte, und einen Augenblick später zu reden begann.

„Ich spreche nicht von der Vergewaltigung, Takaya. Ich meine die unzähligen Male, die ich danach freiwillig mit Shishido geschlafen habe.“

Takaya blickte sprachlos zu Naoe rüber, der die Schulter und den Kopf hängen ließ, und wieder verstummt war. Er wollte nicht glauben, dass Naoe eben tatsächlich das Wort ‚freiwillig’ in den Satz eingebaut hatte. Das ergab keinen Sinn. Takaya spürte die eigene Befangenheit aufgrund des brisanten Themas anwachsen, aber er hatte Naoe angeboten, darüber zu reden. Er konnte sich einen Rückzieher nun also nicht mehr erlauben.

„Bei dieser Sache von Freiwilligkeit zu sprechen verdreht völlig die Tatsachen! Du warst in Gefangenschaft, Naoe. Selbst wenn du später mit Shishido geschlafen hast, ohne dass dieser körperliche Gewalt androhen musste, heißt das noch lange nicht, dass das alles aus freien Stücken passiert ist. Verstehst du? Du warst während der Gefangenschaft zu keiner Zeit frei in deinen Entscheidungen!“, rief Takaya bebend, der das Gefühl hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er konnte nicht glauben, dass Naoe tatsächlich alle Schuld auf sich nahm.

„Und was ist, wenn ich doch frei entscheiden konnte? Statt mit ihm zu schlafen, hätte ich mich auch weigern können. Das habe ich aber nicht.“, entgegnete Naoe ernst.

„Und warum? Was war der Grund für deine Zustimmung? Es gibt einen, oder? Egal was du mir sagst, es war nicht freiwillig, auf keinen Fall, nicht unter diesen Umständen.“ Takaya mahnte sich innerlich zur Ruhe. Denn wenn er nicht aufpasste, würde er Naoe womöglich Dinge an den Kopf werfen, die unfair und wenig einfühlsam waren. Er wollte bestimmt nicht erreichen, dass sich Naoe aufgrund seiner Äußerungen veranlasst fühlt, diese Unterhaltung vorzeitig zu beenden.

Er schloss für einen Moment die Augen und versuchte sich vorzustellen, warum Naoe so über Shishidos Tat und das anschließende eigene Verhalten dachte. Es war nahezu unbegreiflich. Der ältere Mann war intelligent, und müsste es daher eigentlich besser wissen. Aber aus irgendeinem Grund wollte Naoe die Wahrheit nicht sehen.

Takaya musste zugeben, dass er bis zum jetzigen Zeitpunkt nichts weiter über die Gefangenschaft erfahren hatte – bis auf Shishidos Videobotschaften natürlich, die sehr wahrscheinlich nur die Spitze des von Gewalt durchdrungenen Eisberges gewesen sein musste. Er fühlte sich aufgrund seiner Unwissenheit in dieser Unterhaltung unterlegen und spürte, dass er dadurch zu bewertend sprach, und den eigenen Gefühlen viel zu viel Raum gab. Naoe half dies bestimmt nicht, aber es war ihm unmöglich, bei all dem gelassen zu bleiben. Letztlich wollte Takaya einfach nicht glauben, dass der Mann, der ihn liebte, freiwillig mit einer anderen Person geschlafen hatte.

„Du warst der Grund.“

Fassungslos sah Takaya zu Naoe, der ihn entschuldigend anblickte. Er erwiderte den Blick und hielt für einen Moment den Atem an, bevor er sprach.

„Wie meinst du das?“

„Ich wollte nicht gehen und dich zurücklassen. Hätte ich mich geweigert, wäre ich jetzt nicht hier.“

„Ja, aber… Ich mein... Du kannst doch nicht einfach so etwas auf dich nehmen, nur um-“

„Nur um was? Glaubst du etwa, ich will nach all der Zeit, die ich gebraucht habe dich endlich zu finden, einfach so gehen? Glaubst du wirklich, dass ich darauf warten kann, wiedergeboren zu werden, um dann wieder ganz von vorn anzufangen? Ich liebe dich! Und ich hasse mich dafür! Ich verachte es, mit Shishido geschlafen zu haben! Aber gleichzeitig habe ich es genossen! Denn während all der Male habe ich mir vorgestellt, mit dir zu schlafen. Ich habe nicht Shishido in den Armen gehalten, sondern dich!“, rief Naoe aufgewühlt dazwischen. Dieser hatte sich während des Sprechens Takaya vollends zugewandt, und fixierte diesen nun mit einem leidenschaftlichen Blick.

Takaya schluckte nervös. Naoes Geständnis kam unerwartet und tat weh. Nach wie vor war er der Meinung, dass dieser nicht aus freien Stücken gehandelt haben konnte. Aber zu hören, dass Naoe an ihn gedacht hatte, während dieser mit Shishido geschlafen hatte, erfüllte ihn mit Abscheu und Eifersucht. Da half es ihm auch nicht zu wissen, dass für Naoe alles nur ein Ausdruck von Widerstand gewesen war – eine Form des Überlebens, einzig allein um ihn in diesem Leben wiederzusehen.

„Taka- ya?!“, wisperte Naoe flehentlich, der befürchtete, dass sich der jüngere Mann zurückziehen könnte.

„A- also… Ich sollte zurück auf mein Zimmer gehen. Vielleicht ist jetzt doch nicht der richtige Augenblick, um darüber zu reden.“ Takaya vermied es Naoe anzusehen.

„So?! Und was war mit dem Friedhofsbesuch?“, erwiderte Naoe eindringlich. „Das war für mich auch nicht der richtige Zeitpunkt, trotzdem habe ich mich mehr oder weniger darauf eingelassen – um unser beider Willen.“

„Aber das war doch etwas ganz anderes gewesen!“

„War es das wirklich? Denkst du, dass es mir nichts ausgemacht hat, am Grab der Frau zu stehen, die ich getötet habe? Die Frau, der du es erlaubt hast, dich in den Armen zu halten? Glaubst du allen Ernstes, dass das spurlos an mir vorbeigehen würde? Ich bin wütend. Ich bin aufgewühlt. Ich fühl mich hilflos. Ich…ich habe einfach Angst! Hörst du! Ich habe Angst dich zu verlieren, Kagetora! … Ich ertrage diesen Zustand nicht mehr.“

Naoe sprach zum Ende hin immer leiser, so dass Takaya Schwierigkeiten hatte, die letzten Worte zu verstehen. Er sah fragend zu dem Mann rüber, der ihn mit erwartungsvollen Augen anblickte.

„Naoe… Ich weiß nicht, was ich sagen kann, damit es dir besser geht. Mir ist bewusst, dass du eine Menge durchgemacht hast, ich dir zudem keinen Moment der Ruhe gönnen kann, aber…aber ich bin genauso hilflos wie du! Ich habe das Gefühl, dass ich innerlich zerreiße, obwohl es eigentlich ein Prozess des Zusammenwachsens sein sollte. Und dennoch, wir soll-“

„Küss mich…“

Überrascht riss Takaya die Augen auf, und wich unbewusst ein Stück zurück.

„Was hast du gesagt?!“

„Küss mich! Küss mich so, wie du es bei unserem Zusammentreffen in der Hütte getan hast!“, antwortete Naoe fordernd, der die Distanz zwischen ihnen weiter verringerte.

„Wie… Da- das geht nicht! Und überhaupt, was sollte dir das bringen?!? Die Erinnerungen werden dadurch bestimmt nicht ausgelöscht!“

„Aber ich kann sie durch neue ersetzen! Mit jedem weiteren Kuss verblasst die Erinnerung an Shishido und Minako… Sie werden so zu einem akzeptierten Teil meiner Vergangenheit, mit dem ich mich nicht mehr beschäftigen muss.“, versuchte Naoe zu erklären, der bei jedem weiteren Wort näher an Takaya ranrückte.

Takaya starrte Naoe forschend in das Gesicht, welches nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt war. Darin sah er nichts außer reinem Verlangen, das, wenn er ehrlich zu sich selbst war, in diesem Moment auch in ihm die Oberhand zu gewinnen begann.

Die Erwähnung des Kusses in der Hütte nahm seine Gedankenwelt inzwischen völlig ein, so dass es Takaya mit jeder Sekunde schwerer fiel, rational zu denken und zu handeln. Er wusste, wohin dies zwangsläufig führen würde, wenn er nicht sofort die Notleine warf, um sich damit aus Naoes Reichweite zu ziehen.

„Darf ich dich… küssen?“

„Hatte ich nicht gesagt, dass du während unserer Reise nach Wajima so etwas unterlassen sollst?“

Takaya klammerte sich hilflos an die eigenen Worte, die ihm völlig sinnlos vorkamen, denn eigentlich wollte er nichts anderes als Naoe. Aber er hatte nicht den Mut, den Mann vor ihm aus eigenen Stücken zu küssen, wie dieser es sich wünschte. Dafür hoffte er, dass Naoe nicht auf ihn warten würde, sondern selbst die Initiative ergriff.

„Ich küsse dich jetzt… Ja?“, flüsterte Naoe, der sich keine weitere Sekunde mehr beherrschen wollte.
 

Takaya hielt berauscht die Augen geschlossen, und umfasste Naoes Rücken fester. Es waren erst wenige Augenblicke seit dem ersten Aufeinandertreffen ihrer Lippen vergangen, aber Takaya hatte das Gefühl, er würde schon seit Stunden in Naoes Armen liegen. Seine Erregung wuchs mit jedem innigen Kuss weiter an, und musste inzwischen auch von Naoe bemerkt worden sein. Verlegen verdrängte er diesen Gedanken, und versuchte sich auf Naoes Zunge zu konzentrieren, die selbstbewusst jeden Millimeter seines Mundes erforschte, und ihm damit einen elektrisierenden Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte.

Naoes Körper auf seinem zu spüren war unbeschreiblich. Wo sie einander berührten, bildeten sich unzählige Ausgangspunkte feuriger Wellen der Lust, die sich gleichförmig in alle Richtungen fortbewegten, sich überlappten und abschwächten, nur um im nächsten Moment an anderer Stelle neu zu entstehen.

Jede Gewichtsverlagerung Naoes ging mit verstohlenen Berührungen einher, denen Takaya mit klopfendem Herzen entgegenfieberte. Dessen letzte ließ ihn fühlbar zusammenzucken, denn Naoe zwängte ihm das Knie zwischen die Beine und schob es sanft nach oben.

„Ngh… A- ah, warte, nicht dorthin…“

„Wieso nicht? Es fühlt sich doch gut an, oder?“, hauchte Naoe Takaya erregt in das Ohr. Er sah, dass ihn der junge Mann für einen Moment wütend anblickte, im nächsten aber schon wieder die Augen schloss, und die Lippen bebend aufeinander presste. Naoe lächelte, und übte mit seinem Knie sanften Druck aus, der Takaya ein leises Stöhnen entlockte.

„Erregen dich meine Berührungen etwa so sehr?“

„I- ich habe lediglich, also, … Würdest du bitte aufhören, mir irgendwelche Fragen zu stellen, Naoe?“, antwortete Takaya gequält, dem es lieber wäre, wenn sich ihre Lippen wieder vereinigen würden. Lange musste er darauf nicht warten.

„Entschuldige. Wo war ich stehen geblieben…“
 

Naoe suchte erneut die warme Öffnung, und ließ seine Zunge hineingleiten. Er spürte Takayas leidenschaftliches Erbeben und genoss die Reaktion. Takayas Zunge schlang sich gierig um seine, und beide wetteiferten um die Vormachtstellung in der jeweiligen Mundhöhle. Naoe konnte Takayas warme Hände an seinem Nacken spüren, die dort sanft entlang strichen und sich einen Augenblick später schmerzhaft in seinen Haaren festkrallten. Das Aufstöhnen unterdrückend, ließ er seine Zunge aus Takayas Mund wieder hinausgleiten und zog mit kreisenden Bewegungen dessen Lippen nach, ehe er sie anschließend Richtung Ohr wandern ließ, um dort an dem Ohrläppchen zu knabbern.

„Takaya… Ist es in Ordnung, wenn ich…“

„Wenn du waaaaaahhh…“ Takayas Stimme brach, denn Naoe öffnete dessen Hose, und schob seine Hand hinein.

„Na- oe!?! Warte, halt… Ngh…“

„Lass dich einfach fallen, hörst du?! Du musst nichts machen…“, entgegnete Naoe verzückt, der begonnen hatte, mit der Hand sanfte Auf- und Abwärtsbewegungen zu vollführen. Er konnte spüren, wie sich Takaya unter seinen Berührungen zunehmend wand und erhörte den Druck seiner Hand.

„Hah…“
 

Takaya konnte ihn zwar nicht sehen, da er noch immer die Augen fest geschlossen hielt, aber er spürte Naoes lüsternen Blick, wenn sich ihre Münder zum Luftholen kurz voneinander lösten. Mehr noch aber fühlte er dessen Hand in seiner Unterhose, was seine Ohren vor Verlegenheit zum Glühen brachte.

Er war nicht unerfahren in diesen Dingen, aber Naoes Berührungen unterschieden sich von allem, was er bisher erlebt hatte. Die Wärme der Hand brachte ihn gefährlich nah an den Rand seines Verstandes. Er wusste nicht, ob das gut oder schlecht war, aber es war unbeschreiblich schön.

„Takaya?“

Der Angesprochene zuckte beim Ton der tiefen Stimme Naoes zusammen, aus der das Verlangen des älteren Mannes herauszuhören war. Takaya öffnete wonnetrunken seine Augen und suchte Naoes Blick. Dieser hatte sich etwas aufgerichtet und war gerade dabei, sich die Hose zu öffnen.

„Ja?“, antwortete Takaya lauter als beabsichtigt, da der Anblick Naoes ihn nervös werden ließ.

„Keine Angst. Ich werde jetzt nicht mit dir schlafen, aber dafür werde ich etwas anderes machen… Ich hoffe, das ist okay für dich?“

„Was meinst du?“

„Wirst du gleich sehen, oder eher spüren…“

„Naoe?“

Takaya stöhnte einen Moment später vor Lust laut auf, und schlug sich beschämt die Hand vor den Mund. Er hatte zwar gebadet, aber das war schon Stunden her. Hätte er gewusst, dass er sich später in Naoes Mund wiederfinden würde, hätte er dem Waschen größere Aufmerksamkeit geschenkt.

„Naoe, warte… Nicht…“, wisperte Takaya, der die Berührung kaum aushalten konnte. Er musste sich in den Handrücken beißen, um seiner Stimme die Möglichkeit zu nehmen, sich unkontrolliert über der Wiese auszubreiten. Seine freie Hand krallte sich Halt suchend im Grass fest, den er dort aber nicht fand. Takaya tauchte immer tiefer in den See der Lust ein und war unfähig, zurück an die Oberfläche zu kehren.
 


 

Yuzuru zog leise die Zimmertür hinter sich ins Schloss, und lehnte sich aufgewühlt gegen sie. Er hatte sich vor weniger als einer halben Stunde auf die Suche nach Takaya gemacht, und diesen zu seiner anfänglichen Freude auch gefunden. Aber diese währte nicht lange, denn sein bester Freund war weder allein gewesen, noch hatte sich dieser in einer Situation befunden, in der dieser offen angesprochen werden konnte. Er wollte noch immer nicht glauben, was er gesehen und gehört hatte. Irritiert schüttelte Yuzuru den Kopf.

„Es ist ja nicht so, als ob ich nicht wüsste, wie die beiden zueinander stehen. Aber das kommt jetzt schon ein wenig plötzlich, vor allem, wenn ich dabei an den Vorfall auf dem Friedhof denke…“, sprach Yuzuru leise zu sich selbst, und fuhr im nächsten Moment zu Tode erschrocken zusammen, als eine Stimme gedämpft durch die Tür zu ihm durchdrang.

„Was war auf denn auf dem Friedhof?“

„Ko- Kousaka?!“

„Wer sonst, wenn die anderen beiden gerade entflammt auf der Wiese herumtollen?!“, entgegnete Kousaka geringschätzig.

„Wie…was meinst du?“, antwortete Yuzuru ausweichend, der definitiv keine Lust hatte, mit Kousaka über diese Angelegenheit zu sprechen.

„Nun tu nicht so. Ich habe dich UND natürlich auch Kagetora und Naoe gese- ach halt, ich sollte lieber GEHÖRT sagen. Also kein Grund, um peinlich berührt zu sein, und den Unwissenden zu spielen.“

Yuzuru konnte hören, wie sich Kousaka von außen an die Tür lehnte.

„Es scheint, als ob die Friedhofsangelegenheit viel interessanter gewesen sein musste, wenn du sie unter diesen Umständen im Kopf hast. Willst du mir nicht verraten, was war?“

„Auf dem Friedhof? Warum willst du das wissen? Wenn es dich so brennend interessiert, dann hättest du eben mitkommen sollen!“, entgegnete Yuzuru hitzig, der spürte, dass seine Gefühle aus dem Ruder zu laufen drohten. Er musste sich zusammenreißen, um Kousaka nicht grundlos anzufahren – so gern, wie er diesem Gefühl auch nachgegeben hätte, wie er zugeben musste.

„Da magst du recht haben, aber ich hatte einfach keine Lust auf die perverse Bergtour. Ich bin noch nicht mal halb so sadistisch veranlagt, wie dein bester Freund! Das solltest du inzwischen geme-“

„Sprich nicht so über Takaya, hörst du! Du weißt doch gar nichts über ihn.“, rief Yuzuru wütend dazwischen.

„Oh, da irrst du dich aber gewaltig! Ich weiß weit mehr über ihn, als du es jemals erfahren wirst. Takaya ist nur ein winziger Bruchteil von Kagetoras Persönlichkeit, verstehst du? Aber ich muss gestehen, dass mir dieser Teil weitaus lieber ist…“

Yuzuru presste betroffen die Lippen aufeinander und ballte für einen Moment die Hände zu Fäusten. Jedes einzelne Wort Kousakas hatte gesessen, und erstickte gnadenlos sein inneres Aufbegehren gegen diesen.

„Warum so schweigsam, Yuzuru? Es ist nicht so, als wäre das alles völlig neu für dich, oder? “

„Sie haben gestritten.“

„Was?“, entgegnete Kousaka erstaunt, der mit einer Antwort auf seine Frage nicht im Geringsten gerechnet hatte.

„Sie haben am Grab gestritten. Ich weiß nicht, worüber, da ich am Eingang der Anlage warten wollte, und sie daher nicht verstehen konnte. Dann hat Takaya die Kontrolle verloren, und Naoe angegriffen.“

Yuzuru ließ sich seufzend die Tür hinabgleiten, und blieb anschließend resigniert sitzen.

„So etwas hatte ich mir schon gedacht. Ich konnte Kagetoras Machtausbruch spüren. Aber um ehrlich zu sein, hatte ich erwartet, dass Kagetora mit dir allein zurückkommt. Jetzt weiß ich gar nicht, ob ich mich für Naoe freuen soll oder nicht. Na ja, zumindest ist er seinem großen Ziel ein ganzes Stück näher gekommen.“

„Inwiefern?“, fragte Yuzuru, der die Antwort eigentlich schon wusste.

„Was wohl?! Kagetora körperlich zu besitzen natürlich. Okay, ich weiß jetzt zwar nicht, wie weit er da auf der Wiese gehen wird, aber alles deutet darauf hin. Meinst du nicht auch?“

Yuzuru starrte müde zum Fenster, durch das ein wenig Sternenlicht fiel. Er konnte Kousaka vor der Tür leise lachen hören und wünschte sich, dieser würde endlich verschwinden. Sollte Takaya in den nächsten Stunden wieder hier im Zimmer auftauchen, hoffte er, dass er zu diesem Zeitpunkt schon fest schlief. Denn er könnte seinem besten Freund weder in die Augen sehen, noch ein unbeschwertes Gespräch führen – noch nicht.

„Yuzuru?“

„Ich werde mich jetzt hinlegen. Ich würde dich daher bitten, nicht weiter vor meiner Tür zu stehen und mir ein Gespräch aufzuzwingen.“

„Das ist aber nicht nett von dir. Da mache ich mir schon Sorgen, und du servierst mich so eiskalt ab. Na egal. Dann kann ich mir ja jetzt überlegen, ob noch einmal hoch zur Wiese gehe, und den beiden weiter zuschaue.“

„Wenn du das brauchst, dann tu dir keinen Zwang an. Ah, da fällt mir ein… Wenn du schon davon sprichst, dass sich mein bester Freund über alle Maßen sadistisch verhält, dann solltest du deinen Namen in diesem Zusammenhang ruhig auch nennen. Denn wenn mich nicht alles täuscht, würde ich sagen, dass du auf Takayas Platz eifersüchtig bist. Ich frage mich also, ob Naoe das auch weiß, oder etwas ahnt.“

Yuzuru hatte sich während des Sprechens wieder erhoben, und stand nun abwartend mit dem Gesicht zur Tür. Von Kousaka war nichts zu hören. Er überlegte, ob er vielleicht zuviel gesagt hatte und dieser daraufhin einfach wortlos gegangen war.

„Kousaka?“, fragte er leise, um sich so Gewissheit zu verschaffen.

„Manchmal wünsche ich mir, Naoe nie begegnet zu sein.“

„Alles in Ordnung?“

Kousakas Antwort, aber mehr noch dessen Stimme hatte Yuzuru überrascht aufhorchen lassen.

„Schlaf gut, Yuzuru!“

Yuzuru zögerte einen Moment, ehe er die Zimmertür öffnete, um neugierig nach dem jungen Mann zu sehen. Aber alles was er sah, war ein leerer Platz vor der Tür und von Kousaka weit und breit keine Spur.

„Dir auch eine gute Nacht…“, murmelte Yuzuru enttäuscht. Er schloss die Tür und wandte sich seinem Bett zu.
 


 

Naoe blickte untröstlich zum östlichen Horizont, der sich langsam erhellte und damit die Morgendämmerung ankündigte. Seine Hand lag sanft auf Takayas Kopf, der friedlich in seinem Schoß schlief. Wehmütig lächelnd sah er auf den jungen Mann hinab und fragte sich, ob die letzten Stunden nur ein Traum gewesen waren.

Sie hatten unzählige Küsse und Berührungen ausgetauscht, aber nicht miteinander geschlafen, was seine Freude über ihre innige Zweisamkeit nicht getrübt hatte. Dennoch, Naoe musste zugeben, dass es ihn eine Menge Beherrschung gekostet hatte, unter diesen Umständen nicht mit Takaya zu schlafen.

Es war das erste Mal, dass sie einander so nah gekommen waren, und es zudem von beiden Seiten gewollt war. Der Gedanke an die Berührungen ihrer Haut, das Verschmelzen ihrer Lippen sowie ihrer leidenschaftlichen Stimmen ließ ihn schwindeln. Naoe fühlte seine Lust neu erwachen, und mahnte sich daher innerlich zur Ruhe. Sie würden das Aufgesparte in einem privateren Rahmen nachholen, sobald es ihnen der Zeitpunkt erlaubte.

„Der passende Zeitpunkt…“, flüsterte Naoe unzufrieden. Er hatte keine Ahnung, wann das sein würde. Am liebsten hätte er sich Takaya geschnappt, ihn in ein Auto gesperrt und wäre irgendwohin gefahren, wo sie niemand finden würde. Die Zeit zu zweit allein würden sie dann nutzen, um endlich ungestört offen und ehrlich miteinander zu reden – und natürlich könnten sie dann ihrem Verlangen auf einer höheren Ebene Ausdruck verleihen.
 

Naoe seufzte leise und sah erneut in die Ferne. Ihm war bewusst, dass sie sich weit entfernt von solch einem friedlichen Zustand befanden. Denn, auch wenn sich Takaya der eigenen und seiner Begierde freiwillig hingegeben hatte, bedeutete das noch lange nicht, dass es ab nun anders zwischen ihnen werden würde. Im Gegenteil. Die Zurückhaltung seines Herrn und dessen kaum vorhandener Mut, sich den eigenen Gefühlen zu stellen, waren tief in dessen verletzter Seele verwurzelt und somit eine große Hürde.

Es tat weh, Takaya so zerrissen sehen zu müssen, aber es gab nichts, was Naoe dagegen tun konnte. Er musste warten und darauf vertrauen, dass der junge Mann in dieser Hinsicht seinen Weg von allein fand.

„Kagetora…“

Während Naoe leise den Namen rief, strich er behutsam die Haare aus der Stirn seines Herren, der unter seiner Berührung unverständlich zu murmeln begann.

„Kagetora…es wird Zeit. Wir sollten wenigstens die letzten zwei Stunden der Nacht in unseren Betten verbringen.“, sprach Naoe nun lauter. Er beugte sich vernarrt hinab, und küsste Takaya auf die Lippen. Dieser öffnete einen Moment später die Augen, und sah ihn unverständlich an. Überraschung breitete sich über dessen Gesicht aus, was mit einer dunkelroten Färbung der Haut einherging. Naoe lachte amüsiert.

„Naoe? … NAOE!?“, stieß Takaya entgeistert aus, der sich abrupt aufrichtete.
 

„Wie lange bist du schon wach? Und warum hast du mich nicht geweckt?“

Takaya starrte Naoe wütend an, der noch immer ein Lächeln auf den Lippen trug. Er konnte den Blick nicht von ihnen abwenden, und musste unweigerlich an dessen warme Berührung denken. Takaya überlegte, wie oft er sie wohl geküsst hatte, aber er konnte es nicht mehr sagen. Noch immer spürte er die innere Erregung, die nur darauf lauerte, erneut die Macht zu übernehmen, um ihm ein weiteres Mal den Verstand zu rauben.

„Noch nicht sehr lange, oder besser, ich habe nicht wirklich geschlafen. Und wecken konnte ich dich nicht, da mir dein schlafendes Gesicht viel zu sehr gefällt!“

„Na toll! Ich schlafe also seelenruhig, und muss mich dabei ungewollt beobachten lassen.“, entgegnete Takaya launisch.

„Das klingt fast so, als empfindest du das als weitaus schlimmer gegenüber den Dingen, die wir gemacht haben, bevor du eingeschlafen bist.“

„Da- das hat doch damit nichts zu tun! … Weder das eine, noch das andere empfinde ich als schlimm…“, flüsterte Takaya aufrichtig.

„So? Irgendwie verunsichert mich das jetzt… Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass du aufgebracht aufspringst, mir deine entzürnte Macht zeigst, anschließend zurück zum Zimmer rennst und vorerst kein überflüssiges Wort mehr mit mir wechselst.“, erwiderte Naoe lachend, der sich zu Takaya rüber lehnte. „Wenn das so ist, dann hast du bestimmt nicht dagegen einzuwenden, wenn-“

Naoe beendete den Satz mit einem innigen Kuss, der Takaya sprachlos machte. Er blickte in das Gesicht seines engsten Vertrauten, der die Augen bei ihrem Kuss geschlossen hielt, und fragte sich, seit wann er dessen Berührungen billigte.

Vielleicht war bei ihm unbewusst eine Veränderung eingetreten, als er Naoe nach Wochen der Sorge und dessen riskanter Flucht endlich gefunden hatte. Letztendlich konnte Takaya den Zeitpunkt nicht wirklich bestimmen, was im Grunde auch keine Rolle mehr spielte. Naoe und er waren sich ein gutes Stück nähergekommen, und das fühlte sich unbeschreiblich an.

Mit der eigenen noch immer vorhandenen Befangenheit bezüglich seiner Gefühle für Naoe, so wie mit vielen anderen Dingen auch, würde er sich noch auseinandersetzen müssen. Das brauchte natürlich Zeit, die er momentan nicht hatte. Denn wenn sie das Hotel heute früh in Richtung Wajima verließen, würde sich nunmehr alles um Shishidos und dessen Vaters Pläne drehen, denen sie noch immer nicht auf die Spur gekommen waren.

Takaya schob all diese Gedanken beiseite und besann sich auf die überaus anregenden Empfindungen in seinem Mund, in dem Naoes Zunge mit seiner gerade fangen spielte. Er genoss diese schnellen Berührungen, und zog Naoe dabei fester in seine Arme. Als Reaktion darauf, wurde Naoes Umarmung ungestümer und nahm ihm den Atem.

„Na- … kei-ne Luft… Naoe…“

„Oh, tut mir leid…“, wisperte Naoe bebend in Takayas Ohr, der diesem damit ein leises Aufstöhnen entlockte.

„Kagetora-sama!?!“

„Wi- wir müssen zurück.“, zwang sich Takaya zu erwidern. Wehmütig entzog er sich Naoes Wärme und stand auf. Fragend sah er auf diesen hinab, der sich nicht vom Fleck bewegte.

„Willst du nicht zurück?“

„Ähm, jetzt aufzustehen, könnte etwas unangenehm werden.“

„Wieso? Bist du vom langen Sitzen eingerostet, oder wa-“, witzelte Takaya, der beiläufig einen Blick auf Naoes Schritt warf und augenblicklich verstummte. Röte schoss ihm unkontrolliert in das Gesicht und er wandte sich ab.

„Da- dann geh ich eben schon mal vor. Wir sehen uns später zum Frühstück.“

„Kage-…“, setzte Naoe an, der dem jungen Mann enttäuscht hinterhersah.

„Wie Ihr wünscht…“
 


 

Erdrückendes Schweigen lag wie ein ausgebreiteter Teppich über den vier Personen, die sich um den kleinen Tisch in der Mitte des Raumes zum Essen versammelt hatten. Naoe starrte über den Rand seiner Kaffeetasse zu Takaya rüber. Dieser saß mit gesengtem Blick vor seiner Müslischale Yuzuru gegenüber, der wiederum verstohlen zwischen den beiden hin- und hersah. Lediglich Kousaka schien für die Anwesenden uninteressant zu sein, so dass dieser nach Lust und Laune jeden einzelnen beobachten konnte, und sich dabei prächtig amüsierte.
 

Kousaka schenkte sich eine weitere Tasse Tee ein und überlegte frech, ob er das lästige Schweigen in ein peinlich berührtes Schweigen verwandeln sollte, indem er gezielt die nächtlichen Aktivitäten zweier Personen hier am Tisch ansprach. Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht, während er ansetzte, die Stille zu durchbrechen.

„Habt ihr genauso gut geschlafen wie ich?“, fragte er gut gelaunt in die Runde. „Natürlich habe ich mir nachts noch ein wenig die Füße vertreten, schließlich müssen wir ja auf der Hut sein.“

Kousaka sah, dass Takaya mit dem Löffel auf dem Weg zum Mund kurz innehielt und feuerrote Ohren bekam. Naoe hingegen schoss einen vielsagenden Blick in seine Richtung, welchen er mit einem breiten Lächeln quittierte, das bei dem älteren Mann auf noch weniger Zustimmung traf.

„Ich habe trotz der Umstände sehr gut geschlafen… Ähm, also, damit meine ich, dass wir uns ja in einer Pension befinden, deren Betten nicht immer so prickelnd sind… Ah-“

Yuzuru verstummte. Er kam sich töricht vor, auf Kousakas doppeldeutige Aussage anzuspringen, und selbst dabei ins Fettnäpfchen zu treten. Natürlich hatte er keine Ahnung, ob Takaya und Naoe ahnten, dass sie von ihm und Kousaka gesehen worden waren. Der Anblick Takayas genügte, darin durchaus eine Bestätigung seiner Vermutung zu sehen, denn dieser war noch immer über das ganze Gesicht errötet.

„Dann nehme ich mal an, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gab? Sonst hättest du es uns doch bestimmt sofort wissen lassen, oder?“, wollte Naoe wissen, der Kousaka noch immer spannungsgeladen anblickte.

„Hm, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht, denn ich hätte es wohl kaum übers Herz bringen können, euren Bei- äh, Schlaf zu-“

Takayas plötzliches Aufspringen unterbrach Kousaka, der überrascht zu dem jungen Mann hochsah. Dieser vermied jeglichen Augenkontakt.

„Ich bin fertig mit dem Essen, und werde mich draußen mit Chiaki in Verbindung setzen. Sobald ihr bereit seid, können wir weiterfahren.“ Mit diesen Worten verließ Takaya den Raum, dem die drei Zurückgebliebenen mit unterschiedlichsten Gefühlen hinterher blickten.

„Aber seine Schüssel ist doch noch voll! Nicht, dass wir später wegen ihm an-“

„Ich denke, das reicht, Kousaka.“ Naoes Stimme bebte vor Zorn, und ließ Kousaka für einen Moment verstummen.

„Schon gut, schon gut! Kein Grund, gleich so furchteinflößend zu werden. Dann beende ich eben auch mein Frühstück, und werde einen kleinen Spaziergang an der frischen Luft machen.“, meinte Kousaka kleinlaut, der ebenfalls aufstand.

„Du brauchst keine Angst haben! Ich werde Takaya in Ruhe lassen.“
 

Yuzuru sah ein weiteres Mal innerhalb weniger Sekunden zur Tür des Raumes und fragte sich ernsthaft, wie wohl später die Fahrt im noch engeren Auto vonstatten gehen sollte, wo niemand einfach so zur Tür hinausspazieren konnte. Seufzend wandte er sich wieder seiner Brötchenhälfte zu und zuckte zusammen, als Naoe das Wort an ihn richtete.

„Alles in Ordnung?“

„Ja. Na ja, also, hm… Eigentlich schon.“, antwortete Yuzuru verlegen, dem plötzlich klar wurde, dass er nun mit Naoe allein war.

„Dann ist ja gut.“

Yuzuru biss langsam in das Brötchen und überlegte angestrengt, was er sagen könnte, damit nicht erneut eine unangenehme Stille aufkam. Ihm kam die geisterhafte Erscheinung in den Sinn, die er das letzte Mal bei ihrem gestrigen Besuch bei Takahashi gesehen hatte.

Wie auch die Male zuvor, hatte sich diese nach kurzer Zeit wieder in Luft aufgelöst. Aber irgendwie hatte Yuzuru das Gefühl gehabt, dass es diesmal anders als sonst gewesen war. Denn zu seiner Verwunderung hatte ihn die Frau für einen Moment direkt angesehen und Worte gesprochen, die anscheinend nur von ihm gehört werden konnten.

„Ich danke dir… Habe ein Auge auf die beiden…“, murmelte Yuzuru gedankenverloren, der nicht bemerkte, dass er laut sprach.

„Was meinst du damit?“

„Was?“

„Habe ein Auge auf die beiden… Ich danke dir… Was meinst du damit?“, fragte Naoe neugierig.

„Oh?! Habe ich etwa laut gesprochen?“

„Würde ich jetzt durchaus behaupten…“, entgegnete Naoe lachend.

Yuzuru blickte überrascht zu dem älteren Mann rüber, der wieder ersichtlich entspannter auf dem Sitzkissen saß, und ihn fragend ansah. Er musste zugeben, dass Naoe ein äußerst attraktiver Mann war, dessen Charme er durchaus auch erliegen könnte.

Während Yuzuru diesen unpassenden Gedanken kopfschüttelnd zur Seite schob, entschied er, Naoe von der Erscheinung zu erzählen.

„Diese Worte hat mir ein weiblicher Geist gesagt, den anscheinend nur ich sehen konnte.“, offenbarte Yuzuru, und musste beinah über die eigenen Worte lachen.

Jede normale Person hätte ihn jetzt wohl hochgenommen, aber er wusste, dass es bei Naoe nicht so sein würde. Es gehörte schließlich zu Naoes Aufgaben, sich mit überirdischen Dingen zu beschäftigen – ganz zu schweigen von dessen eigener Existenz, die nun schon seit über 400 Jahren hier auf Erden verweilte.

„Ein Geist sagst du? Inwiefern?“

„Ich habe bisher mit niemandem darüber geredet, auch nicht mit Takaya, den es eigentlich betrifft.“

„Jetzt machst du mich aber wirklich neugierig, Yuzuru. Erzähl genau, was vorgefallen ist.“, drängte Naoe.

„Im Grunde nicht viel, oder eher, nichts Schlimmes, was mir zumindest mein Gefühl gesagt hat, denn sonst hätte ich bestimmt schon viel früher darüber geredet. Also, es war kurz nachdem du wieder aufgetaucht bist, und Takaya abends bei mir zu Besuch war. Er hatte sich gerade verabschiedet, als ich hinter ihm eine Erscheinung wahrnahm, die er aber nicht bemerkte. Ich dachte daher, dass ich mir das nur eingebildet hatte. Aber danach ist die Erscheinung immer wieder aufgetaucht, ohne von irgendjemandem gesehen zu werden und ohne böse Absichten – natürlich bezogen auf Takaya, denn sie tauchte nur bei ihm auf. Dieser Geist war einfach nur da, und beobachtete Takaya mit einem sanften Lächeln im Gesicht. Das einzig verstörende an ihr waren die traurigen Augen, die ihren Blick nie von Takaya nahmen, bis gestern zumindest. Da hat sie nämlich plötzlich mich angesehen, und diese Worte gesagt. Daraufhin warf sie noch einmal einen Blick auf Takahashi und Takaya, bevor sie verschwand.“

Yuzuru verstummte und blickte zu Naoe, der ihn mit nachdenklichen Augen ansah.

„Kannst du die Erscheinung beschreiben?“, bat Naoe leise.

„Hm, es war eine schlanke Frau mit langen Haaren. Ich kann nicht sagen, welche Farbe ihre Haare hatten, da sie farblos und durchscheinend waren, wie eigentlich alles an der Erscheinung.“

„Was hattest du für einen Eindruck von ihr? Mal abgesehen davon, dass dem Anschein nach keine Gefahr von ihr ausging.“

„Ich glaube, sie kannte Takaya. Und ich behaupte, sie wusste auch, wer Takahashi war.“

„Wieso?“

Naoe sah ihm mit einem schmerzlichen Ausdruck im Gesicht entgegen, der ihn betroffen schlucken ließ. Er wusste auf einmal, wer diese Frau war. Geahnt hatte er es irgendwie schon die ganze Zeit, aber wollte nicht so recht daran glauben.

„Weil sie Takahashis Schwester war.“
 

Naoe betrachtete den jungen Mann, der ihn mit ernsten Augen ansah. Er hatte die Erscheinung zwar nie gesehen, aber es stand außer Frage, dass es jemand anderes als Minako gewesen sein konnte. Yuzuru besaß ein unglaubliches Einfühlungsvermögen, und war zudem im Besitz einer Macht, die ihnen noch immer Kopfzerbrechen bereitete. Wenn Yuzuru also das Gefühl hatte, in der Erscheinung Minako gesehen zu haben, obwohl dieser ihr nie begegnen konnte, hatte Naoe nichts mehr hinzuzufügen. Lediglich erstaunte ihn die Tatsache, dass Yuzuru die einzige Person gewesen war, die die Erscheinung hatte sehen können. Dafür fiel ihm keine Erklärung ein, zumindest nicht so schnell.

„Ich denke auch, dass es Minakos Geist, oder so etwas Ähnliches, gewesen ist. Dennoch verwundert es mich etwas. Denn wenn wir einen neuen Körper besetzen, sei es aus eigener Kraft, oder mit Hilfe einer anderen Person, so wie ich es damals mit Kagetoras Seele gemacht habe, verlässt die ausgetriebene Seele unverzüglich die irdischen Gefilde. Sie wandert dann an einem bestimmten Ort, um dort ohne Erinnerung auf einen neuen Körper zu warten, um es mal so vereinfacht auszudrücken. Vielleicht war das, was du gesehen hast, ja eine unbewusste sichtbare Widerspiegelung von Kagetoras Gedanken und Gefühlen. Hm…aber warum sollte sie einzig und allein auf dich wirken und reagieren? Ich glaube, hier bin selbst ich überfragt.“, gab Naoe zu, der nachdenklich seine Kaffeetasse austrank.

„Soll ich Takaya davon erzählen?“

Naoe starrte Yuzuru für einen Moment unschlüssig an, ehe er antwortete.

„Das kannst du selbst entscheiden.“

„Ja schon, aber ich bin mir so unsicher. Auf der einen Seite habe ich das Gefühl, er sollte es erfahren, aber auf der anderen möchte ich ihn nicht weiter mit dieser Sache quälen.“, entgegnete Yuzuru hilflos.

„Warum handhabst du es nicht wie bisher? Oder macht es jetzt einen Unterschied zu wissen, dass die Erscheinung einen Namen besitzt?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht werde ich einfach noch ein wenig darüber nachdenken. Außerdem glaube ich, dass sie nicht mehr auftauchen wird.“, vermutete Yuzuru.

„Wie kommst du darauf?“ Naoe blickte fragend zu Yuzuru, der sich mit einer Hand verlegen durch die hellen Haare fuhr.

„Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll… Hm... Also, in dem Moment, als Takaya das Schmuckstück in deinem Namen zurückgeben wollte, sah es so aus, als würde sich ein Kreis schließen. Nun, so würde ich das jetzt beschreiben, nachdem ich erfahren habe, dass die Erscheinung Minako war. Sie hatte in jenem Moment besonders glücklich ausgesehen, stärker als sonst…dann kamen, wie schon erwähnt, ihre Worte und weg war sie.“

„Verstehe.“

„Aber ich frage mich, was sie mit ihren Worten gemeint hat. Es gibt nichts, weswegen sie sich bedanken müsste, schließlich bin ich ihr nie begegnet.“, murmelte Yuzuru. „Und auf wen soll ich ein Auge haben? Takaya ist mir klar, aber wen meint sie noch? Takahashi? Dich? Wenn du gemeint wärst, dann würde ich meinen, dass sie trotz der grausamen Erfahrung keinen Groll heg-“ Yuzuru verstummte für einen Moment, als ihm bewusst wurde, was er da laut sagte. „Es tut mir leid, Naoe, ich wo-“

„Schon gut. Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst. Es sähe Minako ähnlich, wenn sie trotz allem ihr gutes Wesen nicht verloren hat. Sie war ein wunderbarer Mensch gewesen.“, antwortete Naoe leise, dessen Blick in der Ferne ruhte. „Auch wenn es abartig klingt, wenn das der Mann sagt, der sie letztlich um ihr Leben mit Kagetora betrogen hat.“, fügte er ernst hinzu und sah, dass Yuzuru wortlos den Kopf senkte.
 

Naoe begrüßte dankbar die einkehrende Stille, und lenkte seine Gedanken fort von Minako und Yuzuru hin zu dem Mann, der die erstaunliche Fähigkeit besaß, fortwährend wundervolle Menschen um sich zu scharen.

Was den Aspekt der Loyalität gegenüber Kagetora betraf, so konnte Naoe von sich behaupten, diesem bedeutungsvollen Fundament ihrer Beziehung niemals auch nur die kleinste Erschütterung zugefügt zu haben. Aber er wollte sich hinsichtlich des gegenseitigen Vertrauens nicht auf eine Stufe mit Minako oder Yuzuru stellen. Dafür hatte er Kagetoras Toleranzgrenze auf erbarmungslose Weise einmal zu viel überschritten – auch wenn er damals nicht die Absicht gehabt hatte, seinen Herrn zu verraten. Im Gegenteil. Er hatte damals aus absoluter Loyalität heraus gehandelt, und daher sein Verhalten zu Beginn auch vor sich selbst und seinem Herrn vehement gerechtfertigt. Später aber musste er sich eingestehen, dass seine Treue durchwoben war von Gefühlen der Eifersucht und Besitzgier, die ihn blind werden ließen, und sein rücksichtsloses Verhalten bis zum Äußersten getrieben hatte – welches dann den Höhepunkt im Tod von Minako fand.

Bis heute kämpfte er mit den widersprüchlichen Gefühlen, die seine Tat ausgelöst hatte. Und Yuzurus Erzählung zu lauschen, wie auch Takahashi begegnet zu sein, gaben diesen Gefühlen einen neuen Nährboden. Naoe hatte nun also alle Hände voll zu tun, sein inneres Gefühlschaos zu zähmen. Aber gleichzeitig wollte er seinen Gefühlen freien Lauf lassen, vor allem in Hinblick auf die erstaunliche Entwicklung zwischen ihm und Takaya.
 

Naoe seufzte leise und sah zu Yuzuru, der ihn inzwischen wieder anblickte.

„Du machst deine Sache gut, Yuzuru! Weitaus besser als ich, wenn es um Takayas Unterstützung geht. Ich kann noch nicht einmal sagen, ob ich inzwischen aus meinen Fehlern gelernt habe. Damit will ich sagen, dass ich selbst jetzt noch mit abscheulichen Gefühlen hadere.“, gab Naoe zu. „ Ich bin ziemlich besitzergreifend, wenn es um Takaya geht. Und tue alles, um ihn nicht erneut zu verlieren. Natürlich muss ich nicht erwähnen, dass solch ein Verhalten absolut hinderlich ist für einen ehrlichen und vertrauensvollen Umgang miteinander. Aber ich arbeite daran, und ich glaube, ich bin auf dem richtigen Weg...“

Naoe verstummte und schenkte Yuzuru ein schiefes Lächeln, der dieses offen erwiderte.

„Entschuldigung. Ich rede hier von Dingen, die du vielleicht überhaupt nicht hör-“

„Nein! Ich muss mich entschuldigen, Naoe. Für mein Gefühl und meine Gedanken dir gegenüber, die nicht immer fair waren. Also, ich meine…ich habe nie wirklich schlecht von dir gedacht. Immerhin kenne ich dich inzwischen schon eine Weile, und habe einen Naoe erlebt, dem ich mein Leben völlig anvertrauen würde – es ja in diesem Moment auch schon längst tue. Deine Worte sind eigentlich nichts anderes als eine große Chance, dich und vor allem mich selbst besser kennenzulernen.“, rief Yuzuru ermutigt mit roten Wangen dazwischen.

„Ich danke dir.“

„K- keine Ursache!“, murmelte Yuzuru verlegen.

„Wollen wir uns ebenfalls auf den Weg machen? Takaya wartet bestimmt schon ungeduldig am Auto.“, erwiderte Naoe fragend, der sich erhob und suchend nach seiner Zigarettenschachtel tastete.

„Ja, sollten wir. Aber darf ich dir noch etwas sagen?“

„Nur zu.“

„Du rauchst eindeutig zuviel…“, meinte Yuzuru grinsend, der hoffte, Naoes Abtasten richtig eingeordnet zu haben.

„Du bist noch immer der jüngere von uns beiden, daher wäre ruhig ein wenig Respekt angebracht…“, erklärte Naoe lachend und schritt zur Tür, um dort auf Yuzuru zu warten.
 


 

Sasuke klopfte nervös mit den Fingern auf das Lenkrad, und sah immer wieder aus der Windschutzscheibe seines Autos zum Eingang des Hauptsitzes rüber.

Er wusste, dass seine Zeit hier unwiderruflich vorbei war, denn er hatte nicht lange gebraucht, um herauszubekommen, dass sein neuer Auftrag nur dazu diente, ihn als Spion zu entlarven und somit als Druckmittel gegen seinen neuen Herrn und dessen engsten Vertrauten einzusetzen.

Sasuke konnte zwar nicht von sich behaupten, dass er diesem ohnehin irgendwann fälligen Ende wehmütig gegenüber stand. Und dennoch, er würde lügen, wenn er sagte, dass ihn diese Situation völlig kalt ließe. Schließlich verdankte er, wie auch sein Bruder, der Familie Sakamoto eine Menge – wenn nicht sogar ihr Leben. In letzter Zeit hatte er sich sogar häufiger gefragt, was aus ihnen wohl noch hätte werden können, wenn sein Bruder damals nicht einfach fortgegangen wäre, um unerwartet für den Sohn ihres alten Herrn zu arbeiten.

Sasuke seufzte leise und verdrängte diese Gedanken. Er richtete sie stattdessen auf das Clanoberhaupt.

Aus dem Verhalten seines einstigen Herrn wurde er nicht schlau. Dieser müsste eigentlich wissen, dass sich Shishido niemals wegen eines entbehrlichen Spions unter Druck setzen lassen würde. Selbst Kaito würde sich davon nicht beeindrucken lassen. Nicht, solange dieser Shishidos Seite flankierte. Oder erhoffte sich der mächtige Vater seines neuen Herrn tatsächlich einen unerwarteten und emotionsgetriebenen Schritt Kaitos, der Shishido aus der Reserve locken sollte? Spekulierte Kyosuke auf die einflussreiche, aber unberechenbare Macht der Blutsverwandtschaft?

Seiner Meinung nach wäre das außerordentlich dumm, denn es würde nicht funktionieren. Sein Bruder würde niemals zu seiner Rettung eilen und wenn doch, dann würde Shishido definitiv nicht noch dümmer sein als sie alle, und ihm folgen. Was auch immer sich sein alter Herr dabei gedacht hatte, Sasuke würde es wohl jetzt nicht mehr erfahren. Aber das störte ihn recht wenig. Er musste sich nun lediglich überlegen, was er mit seiner verbleibenden Zeit hier vor Ort anstellen sollte.

Shishido hatte ihm durch Kaito ausrichten lassen, dass er selbst entscheiden konnte, wann er zu fliehen hatte, um sich in Sicherheit zu bringen. Das vereinfachte seine Arbeit ungemein, aber Sasuke wollte vorher noch ein paar nützliche Informationen sammeln.

Ihm war natürlich bewusst, dass diese unter den gegebenen Umständen sehr wahrscheinlich manipuliert waren, und der Aufenthalt hier daher lediglich das Gefahrenpotential seiner Situation drastisch in die Höhe schrauben würde, aber das nahm er alles in Kauf. Er hatte beschlossen, sich ein letztes Mal mit der ihm für den Auftrag zugeteilten Person zu treffen, um eine höchst interessante Unterredung zu führen. Der Ausgang dieses Treffen war noch offen, aber voraussichtlich würde es für die andere Person nicht gut enden.
 

„Wo bleibt dieser Kerl…“, murmelte Sasuke ungeduldig. „10 Uhr war abgemacht, und nun ist es schon halb elf. Passt ja perfekt mit seiner arroganten Art zusammen… Wie schaffen es diese Leute bloß immer wieder, so weit nach oben zu kommen?!“

Verächtlich schnaubend kramte er nach seinem Handy, und suchte die Nummer seines Bruders heraus. Sasuke wollte Kaito wissen lassen, dass er plante, später unterzutauchen. Er würde sich dann zu gegebener Zeit wieder melden, um endlich den Ort seines neuen Zuhauses erfahren zu können.

Sasuke hatte keine Ahnung, wie lange er abtauchen musste. Aber diese Ungewissheit machte ihm nichts weiter aus, denn als Belohnung wartete die längst überfällige Vereinigung mit seinem Bruder. Er konnte es kaum noch erwarten, wieder Seite an Seite mit Kaito zu arbeiten. Aber er wusste auch, dass es nicht mehr so sein würde wie früher. Sein Bruder war nun die rechte Hand seines neuen Herrn. Statt selbst Aufträgen oder Informationen nachzugehen, delegierte Kaito diese Arbeiten nun meist nach unten, begutachtete die Ergebnisse und setzte zu guter Letzt Shishido darüber in Kenntnis.

Bevor Sasuke Kaitos Nummer wählte, sah er sich überprüfend in alle Richtungen um. In der Nähe des Haupteingangs standen zwei Männer wache, die sich angeregt unterhielten und ihn dabei dem Anschein nach völlig ignorierten. Kobayashi, der Mann auf den er wartete, war noch immer nirgends zu sehen. Sasuke begann zu wählen.

„Kaito? ... Hm, soweit schon, aber es wird langsam brenzlig. ... Ja. Das denke ich auch. ... Und bei euch? ... Ihr seid also ohne Schwierigkeiten angekommen. ... Alles andere hätte mich auch gewundert. ... Verstehe. Dann mel-“

Sasuke verstummte und blickte erschrocken zum Fenster der Fahrertür hinaus, wo wie aus dem Nichts ein Schatten aufgetaucht war. Ehe er reagieren konnte, wurde die Tür aufgerissen, er hörte einen Schuss und im nächsten Moment spürte er einen stechenden Schmerz an der Schläfe, bevor er das Bewusstsein verlor.
 

Kobayashi griff nach dem Handy, das aus Sasukes Hand in den Fußraum gefallen war und aus dem ein besorgtes Rufen drang. Er lächelte zufrieden.

„Lange nichts voneinander gehört, Kaito!“

„…“

„Warum so schweigsam? Ach so, du fragst dich wahrscheinlich, was mit deinem kleinen Bruder ist. Nun, das kann ich dir gern sagen. Der sitzt hier zusammengesunken in seinem Auto und ist leider nicht mehr in der Lage, das Gespräch mit dir zu Ende zu führen. Ich hoffe, mein spontanes Einspringen stört dich nicht?“ Kobayashi drückte mit dem Lauf seiner Pistole Sasukes Kopf zur Seite und erfreute sich an dessen hilflosem Anblick. „Er ist selbst in diesem Zustand ein echter Hingucker, wobei ich ja mehr auf dich stand.“

„Es erstaunt mich, dass du noch immer für den Clan arbeitest. Irgendwie dachte ich, dich müsste schon längst das Zeitliche gesegnet haben – sei es nun aus eigenem Unvermögen oder auf dem Befehl des Alten hin. Aber vielleicht spricht das ja auch nur für die größer werdende Schwäche des Cla-“

„An deiner Stelle würde ich den verräterischen Mund nicht so weit aufreißen! Sakamoto-sama hatte von Anfang an ein Auge auf deinen missratenen Bruder gehabt. Da konnte dieser sich noch so gut verstellen wie er wollte.“

„Und du?“

„Was und ich?“

„Hast DU bemerkt, dass Sasuke euch für seinen neuen Herrn ausspioniert hat?“

„Na- natürlich! Was denn sonst!“, rief Kobayashi kleinlaut, der tatsächlich erst von seinem Herrn etwas über Sasukes abtrünnige Funktion erfahren hatte.

„Klingt aber nicht sehr überzeugend.“

„Spielt alles keine Rolle mehr, denn mit Sasuke ist es eh vorbei – oder fast. Bestell deinem Herrn familiäre Grüße von dessen Vater, der sich auf ein Treffen freut. Er würde ihm nämlich gern persönlich seinen Spion zurückgeben – noch lebend, wohlgemerkt. Je länger er aber auf sich warten lässt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er einen leblosen Gegenstand entgegennehmen muss. Wäre irgendwie echt schade drum.“

„Richte deinem Herrn aus, dass er in der Wahl seiner Vertrauenspersonen schwer nachgelassen hat.“

„Bastard, was fäll-“ Kobayashi riss überrascht die Augen auf und starrte verärgert auf das Handy in seiner Hand. Kaito hatte einfach aufgelegt.

„Das wirst du noch bereuen! Wir werden ja sehen, wer hier am längeren Hebel sitzt.“ Während er das Telefon in die Hosentasche steckte, winkte er die zwei Männer vom Eingang zu sich.

„Schafft ihn zum vorgesehenen Platz und ruft den Arzt, damit dieser die Platzwunde versorgt.“, befahl er den beiden. „Ich werde später noch mal nach ihm sehen, wenn ich Sakamoto-sama über den Erfolg dieser Aktion in Kenntnis gesetzt habe.“

Kobayashi wandte sich ab und lief mit großen Schritten zum Eingang.
 


 

Arakawa schloss aufgewühlt die Augen und versuchte die verkrampfte Hand um sein Telefon zu lockern. Er war froh, dass er sich allein in seinem Zimmer in Wajima befand und in dieser Situation von niemandem gesehen werden konnte. Wütend stieß er den Atem aus und schleuderte das Handy auf sein Bett.

„Verdammt, verdammt, verdammt…“ Er trat zum Fenster und sah hilflos hinaus aufs Meer. „Sasuke…“

Arakawa wusste, dass er sich nicht von seinen Gefühlen leiten lassen durfte. Dennoch spürte er den natürlichen Drang, alles stehen und liegen zu lassen, um zu Sasuke zu eilen. Er hoffte inständig, dass Kobayashi mit seinen wagen Andeutungen nicht gelogen hatte, und sein Bruder in diesem Moment noch lebte, aber sicher sein konnte er sich nicht.

Kobayashi war schon damals unberechenbar und jähzornig gewesen, so dass Arakawa es immer vorgezogen hatte, nie zusammen mit ihm in einer Einheit zu arbeiten. Und war es dann doch zu einer unfreiwilligen Zusammenarbeit gekommen, gab es immer ermüdende Kämpfe um die Rangordnung innerhalb der Gruppe, obwohl diese von vornherein festgestanden hatte. Kobayashi hatte sich nie damit abfinden können, dass er unter ihm arbeiten musste – erschwert durch die Tatsache, dass dieser fünf Jahre älter war, und daher schon länger für den alten Herrn tätig gewesen war.

Es hatte Arakawa wirklich überrascht zu hören, dass Kobayashi noch immer für seinen ehemaligen Herrn arbeitete. Aber mehr noch verblüffte ihn die Tatsache, dass es diesem gelungen war, seinen Bruder zu erwischen.

Sasuke stand ihm mit seinen Fähigkeiten um nichts nach. Und Arakawa musste sogar zugeben, dass Sasuke ihn in bestimmten Punkten längst überholt hatte, was letztlich auf seine mangelnde Praxis zurückzuführen war. Während sein Bruder eine schwierige Mission nach der anderen ergriff, hatte er Shishidos Seite kaum verlassen. Natürlich war er auch hier gefordert, schließlich war er nicht nur dessen engster Berater, sondern gleichzeitig auch Leibwächter, aber es war nicht vergleichbar mit seinen früheren Aufgaben. Arakawa seufzte leise.

„Du warst unvorsichtig, Sasuke… Ich habe keine Ahnung, ob wir dich lebend zurückbekommen werden.“

Arakawa wandte sich vom Fenster ab und beschloss, Shishido sofort von der unglücklichen Entwicklung zu berichten. Dieser hatte zwar befohlen, nicht gestört zu werden, aber Arakawa hatte das Bedürfnis, seine innere Qual zu teilen. Ihm war bewusst, dass die Worte seines Herrn wenig ausrichten konnten, sie seinen Kummer sogar vergrößern könnten. Dennoch wollte er Shishido unbedingt sehen und mit ihm sprechen. Er zog das Jackett wieder an, das er während dem Telefonat mit Sasuke ausgezogen hatte. Er sparte sich die Krawatte und das Zuknöpfen der oberen Knöpfe seines weißen Hemdes und verließ eiligen Schrittes sein Zimmer.
 

Arakawa erreichte den modernen Anbau des alten Gebäudes auf dem weitläufigen Grundstück, das an einer Seite seine Begrenzung an den Klippen fand, die hoch über dem Meer lagen. An den übrigen Seiten war das Grundstück von dichtem Wald umgeben, der eine freie Sicht auf das Gelände nicht zuließ. Es führte zudem nur eine kleine Straße zu ihrem Sitz, die, wie auch viele weitere Plätze dieses Ortes, überwacht wurde. Niemand würde sich ungesehen nähern können. Und falls diese Vorsichtsmaßnahmen doch versagen sollten, dann hätten sie mit den Fähigkeiten ihres Herrn dennoch die Möglichkeit, die Eindringlinge aufzuspüren und unschädlich zu machen.

Als Arakawa zum ersten Mal hierher gekommen war, hatten ihn die Lage und der Blick auf das Meer tief beeindruckt, aber mehr noch war er von dem Besitzer dieses Stück Landes fasziniert gewesen. Denn den verstoßenen Sohn seines alten Herrn nach langer Suche endlich selbst zu Gesicht zu bekommen, hatte einen Traum in Erfüllung gehen lassen.

Bis heute konnte Arakawa sich nicht erklären, warum er damals so versessen auf Shishidos Lebensgeschichte gewesen war und das Bedürfnis entwickelte, diesen finden zu müssen. Vielleicht spielten die eigenen familiären Erfahrungen eine Rolle, wer konnte das schon sagen. In einem war sich Arakawa jedenfalls sicher, er würde seinen neuen Herrn niemals mehr für einen anderen verlassen. Eher würde er sterben.

Arakawa stieg die Treppe hoch in den ersten Stock, vorbei an dem Raum, der in diesem Gebäudeabschnitt sein eigener war, den er aber selten nutzte. Wenn er sich hier aufhielt, dann immer in Shishidos Gemächern. Zum Übernachten zog er sein Zimmer in dem separaten Gebäude vor, außer er durfte die Nacht in Shishidos Bett verbringen.

Er erreichte die Tür und rief nach seinem Herrn. „Shishido-sama, verzeiht die Störung, aber ich habe Neuigkeiten. Ich werde jetzt eintreten.“ Arakawa spürte seine Anspannung wachsen, wie es jedes Mal der Fall war, wenn er diesen Raum betrat. Hier war er Shishido zum ersten Mal gegenüber getreten. Hier hatte er ihn das erste Mal geküsst und geliebt. Auch wenn dieses Zimmer nicht seins war, so war es doch auch mit seinen Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen angefüllt.

„Shishido-sama?!“ Arakawa schloss die Tür hinter sich und sah sich um. Shishido war nicht zu sehen. Er ging zur Mitte des Raumes, um von dort durch die geöffnete Tür ins Bad zu blicken, aber auch hier war niemand. Das Zimmer wirkte, als wäre sein Herr überhaupt noch nicht hier gewesen, aber ein angenehmer und vertrauter Duft in der Luft verriet, dass Shishido erst vor kurzem geduscht haben musste. Arakawa beschloss, hier auf seinen Herrn zu warten und hoffte, dass dieser es ihm nicht übel nahm.

Lange musste er nicht warten, denn wenige Sekunden später ging die Tür auf und im Rahmen erschien Shishido, der in einem roten Bademantel gekleidet war und die noch feuchten Haare offen trug. Überrascht blieb dieser stehen.

„Hatte ich nicht gesagt, dass ich vor heute Abend nicht mehr gestört werden möchte?“

Arakawa senkte beschämt den Blick, und versuchte sich innerlich von Shishidos wunderschöner Erscheinung loszureißen.

„Es tut mir leid, Shishido-sama. Aber es gibt Neuigkeiten von Sasuke, oder eher über Sasuke.“

„So? Und die muss ich unbedingt jetzt erfahren?“, erwiderte Shishido mit Absicht finsterer als nötig, da es ihn ärgerte, Arakawa so besorgt um dessen eigenen Bruder sehen zu müssen. Er spürte Eifersucht in sich aufsteigen, die ihn noch mehr erzürnte. Die Tür hinter sich schließend richtete er erneut das Wort an Kaito.

„Dem Anschein nach kann es ja nichts Gutes sein, wenn ich mir dich so anschaue. Ist er tot?“ Shishido sah, wie alle Farbe aus dem Gesicht seines engsten Vertrauten wich und freute sich darüber. Natürlich hoffte er, dass es Sasuke gut ging und nicht nur, weil dieser ein überaus fähiger Gefolgsmann war. Auch für Arakawas emotionales Gleichgewicht war der kleine Bruder äußerst wichtig.

„Shishido-sama“!?!“

„Leg dich aufs Bett.“

„Was?“

„Ich habe gesagt, du sollst dich aufs Bett legen.“, wiederholte Shishido arrogant lächelnd. Er sah, dass sich Arakawa nicht von der Stelle rührte. Seufzend trat er auf diesen zu und stieß ihn sanft in Richtung Bett. „Leg dich einfach hin, Kaito.“, raunte er dabei. „Schließ die Augen, und sieh es als Belohnung für die letzten Wochen.“
 

„Ngh… ahh, wa- warte. D- das…tu, tu das nicht, Shishido-sama…“, wisperte Arakawa erregt, der Shishidos warme Zunge spürte, wie diese liebkosend seinen Schaft hoch und wieder runter fuhr. Er konnte oder wollte an nichts anderes mehr denken, als an den Menschen, dem sein Herz gehörte. Shishido besaß alle Macht über ihn, aber das störte ihn nicht weiter. Selbst wenn dieser ihn auf der Stelle töten würde, wäre er dennoch der glücklichste Mann auf Erden.

Es fiel ihm mit jeder Sekunde schwerer, sich zu beherrschen. Der Gedanke, endlich wieder in Shishido eindringen zu dürfen, war dabei, ihm den Verstand zu rauben. Dennoch war die süße Verlockung gepaart mit einem schlechten Gewissen. Er war hierher gekommen, um mit seinem Herrn über Sasukes missliche Lage zu sprechen, stattdessen saugte ihm Shishido mit dem Mund all seine Sorgen um seinen Bruder aus.

„Du sollst mich Kiyoshi im Bett nennen. Schon vergessen? Oder bist du nicht mehr in der Lage, klar zu denken?“, fragte Shishido ungezügelt. Arakawa stützte sich auf seine Unterarme, und sah mit glühenden Augen zu seinem Herrn. Dieser schien schon genauso erregt zu sein wie er selbst, wie unschwer zu erkennen war, denn dessen Bademantel hatte sich geöffnet und ließ tief blicken.

„Ki- Kiyoshi…“, rief Arakawa vollends entfesselt. Er sprang auf, langte nach Shishido und warf diesen neben sich aufs Bett. Während er sich unbeholfen seiner Hose entledigte, Shishidos Protest mit einem ungestümen Kuss verstummen ließ, spürte er, dass er jeden Moment kommen würde. Aber so wollte er nicht zum Höhepunkt kommen. Arakawa wollte seinen Herrn ausfüllen, er wollte ihn.

„Tut mir leid, aber ich kann nicht mehr…Kiyoshi…“

„Warte…“ Shishido griff nach Arakwas Hand und nahm dessen Zeige- und Mittelfinger in den Mund. Wenige Augenblicke später gab er diese wieder frei. Arakawa hielt für einen Moment überwältigt den Atem an und hätte am liebsten sofort zugestoßen. Aber das erlaubte er sich nicht, da er seinen Herrn nicht noch mehr unnötig verletzen wollte – seine Vorbereitung für das Eindringen würde aufgrund der Umstände eh schon kürzer ausfallen als sonst.

Ungeduldig fand seine Hand die Öffnung und begann geübt die zugedachte Aufgabe. Er konnte spüren, wie Shishido unter der Berührung erbebte und ermahnte sich noch etwas zur Geduld. Auch wenn ihm nicht mehr viel Zeit blieb.

„Hah… Kai- to...“, flüsterte Shishido leidenschaftlich, der begonnen hatte, seine Hüfte zu bewegen.

„Ich dringe jetzt in dich ein…hörst du!“, warnte Arakawa liebevoll, der die Finger durch seinen Schaft ersetzte und ohne langes Fackeln zustieß.

Jeder seiner Stöße ließ Shishido wild aufstöhnen und riss ihn mit. Er bedeckte dessen Gesicht mit heißen Küssen, genoss ihre ungestüme Umarmung und ließ sich unkontrolliert zum Gipfel ihrer Ekstase treiben.
 


 

Shishido rollte sich dösend auf die Seite und musterte den Mann neben sich. Arakawa schlief lautlos mit einem entspannten Ausdruck auf dem Gesicht. Shishido lächelte aufrichtig, was er nur tat, wenn er sich sicher sein konnte, dass Arakawa es nicht bemerkte. Er kuschelte sich enger an den warmen Körper heran und versuchte einen Plan zu entwerfen, wie er das Leben eines seiner besten Männer retten konnte.



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