Abscondence - Pubertät 12
Kapitel 21:
Abscondence - Pubertät 12
Seulgis Sicht
Papa fährt mich in die Schule, ich schweige ihn an. Er hält am Straßenrand und lässt mich aussteigen.
„Bis nach der Schule, ich hol dich um Zwei hier ab.“ Ich schlage die Beifahrertür zu und hänge meinen
Ranzen über die Schultern. Ich werde aber um Zwei Uhr nicht hier sein, Papa! Ich überquere den
Schulhof und bekomme Herzklopfen, vor Aufregung. Vor meinen Freundinnen tue ich schon seit Tagen
so, als wäre bei mir Zuhause kein Stress. So fällt es auch keinem auf, das da in Wirklichkeit totaler
Terror herrscht. Bald darauf klingelt es zur ersten Stunde und wir begeben uns in die Klassenzimmer.
Sanji muss seine Nachricht total Ernst meinen, ich habe alles Geld aus meinem Zimmer genommen und
mir Klamotten mit eingepackt. Nach der großen Pause werden wir uns vor den Toilette treffen. Keine
Ahnung, wie er sich das vorstellt, aber Abhauen ist eine super Lösung! Hoffentlich erwischt uns dabei
keiner.
Gestern Abend war ich in meinem Zimmer und habe Gedichte geschrieben. Das hilft mir richtig, wenn
ich unter Druck gesetzt bin oder es mir Scheiße geht. Papa hatte mich dann vorm Schlafengehen noch
mal raus gelassen, dass ich mir im Bad die Zähne putzen konnte und so, wie es schon täglich ging.
Danach war Sanji dran und ich machte mich wieder ans Schreiben, war natürlich eingeschlossen und
hang mit meinen Gedanken wie immer nur Sanji hinterher. Etwas später hat es an meine Wand geklopft,
woraufhin ich recht schnell herausgefunden habe, was das zu bedeuten hatte. Sanji schob von seinem
Zimmer einen Zettel durch das Loch, das er mal als Verbindung gebohrt hatte. Ich hang mein Bild ab,
welches das Loch durchgehend verdeckt, und zog das zusammengerollte Blatt Papier heraus. Mir
klopfte das Herz wie nach einem Schnellsprint im Sportunterricht, und ich begann zu lesen.
<<<Meine Süße, ich ertrage das nicht länger eingeschlossen zu sein. Deshalb habe ich folgenden Plan:
morgen treffen wir uns in der dritten Stunde vor den Toiletten im Z-Bau. Zehn Minuten nach
Unterrichtbeginn meldest du dich und sagst, dass dir nicht gut ist und du an die frische Luft willst oder
einfach nur aufs Klo musst. Irgendwie musst du deinen Ranzen mitnehmen. Nimm Klamotten zum
Wechseln mit und alles Geld, was du in deinem Zimmer versteckt hast. Wir gehen dann zusammen zum
Bahnhof, ich möchte mit dir für zwei Tage wegfahren. Für diese zwei Tage lassen wir alles hinter uns,
ich brauche dich für diese kurze Zeit. Ich werde noch total krank hier! Machst du mit? Ich hoffe es! Klopf
grad an die Wand, das heißt dann ’ja’. Ich liebe dich, hoffentlich bis morgen. Lass dir nichts anmerken.
Sanji.>>> Ich hatte mir sein Schreiben noch weitere Male durchgelesen und mich dann sofort daran
gemacht, zu erledigen, was da stand. Er wollte echt mit mir hier ausbüchsen.
Ich sehe permanent auf meine Armbanduhr, bis die dritte Stunde zehn Minuten vorbei ist. Meine
Kleidung ist in einer Plastiktüte, dann wird sie gleich auch nicht nass. Vorsichtig greife ich in meinen
Ranzen, öffne meine Wasserflasche und gieße ein wenig vom Inhalt ins Innere meines Ranzens. Dann
verschließe ich die Flasche wieder und stelle sie zurück. Keiner hat hingesehen, da jeder mal versucht,
heimlich was zu essen, wie Kaugummis oder so. Ich melde mich, als die Lehrerin spricht. „Ja, Seulgi?“
Ich nehme meine Hand wieder runter. „Mir ist Wasser im Ranzen ausgelaufen, darf ich ihn runter in die
Toilette bringen? Ich lehne ihn da an die Heizung.“ Bitte, bitte sag ja! Wieso denkt die erst so lange
nach? „Ja, okay. Ist ja auch unangenehm, wenn der Ranzen nass triefend ist.“ Die und ihre altmodische
Sprache, ich hab ein extrem wichtiges Treffen! Jetzt nur nicht hektisch sein, langsam aus der Klasse
raus gehen. Geschafft! Auch wenn der Ranzen jetzt etwas feucht ist, setze ich ihn auf und beeile mich.
Ich muss zu den Klos! Da steht Sanji schon! Alles in mir wird vor Freude gesprengt und ich renne die
letzten Meter zu ihm, um ihm dann um den Hals zu fallen! „Endlich!“ quietsche ich und er entgegnet
meine Umarmung. Einen Augenblick verweilen wir so, dann sehen wir uns an. „Wir müssen jetzt zum
Bahnhof, okay?“ höre ich seine schöne Stimme sagen. Ich strahle und nicke gleichzeitig. Jetzt kann
nichts mehr schief gehen. Ich drehe mich irgendwie reflexartig um, ob hier jemand ist, den wir kennen
–oder besser gesagt, der uns kennt- und es ist keiner in Sicht, also küssen wir uns. Endlich, endlich
ENDLICH! Unser erster Kuss seit Wochen! Auch wenn es vielleicht bloß ein paar Tage waren! Ich liebe
ihn so, ich habe seine Küsse so unendlich vermisst! Jede Nacht träume ich davon, jetzt haben wir uns
wieder! Leider schiebt er mich schon wieder leicht von mir weg. „Komm jetzt.“ Er nimmt mich an der
Hand und wir sehen zu, dass wir vom Schulgelände wegkommen.
Nun sind wir schon eine dreiviertel Stunde unterwegs, bald am Ziel. „Hauptsache, wir haben uns. Auch
wenn’s nur für kurze Zeit ist. Solange scheiß ich einfach auf alles zu Hause.“ Ich sitze so halb auf
seinem Schoß und sehe kurz aus dem Zugfenster, auf die vorbeiziehende Landschaft, dann in seine
lieben Augen. „Ich weiß, was du meinst.“ sage ich. Er streicht mir über den Arm, mein Gesicht und ich
lehne mich, wie vorhin schon, an ihn an. Bald kommen wir irgendwo an. Das wird riesigen Krach geben,
wenn wir übermorgen nach Hause kommen. Aber schlimmer als bisher kann es eigentlich nicht werden.
Das Jugendamt wollen wir auch nicht verständigen, immerhin werden wir ja nicht geschlagen oder
bedroht, und außerdem reicht mir das jetzt schon, was daheim abgeht. Oh Mann... ein Glück ist Sanji
jetzt wieder bei mir, ich möchte nie wieder von ihm getrennt werden. Er fährt durch meine Haare, diese
Angewohnheit hat er schon von Anfang an, ich mag das. Ich küsse ihn noch mal und stehe dann auf.
Der Zug fährt an irgendeinen Bahnhof und verlangsamt sich. Wir nehmen uns an die Hände und steigen
mit den Massen aus. Ein fremder Ort, hier drauf kommen Papa und Lydia nie. Wir haben einfach ganz
normal ein Ziel gesucht, ohne weit zu denken. Wenn die uns suchen, werden die das erstmal im
Umkreis tun, bei Freunden oder so. Da wir kaum Kleidung mitgenommen haben, werden die auch nicht
direkt darauf kommen, dass wir durchgebrannt sind. Durchgebrannt, das Wort fand ich früher immer
lustig, aber das ist scheiß Ernst und hat auch viel mit Angst zu tun. Wenn wir jetzt abhauen und nicht
wiederkommen, wäre es was anderes, aber es steht von vorne rein fest, dass wir uns danach stellen
werden und es ein riesiges Donnerwetter geben wird. Aber es ist sowieso egal, was Papa dann mit uns
vorhat. Sanji soll doch so oder so ins Internat, also verlieren können wir nichts, da seine Strafe schon
feststeht. Ich hasse Papa richtig dafür, was er mit uns gemacht hat. Das ist ja wirklich nicht normal.
Aber ich glaube, er hat einfach Angst, dass wieder ein anderer Mann ihm sein Mädchen wegnimmt. So
wie mit Mama. Die hat sich auch einen anderen geschnappt, und deshalb wollte er mich um jeden Preis
behalten. Dass ich jetzt nicht mehr auf ihn höre, weil ich in Sanji verliebt bin und ihn höher stelle als
Papa, ist er wütend auf ihn. Irgendwie so muss er das aufgefangen haben. Es besteht ja auch die
Hoffnung, dass unsere Elternteile vielleicht bereuen, dass sie uns weggesperrt haben. Vielleicht
kommen sie so ins Schwitzen, das sie uns danach um Entschuldigung bitten und uns erlauben,
zusammen zu sein. Dann wird ihnen endlich klar, dass das so nicht angeht. Das wäre echt das Beste.
Die sollen sich erstmal Sorgen machen, dann sehen wir weiter. Für zwei Tage sind wir mal egoistisch
und denken bloß an uns, das ist nur gerecht, finde ich.
Wir zahlen uns ein kleines Zweierzimmer in einer Jugendherberge oder in einem Motel oder so, mit
Halbpension. Endlich haben wir’s geschafft! Sanji hat der Frau an der Rezeption falsche Namen
angegeben, falls Papa und Lydia irgendwie herumtelefonieren sollten. Da wir bar bezahlen, klappt das
schon. Wir schmeißen unsere Ranzen auf die Betten im Zimmer und werfen uns auch rein. Jetzt sind wir
zu zweit! Ich kugele mich zu Sanji und lege mich auf ihn. Es kommt mir so vor, als gäbe es nichts
Schöneres und als wäre unsere schlimme Zeit zu Hause nie gewesen. Alles ist wie früher, nur diesmal
haben wir im Hinterkopf, dass es nur begrenzt anhält. Das verdränge ich auf jeden Fall erstmal. Wir
werden es uns hier so schön gestalten, wir werden zwei Tage loslassen von allem, doch danach müssen
wir uns was anderes einfallen lassen. Wir werden es so gut genießen, wie es geht! Diese dreißig Stunden
werden wir bewusst leben und ich werde so vie Liebe tanken, mitnehmen, dass mir die Zeit später,
wenn Sanji aufs Internat soll, erträglich wird. Wir werden uns dann immer Briefe schreiben und an
Wochenenden sehen. Dagegen kann Papa nichts sagen, ich habe sehr wohl das Recht, ihn dann
besuchen zu gehen. Wir schaffen das, dafür ist unsere Liebe stark genug! Ich bin da total sicher, wir
haben das ja jetzt auch durchgehalten. Ich liebe ihn so sehr, wie er mich, das ist eine Flucht allemal
wert und egal wie sauer Papa reagieren wird, das ist uns egal. Es wird auf jeden Fall etwas sein, das nur
uns beiden erhalten bleibt. Diese zwei Tage sind nur für uns allein, das kann uns dann keiner mehr
nehmen.
///
Ich kann es einfach nicht glauben, dass die Zeit schon vorbei ist. Ich begreife es einfach nicht, es will
mir nicht in den Kopf rein, aber wir sind schon im Bus auf dem Weg nach Hause. Es ist nicht möglich.
Ich habe alles aufgeschoben, mir nicht vorgestellt, wie lange es noch anhalten würde. Es ist schon
richtig dunkel und es sind nur wenige Leute im Bus. Sanji und ich stehen gegenüber der Aussteigetür,
halten uns umarmt und ich möchte ihn nicht gehen lassen. Ich habe Angst vor Papa. Und was sie uns
gleich für Standpauken halten werden. Was haben wir die ganze Zeit über gemacht? Ganz normal
gelebt, und schon mussten wir wieder abreisen. Verdammter Dreck... Ich will nicht zurück. Mein Gesicht
vergrabe ich in Sanjis Hemd, er spricht mir Mut zu, den er eigentlich von mir gut gebrauchen kann.
„Das wird schon. Wir schaffen das.“ Mehr als ein Nicken bringe ich nicht fertig. Der Bus soll nie
ankommen. Doch ich weiß genau, dass er wird. „Wir müssen gleich aussteigen.“ Mit diesem Satz schlägt
mir die Realität brutal ins Gesicht. Ich könnte anfangen zu weinen, wenn ich wollte. Aber für Sanji bin
ich tapfer, dieser Gedanke lässt mich kurz auflächeln. Wir fahren schon auf unsere Haltestelle zu und
steigen dann aus. Händchen haltend machen wir uns auf den Weg, in meinem Magen braut sich was
kreuz und quer zusammen. Es sind nur wenige Häuserblocks, ich kann schon die Lichter erahnen, die
Zuhause sicher noch einige Zimmer erleuchten. Ich klammere mich an seinen Arm und halte meinen
Blick gesenkt, auf den Asphalt gerichtet.
Ich sehe schon einige Meter vor der Haustür, dass zwei Polizeimänner dort stehen und sich mit Papa
unterhalten. Oh Scheiße! Papa hat uns gerade auch erspäht und da seine Aufmerksamkeit für die
Polizeimänner erstorben ist, drehen die sich auch um. Papa sagt so etwas wie ’Danke, die
Angelegenheit hat sich erledigt.’ oder so, ich verstehe es nicht ganz, jedenfalls nistet sich ein Kloß in
meinem Hals ein. Papa hat die Polizei gerufen, um nach uns zu suchen. Nach 48 Stunden kann man
eine Anzeige aufgeben, soviel ich weiß. Die Polizeibeamten richten ihre Mützen zurecht und
verabschieden sich. Ich möchte stehen bleiben, gar nicht weiterlaufen, aber Sanji schleift mich
irgendwie mit. Lydia steht hinter Papa im Türrahmen und ich kann keinen Blicken ausweichen, die von
ihnen ausgehen. Sanjis Stimme klingt gefasst, doch ich weiß, dass sie etwas zittert. „Guten Abend.“
fängt er an und wir kommen zum Stehen, noch aus Papas Reichweite entfernt. Ich beginne leicht zu
schwanken, wieso wird mir gerade jetzt schwindlig? Mir darf jetzt nicht schwarz vor Augen werden...
Papas Stimme lenkt mich ab. „Schön, dass ihr wohlbehalten zurückgekommen seid.“ Auf einmal
zwicken meine Schulranzenträger an meinen Schultern. Wehe es fängt an, mich zu jucken. Papa spricht
weiter. „Kommt erstmal mit rein.“ Er macht Platz frei, dass wir ins Haus können. Sanjis Hand ist mein
einziger Halt, deshalb lasse ich sie unter keinen Umständen los. Ich hoffe unser Auftritt verdeutlicht
ihnen, dass es nicht möglich ist, uns zu trennen! Hoffnung und Angst halten sich die Waage, mal sehen,
ob wir Glück haben.
Wir laufen durch bis zum Wohnzimmer, wo wir alle stehen bleiben. Papa wendet sich uns zu, hinter
Sanji kann ich mich nur schlecht verstecken. Wir kommen alle zur Ruhe und Papa eröffnet die auf uns
zukommende Diskussion. „Das hätten wir nicht gedacht, dass ihr einfach abhauen wollt.“ Lydia sieht
betreten aus, ihr ist es auch unangenehm, dass wir uns jetzt aussprechen müssen, und daran sind ja
eigentlich Sanji und ich Schuld. Papas Stimme hallt wieder durch die Luft, er sieht dabei Sanji ernst an.
„Ich habe mit deiner Mutter gesprochen und wir sind zu einem Entschluss gekommen.“ Sie wollen ihn
mir wegnehmen, ihn aus meinem Leben reißen. Aber ein Internat kann uns nur auf Dauer trennen, mehr
geht nicht. Ich finde es so ungerecht, dass Papa Sanji als den ’Bösen’ hinstellt, immerhin bin ich ja auch
an allem mit beteiligt. „Und der wäre?“ fragt er geduldig nach, da von Papa nichts Neues kommt. Wir
beide kennen doch die Antwort schon. „Deine Mutter möchte nicht, dass du auf ein Internat gehst.“ Ich
schiele vorsichtig zu Sanji, der Lydia ansieht. Was er wohl gerade denkt? Er meinte mal zu mir, dass sie
sich früher nie für ihn eingesetzt hatte. Vielleicht wird das zwar unser vorübergehendes Aus sein, aber
ihre Beziehung kann sich vielleicht bessern. Wenn sich Lydia um Sanji kümmert, ist das schon mal ein
gutes Zeichen. Was jetzt anstelle von Internat kommt? Hoffentlich nichts Schlimmeres! „Sanji,-“ Papa
macht eine Künstlerpause oder sucht einfach nur nach den richtigen Worten. Sanji atmet einmal tief ein
und ich drücke seine Hand. Kann ich mehr tun? „Sanji, du wirst ausziehen.“ Es braucht einen Moment,
bis ich verstehe, was Papa da gesagt hat. Sanji soll ausziehen. Also ausziehen von hier. Was geht? Was
ist denn jetzt los, dass er gehen soll? Er wohnt doch hier. Also ich meine eigentlich tut er das. Und wo
soll er hin? Wir sind noch Schüler! Darf Papa so was bestimmen? Ungläubig sehe ich ihn an und dann zu
Sanji. Sein Mund ist leicht geöffnet, ich denke mal nicht daran, ihn küssen zu wollen, sein Blick
durchbohrt Papas Augen. Ich wende meinen Kopf wieder zu Papa. Sanji kann nicht einfach ausziehen.
Das geht nicht.
erstellt am 27.04.2007
4Kolibris,
Elena