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Zerspringende Ketten

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Aufbruch

Arakawa starrte angespannt auf die Uhr an seinem Handgelenk, als er durch die Gänge der Privatklinik schritt. Es war kurz nach 23 Uhr, und wie es die späte Uhrzeit vermuten ließ, war trügerische Ruhe in die Klinik eingekehrt – lediglich die vereinzelten Stimmen des Nachtpersonals waren zu hören, die gedämpft aus den Aufenthaltsräumen hervor drangen.

Er schloss gewissenhaft die Jacke seines Anzuges und richtete die Krawatte, um seinem Herrn eine späte, aber erwartete Aufwartung zu machen.
 

Inzwischen konnte er den Weg zum Zimmer seines Herren mit erleichterten Schritten zurücklegen, da ihm die Ärzte mehrfach versichert hatten, dass es Shishido den Umständen entsprechend gut ginge und daher kein Grund zur Sorge bestünde. Arakawa war ein Stein vom Herzen gefallen, als er diese Worte gehört hatte, und Shishido zudem wieder zu Bewusstsein gekommen war.

Arakawa konnte noch immer nicht fassen, dass sein Herr in einen ernsthaften Unfall verwickelt worden war und er, als sein engster Vertrauter, diesen nicht hatte vorhersehen können. Noch mehr irritierte es ihn, dass Shishido selbst nichts getan hatte, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Arakawa kannte Shishido gut genug, um zu wissen, dass es eine Leichtigkeit für seinen Herrn gewesen wäre, den Wagen zu stoppen und sich in Sicherheit zu bringen. Aber aus irgendeinem Grund hatte dieser das nicht getan, und genau dieser Punkt war es, der Arakawa Kopfzerbrechen bereitete.

Sein Herr war stark, und hatte zudem eine Vielzahl an loyalen Untergebenen in allen Teilen des Landes – ganz zu schweigen von der Unterwelt. Dennoch spürte Arakawa ab und an eine Leere in seinem Herrn, die er weder mit Worten fassen noch füllen konnte. Er glaubte zwar nicht, dass Shishido sein Leben leichtfertig auf Spiel setzen würde, aber er musste sich eingestehen, dass sich erneut in der hintersten Ecke seines Herzens Furcht ausgebreitet hatte, von der er glaubte, sie hätte sich längst aufgelöst.

Shishido musste sich bei dieser riskanten Aktion etwas gedacht haben, aber er war noch nicht bereit, ihn an seinen Gedanken teilhaben zu lassen.
 

„Nobutsuna...“, zischte Arakawa angewidert, der dessen arrogante Unterweisung am Telefon nicht vergessen konnte. Dieser Mann war ihm von Anfang an zuwider und er konnte, oder besser, wollte seinen Herren in dieser Sache nicht verstehen. Warum sich mit Naoe abgeben, wenn es einfachere Wege gäbe, Kagetora herauszufordern?!

Arakawa war sich bewusst, dass Eifersucht und Besitzdenken seine Gedanken und Gefühle bestimmten, aber er war auch nicht in der Lage, diese abzulegen. Dafür schaffte er es aber meisterhaft, alles hinter einer neutralen Maske zu verstecken, wenn er zum Beispiel nicht allein mit Shishido war. Niemand war daher bisher in der Lage gewesen, hinter seine Fassade zu blicken, um dadurch seine wahren Gefühle zu entdecken – nun, niemand bis auf sein Herr selbst. Dieser hatte ihn längst völlig durchschaut, und seinen Vorteil aus dieser Sache gezogen.

Arakawa war seinem Herrn absolut loyal ergeben und nahm jede noch so fiese Behandlung in Kauf, so lange er dabei die Möglichkeit besaß, Shishido damit näher zu kommen als andere. Wenn er sich in diesem Zusammenhang Naoe ins Gedächtnis rief, der nicht nur einmal mit seinem Herrn geschlafen hatte, auch wenn hierbei nicht von freiem Willen gesprochen werden konnte, so spürte er doch sofort den heißen Stachel seiner Eifersucht – Eifersucht und Mordgelüste. Diese zwei sich gefährlich ineinander schlingenden Gefühle, brodelten zurzeit besonders unnachgiebig in ihm, so dass er die Befürchtung hatte, sich bald nicht mehr unter Kontrolle zu haben.
 

Arakawa seufzte kraftlos, während er in den nächsten Gang einbog, auf dem das Zimmer seines Herrn lag. Die Vorfreude, Shishido ein weiteres Mal an diesem Tag sehen zu können, veranlasste ihn dazu, die finsteren Gedanken zu verdrängen und seinen Schritt zu beschleunigen. Während er sich mit zunehmender Selbstsicherheit Shishidos Zimmer nährte, stahl sich unbewusst ein attraktives Lächeln auf sein Gesicht.
 

Shishido stand mit neu gewonnener Kraft am Fenster seines schwach beleuchteten Zimmers, und starrte gedankenverloren hinaus in die Nacht. Er kippte das Fenster, und lehnte sich seitlich davon an die Wand, um die kühle Nachtluft einatmen zu können.

Erleichtert schloss er seine Augen und dachte an morgen. Da würde er endlich die Klinik verlassen können, und anschließend sein Anwesen aufzusuchen. Dort hatte er genug Zeit, und vor allem Ruhe, um über die weiteren erforderlichen Schritte nachdenken zu können.

„Naoe...“, flüsterte er wehmütig, als ihm die letzten Minuten vor dem Unfall wiederholt in den Sinn kamen.
 

Shishido hatte eigentlich viel früher mit dem Aufbegehren Naoes gerechnet und war umso überraschter, dass dieser sich so lange Zeit gelassen, und dann einen äußerst riskanten Weg der Flucht gewählt hatte. Aber andererseits erwartete er nichts anderes von einem Mann, der seit mehr als 400 Jahren einer einzigen Person bedingungslos ergeben war - gut, vielleicht nicht bedingungslos, denn diese erhoffte sich von Kagetora nichts anderes als die Erwiderung der eigenen Gefühle.

Damit hatte Naoe aber bisher wenig Erfolg gehabt, und Shishido nahm an, dass sein kleines aufregendes Intermezzo mit ihm deren Entwicklung gehörig zurückgeworfen hatte – zumindest war ein kleiner Teil seines Planes aufgegangen.

Dennoch musste er sich eingestehen, dass er Kagetora ungewollt unterschätzt hatte. Wer konnte auch ahnen, dass dieser es tatsächlich schaffen würde, Naoe aufzuspüren und zudem ohne große Anstrengung in der Lage war, seinen Ring der Versiegelung zu brechen. Natürlich wusste Shishido, dass Kagetora nur deshalb leichtes Spiel gehabt hatte, weil er durch den Unfall körperlich geschwächt war, trotzdem war er von dem beeindruckt, was dieser ihm geboten hatte.

„Kagetora... Ich freue mich auf unser nächstes Zusammentreffen! Bei diesem werde ich DIR dann ohne Zweifel überlegen sein...“, sprach Shishido mit Entschiedenheit, der einer erneuten Begegnung voller Zuversicht und wachsender Erregung entgegen blickte.
 

Shishido öffnete seine Augen und sah seitlich über seine Schulter hinweg erneut zum Fenster hinaus, als er ein leises Klopfen an der Zimmertür vernahm.

„Wenn das mal nicht Arakawa ist...“, sagte er leise und blickte neugierig zur Tür, die einen Augenblick später geöffnet wurde.

Shishido erkannte den Umriss seines vertrauten Untergebenen, und lächelte für einen Moment zufrieden. Dieser Mann würde alles für ihn, sogar sterben, wenn er es ihm befehlen würde. Diese Situation war ihm nur zu bekannt und er fragte sich, ob es tatsächlich reiner Zufall war, der dazu geführt hatte, dass er es im Hier und Jetzt mit Kagetora und dessen verkorkster Beziehung zu tun bekam.

Ob Zufall oder nicht, spielte letztendlich für Shishido keine Rolle, denn der Weg, den er eingeschlagen hatte, war der seine, und an Schicksal glaubte er nicht – nicht mehr, seit dem Tod Houjou Ujiteru.
 

„Shishido-sama.“

Shishido hörte Arakwas vertraute Stimme, dessen attraktiver Klang unter anderem dazu geführt hatte, dass er sich diesen vor langer Zeit zu sich ins Bett geholt hatte. Somit war Arakawa die einzige andere Person, der er es je erlaubt hatte, ihn „zu nehmen“ – und das tat dieser mehr als geschickt.

Arakawas Berührungen, deren Basis Erfurcht und bedingungslose Liebe war, brachten Shishido jedes Mal in einen Zustand völliger Ausgeglichenheit, die er heimlich genoss. Arakawa hatte von seinem Einfluss keine Ahnung, und so sollte es Shishidos Meinung nach auch bleiben. Er befürchtete nämlich, dass das die bestehende Grenze zwischen ihnen nicht aushalten würde, und ihr Umgang miteinander eine lästige Richtung einschlagen würde.

Die akuten Anzeichen solch einer beschwerlichen Entwicklung waren für Shishido nicht zu übersehen – er musste dabei nur an Naoe denken.

Shishido wusste, dass Naoes Anwesenheit in seinem Bett ein Dorn in Arakawas Auge gewesen war, und dieser seine aufbegehrenden Gefühle vorsorglich hinter der aufgesetzten Maske versteckt hatte – diese Maßnahme funktionierte aber nicht in seine Richtung.

Shishido nahm an, dass es Arakawa große Selbstbeherrschung gekostet hatte, nach dem Unfall nicht eigenhändig nach Naoe zu suchen, um diesen seinen Schmerz und seine Angst spüren zu lassen.

Shishido senkte seufzend den Kopf, als Arakwa erneut sprach.
 

„Shishido-sama? Fühlt Ihr Euch nicht wohl? Vielleicht solltet Ihr Euch noch etwas ausru-“, begann Arakawa besorgt, der aber von Shishidos beherrschender Stimme grob unterbrochen wurde.

„Komm her!“

Arakawa zögerte nicht einen Moment, und ging einen weiteren Schritt auf seinen Herrn zu. Dieser hatte seinen Kopf inzwischen wieder gehoben, und blickte Arakawa nun mit funkelnden Augen entgegen.

„Noch näher... Ich will dein Gesicht deutlich sehen können.“, flüsterte Shishido begierig, der wusste, das er mit seinem Verhalten Arakawa in die Ecke drängte.

„Ich kann auch das Licht-“

Was als nächstes geschah, wurde Arakawa erst hinterher bewusst, als dieser sich enttäuscht und voller Verlangen an die Wand lehnte.

Während er dabei gewesen war, Shishido seinen Vorschlag zu unterbreiten, sah er dessen Hand nach vorne schnellen, um ihn am Kragen zu fassen und zu sich zu ziehen. Eine Sekunde später befand er sich auch schon mit dem Rücken zur Wand und spürte die weichen Lippen seines Herrn, die eine heiße Spur in seinem Gesicht und auf seinem Hals hinterließen.

Arakawa war nicht in der Lage gewesen zu reagieren, so sehr war er erstaunt über Shishidos Aktion, an die er eigentlich gewöhnt sein müsste. Dennoch, es war schon eine Weile her, seit ihn dieser das letzte Mal geküsst hatte. So tat er nichts Weiteres, als die körperliche Nähe seines Herrn in sich aufzusaugen, da er nicht wusste, wann er diesem das nächste Mal so nah kommen würde.
 

„Er ist dir überhaupt nicht ähnlich...“, sprach Shishido unerwartet nüchtern, der sich Richtung Bett begab, und seinen Vertrauten allein an der Wand stehen ließ.

Arakawa, den Shishidos Worte irritierten, trat von der Wand weg und räusperte sich leise. Er atmete tief ein, und spürte seine wiederkehrende Selbstsicherheit. Arakawa begann zum zweiten Mal an diesem Abend seine Kleidung zu richten, bevor er erneut das Wort an Shishido richtete.

„Ich habe Neuigkeiten, Shishido-sama. Wollt Ihr sie jetzt hören, oder morgen auf der Fahrt zum Anwesen?“, fragte Arakawa unentschlossen, der seinen Herrn nicht aus den Augen ließ, während es sich dieser unter der Bettdecke gemütlich machte.

„Seit wann so unsicher, Arakawa? Ich hatte dir, wenn ich mich recht erinnere, doch befohlen, mich umgehend über Neuigkeiten zu informieren. Wenn ich es anders haben wollte, hätte ich es dich wissen lassen. Nun, aber aufgrund der späten Uhrzeit und meiner unbefriedigten Stimmung, halte ich es für besser, wenn du dich kurz fasst, ja?“, erwiderte Shishido gereizt.

„Wie Ihr es wünscht, mein Herr. Es gibt zwei neuere Entwicklungen, über die kurz berichten werde. Die erste betrifft Naoe. Dieser hat seine Suche nach Euch unterbrochen, und hat sich auf den Weg nach Matsumoto gemacht. Ich gehe davon aus, dass er sich dort mit Kagetora und dem Rest der Gruppe treffen wird. Wir wissen bisher noch nicht, welche ihre nächsten Schritte bezogen auf Euch sein werden, aber wir arbeiten dran. Die zweite Neuigkeit, die mich persönlich und aus ganz anderer Richtung erreicht hat, ist sehr unerwartet, wie ich finde. Euer Vater scheint starkes Interesse an Narita Yuzuru zu zeigen, der unter dem Schutz der Kagetora-Gruppe steht.“

Während Arakawa gewissenhaft seinen Vortrag hielt, studierte er das Gesicht seines Herrn aufs Genauste. Er war sich sicher, dass die überraschende Erwähnung dessen Vaters etwas in seinem Herrn auslösen würde und wollte bereit sein, ihn, falls nötig, aufzufangen.
 

Arakawa kannte nicht alle Details aus Shishidos bisherigem Leben. Am wenigsten wusste er über dessen Kindheit Bescheid, aber auch ihm blieb nicht verborgen, dass sein Herr auf seine Familie, und vor allem auf den eigenen Vater nicht gut zu sprechen war. Arakawa hatte natürlich die Gerüchte vernommen, die sich um deren Beziehung gesponnen hatten. Er schenkte den meisten davon wenig Aufmerksamkeit, dennoch, das ein oder andere beruhte auf tatsächlichen Begebenheiten, die Shishido ihm unerwartet im Laufe seiner Arbeit unter ihm bestätigt hatte.

Alles, was Arakawa gehört hatte, war von Gewalt durchdrungen. Jeder Aspekt des damaligen Lebens seines Herrn beinhaltete Folter und Grauen, so dass es für Arakawa noch immer ein Rätsel war, dass Shishido noch keine rachegeleiteten Schritte gegenüber seiner Familie unternommen hatte.

Arakawa wusste, dass sie Houjou Ujiteru zu großem Dank verpflichtet waren. Wäre dieser Mann nicht im Leben seines Herrn aufgetaucht, dann würde Arakawa sehr wahrscheinlich nicht hier stehen und Shishido bereitwillig dienen können.

Shishidos mürrische Stimme unterbrach Arakawas Gedanken.
 

„Narita Yuzuru?“, fragte Shishido, der zwar gelangweilt gähnte, aber, dem ungeachtet, Arakwa einen äußerst neugierigen Blick zuwarf.

„Ja, mein Herr. Wie Ihr wahrscheinlich wisst, hat dieser junge Mann immense Kräfte, deren Herkunft noch ungeklärt ist. Etliche Kriegsfürsten der Unterwelt sind an jenen mehr als nur interessiert. Kagetoras Gruppe hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, Narita Yuzuru zu beschützen. Wir wissen nicht, ob sie selbst insgeheim planen, dessen Kräfte im Kampf gegen die Kriegsfürsten einzusetzen.“, erläuterte Arakwa erleichtert, da er nicht das Gefühl hatte, dass die Neuigkeit über den Vater Shishido quälten.

„Und mein Vater will diesen jungen Mann benutzen, um was zu tun?“, richtete Shishido seine Frage im verächtlichen Tonfall an Arakawa, der für einen Moment nicht wusste, was er erwidern sollte. Arakawa war die Veränderung der Stimmung seines Herrn völlig entgangen.

„Nun, also... Es gibt bisher noch keine Anhaltspunkte diesbezüglich, aber ich denke, dass-“

Shishidos laute Stimme ließ Arakawa zusammenfahren.

„Arakawa! Ich habe dich nicht nach deiner MEINUNG gefragt. Ich will, dass du mir FAKTEN bringst, und zwar so schnell wie möglich. Du kannst gleich damit anfangen...“, donnerte Shishido, dem Arakawas betroffenes Gesicht etwas Befriedigung verschaffte.

„Wie Ihr wünscht, Shishido-sama. Ich werde mich sofort darum kümmern.“

„Gut. Ich habe nichts anderes erwartet. Ich werde hier auf deine Ankunft warten und hoffe, dass du mir auf der Fahrt nach Wajima Interessantes berichtest. Du kannst jetzt gehen.“, entgegnete Shishido, dessen Stimme nun wieder von Langeweile geprägt war. Er sah seinem engsten Vertrauten nach, wie dieser das Zimmer verließ und leise die Tür hinter sich schloss.

„Das könnte interessant werden. Oder was meinst du, Kagetora?“, sprach Shishido amüsiert zu sich selbst, dem die unerwartete Entwicklung seitens seiner Familie, der er vor langer Zeit den Rücken gekehrt hatte, überhaupt nicht störte. Im Gegenteil, so bekam er die Möglichkeit, gleichzeitig zwei störende Aspekte seines Lebens auszulöschen.
 


 

Der Mann, der auf der Rückbank der schwarzen Limousine saß, war alt. Dennoch, die, die ihn besser kannten, wussten, dass das Äußere jener Person trügerisch über dessen wahre Fähigkeiten hinwegtäuschte.

Der unbekannte ältere Herr sah seitlich interessiert aus dem Fenster, hinauf zu einem Untergebenen, der gerade dabei war, ihn über die letzten Neuigkeiten zu informieren.

„So? Ihr habt ihn endlich aufgespürt. Dann vergeudet keine Zeit, und bringt ihn zu mir – unversehrt natürlich.“, sprach der alte Mann mit einer wohlklingenden tiefen Stimme, und wandte sich nach seinen Worten von dem jungen Mann ab, der seinen Befehl entgegen genommen hatte.

„Ja, mein Herr.“, antwortete dieser eifrig, als er sich ehrerbietig verbeugte und in dieser Haltung ausharrte, bis der Wagen seines Herrn abfuhr. Wenige Sekunden später richtete er sich auf und gab harsche Befehle.

„Ihr habt es selbst gehört. Wir werden uns sofort auf den Weg machen. Kobayashi-kun! Du und deine Männer begebt euch sofort zur vereinbarten Stelle. Dort wartet ihr auf mein Zeichen. Ich werde mich persönlich an die Ferse des Jungens heften, sobald dieser die Schule verlässt. Wenn unsere Quelle recht behält, dann müsste er heute allein unterwegs sein. Seht zu, dass ihr eure Arbeit gescheit ausführt, denn ein Versagen werde ich nicht tolerieren! Los, Abmarsch!“, rief der junge Mann tatendurstig, während er seine Männer dabei beobachtete, wie diese in den geparkten Autos verschwanden und in verschiedene Richtungen davonfuhren. Er schlug begeistert die Faust in die Handfläche und machte sich auf zum letzten verbliebenen Wagen, in den er einstieg und den Motor startete. Er sah für einen Moment sich versichernd auf den Beifahrersitz, auf dem eine große halbgeöffnete Tasche stand, aus der der schwarze Lauf eines Gewehres hervorragte. Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht, während er fröhlich pfeifend den abgelegenen Parkplatz hinter sich ließ.
 


 

Yuzuru sah zum vertrauten Fluss hinab, auf dessen Oberfläche sich das Sonnenlicht in der leichten Wellenbewegung des Wassers brach. Er saß an der sanft abfallenden Böschung im Grass, und aß Gedanken versunken einen Schokoriegel.
 

In seinem Kopf drehte sich alles um die letzten Minuten vor Takayas gestrigen Aufbruch. Yuzuru hatte sich über die ausgelassene Stimmung gefreut, obwohl er wusste, dass diese Takayas Innerstes nicht wirklich erreicht hatte. Dennoch wagte er zu behaupten, das sein bester Freund durchaus etwas von seiner Anspannung verloren und die Zeit mit ihm genossen hatte.

Yuzuru war sich der Verschlossenheit Takayas nur zu bewusst, gleichwohl war er in der Lage, eine kleine Veränderung in Takayas Verhalten diesbezüglich zu entdecken, die ihm große Freude bereitete. Er würde der langsamen Wandlung mit Zuversicht entgegen blicken und Takaya, falls nötig, hilfreich zur Seite stehen, auch wenn er sich noch nicht ganz sicher darüber war, wie er das anstellen sollte.

Yuzuru seufzte leise, während er erneut in seinen süßen Riegel biss.
 

„Wenn er dir nicht schmeckt, dann gib ihn mir!“

Yuzuru sah im Augenwinkel eine Hand heranschnellen, und brachte grinsend seinen Riegel in Sicherheit.

„Hey! Habe ich das etwa gesagt!?“ entgegnete er vergnügt, während er angestrengt mit einer Hand versuchte, Takayas attackierende festzuhalten.

„Hm... Theoretisch nicht, aber wer praktisch so desinteressiert und seufzend einen Schokoriegel isst, dem kann er nicht schmecken. Also, bevor er verkommt... Gib ihn schon her!“, antwortete Takaya amüsiert. Er warf Yuzuru verspielt auf den Rücken und drückte ihn sanft mit einer Hand zu Boden, um mit der anderen Hand den Riegel erreichen zu können.

„Ey! Was machst du da? Nicht, lass das! Der ist mir, und natürlich schmeckt der! Was ist denn das für eine bescheuerte Erklärung von dir! Warte, ich ha-“

Yuzuru konnte nicht zu Ende sprechen, das sich Takaya plötzlich auf seinen Oberkörper setzte und mit den Knien seine Oberarme fixierte.

„Woah... Das tut weh, Takaya!“, brachte Yuzuru halb vergnügt, halb gequält hervor, als er fühlte, dass Takaya ihm den angebissenen Riegel aus der Hand schnappte. Dieser steckte sich den Rest des Riegels vor seinen Augen komplett in den Mund. Während Takaya genüsslich kaute, grinste er schelmisch von einem Ohr zum anderen, so dass Yuzuru in seiner Überraschung nicht anders konnte, als laut loszulachen.

Yuzuru lachte noch immer, als sich sein bester Freund schon längst wieder neben ihn gesetzt hatte, und ihm einen mürrischen Blick zuwarf.

„Also echt, Takaya... Manchmal verhältst du dich wie ein Grundschüler...“, meinte Yuzuru fröhlich lachend, der sich wieder unter Kontrolle hatte und ein weiteres Mal zum Fluss starrte.

„Das sagt der Richtige, wenn ich mir da so die Verpackung des Riegels ansehe, auf dem ein grinsender Doraemon abgebildet ist... Aber ich muss zugeben, der ist lecker!“, meinte Takaya zufrieden, der sich das bunte Papier in seine Jackentasche steckte.

„Ja ja, schon gut. Ich habe noch einen ganzen, falls der halbe deine Gelüste nicht gestillt haben sollte.“, bot Yuzuru gutgelaunt an, der in seiner Tasche nach dem zweiten kramte.

„Nee. Lass mal. Heb ihn dir für später auf!“, schlug Takaya Yuzurus Angebot dankend ab, und stand auf. Yuzuru sah fragend zu ihm hoch, als sie beide von einer leichten Windböe erfasst wurden, die Takaya die dunklen Haare aus dem Gesicht wehte. Yuzuru starrte fasziniert zu seinem Freund hinauf, der seine Augen gedankenverloren auf den Fluss gerichtet hatte. An Takayas melancholischem Gesichtsausdruck konnte Yuzuru erkennen, dass dieser weit, weit weg an einem Ort war, den er niemals sehen würde.

Yuzuru spürte für einen winzigen Augenblick Traurigkeit in sich aufsteigen, die sich mit dem Gefühl des Ausgeschlossen-Seins vermischte. Er unterdrückte diese Gefühle so gut es ihm möglich war, und wollte sich ebenfalls hinstellen, als er Takayas lautes Brüllen vernahm, dass in dem Geräusch eines Schusses unterging.

„Bleib unten und leg dich flach hin! Sofort!“, befahl Takaya, der sich im gleichen Moment an den Arm fasste und ein gequältes Stöhnen von sich gab. Er kniete sich neben Yuzuru nieder, und sah sich suchend um.

„Takaya?! Alles in Ordnung? War das ein-“

Yuzuru konnte nicht zu Ende sprechen, da er erneut das Geräusch hörte, und im nächsten Moment der unsichtbare Schutzschild um sie herum aufleuchtete, als die Patrone auftraf.

„Verdammt! Ich kann den Schützen nirgends sehen. Du etwa?“, fragte Takaya angespannt, der sich wieder aufrichtete.

„Hey! Nicht, was ist, wen-“, brach Yuzuru angsterfüllt ab und sah, dass Takaya noch immer seinen Arm hielt.

„Bist du verletzt?“, rief er besorgt und wollte sich ebenfalls hinstellen, als ihn Takayas gebieterische Stimme innehalten ließ.

„Ich habe gesagt, dass du unten bleiben sollst! Mir geht es gut, und der Schutzschild ist mehr als genug für derlei Waffen. Wenn ich bloß-“

Takaya blickte sich ein weiteres Mal aufmerksam suchend um, als er auf der Brücke, die sich in 50 Meter Entfernung befand, zwei schwarze Wagen entdeckte. Der eine setzte sich gerade langsam in Bewegung, und kam in ihre Richtung, während aus dem Fahrerfenster des zweiten Wagens der Scharfschütze erneut auf sie schoss. Auch dieses Mal glühte der Schutzschild um sie herum auf und Yuzuru meinte, ein leises elektrisches Knistern zu hören.

„Das ist nicht gut. Wir müssen hier weg, so schnell wie möglich.“, beschloss Takaya alarmiert, der Yuzuru mit seinem unverletzten Arm zu sich hochzog.

„Ich kann zwar nichts Außergewöhnliches bei ihnen entdecken, aber ich bin mir sicher, die werden nicht die einzigen bleiben. Bleib ganz dicht bei mir, hörst du? Wir werden jetzt gemeinsam hoch zum Weg gehen und-“

Die quietschenden Reifen eines Motorrades ließen Takaya abrupt stoppen. Er sah beunruhigt die Böschung hinauf und entdeckte dort Haruie, die ihm erleichtert zuwinkte, während sie sich selbst mit einem Schutzschild umgab. Sie zog sich anschließend den Helm vom Kopf, und lächelte ihnen ermutigend zu.
 

„Hey Kagetora! Alles okay da unten?“, rief sie besorgt, als sie einen Blick auf dessen Arm geworfen hatte.

„Kümmere dich nicht um mich, sondern sieh zu, dass du dem Wagen, der auf dem Weg hierher ist, etwas entgegensetzen kannst, damit ich Yuzuru in Sicherheit bringen kann.“, befahl Takaya befreit, dem ein Stein vom Herzen gefallen war, als er Haruie erkannt hatte. Er wusste, dass er ihr die Sache hier vorerst überlassen konnte, wenn nicht unerwartet noch mehr auftauchen würde.

„Okay. Aber ich denke, ihr solltet noch einen Moment warten, da Naoe mit dem Wagen auf dem Weg hierher ist. Ihr seid besser beraten, wenn ihr mit dem Auto verschwindet.“

Als Naoes Name fiel, zog sich Takayas Brust für den Bruchteil einer Sekunde schmerzhaft zusammen, aber er war froh zu hören, dass sie ihre Flucht dadurch erleichtern konnten.

„Verstanden. Wir kommen jetzt hoch!“, sprach Takaya mit belegter Stimme, der zusammen mit Yuzuru den Rest der Böschung nahm.
 

Takaya sah, dass Yuzuru mit jedem Geschossaufprall zusammen zuckte. Er überlegte für einen Moment, ob er mit seiner Kraft vorauszugreifen sollte, um die Patronen vor ihrem Aufschlag zu stoppen, aber er entschied sich dagegen. Takaya wusste noch nicht, wie viel Energie er für ihre Flucht benötigen würde und hielt es daher für besser, so wenig wie möglich zu verbrauchen.

In dem Augenblick, als sie den Weg oberhalb des Abhangs erreicht hatten und neben Haruie zum Stehen gekommen waren, raste von hinten ein Auto heran, welches Takaya nur zu bekannt vorkam.

„Kousaka...“, presste er zerknirscht hervor, als der Wagen dicht vor ihnen hielt und Naoe aus der Beifahrertür sprang. Takaya erweiterte augenblicklich den Radius seines Schutzschildes, so dass dieser Naoe und den Wagen ebenfalls umfasste.

„Kagetora-sama!“, rief Naoe mit einem erleichterten Gesichtsausdruck, der sich aber sofort verdüsterte, als er den Blick auf Takayas Arm richtete.

„Eine Verletzung?!“, fragte er leicht besorgt und kam einen Schritt auf sie zu.

„Uns geht es gut. Wir sollten fahren.“, meinte Takaya gereizt, als er erneut einen Blick auf Kousaka warf, der ihm unverschämt aus dem Wagen entgegen grinste.

Naoe folgte Takayas Blick, und für einen Moment nahmen seine Augen einen bekümmerten Ausdruck an.

„Takaya, ich-“, begann Naoe unsicher, der aber durch Takayas ignorierende nächsten Worte grob unterbrochen wurde.

„Haruie! Ich kann dich hier allein lassen, oder?“, fragte dieser ernsthaft, als er mit Yuzuru zum Fahrzeug lief.

„Yepp! Kein Problem, aber ihr solltet euch schleunigst losmachen. Ich werde hier die Stellung halten, und anschließend zu Chiaki fahren. Ich hoffe, dass ihr bis dahin zum sicheren Unterschlupf gelangt seid, damit wir später die nächsten Schritte in Ruhe besprechen können. Bis dann!“, meinte Haruie selbstbewusst, während sie sich den Helm wieder aufsetzte und davonfuhr.

Takaya sah ihr noch kurz hinterher, bevor er sich neben Yuzuru auf die Rückbank setzte. Er beobachtete von seinem Sitz aus Naoe, der einen Moment zögerte, ehe er ebenfalls zurück in das Auto stieg.
 


 

Yuzuru sah besorgt aus der Rückscheibe des Fluchtautos und unterdrückte ein Zittern. Im Geiste konnte er noch immer das Geräusch der Schüsse hören, das ihm selbst jetzt noch eine Gänsehaut verursachte. Warum auf sie geschossen wurde, wusste Yuzuru nicht, aber er ging davon aus, dass Takaya und Naoe mehr darüber wussten, als sie bisher bereit waren zu erzählen.

Er versuchte sich zu entspannen und blickte nach vorn zu Naoe auf den Beifahrersitz, der sich gerade mit Kousaka über eine mögliche Abkürzung ihres Fluchtweges stritt.
 

Naoe. Yuzuru freute sich, Naoe nach so langer Zeit endlich wiedersehen zu können und war froh, dass es diesem gut zu gehen schien – ungeachtet der Tatsache, dass jener ein trauriges Gesicht machte, wofür wohl die überraschend kühle Haltung Takayas verantwortlich war. Yuzuru erlaubte sich diesbezüglich kein Urteil, da er nämlich keinerlei Ahnung davon hatte, was in den letzten Wochen generell, und vor allem zwischen den beiden, vorgefallen war. Er konnte zwar mit Bestimmtheit sagen, dass Naoe in dieser Zeit in Gefahr geschwebt hatte, da seine damaligen Alpträume und Takayas extrem verschlossene Haltung im Hinblick auf Naoe keine anderen Rückschlüsse zuließen, was einer Bestätigung gleichkam. Aber was letztendlich genau mit Naoe in diesem Zeitraum geschehen war, wusste er bis heute noch nicht. Er überlegte ernsthaft, Naoe ganz gezielt darauf anzusprechen, aber er befürchtete, dass dabei keine befriedigende Antwort herauskommen würde, denn Naoe stand mit seiner selbstauferlegten Verschlossenheit Takaya um nichts nach.
 

Yuzuru strich sich gedankenverloren ein paar Strähnen seines hellen Haares hinter das Ohr und seufzte hörbar.

„Alles in Ordnung?!“, fragten Takaya und Naoe gleichzeitig mit besorgt klingender Stimme.

Yuzuru blickte erst zu Naoe, der zu ihm nach hinten sah, und anschließend zu Takaya, der seinen Blick schief grinsend erwiderte. Er lachte beschwichtigend.

„Ich bin okay, soweit zumindest... Obwohl ich mich schon frage, ob ich überhaupt okay sein kann, da ja gerade auf mich geschossen wurde. Hm, bin ich okay? Ich denke schon... Vielleicht ein wenig nachdenklich, aber okay...“, sprudelte es etwas zu locker aus Yuzurus Mund, wie Takaya fand.

„Wow! So oft habe ich dich noch nie das Wort ‚okay’ sagen hören! Ich würde fast meinen, du bist nicht okay! Und was deine eventuellen Fragen angeht, die werden später beantwortet...“, scherzte Takaya plötzlich vergnügt, da ihn Yuzurus entspannt dahergesagten Worte angesteckt hatten.

Yuzuru sah erleichtert zu seinem besten Freund, und boxte ihm freundschaftlich, die Schusswunde vergessend, auf den Oberarm. Takaya verzog daraufhin schmerzverzerrt das Gesicht, und konnte ein leichtes Stöhnen nicht unterdrücken.

„Oh scheiße! Stimmt ja, du bist verletzt! Tut mir leid, Takaya! Aber hey, warte mal...du blutest!? Und das nicht mal zu knapp! Es tropft dir sogar von der Hand... Naoe tu etwas!“, rief Yuzuru aufgelöst, der Takaya nicht aus den Augen ließ.

„Halb so wild, wirklich...“, entgegnete Takaya gequält, der sah, dass Naoe sich zu ihm umgedreht hatte, und ihn fragend anblickte.

„Die Wunde ist dabei sich zu schließen, also keine Sorge.“, presste Takaya unwirsch hervor, der Naoes Blick nicht ertragen konnte.

„Dennoch sollten wir nachsehen und sie verbin-“

Kousaka fuhr Naoe heftig ins Wort, und warf dabei einen schlecht gelaunten Blick in den Rückspiegel.

„Ey Kagetora! Ich steh nicht so auf Blut – und schon gar, wenn es sich auf meinem Autositz befindet! Also seh zu, dass du deine kostbare Flüssigkeit bei dir behältst und den Wagen so verlässt, wie du ihn vorgefunden hast!“, knurrte dieser angepisst, dem Takayas Anwesenheit ein Dorn im Auge war.

„Kousaka!? Was fällt dir ein, so mit ihm zu reden?“, entgegnete Naoe aufgebracht, der sich nun Kousaka zugewandt hatte.

„Wieso? Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Ich habe lediglich den Wunsch geäußert, dass meine Sitze sauber gehalten werden sollen – und überhaupt, das ist MEIN Auto und ICH fahre! Daher gebührt mir wohl etwas Respekt, würde ich meinen...“, sprach Kousaka anmaßend, der Naoe nicht eines Blickes würdigte.

„Kousaka, du-“, begann Naoe völlig verblüfft zu sprechen, aber er wurde erneut, dieses Mal durch Yuzurus wütende Stimme, unterbrochen.

„Sagt mal, geht es euch noch ganz gut da vorn?! Hier sitzt jemand, der ernsthaft blutet, und ihr streitet euch über den Umgang untereinander und über die Sauberkeit des Wagens?! Haltet mich nicht für respektlos, wenn ich hier jetzt so verärgert spreche. Aber ich bin der Meinung, dass ihr euch mal zusammenreißen könntet, und vielleicht lieber darüber nachdenken solltet, was-“

Nun war es Takaya, der seinerseits Yuzurus temperamentvolle Belehrung unterbrach.

„Lass gut sein, Yuzuru! Keine Chance, dass du damit etwas erreichst. Hilf mir lieber mal...“, sprach Takaya nicht weniger arrogant als Kousaka, während er seine Jacke auszog und den blutdurchtränkten Ärmel seines Pullovers vorsichtig hochschob. Er konnte hören, wie Yuzuru neben ihm scharf die Luft einsog.

„Schau, die Wunde hat sich beinah wieder geschlossen. Nun, und es war nur ein Streifschuss... Also kein Grund zur Panik!“, meinte Takaya versichernd, der einen kurzen Blick nach vorn warf, und dabei auf Naoes beschämten Blick traf. Er unterdrückte das Bedürfnis, Naoe zuversichtlich zuzulächeln, und sah stattdessen wieder zu Yuzuru, der inzwischen sein Taschentuch gezückt hatte.

„Okay. Aber ich denke, wir sollten sie dennoch verbinden. Also, halt bitte still!“, erwiderte dieser besänftigt, der, während er behutsam den Arm verband, Takaya für einen Moment leise lachen hörte.

„Wieso lachst du?“, wollte Yuzuru neugierig wissen, der seinem Freund nun half, die Jacke wieder überzuziehen.

„Du hast schon wieder ‚okay’ gesagt...“, meinte Takaya abgelenkt.

Yuzuru, noch immer leicht aufgebracht, starrte nun in Takayas Richtung und konnte beobachten, wie dieser gerade überprüfte, ob der ein oder andere Blutstropfen auf dem Sitz gelandet war. Enttäuscht musste dieser aber feststellen, dass dem nicht so war, und Yuzuru konnte sich ein Schmunzeln über dessen unzufriedenen Gesichtsausdruck nicht verkneifen.

Takaya dagegen, der von Yuzurus Observation nichts mitbekommen hatte, spielte kurz mit dem Gedanken, seine noch blutverschmierte Hand absichtlich am Sitz abzuwischen, aber er entschied sich dagegen. Er wollte Kousaka nicht noch mehr zusetzen, da es seine Anwesenheit hier ohnehin schon tat. Takaya grinste teuflisch amüsiert.

„Was ist an einem ‚Okay’ bitte so außergewöhnlich, dass es dich so zum Grinsen bringt?“, erkundigte sich Yuzuru, der begonnen hatte, in seiner Tasche nach etwas zu kramen.

„Was?“, meinte Takaya fragend, der interessiert aufsah. Er konnte sehen, dass Yuzuru den zweiten Schokoriegel, von dem sie vorhin sprachen, herausgeholt hatte und ihn öffnete.

„Ich habe dir eben nicht zugehört. Was wolltest du wissen?“, sprach Takaya erneut, und nun im ganzen Satz, während er hungrig den Riegel nicht aus den Augen ließ.

„Schon gut. Ist nicht mehr so wichtig. Vielmehr interessiert es mich, wohin wir überhaupt fahren?!“

Yuzurus Frage lag geschlagene fünf Minuten unbeantwortet in der Luft, als er die Hoffnung auf eine Antwort aufgab. Seufzend sah er von einem Insassen zum anderen. Als erstes blickte er vom Fahrer zum Beifahrer, die beide stumm nach vorn schauten und offensichtlich ihren Gedanken nachhingen. Anschließend sah er zu Takaya, der seinem Blick unerwartet mit unergründlichen Augen begegnete. Fragend hob Yuzuru eine Augenbraue.

„Ist was?“, entgegnete Yuzuru offen, dem ein wenig unbehaglich zu Mute wurde.

„Wie war das mit dem zweiten Schokoriegel? Gilt das Angebot noch?“, fragte Takaya eifrig, der Yuzuru den Riegel am liebsten sofort aus der Hand gerissen hätte.
 

Takaya war erstaunt darüber, dass ihn die Erlebnisse der vergangenen Minuten so hungrig haben werden lassen. Vielleicht war es auch der körperliche Heilungsprozess, wer wusste das schon. Ihm war in jedem Fall klar, dass sie vorläufig nicht anhalten konnten, um etwas zu essen. Zumal es sich inzwischen als noch schwieriger gestalten würde, da sie dabei waren, die Stadt zu verlassen.

Takaya sah kurz nach vorn zu Kousaka, der genervt mit den Fingern auf das Lenkrad trommelte. Sein Blick wanderte anschließend von diesem hinaus durch die Windschutzscheibe in die Ferne. Er nahm an, dass sie sich auf dem Weg zu einem mit Chiaki ausgemachten Ort befanden, an dem sie zur Ruhe kommen konnten, um anschließend das weitere Vorgehen zu planen.

Während seine Augen unbestimmt in die Weite sahen, kam ihm Haruie in den Sinn. Er hoffte, dass sie keine größeren Schwierigkeiten mit den Unbekannten gehabt hatte, und inzwischen auf dem Rückweg zu Chiaki war. Takaya vertraute auf ihre Fähigkeiten. Dennoch hinterließ es immer ein ungutes Gefühl, wenn er die eigenen Leute allein zurücklassen musste.

Er unterdrückte die körperliche Unruhe, und richtete seine hell schimmernden Augen auf Yuzuru, der ihm seinerseits ein Lächeln schenkte.
 

„Die Hälfte kann ich dir geben. Ich hoffe, das ist okay- Ah...verdammt, du bringst mich völlig durcheinander! Irgendwie brauche ich jetzt echt was für meine Nerven. Da soll Schokolade doch ganz hilfreich sein, habe ich mal gehört. Na ja, die Hälfte also...“, meinte Yuzuru über die eigenen Worte verlegen, als er den Riegel teilte und Takaya das eine Stück entgegen hielt.

Während dieser es grinsend annahm, schaltete sich Kousaka erneut ein, dem deren Unterhaltung gehörig auf die Nerven ging.

„Ihr benehmt euch wie zwei Schulkinder!“, frotzelte dieser missgestimmt, der alle Hände voll mit dem dichten Straßenverkehr vor sich zu tun hatte.

„Hey! Wir sind Schulkinder! Schon vergessen? Wir gehen doch in die Oberstufe! Ah?! Wolltest du vielleicht auch etwas Schokolade? Wie unachtsam von mir...“, rief Yuzuru belustigt mit vollem Mund.

„Ich bin hier echt im Kindergarten...“, murmelte Kousaka ärgerlich, der am liebsten auf die Bremse getreten wäre, und die zwei hinteren Fahrgäste rausgeschmissen hätte.

Kousaka sah zu Naoe rüber, der schon seit einiger Zeit schweigend und mit einem zerknirschten Gesichtsausdruck dasaß. Er nahm an, dass dieser sich den Kopf über Kagetoras abweisendes Verhalten zerbrach.

Idiot! Wieso machst du es dir auch so schwer... Schieß diesen lausigen Herrn endlich ab..., dachte Kousaka zornig, dem das einfache Rausschmeißen von Kagetora nun viel zu milde erschien.
 

Kousaka dachte an die letzten Tage, die er zusammen mit Naoe auf der Suche nach Shishido verbracht hatte. Diese gemeinsame Zeit hatte er, trotz Naoes offenkundiger Befangenheit, genossen, und daher kam ihm diese Situation nun wie eine nachträgliche Entweihung vor.

Er blickte durch den Rückspiegel auf Yuzuru, der nun verträumt aus dem Fenster sah, während Takaya mit geschlossenen Augen und einer konzentrierten Miene neben diesem saß. Kousaka nahm an, dass Takaya mittels seiner Macht die Umgebung überprüfte.

Er richtete seinen Blick wieder auf den inzwischen nachlassenden Verkehr vor ihm, als Naoes Handy zu klingeln begann. Kousaka konnte aus dem Augenwinkel heraus sehen, dass sein Beifahrer, komplett aus den Gedanken gerissen, nach dem Telefon suchte, und den Anruf entgegen nahm.

„Chiaki. ... Hm. ... Nein. Es geht allen gut. ... Ja, so ist es. ... Wir befinden uns, wie geplant, auf dem Weg. ... Nein, bisher sind wir auf keine nennenswerten Schwierigkeiten gestoßen. ... Bitte? ... Wie kommst du darauf, dass ich versuche witzig zu sein? ... Verstehe. ... Ich habe sie gehört. ... Gut, dann bis später. ... Ja, mache ich.“

Naoe beendete das kurze Telefonat und blickte noch einen Augenblick abgelenkt auf das Display, als ihn nun Takayas Stimme aufschreckte.

„Wie geht es Haruie?“, war dessen einfache Frage, die aber aufgrund des befehlenden Untertones ihre Einfachheit gänzlich verlor.

Naoe atmete tief ein, und schloss dabei für einen Augenblick seine Augen. Er ermahnte sich innerlich, seine Ruhe wiederzufinden, da er spürte, dass ihn die unentrinnbar quälenden Gedanken erneut zu überwältigen drohten.

Die ganze Situation wäre wohl leichter zu ertragen, wenn Kousaka nicht anwesend wäre. Aber daran ließ sich nun nichts mehr ändern. Naoe hoffte einfach, dass er in den nächsten Stunden die Möglichkeit bekam, allein und ausführlich mit Takaya sprechen zu können. Dieser Gedanke gab ihm neue Zuversicht, während er sich Takaya zuwandte und dessen Frage beantwortete.

„Ihr geht es gut, soll ich ausrichten. Wenn wir am Ziel angekommen sind, wird es die Möglichkeit geben, genaueres zu erfahren.“, antwortete Naoe aufrichtig, der aber das Gefühl hatte, Takaya mit dieser Antwort nicht zufrieden stellen zu können. Er rechnete daher mit einem unnachgiebigen Einwand.

„Gut. Und wo genau fahren wir hin?“, fragte Takaya unerwartet duldsam, was Naoe überraschte. Das hatte er nicht erwartet.

„Wir fahren zu einem kleinen Haus, das sich am Rand der Stadt Ikusaka befindet. Die Unterkunft liegt etwas abgelegen in den Bergen. Sie war ein Vorschlag meinerseits, da ich sie selbst häufiger auf der Durchreise benutzt habe.“, erwiderte Naoe zuverlässig.

„Verstehe. Wie lange werden wir dorthin noch brauchen, Kousaka?“

Takaya richtete seine weitere sachliche Frage nun an den Fahrer, der einen unverschämten Laut von sich gab.

„Nun. Ich selbst war da noch nie, und kenne daher den Weg nicht. Ich vertraue hier völlig auf Naoes einmalige Fähigkeiten, von denen ich mich in den letzten Tagen zu genüge überzeugen konnte. Zu schade aber auch, dass eine gewisse andere Person dieses Vertrauen nicht besitzt...“, antwortete Kousaka übertrieben herablassend, der sich damit einen wütenden Blick von Naoe einfing.

„So? Und von deinen Fähigkeiten kann dann umso weniger die Rede sein, wenn andere alles für dich erledigen, oder sehe ich das falsch?“, schoss Takaya arrogant zurück, der spürte, dass die Stimmung im Auto schlagartig gesunken war. Ihm entging nicht, dass Kousaka aufgrund seiner Bemerkung das Lenkrad fester umklammerte und dieser mit seiner Beherrschung rang. Dieser Anblick zauberte Takaya ein zufriedenes Lächeln auf die Lippen, und er ließ sich entspannt in den Rücksitz sinken.

„Wie dem auch sei, weckt mich, wenn wir angekommen sind.“, meinte er gelassen, während er seine Augen schloss.

„Wie Ihr wünscht, Kagetora-sama.“
 

Takaya hatte mit keiner Antwort gerechnet, schon gar nicht mit einer von Naoe. Er fühlte, dass das Schweregefühl in sein Herz mit einem Mal zurückkehrte, von dem er glaubte, es erfolgreich verbannt zu haben. Der Druck auf seiner Brust nahm zu, und raubte ihm zugleich den Atem. Er spürte, dass seine Körperspannung nachließ, und er in sich zusammensank.

Takaya hoffte, dass sich sein Gefühl nicht nach außen zeigte, und presste verbissen die Lippen aufeinander. Wenige Sekunden später aber machte sich Erleichterung in ihm breit, da er hörte, wie sich Yuzuru mit Naoe zu unterhalten begann, und diese ihn nicht mit einbezogen.

Takaya seufzte lautlos und versuchte Naoe zumindest so lange aus seinen Gedanken zu vertreiben, bis sie an ihrem Zielort angekommen waren.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  firebeast
2009-05-07T04:42:01+00:00 07.05.2009 06:42
oooohhhhh....schönes Kapitelende. Hoffentlich bekommen Naoe und Takaya wirklich mal die Gelegenheit ohne neugierige Ohren zu reden, ohne dass es wieder im Streitgespräch zwischen den zwei Hitzköpfen endet. ^^

lg firebeast
Von:  firebeast
2009-05-02T09:41:06+00:00 02.05.2009 11:41
oooohhh..schon der zweite Teil *mit großen Augen auf Bildschirm starr* *freu*

Oh jetzt wird es richtig spannend *unbedingt wissen woll wie es weiter geht*. Tolles Kapitel mit wahnsinnigen Spannungsanstieg im zweiten Teil. Ich bin jetzt wirklich gespannt wer dieser alte Mann ist....

lg firebeast
Von:  firebeast
2009-05-01T12:32:14+00:00 01.05.2009 14:32
jaaaaa....es geht weiter *fröhlich auf und ab hüpf*. Das Kapitel ist bisher sehr spannend und interessant. Ich hoffe nur, dass sie Yuzuru nicht in die Hände bekommen, das wäre äußerst unpraktisch für Kagetora und Co. Das wird sich noch sehhhhr heiß udn spannend...

lg firebeast

PS: und schön, dass es weiter geht ^^


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