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3 Blickwinkel

eine Kurzgeschichte von Kevin Fischer
von

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Und dann fing es an, zu regnen.

Ich spürte sie, die kleinen Regentropfen, wie sie verstohlen auf meinem Gesicht herumtappten. Über mir die Sonne, die recht unbeeindruckt von der Tatsache war, dass es wohl gleich richtig losregnen sollte, und so fast höhnisch auf mich herab schien.

Irgendwo über, unter, hinter mir drangen Polizeisirenen gedämpft an mein Bewusstsein – oder waren es bereits die Krankenwagen? - Ich wusste es nicht… Überhaupt nahm ich alles wie durch einen nebligen Schleier wahr – Selbst der erwartete Schmerz blieb aus.

Dann huschte eine Gestalt in Rettungsjacke in mein Blickfeld und versperrte meinen Blick auf die Sonne. Sie rief irgendetwas irgendjemandem zu, den ich nicht sehen konnte. Dann gab es einen leichten Ruck und ich merkte, wie etwas unter meinen Rücken geschoben wurde, kurz bevor ich angehoben und weggetragen wurde.

Später erinnerte ich mich nicht mehr all zu klar an den Unfall, an die ganzen Schaulustigen, die sich um den Rettungswagen drängten oder den Ford Fiesta, der sich halb um eine Straßenlaterne gewickelt hatte, kurz nachdem er mich erwischt hatte.

Nur der Regenbogen blieb.

Der Regenbogen, der sich wie ein bunter Haarreif über den Himmel spannte, war das Letzte, das ich zu Gesicht bekam, bevor ich dann mein Bewusstsein verlor. Er gab mir irgendwie das surreale Gefühl, dem Himmel ein Stückchen näher als sonst zu sein…
 

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Manche Menschen haben Glück und andere wiederum trifft das Schicksal mit voller Härte…
 

In diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als mit dem armen Burschen dort im Bett tauschen zu dürfen – so sehr, dass ich am liebsten laut aufgeheult hätte, ob dieser schreienden Ungerechtigkeit.

Es täte ihm sehr leid, hatte der leitende Arzt der Intensivstation zu den Eltern des Jungen gesagt, aber ihr Sohn hätte als Folge des Unfalls mehrere gebrochene Rippen, eine Wirbelsäulenfraktur und eine daraus folgende Durchtrennung des Rückenmarks unterhalb des fünften Rückenwirbels erlitten.

Diagnose: Querschnittslähmung.

Die Mutter schnappte nach Luft und fing an zu zittern, bevor sie dann kraftlos zu Boden sank. Der Vater schwieg und versuchte krampfhaft die Fassung zu bewahren, was man ihm deutlich ansehen könnte...

Als die vielleicht knapp dreizehn Jahre alte Schwester des Jungen auch noch in Tränen ausbrach, senkte der Chefarzt hilflos den Blick und verließ, ja flüchtete fast aus dem Zimmer. Ich stand die ganze Zeit während der Hiobsbotschaft in der Tür des Krankenzimmers und hielt einen Strauß Blumen schlaff in der Hand.

Der Arzt passierte mich und sein Blick fiel auf die Blumen. Einen endlosen Augenblick lang trafen sich unsere Blicke und es schien als wollte er in meinen Augen ergründen, was mich bloß dazu getrieben hatte, das Leben dieses Burschen zu zerstören, das Leben dieser ganzen Familie zu zerstören…

Denn genau das hatte ich getan, als ich um 15:46 Uhr an mein Mobiltelefon gegangen war, um meine Kurzmitteilungen zu überprüfen.

Ganz plötzlich hatte der Bursche auf der Straße gestanden, einer dieser bunten Vögel mit Nietengürtel und gefärbten Haaren. Ein Individualist mit Träumen und Wünschen – vielleicht ein begnadeter Sportler. Doch das spielte inzwischen keine Rolle mehr. Ich hatte ihm einen endgültigen Strich durch die Rechnung gemacht.

Der Vater erwachte aus seiner Starre und führte seine Familie unbeholfen und wortlos an mir vorbei aus dem Krankenzimmer, ohne auch nur Notiz von mir zu nehmen.

Die Schwester des Burschen war nicht so gnädig. Sie blieb einige Schritte hinter mir stehen und drehte sich noch einmal um, um mir einen unverhohlen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen.

Junge Augen, die mich durchbohrten und gerade zu schrien: „Warum er!?... Warum nicht du!?“

Als sie weg waren, schlich ich mich in das Zimmer und schloss die Tür hinter mir.

„Benno Wolf

geb. 10. Juni 1988“

stand auf dem Schild am Fußende des Krankenbettes.

„Benno Wolf“ – ein Name wie Tausend andere – ein Leben, das wie Tausend andere hätte verlaufen können: Normal und in geordneten Bahnen. Schulabschluss, Studium, Beruf, Verlobung, Heirat, erstes Kind.

Hätte…

Ich ließ mich kraftlos auf einen Hocker neben Bennos Bett sinken. Das leise Piepsen des EKGs und der schwere, röchelnde Atem des Burschen waren die einzigen Geräusche in dem Raum, welcher ansonsten von einer fast andächtigen Stille beherrscht wurde. Behutsam legte ich den Blumenstrauß auf meinen Schoß und fuhr mit über die pochende Stirn. Dort spürte ich den nur noch locker sitzenden Verband – Platzwunde am Hinterkopf, nicht einmal eine Gehirnerschütterung. Das war meine Diagnose gewesen.

„Sie müssen einen Schutzengel haben“

Das waren die Worte des Sanitäters, der mich am Unfallort untersucht hatte. Kurz zuvor war ich desorientiert und leicht taumelnd, aber ansonsten fast unverletzt aus den Überresten meines Ford Fiesta geklettert – Totalschaden. Außerdem hätte man meinen Beifahrer mit einer Pinzette auflesen können, hätte ich denn einen gehabt.

Seufzend stand ich wieder auf. Meine Hände zitterten. Einige tiefblaue Blütenblätter lösten sich klammheimlich von dem Strauß und schwebten zu Boden.

Merkwürdig… Aus diesem Blickwinkel sah es beinahe so aus, als würde der junge Benno sein Schicksal einfach mit einem Lächeln tragen.
 

Hinter mir erklang ein Räuspern.

„Es… Es tut mir leid, aber die Besuchszeit ist vorbei…“, die Stimme gehörte einem Krankenpfleger mit dunklen Ringen unter den Augen. Ich nickte ihm resigniert zu…

Am Aufzug bemerkte ich, dass ich den Blumenstrauß immer noch in der Hand hielt. Ich warf ihn in den Mülleimer…
 

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Gleich. Gleich war es soweit.

Festziehen. Ansaugen. Vorsicht. Nichts drin lassen… So… Zielen. Abdrücken und…
 

… und alles war gut. Sehr gut. Genial sogar!

Ich schloss die Augen. Ich wollte mich durch nichts ablenken lassen und mich vollständig treiben. Der perfekte Moment.
 

Ich lebte für diesen Moment.
 

Irgendwann… als das Gefühl verebbt war, öffnete ich entspannt die Augen. Die Welt war direkt um einiges schöner und erträglicher geworden – zumindest für einige Zeit.

Meine Schicht war noch nicht ganz vorbei, also galt es, sich noch einmal zusammenzureißen, bevor es nach Hause ging. Vielleicht würde ich ja später noch ausgehen. Feiern bis der Arzt kommt. Ha ha – oder halt der Krankenpfleger. Wie man’s nimmt…

Routiniert lockerte ich den Gürtel um meinen Oberarm, um mich dann schnell um das Entsorgen der Spritze und der anderen, verräterischen Gegenstände, die ich auf dem Boden der Toilette des Pflegepersonals verteilt hatte, kümmern zu können.

Mein Kontrollgang, den ich daraufhin durch die Intensivstation machte, verlief ganz normal und routinemäßig: Kurz nach den Patienten sehen, ob irgendetwas ungewöhnlich war (was natürlich nie der Fall war) und manchmal kurz in den Zimmern durchlüften, wenn es sich anbot (und überhaupt zulässig war. Wenn’s nach dem Chefarzt ginge, dürfte Fußvolk wie wir Pfleger auf der Intensivstation nicht einmal laut atmen).

In einem der letzten Zimmer, die ich abklapperte, war tatsächlich etwas Ungewöhnliches: Ein einzelner Besucher, der ziemlich verloren am Bett eines Patienten stand, der heute eingeliefert wurde. Als ich näher kam, konnte ich durch das Sichtfenster der Zimmertür erkennen, dass es wohl ein recht adrett und ordentlich gekleideter Mann in den Zwanzigern war. Er würde stilvoll, wenn nicht sogar cool wirken, wenn er nicht so einen schrecklich desorientierten Eindruck gemacht hätte. In der Rechten trug er einen losen Strauß mit tiefblauen Blumen – Musste wohl ein Angehöriger sein. Und das Ganze schien ihn recht offensichtlich ziemlich mitzunehmen.

Ich öffnete leise die Tür und räusperte mich vernehmlich.

„Es…“, setzte ich an. Für einen kurzen Augenblick meldete sich ganz leise der Gedanke, dass ich vielleicht so etwas wie eine andächtige Stimmung zerstören könnte. Zu kurz offensichtlich. „Es tut mir leid, aber die Besuchszeit ist vorbei…“ – Ich wollte auch nur meinen Feierabend…

Als der Mann das Zimmer dann verlassen hatte, trat ich an das Fenster heran, wobei ich nur einen flüchtigen Blick für den Patienten übrig hatte. Ich öffnete es und sofort erfasste mich eine frische, kühle Brise, die den Duft von frisch gefallenem Laub und Kastanien mit sich trug.

Warum konnte nicht jeder Tag mit so etwas unkompliziertem und unbeschwertem wie einer lauen Herbstbrise beginnen?

Wahrscheinlich gäbe es dann viel weniger Probleme auf der Welt. Wer weiß? Vielleicht hätten sogar Kriege verhindert werden können, wenn man als Mensch nicht immer mit der knallharten Wahrheit des echten Lebens konfrontiert würde.

Mein Blick schweifte langsam und entspannt über den laubbedeckten Parkplatz des Krankenhauses, der von einigen rechteckigen Lücken und Löchern durchzogen war, dort wo bis vor kurzem noch ein Auto gestanden hatte. Und am Himmel – ja am Himmel zeichneten sich tatsächlich die letzten blassen Reste eines Regenbogens ab. Manche Künstler würden wahrscheinlich töten, um einmal in ihrem Leben eine solche Szenerie abbilden zu dürfen… Zumindest konnte ich mir das gut vorstellen.

Das ganze kam jedenfalls in gewisser Weise ziemlich nah an den perfekten Moment heran.

Nur konnte man sich leider keine Spritzen mit Sonnenuntergängen und Herbstnachmittagen besorgen – so schön die Vorstellung auch wäre. Und wieder einmal fragte ich mich, wie lange es wohl diesmal dauern würde, bis ich mich auf die Suche nach dem nächsten perfekten Moment machen musste? Das heißt, wenn ich nicht den Verstand verlieren wollte…

Was hatte dieser Junge hier falsch gemacht? Hatte er sich tatsächlich für die falsche Weggabelung entschieden und lag deswegen hier? Oder konnte er nichts dafür?

Konnte ich denn etwas dafür, dass ich einen Ausgleich gebraucht hatte, während der Ausbildungszeit? Nun hatte ich halt mit den Konsequenzen zu leben… Alles im Leben hatte Konsequenzen.

Dann hörte ich ein lautes Rauschen – wie von einer heftigen Windböe –, das von draußen kam. Und noch bevor ich mich vollständig herumgedreht hatte regnete es plötzlich goldgelbe und karmesinrote Blätter vom Himmel…

Wunderschön…
 

Dann ein Piepen. Ein langgezogenes, nicht enden wollendes Piepen, wie es mir ironischerweise nur aus schlechten Fernsehserien bekannt war und dennoch – oder gerade deswegen – wusste ich sofort was es zu bedeuten hatte. Das EKG hatte aufgehört auszuschlagen. Der Junge war tot?

Ich wirbelte herum und ich wäre sicher rückwärts aus dem offenen Fenster gefallen, wäre ich bei vollem Bewusstsein gewesen und nicht etwa ziemlich zugedröhnt…
 

Der Junge war fort – Dort, wo er bis eben noch gelegen hatte, lag nun ein Zettel auf dem Krankenbett:
 

„Quo vadis?“ **
 

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** lat. "Wohin gehst du?"



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Caro-kun
2008-09-14T20:38:14+00:00 14.09.2008 22:38
Dass du diese Geschichte aus drei verschiedenen Sichtweisen beschrieben hast, fand ich genial^^
Besonders, dass man am Anfang immer nie so genau wusste WER jetzt eigentlich erzählt ^^ Das hat die Spannung noch zusätzlich gesteigert

Außerdem fand ich es klasse, dass du es geschafft hast, in dieser FF keine Namen zu nennen und dass es deswegen aber trotzdem nicht so klang, als wären da jetzt tausende Wortwiederholungen drin.

Das Ende hat mich zwar überrascht, aber ich mag offene, mysteriöse Enden.

Von:  _-kaori-_
2008-05-08T16:18:35+00:00 08.05.2008 18:18
verdammt, warum gibt es hier so wenig kommentare????
sind die alle doooof =D
voll kein geschmack ey!! die story ist so hamma geil! *lol* vllt mach ich mal werbung xD hehe...!
also du weißt ja ich habs mich ja oft genug wiederholt, wie ich die story finde...nech?? willstes nochmla hören??? xD supeee~r, i-wie total cool *.* ka, hat mich richtig gefesselt, das ende nervt, ist aber cool, weiß wie ich das mein? das ende passt einfach, aber man will wissen, was mit ihm ist >.< man ey!!! >______<
mach noch mehr geschichten please =3~ du hast talent!
*1 geben würde, wenn das gehen würde* XD
auf jeden fall favo
tanzt den allmächtigen emuuuuu~~♥
Von:  Staubsauger
2008-04-24T12:14:29+00:00 24.04.2008 14:14
wooow
die geschichte is hamma!
kein wunder, dass es erster platz ist
...ist es doch, wenn ich mich nicht irre...^^''
das ende ist ziemlich offen...mich würde interessieren, was mit dem jungen passiert ist...oda hab ich da was falsch verstanden??
gglg
Lisz
Von:  -Chi-
2008-03-16T22:30:10+00:00 16.03.2008 23:30
Uui ^^
schöne geschichte
schön geschrieben un ein tolles ende wie ich finde
auch wenn ich imma noch überfordert bin mit dem pfleger xD
..aba das wolltest du ja schließlich ^^
lieben gruß :3


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