Runenkind
„Spürt den Zorn der Götter!“ Laut wie tausend Hammerschläge hallte die Stimme der Götterbotin Reytoxia über das Land Impia und die Menschen in den Städten fielen auf die Knie, als der apokalyptische Tag begann. Von einer Sekunde auf die andere prasselte der Regen auf die Erde hinab und es wurde finster. Es dämmerte nicht und keine Wolke schob sich vor die Sonne; sie hörte einfach auf zu scheinen. Nur die Gestalt der göttlichen Botin war in ein türkises Licht gehüllt.
Ein spöttisches Lächeln stahl sich auf Reytoxias schmale Lippen.
Sie hatten es nicht anders verdient, diese arroganten Sterblichen. Sie waren zu eitel, um den Göttern zu huldigen, zu gierig, um ihnen zu opfern und zu feige, um sich den Konsequenzen ihres Fehlverhaltens zu stellen. Lieber krochen und wanden sie sich auf dem Boden, schrien um Vergebung und bettelten um Gnade.
„Seid gewappnet, Bewohner Impias, denn heute Nacht wird der Fluch der Götter geboren werden. Euere Ernte wird er verderben und eure Kinder wird er töten, noch ehe sie das Licht der Welt erblicken. Nehmt euch in Acht vor dem Runenkind.“
Als die gleißende Erscheinung Reytoxias vom Himmel verschwand, glitt das blutverschmierte Kind aus dem Körper seiner Mutter auf das weiße Laken, welches diese über dem Bett ausgebreitet hatte. Stöhnend vor Angst und Anstrengung vergrub sie ihre Finger in dem Stoff und das Kind begann zu weinen. Langsam richtete die junge Frau sich auf und hoffte, ihre Eltern nicht aufgeweckt zu haben. Hätten sie von ihrer Schwangerschaft erfahren, hätten sie sie zur Abtreibung gezwungen. Jetzt war es zu spät, niemand würde ihr dieses Kind wegnehmen können, das in solch einer zärtlichen Nacht empfangen wurde.
Vorsichtig griff die geschulte Hebamme nach der Schere und trotz der Schmerzen richtete sie sich weiter auf, durchtrennte die Nabelschnur und langte nach dem frischen Handtuch, als ihr die Schere aus der Hand glitt. Erschrocken starrte sie das Kind auf dem Laken an. „Nein…“
Rasch erhob sich die junge Mutter und wäre unter den brennenden Unterleibsschmerzen beinahe zusammen geknickt. Mit zitternder Hand griff sie nach dem weißen Tuch, ergriff das Kind und wickelte es in den Stoff ein, sodass man nur einen Teil des kleinen, dunklen Kopfes sehen konnte.
„Nein…“, wisperte sie erneut und sah sich panisch um. Dann holte sie ihren Mantel hervor und warf ihn sich hastig über, bevor sie sich leisen Schrittes aus ihrem Elternhaus schlich.
Als sie durch den von den Göttern verfinsterten Nachmittag eilte, kreisten ihre Gedanken um das Bündel, das sie unter ihrem Mantel verbarg.
Wie konnte das nur geschehen sein? Ihr Kind…
„Nein… es ist nicht mein Kind. Es ist eine Schande…“
Der Jungpriester Nellov hatte gerade Dienst, als Reytoxia am Himmel erschien. Demütig war er auf die Knie gesunken und hatte den Blick beschämt gesenkt, als er den Vorwurf und die Strafe der göttlichen Stimme vernommen hatte.
Er und seine Messdienerin Celestria waren die einzigen Gottesdiener im Tempel und auch sie waren der Götteranbetung nur müßig nachgekommen. Der Bürgermeister des Dorfes hatte ihnen fast alle finanziellen Mittel entzogen. Einmal im Monat- wenn überhaupt!- fand eine rituelle Opferung statt und Nellov hatte ihn gespürt, den herannahenden Zorn der Götter. Der warme Glanz des türkisenen Feuers war von Mal zu Mal verblasst, bis es schließlich ganz erlosch.
War es seine Schuld, dass die Götter ihr Gesicht von ihnen abgewandt hatten? Er allein hätte das Volk des Dorfes nicht dazu anhalten können, den Göttern wieder zu huldigen. Nellov fühlte sich so unbedeutend wie ein Blatt im Wind.
Der Jungpriester fuhr aus seinem Gebet, als die schweren Türen des kleinen Tempels geöffnet wurden. Ein eisiger Wind wehte hinein und als die Türen wieder einrasteten, stand eine junge Frau vor ihm.
„Dira... führt dich diese... traurige Stunde in den Tempel?“ Langsam richtete Nellov sich auf und ging auf die verängstigte Frau zu. Diese schüttelte einen Moment panisch den Kopf, dann entblößte sie das weiße Bündel, welches sie unter ihrem Umhang verborgen hatte. Mit zitternden Händen streckte sie es Nellov entgegen.
„Dieses Kind… ist nicht unter dem Segen der Ehe entstanden… Bitte… nehmt es in Eure Obhut, ich kann es nicht bei mir behalten…“ Mit einer Hast, als würde das Kind ihre Finger versengen, drückte sie das Neugeborene in seine Arme und verschwand dann wortlos aus dem Tempel.
„Was… Dira… Dira!“ Der Jungpriester stand vor der offenen Türe mit einem Kind in den Armen und starrte der Mutter hinterher, die in den endenden Nachmittag floh.
Das Kind im Tuch regte sich und zog so Nellovs Aufmerksamkeit auf sich. So klein wie es war, konnte es kaum älter als ein paar Stunden sein. Langsam lief der Jungpriester zu einer Öllampe und legte das Kind neben die brennende Lichtquelle auf den Altar, dann schlug er das teils blutige Laken beiseite.
Erst verwundert dann erschrocken betrachtete er das kleine Mädchen, das vor ihm lag. Seine Hand begann zu zucken und er trat einen Schritt zurück.
„Celestria…“, wisperte er leise und die Messdienerin, die im stummen Gebet neben dem Altar gekniet hatte, richtete sich auf und verbeugte sich rasch. „Herr?“
„Celestria, sei so gut und wärme ein wenig Wasser, damit ich dieses Kind waschen kann. Geh dann zum Stallmeister und lass unsere Pferde satteln, um dieses Kind nach Divinatio zu bringen.“
Die schwarzhaarige Messdienerin verbeugte sich rasch, warf dabei einen Blick auf das Kind und sog die Luft erschrocken ein. „Herr, was…?“
Nellov nickte bedrückt von der Last, die ihm soeben aufgeladen wurde.
„Ja, Celestria… das sind göttliche Runen.“