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Das Amulett

von

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Als sich Naliah an dem Morgen, der ihr letzter war, auf den Weg machte, schien die Sonne und der Kaffee schmeckte besonders gut. Sie verließ ihr Versteck und ging zur Familienwohnung. Sie schritt mit einem letzten Blick auf die an die Wand gehängten Fotos ihrer nun toten Eltern und Verwandten vorbei, betrat ihr altes Zimmer und setzte sich auf das Bett. Beim Setzen spürte sie, wie ein gut vertrauter Gegenstand in der Jackeninnentasche sich gegen den Stoff des Hemdes drückte und sich bemerkbar machte. Sie fasste in die Tasche, holte den Gegenstand raus und betrachtete das ständig mit sich rumgetragene Utensil lange in ihrer Hand. Da war es, dieses kunstvoll angefertigte, karmesinrote Objekt, der magische, schwarzkünstlerische Anhänger. Der Grund für all das Grauen, das Schreckliche und das Morden, das, was in der letzten Nacht in der Familie vorgefallen ist. Naliah strich mit den Fingern langsam um das Metall herum, strich langsam über das Emblem des Amuletts, ein Bildnis der Heiligen Katharina, der Gelehrten. Sie strich weiter über die klirrende Kette, an der der Anhänger hing. Die Prophezeiung; der, der das Amulett sich um den Hals hängt, der rechtmäßige Besitzer, erlangt Weisheit.

Sie hatte nicht daran geglaubt, dass diese Tugend zu Mord führen kann.

Der Gedanke, dass das Amulett nun ihr gehöre und ihr diese Macht verleihen konnte, hätte ihr vielleicht vor Jahren, wo sie noch nicht alles wusste, gefallen, nun reizte er sie längst nicht mehr. Die Fähigkeit, durch das Tragen dieses Familienschatzes dessen Macht beziehen zu können, wurde innerhalb ihrer Familie von Generation zu Generation weitervererbt – kaum ein Mensch würde der Gedanke reizen, jung dieses Amulett zugeteilt zu kriegen, und erst recht kaum ein Mensch wäre so machtgierig, darauf hinzuarbeiten. Kein Mensch jedenfalls, der nicht absolut krank ist, selbstsüchtig und verzweifelt.

„Brüderchen“, sprach Naliah langsam in den leeren Raum hinein, und es schien, dass, sobald sie das Wort von den Lippen gelassen hatte, das Entsetzen in ihrer Stimme den Raum füllte und von den dunklen Wänden hier absorbiert wurde. „Ich will nicht lange warten“, öffnete den Kettenverschluss aus Zink und band sich das Amulett zum zweiten Mal im Leben um.
 

Severin war schon seit Stunden auf der Suche nach seiner Schwester. Er hatte bei allen Bekannten und Freundinnen seiner Schwester Naliah geklingelt, gemeint, es würde ihm fürchterlich leid tun, dass er bei ihnen um 4 Uhr morgens antanzte, gefragt, ob Naliah vielleicht bei ihnen sei oder ob sie wüssten, wo sie wäre. Sie sei seit heut morgen einfach verschwunden und seine Eltern, und insbesondere er, würden sich schreckliche Sorgen um sie machen. Alle Bekannten und Freunde bedauerten, verneinen zu müssen. An diesem Morgen hatte er bereits sehr früh die Wohnung verlassen, sich auf eine Parkbank gesetzt und überlegt. ‚Zur Polizei wird sie sicher nicht gegangen sein’, dachte er, ‚diese würde ihr sicher nicht glauben, dass ihr 15-jähriger Bruder ihre Eltern umgebracht hätte und nun auch hinter ihr hersei.’ Er war überrascht, dass er zusammenzucken musste, als er sich seine Tat nun zum ersten Mal richtig vergegenwärtigte. Nachts stand er auf, ging mit einem Messer zum Zimmer seiner Eltern, sah sie im Mondscheinlicht, beugte sich über seine Mutter, gab ihr einen Kuss auf die Wange, ganz leicht, damit sie nicht aufwachte. Er fühlte dabei nichts, er fühlte nichts, als er ihr noch mal leicht übers Haar strich, er fühlte nichts, als er seine Hand auf ihrem Mund legte und ihr die Kehle durchschnitt, außer die Leere, die er sein Leben lang gewohnt war und ihm giftige Gedanken ins Blut untergemischt hatte. Dann verbeugte er sich sporadisch vor seinem schlummerndem Vater und tat es ihm gleich. Da war keine Reue, auch kein freudiger Wahnsinn dabei; er hatte nie etwas empfunden. Er war wie eine Hülle mit leeren Augen und einem Herzen, das nicht einmal Einsamkeit empfand, nicht mal in dieser Stunde. Der Lebwohlkuss, die Sekunden wo er vor den beiden reglos stand, es war eine letzte Prüfung, ob er vielleicht doch etwas fühlen könnte; nichts von dem ist geschehen. Noch nicht mal Erleichterung, dass endlich die Macht des Familienerbstücks auf ihn übergehen würde, sobald er sich noch seiner älteren Schwester entledigt hätte und es um seinen Hals band, die Macht, alles zu wissen, was er als letzte Chance empfand, rauszufinden, warum er so war und wie er vielleicht endlich etwas spüren könnte.

Jetzt waren schon fast drei Stunden vergangen, seitdem er das Zimmer seiner Schwester leer aufgefunden und anschließend überall nachgefragt hatte, wo sie sein mochte. Sie hätten es ihm gesagt, wenn Naliah bei ihnen gewesen wäre; Wie hätte sie ihnen erklären können, dass sie vor ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder flüchtete?

Er stand auf, und entschied sich, erst mal wieder in die Wohnung zurückzugehen, um dort weiter zu überlegen und vor allem, um zu schauen, ob er das Amulett daheim auffinden könnte oder ob seine Schwester das karmesinrote Objekt vor der Flucht noch an sich nehmen konnte.
 

Sie hieß ihn mit einem unergründlichen Lächeln in ihrem Zimmer willkommen. Er schaute sie lange mit einem Stirnrunzeln an; dann registrierte er, dass sie das Amulett trug. „Warum bist du hier? Was hat das zu bedeuten?“ Sie stand langsam auf, näherte sich ihm, wütend, aber doch irgendwie ruhig. „Hat es Spaß gemacht?“, fragte sie leise und schneidend. Dann zog sie ein Messer aus ihrer Jackentasche hervor. Er ging ein paar Schritte zurück, musterte das Messer vorsichtig, dann sagte er langsam mit einem ironischen Unterton: „Ich bitte dich, du wirst doch nicht einem von der Familie Gewalt antun?!“ Sie sah ihn missbilligend an. Dann schritt sie zu ihm, nahm seine Hand. Ihr kam es vor, als ob ihre Hand eine leblose anfassen würde, die sie in die bodenlose Tiefe zu ziehen schien, dort, wo keine Schreie mehr zu hören waren. Der Blick seiner Augen veränderte sich nicht; er blieb weiterhin eine Ahnung von der leeren, weiten Wüste, die in diesem Wesen geborgen sein mag. „Dich töten, wieso? Siehst du nicht das Ding um meinen Hals, glaubst du, ich wäre jetzt von Dummheit geschlagen?!“ – „Warum hast du es überhaupt an?!“ Er verstand es nicht. Ihre Eltern waren getötet worden, durch die Hand ihres Bruders, und sie legte sich innerhalb der nächsten drei Stunden den Gegenstand, wegen dem das alles passiert ist, um den Hals. Es verwirrte ihn zusätzlich, warum sie, wenn sie doch momentan so weise geworden sein sollte, zur Wohnung zurückging und dem Mörder die Hand reichte. Als könnte sie seine Gedanken lesen – vielleicht war sie auch in dem Moment dazu fähig - beantwortete sie, was er sich zuerst gefragt hatte: „Neugier. Es war plötzlich das Einzige, was ich fühlen konnte, nach alldem. Obwohl ich noch bis vor wenigen Stunden so verwirrt war, als ich auf dem Weg zum Bad dich mitten in der Nacht mit einem Messer zum Elternschlafzimmer wandeln sah, obwohl ich mich so schrecklich und feige fühlte, als ich dir nur entsetzt durch den Türspalt zusehen konnte, als du es tatest, obwohl ich gezittert habe und vor Wut gekocht, als ich den Anhänger schließlich fand und zu einer Freundin verschwand – nach einer gewissen Weile war ich einfach neugierig auf dieses Ding, weil mir plötzlich zufällig erst richtig klar wurde, dass dessen Fähigkeit ja jetzt für mich zählte. Na ja, und jetzt hab ich auch erkannt, wie das Ganze zu Ende gehen kann, und wie ich dir...“ – „Wie du dich rächen kannst?“, hauchte er. Sie hatte wieder dieses undefinierbare Lächeln, und dieses wurde zu einem überlegenen, leichten Grinsen, als sie das Amulett abnahm und ihn um den Hals hing. Dann öffnete sie seine Hand, die sie festgehalten hatte, und legte das Messer hinein. Sie ging einen Schritt zurück, zuversichtlich, erwartend, wissend, aber nicht ohne Angst. Er starrte sie nur an, verwirrt. Langsam hob er das Messer etwas, bis es auf gleicher Höhe wie ihr Bauch war. Er konnte ihr nicht in die Augen schauen, schaute zum Boden, erblickte dadurch das Amulett um seinen Hals. Dann endlich, endlich, spürte er etwas, etwas, was er schon immer latent gespürt hatte, aber er hatte dieses Gefühl ignoriert; er hat es gespürt, ohne sich dessen klar zu sein, als er vor seinen Eltern stand, kurz bevor er sie getötet hatte, kurz nachdem er sie getötet hatte: grenzenlose Neugier. Er wollte dieses Ding haben, um jeden Preis, er wollte wissen, wie es war, wenn man es trug, wenn es einem seine Macht geben konnte, er wollte unendliche Wahrheit. Er hatte keine Ahnung, was er sich darunter vorstellen sollte, was er dadurch erreichen würde, aber er wollte es, denn er nahm an, dass es ihm von Nutzen sein könnte, dass es ihm irgendwie voranbringen würde. In seiner Neugier und Dummheit dachte er nicht nach, und stach zu.

Naliah keuchte, sank langsam seitwärts zu Boden.
 

Natürlich war ein Gedanke von ihr pure Angst, nicht sterben zu wollen. Aber der Zweite war auch, dass es geschehen musste, damit der Plan aufging. Durch einen Nebelschleier erkannte sie in ihren letzten Sekunden an Severins entsetztem Blick, wie, je mehr Lebenshauch ihr entschwand, das Amulett offensichtlich seine Fähigkeit seinem nächsten Erben immer mehr übergab. Es ist alles so gekommen, wie es kommen musste; Severin bekam das, was er sich am Meisten gewünscht hatte, was aber gleichzeitig die höchste und schrecklichste Strafe werden sollte, die er bekommen konnte: Weisheit, Erkenntnis. Er erkannte erst jetzt die ganze Tragweite von dem, was er getan hat, wie schrecklich es war; er erkannte, dass diese Neugier nur aus absolutem Egoismus entstehen konnte. Das alles las Naliah ihm genüsslich aus den Augen ab, und mit der Erkenntnis, dass dieser grausame Mensch für immer gebrochen war, senkte sich der Schleier für immer.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2008-01-16T18:21:31+00:00 16.01.2008 19:21
Entschuldige, dass ich erst jetzt ein Kommentar hinterlasse. ^^" ich hatte die geschichte eigentlich schon vor einiger zeit auf der Arbeit gelesen, kam aber dnan nicht mehr zu ein Kommi zu hinterlassen und hab es dann einfach vergessen. *sich verbeug* ich hoffe, du kannst mir verzeihen.

Sooo, jetzt zum eigentlichen Kommi. Erstmal ein großes Lob. :-3 Ich bin begeistert von deinem Schreibstil. So sollten wir vielleicht auch mal in unseren RPG schreiben. ^__^ Das fänd ich richtig klasse. Auch die Story ist sehr interessant gestaltet. Meine Hochachtung. ;-3


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