Vergebung
Kapitel 17
Vergebung
Er hatte im verziehen. Er hatte ihm wirklich verziehen!
Stu-Pot spürte, wie sich diese Erkenntnis schmerzhaft in sein Hirn zwang und musste ein- oder zweimal nach Luft schnappen. Alexander hatte ihm vergeben. Er hatte es mit eigenen Ohren gehört, gerade eben, und er sah noch immer mit eigenen Augen den verunsicherten Schimmer in Alexanders Blick, der sich wohl noch nicht sicher war, wie seine Entschuldigung von ihm aufgenommen worden war. Alexander hatte ihm vergeben. Er war nicht mehr wütend wegen der Sache mit ihr. Paula.
Er würde sein Versprechen, ihn zu töten, das ihn jahrelang verfolgt und gequält, zu ewiger Angst und Wachsamkeit verdammt hatte, nicht einlösen!
Und wieso macht ihn diese Tatsache nicht glücklich?
Stu-Pot griff mit der Hand nach seinem Oberschenkel, packte den schweren, blauen Jeansstoff mit seinen starr verkrampften Fingern, dass die Knochen zu schmerzen begannen und an den Gelenken ganz blau und weiß wurden, und ließ ihn nicht mehr los.
Alles war gut. Oder? Er brauchte keine Angst mehr zu haben. Jedenfalls nicht mehr vor Alexander. Und die Jäger, die von seinen Eltern losgeschickt worden waren, um ihn einzufangen und zurückzuholen, spielten für ihn im Augenblick keine große Rolle. Noodle und Russel würden Hudson lange genug in Schach halten oder gar auf eine gänzlich falsche Fährte locken, sodass mehr als genug Zeit blieb, um vor ihm zu fliehen.
Er war in Sicherheit. Er brauchte keine Angst mehr zu haben. Zum ersten Mal seit vier langen, unerträglichen Jahren! Ein Gefühl, das er nicht kannte und auch nicht bestimmen konnte, machte sich in seinem Brustkorb breit. Es fühlte sich heiß an. Die brennende Glut umfasste sein Herz, das nicht mehr zu schlagen schien, und umschloss es langsam.
Stu-Pot versuchte mit der linken Hand die Finger der rechten vorsichtig zu lösen, es tat fürchterlich weh, und just in diesem Moment wurde ihm klar, dass es absolut scheißegal war, ob Alexander ihm verziehen hatte oder nicht. Es war vollkommen unwichtig, was Alexander von ihm hielt, ob er ihn noch hasste oder ob er es nicht tat.
Das einzige, was zählte, hier und jetzt und immer, verdammt noch mal, war die Frage, ob er, Stu-Pot, Alexander vergeben konnte. Ob er ihm die letzten zwei Jahre voller Furcht, voller Angst, voller Sorge, voller Tränen und Schweiß würde vergeben können. Das war ihm klar. Und das war auch Alexander glasklar. Das wusste er.
Stu-Pot spürte, wie ihm die Stimme, die ihm zu Weltruhm und Reichtum verhelfen sollte, versagte, und er spürte auch, wie ihm die Nase lief, und er spürte, wie seine schwarzen Augen nass und schwer wurden. Er dachte daran zurück, wie Alexander ihn von Paula weggeschubst hatte, sodass er mit dem Hinterkopf gegen den Tresen flog und sich zwei vernünftige Beulen holte. Selbst jetzt, er war sechzehn Jahre alt und die Verletzungen wurde ihm vor zwei Jahren zugefügt, konnte er die beiden leichten Erhebungen fühlen, wenn er vorsichtig über sein Haar strich.
Zwei Beulen.
Two dents.
Und er erinnerte sich daran, wie dieses heulende Auto, gesteuert von Alexander, ihn, festgebunden an diesen Baum und vollkommen wehrlos, überrollt und fast getötet hatte. Seine Augen waren eingedrückt worden, der gesamte Augapfel verfärbte sich dunkel, sahen gruselig aus, wie zwei dunkle Höhlen, zwei Einbeulungen, vor denen sich jeder fürchtete, der sie sah.
Two dents.
Der Rotz war ihm inzwischen größtenteils aus der Nase gelaufen und steuerte geradewegs auf den Mund zu, dessen Lippen er fest zusammengepresst hielt. Er zog die Nase hoch, ehe an seiner rechten Seite eine Hand erschien und ihm ein zerknittertes, aber sauberes Taschentuch reichte. Er nahm es an und schniefte laut und aufmerksam hinein.
Diese Ereignisse hatten ihn gebranntmarkt für sein Leben. Ihn geprägt, wie eine seltene Münze.
Hey, Face-Ache!
Nimm die Sonnenbrille ab, Blindie!
Blindschleiche!
Hey, geh’ mir aus dem Weg, du Loser!
Uns sie hatten ihn zu dem gemacht, was er heute war!
Einen paranoiden, naiven, manchmal ganz schön mutlosen und verzweifelten jungen Mann, der zusammengesunken auf einer teuren Echtleder-Couch saß, zwischen zwei Männern, von denen einer ihn zerstört und der andere gerettet hatte, sich die Augen aus dem Kopf heulte, von beiden Seiten wie ein kleines Kind trösten ließ. Murdoc -Stu-Pot wusste nicht, wieso er plötzlich so mitfühlend und taktvoll war- hatte sogar einen Arm um seine Schultern gelegt, nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte, die er jetzt genüsslich rauchte, und Alexander flüsterte ihm tröstende, beruhigende Worte zu. Als wären sie tatsächlich alte Freunde; Kameraden, die sich gegenseitig unterstützten und aufbauten, wenn es dem Anderen schlecht ging.
Gut. Er gab zu, vielleicht bot er manchmal einen ziemlich armseligen Eindruck, benahm sich kindisch oder weibisch. Aber er hatte niemals daran gedacht, aufzugeben! Er hatte immer tapfer seinen Weg bestritten, ganz gleich, was hinter ihm oder was vor ihm lag. Und Stu-Pot dachte sich, dass dies doch wohl eine ganze Menge war, für einen sechszehnjährigen Teenager, mit dem es das Leben ganz besonders bös meinte.
Er drehte sich von Alexander weg, der noch sehr immer verunsichert und geschockt wirkte, wegen der beiden extremen Gefühlausbrüche seitens Stu-Pot, die er so eben miterlebt und mit denen er überhaupt nicht gerechnet hatte. Seine blauen Augen, die Stu-Pot früher böse und mächtig vorgekommen waren, wie zwei leuchtende Edelsteine in der Dunkelheit, nach denen sich alle Leute richteten, machten nun ein recht freundlichen, aufgeweckten Eindruck.
Er fragte sich, was dazu geführt hatte, dass Alexander diesen Sinneswandel durchlebt und sich so stark verändert hatte. Was war der Schlüssel zu dieser Seite seines Wesens?
Und auch den Arm von Muds, der seine Schultern fast zerquetschte, stieß er von sich. Er mochte Murdoc, er brauchte ihn, er war für ihn ein Bruder, Freund und Retter, ein wahres Idol, doch die folgende Situation war etwas, was er ganz allein meistern musste!
Er stand auf und war überrascht, wie schwach seine Beine waren und wie sehr er zitterte. Das schwarze T-Shirt von Murdoc, das er trug, klebte –nass von dem Blut, dem Schleim und dem Rotz, der sich darauf gesammelt hatte- an seinem dürren Oberkörper. Ein paar wilde, blaue Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht, und er strich sie mit seinen kalten, verkrampften Händen aus dem Gesicht. Er musste aussehen wie eine alte Vogelscheuche, die während des Winters auf dem Feld zurückgelassen wurde.
Murdoc und Alexander musterten ihn. Murdoc machte einen lockeren Eindruck, er hielt die Arme lässig vor dem Oberkörper über Kreuz und grinste ihn aufmuntert und stolz an, als sei Stu-Pot sein Sohn, bei dem er sich hundertprozentig sicher war, dass er heute endlich den ersten Schritt tun würde. Der verwirrte Blick war aus Alexanders Augen verschwunden, er schaute Stu-Pot, der sich vor ihm aufgebaut hatte, an und er schien zu spüren, dass jetzt das Urteil über ihn gefällt wurde. Stu-Pot konnte sehen, wie sein Adamsapfel wieder zu hüpfen begann, weil er aufgeregt und nervös war, und er fühlte sich unheimlich stark und mächtig. Er wusste, die Entscheidung lag allein bei ihm.
Stu-Pot hob die rechte Hand, ballte sie zur Faust, und mit einer Schnelligkeit, die keiner – nicht einmal Murdoc- von ihm erwartet hatte, schlug er Alexander so fest er nur konnte ins Gesicht. Die Wucht war nicht so stark, wie er sie sich erhofft hatte. Er war nicht so kräftig wie Murdoc, nicht so bullig wie Russel, und nicht so kampferprobt wie Noodle. Er hatte genau Alexanders Nase getroffen, aus der jetzt jede Menge Blut lief, die jedoch nicht gebrochen zu sein schien. Schade, denn das war seine Absicht gewesen. Dafür schmerzte seine eigene Hand stark, er spürte, wie es in ihr pochte, und er hörte, wie das Blut in seinen Ohren rauschte.
Vielleicht hätte er sich diesen Schlag doch sparen sollen? Übelkeit kroch von seinem Magen in seinen Hals hoch, er wusste, dass ihn bald die Migräne wieder übermannen würde.
„Alexander.“ Alexander, der sich fest ein Taschentuch, das er wohl von Murdoc gereicht bekommen hatte, auf die Nase drückte, um die Blutung zu stillen, blickte auf und in seinem Blick lag etwas Undefinierbares. Eine Mischung aus Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit und Wut. „Das war dafür, dass du mich damals gegen den Tresen gestoßen hast.“ Stu-Pot holte noch einmal aus, und traf Alexander ein weiteres Mal genau auf die Nase, die zwar ein fieses Knacken von sich gab, doch noch immer nicht gebrochen schien. „Und das war dafür, dass du mich damals überfahren wolltest.“
Alexander verstand. Er stand ebenfalls auf, und Stu-Pot wurde wieder bewusst, wie riesig dieser Kerl war. Mindestens einen Kopf größer als er. Doch das störte ihn nicht. Er brauchte keine Angst mehr zu haben, denn er wusste, dass Alexander ihm nichts tun würde.
Statt ängstlich zusammenzuzucken, wie Stu-Pot es noch vor gut einer halben Stunde in solch einer Situation getan hätte, streckte er seine Hand aus. Die Hand, mit dem er ihm zweimal hintereinander ins Gesicht geschlagen hatte. So fest, wie er es nur konnte.
Alexander ließ das Taschentuch, das er sich immer noch gegen die Nase presste und das inzwischen fast vollkommen rot war, so viel Blut hatte es aufnehmen müssen, fallen.
Er schlug in die Hand, die ihm gereicht wurde, ein.
„Dann sind wir jetzt wohl quitt.“
Murdoc lachte beim Anblick, der sich ihm als stiller Beobachter bot und zündete sich eine zweite Zigarette an.
Jajaja, endlich gibt es ein neues Kapitel. Ich muss sagen, dass es mir überhaupt nicht gefällt, nicht im Mindesten, aber ich glaube, es würde auch nicht wesentlich besser werden, wenn ich es noch tausend Mal überarbeite. Ich bin hier einfach bei 'nem toten Punkt angelangt, und ich hoffe, dass wenigstens ihr, meine Leser, halbwegs damit zufrieden seid.
Und noch ein kleiner Hinweis: Ich weiß, dass in Bezug auf Stu-Pots Kindheit einmal angegeben wird, dass er seit vier und einmal, dass er seit zwei Jahren leidet. Ja, das ist Absicht. Was dahinter steckt, werdet ihr bestimmt in den nächsten Kapiteln erfahren! =)
bye
sb