Passenger - Gegenwart
Kapitel 4:
Passenger - Gegenwart
Namis Sicht
An diesem Tag hatte ich erfahren, dass Sanji doch noch eine Familie hatte.
Da er, wie wir alle, in einer eigenen, kleinen Wohnung lebte, dachte ich, er hätte keinen Kontakt mehr
zu ihr. Also zu seinem Vater. Der hatte sich ja irgendwann verdünnisiert, soviel ich wusste. Ruffys und
Aces Eltern waren verstorben, aber hatten ein fettes Erbe hinterlassen, nämlich das große Haus, in dem
sie lebten. Über Zorro und Lysop wusste ich eigentlich nichts, sie wohnten beide in je einem kleinen
Appartement, das ihnen völlig reichte. Keiner fragte nach Herkünften oder Familienverhältnissen der
anderen, denn das waren Themen, über die wir nicht sprachen.
Mein Vater hatte sich ja verdrückt und ich habe ihn nie kennen gelernt, nur Nojiko hatte noch schwache
Erinnerungen an ihn. Unsere Mutter arbeitete in England und schickte uns monatlich immer Geld, damit
wir festen Boden unter den Füßen hatten. Aber Nojiko machte trotzdem eine Ausbildung, damit wir
nicht ganz von ihr abhängig waren, zumal sie sich schon ewig lange nicht persönlich gemeldet hatte.
Meine ältere Schwester wollte dann irgendwann mit mir umziehen, obwohl ich das überhaupt nicht
nachvollziehen konnte, da ich mich in unsere Bleibe wohl fühlte.
Es war eher Zufall gewesen, dass Sanji und ich zusammen in die Stadt gingen. In der Pause hatte er
gemeint, dass er seine Hyperbel Zuhause nicht mehr fände und eine Neue kaufen müsse. Da hatte ich
recht schnell gesagt, dass ich an dem Tag nichts mehr vor hatte und ihn nach der Schule begleiten
könnte. So bekam ich die Chance, mit ihm einmal alleine zu sein, denn normaler Weise waren die Jungs
immer bei uns. Lysop wollte sich ursprünglich an uns dranhängen, da ihm auch eine fehlte und er kein
Stundenprotokoll aufgebrummt haben wollte, aber zum Glück hatte er noch Nachmittagsunterricht, ansonsten wäre mir die Zweisamkeit vorenthalten geblieben. Wir hatten ja nicht alle Kurse gleich belegt.
Ich war total glücklich, weil ich mit Sanji zusammen durch die Stadt bummeln konnte, denn so oft
bekam man diese unauffällige Gelegenheit nicht! Ich wollte nicht, dass irgendeiner wusste, dass ich ein
bisschen in Sanji verknallt war, und deswegen war es gut so. Ich hatte mich total gefreut, mit ihm
vernünftig und vor allem ungestört reden zu können. Wenn wir in unserer Clique waren, benahm er sich
ja auch so wie die anderen Jungs, und wenn man mit einer Person alleine redet ist es oft so, dass sie
offener und ehrlicher ist. Deshalb wollte ich ihn bei diesem kleinen Stadtspaziergang ein bisschen aus
der Reserve locken, um mir selbst zu zeigen, dass seine ganzen Liebeleien nur Masche waren und er anders war.
Ich war schon mal mit Sanji kurz alleine, als wir alle zum Bowling verabredet, und wir zwei die ersten
am Treffpunkt waren. Doch da hatte er mich kaum beachtet und bloß nach anderen Mädels Ausschau
gehalten. Er war zu der Zeit, als ich ihn kennen lernte, ein totaler Mädchenaufreißer. Er hatte wirklich
jede angebaggert, die ihm über den Weg gelaufen ist, Komplimente verteilt und rumgeschwärmt. Das
fand ich echt zum Kotzen. Aber in letzter Zeit war er total anders, er war extrem lieb zu mir und gar nicht
mehr so aufmüpfig. Okay, sein Geschwärme war noch immer vorhanden, aber bei Weitem nicht mehr so stark ausgeprägt wie vorher. Jetzt hätte ich ihm auch Treue zugetraut, denn irgendwie schien er gereift zu sein, das war die größte Umwandlung, die ich je bei einem Menschen beobachtet hatte. Vom Macho zum schüchternen Typen. Einen ziemlich süßen, schüchternen Typen.
Ich kann mir gut vorstellen, dass es in seinem Alter als Junge schwer ist, sich erwachsen zu verhalten,
weil man immer mit andren mitlaufen möchte. Aber Sanji hatte irgendeine Entwicklung durchgemacht,
und in unserer kleinen Truppe sind alle so locker miteinander, da war es total in Ordnung, wenn
jemand mal ne Zeit lang anders drauf war. Es war irgendwie schon festgelegt, dass wir einander nie
ausschließen würden. Und dass Sanji sich nicht mehr in alle Mädchen verknallte, fiel wie ein Dorn ins
Auge. Dafür wurde er aber gar nicht kritisiert, denn das war schon sehr seltsam für uns, bestimmt
mindestens genauso seltsam wie ihm selbst zumute sein musste in dieser Lage.
Als wir nebeneinander durch die Fußgängerzone liefen, rauchte er eine Zigarette. Wir wussten
überhaupt nicht, über was wir reden sollten, und diese Stille fand ich schlicht doof. „Brauchst du noch
was anderes, oder bloß die Schablone?“ fragte ich, um ein Gespräch anzufangen. Ich war mir nicht ganz
sicher, ob Sanji bloß kein Interesse daran hatte, mit mir zu sprechen, oder ob ihm einfach nichts einfiel.
Dass ich mit ihm mitging freute ihn sicher, nur ist so ein Schweigen schon unangenehm. „Ne, ich muss
nur in den Bastelladen. Ich glaub der ist in der einen Seitenstraße dahinten.“ Als er das sagte, sah ich
ihn dabei an. Ich wollte ja wie immer mit ihm umgehen, schließlich waren wir gute Freunde. Er sollte
auch nicht denken, dass ich seinem Blick nicht standhalten könnte, oder gar als stechend empfinden
würde, obwohl genau das der Fall war. Außerdem wollte ich ihn auch ansehen, er hat doch so schöne
Augen und das wäre doch das Dümmste überhaupt, wegzugucken.
„Hast du deine Arbeit für Kunst schon fertig?“ erkundigte er sich bei mir, um beim Thema Schule zu
bleiben. „Ja klar, ich wollte noch Zeit haben, um für Erdkunde zu lernen.“ „Wieso denn für Erdkunde?
Schreiben wir einen Test?“ Sanji schien manchmal wirklich im Unterricht zu träumen. „Ich denke schon,
hast du noch nichts dafür getan?“ Dann wär’s aber Zeit geworden, fand ich. „Nein, ich hätte jetzt eher
in Chemie damit gerechnet oder so, aber Erdkunde...?“ Sein Gesicht verriet eine Mischung aus Unwollen
und Angst, der Gute hatte einfach keinen Spürsinn für Hausaufgabenüberprüfungen. Ich sollte ihm wirklich mal Nachhilfe oder so anbieten, denn ich glaube nicht, dass es ihm bis dato viel gebracht hatte, wenn wir bloß alle
zusammen die Hausaufgaben machten, was schon seit langem eine Art Ritual bei unserer Clique war.
Da fuhr ein schöner Wagen am Ende der Fußgängerzone vor uns vorbei, dass weiß ich noch. Er war
silbern und der Besitzer hatte sicherlich Geld. Weiterhin hatte das Auto mich nicht interessiert, doch es
wurde vor uns langsamer, als es an den Straßenrand fuhr. Sanji und ich überquerten die Straße und er
sah auch dorthin, die Beifahrerseite zeigte zu uns. Ich dachte, es wolle da parken und lief auf dem
Bürgersteig geradeaus weiter, aber Sanji war immer noch mit dem Gesicht dorthin gewandt. Als das
Beifahrerfenster runtergekurbelt wurde, lief er die paar Meter dorthin. Jetzt fiel auch bei mir der
Groschen, dass es Bekannte von ihm sein mussten. Also entschloss ich zu warten, bis er kurz ’’Hallo’’
gesagt hatte und zurückkäme.
Ich stand an irgendeinem Laden gelehnt und beobachtete meinen heimlichen Schwarm. Ich überlegte
auch, über was ich danach mit ihm reden könnte, damit es ihm auch gefiel, Zeit mit mir zu verbringen.
Ich zupfte mein Top zurecht, es war ja schon richtig warm geworden die letzten Tage. Die
Sommerferien waren zwar noch etwas hin, aber das Klima stimmte schon alle richtig darauf ein. Mein
Blick galt wieder dem Auto und der Szene, die sich mir bot. Ich wollte wissen, wer das im Auto war und woher Sanji die Leute kannte.
Der Fahrer schien ein älterer Mann zu sein, er hatte bestimmt ein faltiges Gesicht. Die Sonne wurde ein
wenig von der Frontscheibe reflektiert, deswegen sah ich es nicht so gut. Im Beifahrersitz befand sich
jedenfalls eine Frau, oder besser gesagt eine Jugendliche, in unserem Alter. Ihre Fensterscheibe war
runtergekurbelt, und Sanji stand zu ihr runtergebeugt. Sie hatte den Anschein sehr hübsch zu sein, ihre
Harre waren hellbraun und ziemlich lang, soweit ich das von der Stelle aus beurteilen konnte. Mir lief es
schon etwas kalt den Rücken runter, als ich sah, wie sie Sanjis Hand anfasste und sie
umklammerte. Sanji machte auch keine Anstalten, sie wegzuziehen und streichelte ihre ebenso. Ich konnte
meinen Blick gar nicht mehr abwenden, das konnte doch nicht sein, dass er eine Freundin hatte? Dass sie wirklich seine Freundin war? Oder war das einfach nur ein Flirt, der von ihrer Seite ausging und Sanji natürlich nichts dagegen hatte? Bevor ich mich da in etwas hineinsteigerte, wartete ich weiterhin geduldig und behielt einen kühlen Kopf. Das Mädchen lachte wohl in dem Moment und drehte ihren Kopf zu dem Mann am Steuer. Der lachte nicht mit, und ich glotze immer noch auf die Händchenhaltenden beiden. Ich konnte unmöglich etwas unternehmen, ich musste warten, bis sich
Sanji von selbst regte und wünschte mir innerlich, dass dies bald geschehen würde.
Ich sah noch kurz nach links und rechts, ob jemand, den ich kannte, herumlief, aber da waren bloß
fremde Gesichter. Ich überlegte auch, ob ich zum Auto gehen sollte um Sanji so was zu sagen wie: ’’Du
Sanji, wenn du noch länger brauchst geh ich eben alleine, ich muss doch um 14:00 Uhr da sein, hab ich
dir doch vorhin gesagt.’’ Nur wäre das nicht gut rübergekommen. Und sicherlich hätte ich das nicht
gebracht, aber um von hier wegzukommen... Ich kam mir schon blöd vor, wie ich da stand und zusehen musste, was sich da direkt vor meinen Augen abspielte.
Da regte sich Sanji grad, er schien sich verabschieden zu wollen. Endlich! Er redete aber noch und vor
meiner Nase liefen Passanten vorbei, mithören war also nicht drin. Doch ich sah ganz genau, dass Sanji
seine Hand auf ihren Kopf legte und einmal drüber strich. Er bückte sich zu ihr vor und gab ihr einen
Kuss aufs Haar. Oder hab ich da falsch gesehen? Nein. Nein, er hat das echt getan. Er ...er hat wirklich
dem Mädchen dort im Auto einen Kuss aufs Haar, auf die Stirn, was weiß ich, gegeben. Wer war das!? Jetzt war es da, das Gefühl der Eifersucht, die ich die ganze zeit beiseite geschoben hatte. Sanji, verdammt! Der war mir eine Erklärung schuldig! Und dieses Mädchen, ich hatte sie noch nie gesehen, nie, niemals, never , das konnte doch nicht sein! Er hat nie etwas von ihr erzählt, weder mir noch den anderen. Seit wann machte er so Heimlichtuereien? Ich kann wirklich nicht sagen, was mir da alles durch den Kopf gegangen ist, jedenfalls übelst viel.
Sanji kam dann relativ gelassen zu mir zurück –auf den ersten Blick. „Wer war das?“ fragte ich vorne
weg und sah ihn schroff an. Sanji holte sich eine Zigarette heraus und steckte sie sich in den Mund.
Erfreulicherweise war er nicht so guter Laune nach dieser Begegnung. „Kennst du nicht.“ sagte er kurz
angebunden. Dass ihm dieses Thema mehr als unangenehm war, sollte ich später noch genauer zu
spüren bekommen. „Ist das ne Sandkastenfreundin oder so?“ bohrte ich aus Neugier weiter. So ließ ich
die Sache ganz sicher nicht im Raum stehen, und er wusste auch, dass ich sehr hartnäckig sein konnte.
Sanji zog noch mal das Nikotin ein und paffte es in Form von Rauch wieder aus. Er war bedacht darauf,
nicht in meine Richtung zu gucken. Redete er noch mit mir? Hallo? „Das war meine kleine Schwester.“,
sagte er nun betont lässig. Seine Schwester ? „Deine Schwester?“ Ich glaube meine Verwunderung
war nicht zu überhören. Dass er eine Schwester hatte wusste ich nicht – und ich konnte darauf
schwören, dass das auch kein anderer wusste! Ich dachte die ganze Zeit über, dass er Einzelkind sei! Woher zum Kuckuck hatte er auf einmal eine Schwester? „Ja, sie ist meine kleine Stiefschwester. Der Mann im Auto war der Freund meiner Mutter.“ Erklärte er und schaute dabei gen Boden. Das fand ich aber wiederum richtig interessant, da es mir verdeutlichte, dass ich ihn gar nicht so gut kannte, wie angenommen.
„Das hast du nie erzählt, dass du eine Schwester hast.“ ging ich darauf ein. „Wir sind ja auch nicht
blutsverwandt. Und mich hat eben nie einer danach gefragt.“, wollte er das Gespräch abwringen. „Und
wieso hast du sie uns bis jetzt noch nie vorgestellt?“ Bevor Sanji darauf antwortete fummelte er heftig
an seiner Zigarette rum. Ihn konnte das doch nicht nervös machen? „Du hast es also nicht gesehen?
Oder gemerkt?“ fragte er auf eine verschlossene Art, die ich an ihm gar nicht kannte. Deswegen war ich
etwas unsicher. „Was hab ich nicht gemerkt?“ Er nahm noch einen Zug und der Glimmstängel glühte
leicht auf. Wieder mit leiser Stimme sprach er weiter. „Sie hat eine Behinderung. Sie ist immer im
Krankenhaus, deswegen erzähle ich auch nicht gern darüber. Das geht keinen was an, ist nichts gegen
dich.“
Was sollte sie denn für eine Behinderung haben? Natürlich wollte ich ihm nicht auf die Nerven gehen,
wenn ich ihm alles aus der Nase ziehe, aber was mit ihr los war interessierte mich schon. „Sie scheint
dir wichtig zu sein, so lieb wie du mit ihr umgegangen bist.“ sagte ich lächelnd. Die Vorstellung, dass
Sanji als großer Bruder auf seine kleine Schwester aufpasst, fand ich richtig süß. „Klar ist sie mir das.“
meinte er, und auch auf seinen schönen Lippen zeichnete sich ein kurzes Lächeln ab. Er sah immer noch auf
den Boden. „Kannst du mir sagen, was sie hat?“ fragte ich vorsichtig. Ich mein –ich hätt’s ja auch
keinem erzählt, das ist ja was Familiäres. Seine Zigarette war nun aufgeraucht und er warf sie in den
nächst besten Mülleimer.
„Sie kann nicht sehen.“ Wir waren nun in der besagten Seitenstraße drin. „Du meinst sie ist blind?“
wollte ich mich noch mal versichern, nicht dass es Missverständnisse gab. „Ja.“ kam es von ihm. Ein wenig geschockt war ich schon, dass musste ja hart sein... nicht nur für sie, sondern auch für ihn. Aber wieviel hinter alldem wirklich steckte, wurde mir erst lange Zeit später bewusst. Ich hatte noch vieles über die beiden in Erfahrung gebracht, was ich an dem Tag natürlich noch nicht ahnen konnte. Jedenfalls bin ich sicher, dass er mir Genaueres gesagt hätte, wenn ich noch weiter gefragt hätte, aber Sanji mochte nun wirklich kein Wort mehr darüber verlieren. Das merkte man einfach. Die folgenden Schritte zum Bastelladen schwiegen wir. Ich hätte gerne mehr über sie gewusst, aber war gezwungen, aus Höflichkeit erstmal darauf zu verzichten.
erstellt am 1.04.2007
4Kolibris,
Elena