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Perfect

von

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Prolog

Es ist schon komisch wie Dinge, die vergehen nach einiger Zeit totgeschwiegen werden. Wie eine Datei, die von der Festplatte des Computers gelöscht wird. Ein „Klick“ und auf nimmer wieder sehen.

Datenmüll von gestern, den keiner mehr braucht. Datenmüll wie Suizide.

Ja, Suizide.

Vielen Menschen bereitet es Scham über Familienangehörige, Freunde, Bekannte, Geliebte zu sprechen, die sich selbst umbrachten.

Sollte man nicht lieber gerade deswegen einen Platz für sie auf unseren Festplatten reservieren? Ein Passwort darüber legen, damit man sie nie wieder löschen kann?
 

Ich werde es immer tun. Für dich würde ich tausende Passwörter erfinden.

Von „Affe“ bis „Zyklop“ wäre alles dabei.

Dein strahlendes Gesicht, dein Lachen, dein Leben, deine Musik mit allen Klangfarben dieser Welt. All diese Dinge sind noch so allgegenwärtig. Dabei bist du schon so lange nicht mehr mit mir in diesem Zimmer.

Du wirst nie wieder gegenüber von mir sitzen, dort auf diesen klammen Laken.

Die Gitarre in der dunklen Ecke der Dachschräge. Sie wird nie wieder erklingen.

Ich traue mich nicht sie anzurühren.

Mittlerweile hängen Spinnenweben über ihren Seiten und der Staub sammelt auf ihrem schwarzen Lack, zeichnet bizarre Muster, die aussehen wie der nächtliche Sternenhimmel über Tokyo.
 

Seltsam, dabei dachte ich immer, dass gerade sie dich am leben hält. Dass ihr Klang, deine Seele aufatmen und leben lässt. Wie man sich doch irren kann.
 

Ich stehe auf.

Weiß nicht, normalerweise bin ich nur aufgestanden, wenn du es auch tatest. Wenn ich so recht überlege war ich nie alleine in diesem Raum. Immer nur mit dir.

Jetzt ist alles anders.
 

Ich habe hier nicht mehr geschlafen, seitdem du weg bist. Hatte keinen Mut, wenn ich ehrlich bin. Es hängt so viel von dir hier in der Luft.

Ich glaube ich kann dich sogar noch riechen, wie ein Phantom. Es verschwindet plötzlich und taucht genauso unvorbereitet wieder auf. Vielleicht würdest du lachen müssen, falls ich dir das erzählt hätte. Es ist sogar ziemlich wahrscheinlich, dass du gelacht hättest. Und aufgezogen hättest du mich mit meinen dummen Ideen und Vorstellungen.
 

Du siehst, ich kann dich nicht vergessen. Nicht wie die anderen dort draußen, die so sehr schweigen, als hättest du nie existiert. Aber gerade dieses Zimmer hier, mit dem Buchenparkett, den grauen Wänden, deinem Bett und dieser verstaubten Fendergitarre beweist es.

Beweist das du warst.
 

Sehe mich weiter um.

Da ist diese Kerbe in dem dunklen Holz auf dem Boden.

Letztes Jahr Sylvester bist du mit einem Glas Sekt darauf gefallen.

Die Erinnerung treibt ein schwaches Lächeln in mein Gesicht.

So besoffen warst du selten in deinem Leben. Geschwankt bist du wie ein mickriger Baum im Wind. Hin und her.

Und gesungen hast du. Lauter als Daisuke und ich zusammen. Das ist schon fast eine Kunst bei seiner Stimme!
 

Und dann -zack- mein Schuh lag im Weg, du bist darüber gefallen, hast kurz aufgequiekt wie ein kleines Kind und lagst wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken.

Das Glas in deiner Hand ist mit so einer Wucht aufgeprallt, dass es zerbrach und diese Kerbe hinterließ.

Mein Gott, ich habe mir echte Sorgen gemacht, dir sei etwas passiert! Aber du lagst nur dort, im ersten Moment etwas verdutzt, doch schon in der nächsten Sekunde wieder weinend und lachend, nach Luft schnappend. Mit aller kraft hochziehen mussten wir dich.

Nicht mal in meinen Armen konntest du dich halten. Weiter gekichert hast du, wie ein Verrückter und dann hast du auf mein neues Hemd gekotzt. Später dachte ich, den beißenden Geruch bekomme ich nie los. Musste das Hemd wegen dir wegschmeißen und ausgiebigst duschen.

Gesagt habe ich dir das nie, sonst hättest du wieder Schuldgefühle gehabt. Bei deinen Gefühlshöhen und Tiefen hätte das vielleicht fatale Folgen nach sich gezogen, man wusste ja nie.

Shizumi hat dich ins Bett getragen. Ich glaube du warst so fertig vom lachen, dass du das gar nicht mitbekommen hast. Im Grunde hast du gar nichts mehr mitbekommen, so besoffen warst du.

Wie ein Teenager, der es auf einer Party übertrieben hat.

Tja und während du dann selig geschlafen hast, haben wir uns einen Horrorfilm angeschaut.

Deinen Lieblingsfilm. Und gelacht haben wir, gelacht warum du so einen Müll gut finden konntest.

Sag, mochtest du ihn nur wegen dieser hübschen Darstellerin? Oder wegen dem ganzen Kunstblut?
 

Das waren vielleicht Zeiten!

Endlich verdienten wir mit unserer Musik soviel Geld uns eine Wohnung und warmes Essen leisten zu können. Obwohl wir uns schon von Anfang an einig waren, dass dies nicht das wichtigste sei.

Das war es zumindest nicht als ich zu eurer Band stieß.

Aber ich glaube, dir ging es eh nie um den Profit. Du bist für die Musik und für die Bühne geboren worden. Du hast dich jedes Mal auf ein Neues dort draußen neu definiert, erfunden und vor allem gefunden.

Nein, darum ging es dir wirklich nie.
 

Ich muss hier raus.

Will nicht weinen. Ändern kann ich es nicht mehr.

Nur noch erinnern und trauern.

Mache diese gottverdammte schwere Tür wieder auf. Schließe sie hinter mir.

Sie fällt quietschend ins Schloss.
 

Ich stehe hier im dunklen Flur. Habe diesen Raum hinter mir gelassen. Merke wie anders es hier riecht. Wie anders die Geräusche hier klingen. So fremdartig.

Nicht mehr nach dir sondern nach Welt.

Die Welt, die dich zerstört hat.

O n e

„Ich konnte sehen, wie die Muskeln seine Sehnen in den Armen spannten, wie sie sich zusammenzogen und kraftvoll die grazilen schmalen Finger über die Stahlseiten fliegen ließen. Es war ein Spiel aus Härte und einer doch so zerbrechlichen Melodie, dass man meinte die Noten in der Luft fangen zu müssen um sie bei sich behalten zu können. Diese Anziehungskraft machte mich schier wahnsinnig und ich wusste ich wollte nur noch eines: dieses Genie besitzen. Mir einverleiben- für immer.“
 

Als Daisuke mir das erzählte, brannte ein Feuer in seinen Augen, das mir einen Schauer über den Rücken jagte.

Seine Finger waren theatralisch in sie Luft gestreckt, seine Gedanken abgeschweift, er hatte nur noch dieses eine Bild im Kopf. Diese Szenen, als er Yuana das erste Mal spielen sah.

Es muss eine wahnsinnig einschneidende Erinnerung sein. Er berichtete mir davon nur einmal. Danach kamen wir nie wieder auf das Thema.
 

Jetzt treibt es ihm nur noch schmerzende Tränen in die Augen.

Ich besuche ihn oft im Krankenhaus. Er ist noch dünner geworden seit der Beerdigung. Man kann auf seinen Rippen Klavierspielen, wenn man möchte.

Die Ärzte, mit denen ich über seinen Zustand sprach, waren sich einig, dass der Selbstmord seinem Herzen den Rest gegeben hat. Wir hätten weiter machen können mit unserer Musik. Wir hätten.
 

An manchen Tagen da zweifle ich an uns.

War es das „last live“ das Kagerou umbrachte? War es das Schicksal, das Daisukes Herz so schwach machte?

Oder war es dieser Mord?

Alle diese Ereignisse haben uns verändert, jeden auf seine Weise.

Yuana ist tot.

Daisuke wird bald sterben.

Shizumi vergräbt sich in Alkohol und Drogen.

Und ich sitze nur da und erinnere mich.
 

Erinnere mich, Stunde um Stunde. Gehe jede alte Setlist durch, höre mir alte Studioaufnahmen an, suche nach Erinnerungen. Finde immer Neue, die mich lächeln lassen.

Staune, weine, trauere, schreie, bin von Sinnen.

Es ist der Anfang von Wahnsinn. Das muss es sein- Wahnsinn.

Keine andere Erklärung für dieses Verhalten erscheint mir plausibel. Wenn es überhaupt eine Erklärung dafür geben mag.
 

Wieso musste ich mich jetzt wieder an Daisukes Worte über Yuana erinnern?

Sie reißen weiter in diesem Loch tief in meinem Herzen. Kriege kaum Luft.

Muss selbst in Erinnerungen kramen.

Und da ist eine, erst verschwommen, dann immer deutlicher.

Ich sehe ihn. Das unschuldige Lächeln.
 

Links aus dem Augenwinkel sehe ich dich über die Bühne hopsen. Mit deinem alten Schulmädchenkostüm.

Eigentlich habe ich nie verstehen können, warum du diese Sachen getragen hast. Gefragt habe ich dich oft genug. Eine Antwort bekam ich nie. Nur dein Grinsen war plötzlich auf deinem Gesicht. Hast dich umgedreht. Bist einfach weggegangen und ließest mich stehen.

Vielleicht hast du es für die kreischenden weiblichen Fans getan, die dich darin ja „ach so süß“ fanden. Vielleicht wolltest du sie damit in gewisser weise „verarschen“, so ungefähr: „Ha! Seht mich an, seht mich an uns seht euch selbst darin. Euren Wahn nach dem Niedlichen, nicht den Wahn nach meiner Musik!“

Gepasst hätte es zu dir.

Es kann aber auch sein, dass es einfach die Uniform deiner verstorbenen Schwester war. Ich weiß es nicht.
 

Du hüpfst auf dieser Bühne. Ziehst den Rock ein Stück nach oben. Eine kreischende Woge geht durch die Menge.

Ja, du hast es verstanden „Show“ zu machen.

Ich drehe meinen Kopf ganz in deine Richtung. Muss lächeln. Du siehst mich, lächelst zurück.

Konzentrierst dich auf dein kommendes Solo.

Da ist es, singend, leidend, erzählend. Dein Part, dein Teil des Liedes. Und ich sehe deine Sehnen, deinen fliegenden Finger.

Bekomme Gänsehaut. Wie muss es ausgesehen haben, als du vor Daisuke gespielt hast?

Ich möchte es gar nicht wissen.
 

Verdränge mit einem Kopfschütteln die Bilder aus meinem Gedächtnis.

Kann nur weiter auf der Couch liegen und an die Decke starren.

Vor ein paar Wochen hätte ich vielleicht angefangen zu weinen, doch ich habe keinen Tränen mehr, die mein herz ausschütten kann.

Sie sind vertrocknet, genau wie meine Zimmerpflanzen, die vernachlässigt auf dem Fenstersims stehen.

Es ist draußen schon wieder dunkel.

Klasse, ein verschwendeter Tag mehr in meinem Leben. Aber, ist es überhaupt noch Verschwendung?

Ist es überhaupt noch Leben?
 

Ich zehre von der Vergangenheit, von meinem Schmerz. Scheine kein Blut mehr zu haben, das rauschend durch meine Venen fließt. Nur noch Hass und Trauer. Enttäuschung.
 

Meine Hand tastet nach dem Telefon. Es liegt auf dem Boden. Umschließe es zitternd. Sollte mehr Essen, sonst sehe ich bald aus wie Daisuke, denkt mein müdes Gehirn.

Ich tippe wie ein Roboter automatisch Shizumis Nummer. Muss irgendeine menschliche Stimme hören, sonst glaube ich wirklich noch ich wäre langsam tot.

Klingeln auf der anderen Seite der Leitung.

Jemand nimmt ab.
 

Fragt: „…Ja?“

Es klingt genauso müde wie ich mich fühle.
 

„Kazu hier.“
 

„Was ist?“ er wirkt aggressiv. „Weißt du eigentlich wie spät es ist?!“ Ein Aufstöhnen. Wahrscheinlich hat Shizumi Kopfschmerzen. Seine Zunge klingt schwer.

Blöder Alkohol.
 

„Nein.“ Ich bin ehrlich.
 

„Es ist halb 2. ich hab geschlafen, bis du mich gerade freundlicher Weise geweckt hast“

Ich würde mein letztes Erspartes darauf verwetten, dass er sich jetzt mit dem Handrücken über sein Gesicht reibt und mit den Zähnen knirscht. Tut er immer, wenn er schlecht gelaunt ist.
 

„Tut mir Leid“
 

Schweigen.
 

„Warum rufst du überhaupt an?“
 

„Ich weiß es nicht.“ Schon wieder diese verdammte Ehrlichkeit. Irgendwann bringt sie mich noch um den Kragen.

„Es kam so über mich“.
 

Ich höre ein Schnauben. War wohl doch keine so gute Idee.

„Hast du dich wieder…. Erinnert?“
 

Oh nein. Darauf wollte ich eigentlich nicht kommen. Aber er hat ja Recht.

„Ja habe ich.“
 

„Lass es Kazu. Du bringst dich um den Schlaf. Und mich mittlerweile auch… Vergiss es. Vergiss IHN. Er ist tot. Deine Flüchte in die Vergangenheit, damit belügst du dich nur selbst, sieh es endlich ein.“
 

„Ich begrabe ihn zumindest nicht mit Alkohol und Drogen wie du.“
 

Höre wie eine Flasche auf der anderen Seite der Leitung zu Boden fällt.
 

„Lassen wir das. Diese Diskussion hatten wir schon zu oft… Schlaf endlich!“
 

KLICK.
 

Die Leitung ist wieder tot. Ich höre nur noch das monotone Freizeichen in meinem Ohr klingeln.

Das Telefonat hat mich nicht wirklich weitergebracht, Shizumi hat recht. Wir landen immer am selben Punkt.

Aber ich fühle mich nicht mehr alleine.

Drehe mich auf der Couch herum. Die weiße Decke hat mich verrückt gemacht.

Obwohl, ich HABE ja schon längst den Verstand verloren.

Sehe nun den Fernsehbildschirm vor mir.

Könnte einen Film sehen. Einen Horrorfilm vielleicht?

Nein, du hast viel zu oft und zu gerne diese Splatterfilme gesehen.

Mist, ich kneife die Augen zusammen, weil dein Gesicht vor meinen Augen erscheint.
 

Nein, nein, NEIN! Ich verbiete es mir weiterzudenken.

Grabe meine Fingernägel in meine Schädelhaut, als ob ich die Gedanken an dich aus ihm herausreißen könnte.

Aber ich kann es nicht. Ich KANN es einfach nicht…
 

Schlafen, mein Geist will schlafen. Mein Körper will schlafen.

Ich schließe die Augen, versuche das gesehene hinter mir zu lassen. Endlich wieder Luft in meine Lungen zu bekommen.

Die Müdigkeit lullt mich ein.
 


 

Nächster Tag:

Täglicher Besuch bei Daisuke im städtischen Krankenhaus.

Ich weiß nicht, wie lange du es noch machst alter Freund. Wenn ich es doch nur wüsste. Ich könnte besser planen über was wir sprechen und lachen könnten. Könnte Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden.

Aber es ist so unendlich schwer bei den traurigen Augen, die mich halbverschlossene ansehen. So unendlich schwer.
 

Sitze da, die Ellbogen auf meine Knie gestützt, sehe dich nachdenklich an.

Meine Stimme klingt fremd in den Ohren als ich frage:

„Wie geht es dir heute?“
 

Immer dieselbe Frage, immer dieselben Antworten zur Folge.
 

„Meine Blutwerte sind besser als gestern.“
 

Als ob es noch etwas ausmachen würde, wie viel Gramm Zucker dein Herz in der Minute transportieren kann. Es ist so schwach, ein Wunder das es überhaupt noch schlägt.

Diese verdammte Welt sollte uns mehr Zeit geben, hämmert es hinter meinen Schläfen.
 

„Lächle nicht so müde Kazu. Ich weiß, dass es nichts spektakuläres ist. Aber vielleicht bringt es mir einen Tag mehr“. Schulterzucken, dann ein blasses zusammengekniffenes Gesicht. Ja, jede Bewegung eine Qual mein Freund,

„… keine Ahnung, ob ich das jetzt feiern soll.“
 

Ich meine zu dir, es auch nicht zu wissen.

Weiß schon lange nichts mehr. Meine Gedanken wirbeln durcheinander wie ein Meeresstrudel, schüttle nur den Kopf.
 

„Morgen.“ Eine matte Begrüßung. Shizumi ist verspätet zu uns gestoßen.

Er steht an der Tür, hält die Klinge noch in der Hand.

Dunkle Augenringe zeichnen ihn.

Er streicht sich verlegen die Haare glatt, anscheinend ist ihm aufgefallen, dass er vergessen hat sie zu kämmen.
 

Er nickt Daisuke zu. Mich lächelt er schwach an.

Sein Ärger wegen heute Nacht scheint verflogen.

Zu streiten bringt eh nichts mehr. Das Spiel des Lebens ist verloren- für jeden von uns.

So wie wir hier stehen, beziehungsweise liegen, haben keine Macht mehr über die Zukunft, keine Kraft mehr gegen die Wellen des Ozeans anzukämpfen. Aufgegeben haben wir uns. Jeder auf seine eigene Art.

Trotzdem treffen wir uns. „Club der toten Dichter“ wäre vielleicht eine Bezeichnung für diese Runde des absoluten Selbstmitleides.
 

Shizumi zieht einen Stuhl neben Daisukes Bett, genau gegenüber von mir und setzt sich.

Schweigen.

Wir müssen nicht reden, um zu wissen wie es den anderen geht. Wir kennen uns schon viel zu lange, als über Gefühle sprechen zu müssen.
 

Ein Husten unterbricht die Stille, Daisuke bäumt sich in seinem Bett auf und schlägt sich auf die Brust. Shizumi und ich springen fast synchron auf. Unsere Hände fliegen nur zu seinem Körper.

Halten ihn, während sein Körper sich unter dem Hustanfall schüttelt. Als er wieder Luft zu bekommen scheint, meint seine beschlagene leise Stimme nur spöttisch:

„Scheiße, die eine Zigarette gestern hätte ich mir auch sparen können…“

Sein Oberkörper sinkt wieder zurück in das Kissen. Sein blasses Gesicht grinst nur verrückt, an die weiße Wand gegenüber seines Bettes.

„Ihr solltet aufhören zu rauchen, ich bin das beste Beispiel wie schlecht es einem später damit gehen kann.“
 

Bei so einer Ironie bringe ich nichts weiter als ein müdes Grinsen aus meinem kalten Herzen hervor.

Es ist so traurig, dass ich fast lachen muss.
 

Wie sooft zuvor scheinen wir in diesem Moment alle dasselbe zu denken: Das Rauchen jetzt aufzugeben scheint genauso lächerlich, als zu sagen das Kagerou eines Tages ein Comeback erleben wird.

Es ist egal, ob wir heute sterben, morgen, übermorgen.

Ob wir von einem Auto überfahren werden, oder an Lungenkrebs sterben.

Das Wort „Tod“ hat nicht mehr die Bedeutung wie vor 2 Jahren.

Es ist leer.

Genauso leer wie wir.
 

Daisuke krempelt die Ärmel seines weißen Kittels hoch. Gedankenverloren betrachtet er die weißen Narben auf seinen Armen.

Ein zitternder Finger streicht über sie, als müsste er sich vergewissern, dass sie überhaupt existieren.
 

Einmal auf unserer ersten Tournee habe ich versucht sie zu zählen. Daisuke lag auf der Couch in unserem Tourbus.

Nach dem ersten Konzert, war er so fertig, das er nur noch schlafend, mit einem Bier in der Hand auf der Couch eingenickt ist. Er hatte immer noch nichts angezogen, lag nur in Hose da.

So fertig habe ich ihn selten gesehen.

Fast genauso selten wie die Narben auf seinen Armen. In dem Neonlicht des Busses konnte man jede einzelne von ihnen auf der Brust und den Armen sehen.

Wie ein weißes Spinnennetz ziehen sie sich über seinen ganzen Körper. Unzählig viele, manche lang und dick, andere so dünn, dass man sie kaum sieht.

Doch ich sah in diesem Moment alle. Jeden Schmerz in seinem Herzen, festgehalten auf seinem Körper.

Yuana saß neben mir.

Hat mir beruhigend auf die Schulter geklopft und mit dem Kopf in Richtung der Schlafkojen gedeutet, um Daisuke nicht zu wecken.

Ich konnte ihn nur ansehen. Mit großen Augen ansehen und versuchen mein rasendes Herz wieder unter Kontrolle zu bringen.

Damals hat mich dieser Anblick irgendwie etwas aus der Fassung gebracht.

Zwar wusste ich von dem Selbsthass unseres Sängers, aber ich wollte es nicht sehen, nichts davon wissen. Nichts davon zu mir vordringen lassen. Es vergessen.
 

Ich glaube, dass mir erst in diesem Moment bewusst wurde, was Kagerou für eine Band war.

Was wir bedeuteten.

Eine ganze Weile muss ich Yuana so fassungslos angestarrt haben, denn er zog mich an meinem Hemdsärmel nach draußen in die frische Luft und drückte mir erstmal meine Zigarettenschachtel in die Hand, das beste Beruhigungsmittel für mich.

Er ließ mir Zeit bis ich wieder Worte in meinem Mund formen konnte. Ich tat einen kräftigen Zug und begann dann zu reden.

Die Worte klangen fremd in meinen Ohren. Sie hämmerten gegen meinen Kopf, als würde jemand anderes aus meiner Brust heraus sprechen.

Das erste war ein einfaches:

„Warum?“

dann,

„… ich wusste nicht… das es SO viele sind!“
 

Wenn ich mich heute so erinnere, muss wie ein Kind geklungen haben. Das erklärt vielleicht auch Yuanas Worte, die auf meine folgten.

Erst lächelte er mich milde an. Als Beruhigung.
 

„Was glaubst du denn? Er tut es seitdem er zehn Jahre alt ist. Da kommt über die Jahre eben so einiges zusammen.“

Wie er dieses Wort „es“ betonte, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Außerdem klang es so, als würden wir von völlig banalen Dingen wie Sex oder Geld reden.
 

„Aber…“, meine Stimme klang immer noch so fremd,

„er zerstört sich damit doch selbst!“

Ja, man konnte sagen ich war panisch.
 

Yuana verdrehte die Augen. Dann sah er mich an. Eindringlich, belehrend.

Berührte wieder meine Schulter, hielt sie in seiner Hand fest.

„Du brauchst dir keine Gedanken deswegen zu machen. Daisuke weiß, was und WARUM er es tut. Glaub mir“

Seine Augen schienen mich durchbohren zu wollen,

„vertrau mir.“

Das hätte ich in diesem Moment wirklich zu gerne getan, aber mein Verstand wollte es nicht so recht.

Ich schwieg, immer noch entsetzt wie scheinbar gleichgültig Yuana alles hinnahm.
 

Erst viel später verstand ich. Erst viel später wurde mir klar, an welche wahnsinnigen Genies mich mein Talent als Bassist gebracht hatte, und merkte gleichzeitig welche Opfer ich dafür bringen musste.

Welche Opfer wir alle dafür bringen mussten.

T W O

Der Besuch bei Daisuke endet wie so viele vorher in Schweigen.

Nach etwa einer Stunde, in der keiner von uns ein weiteres Wort verliert, bittet der Oberarzt der Station Shizumi und mich zu gehen.

Wir willigen ohne zu zögern ein.

Unsere Gegenwart liegt wie ein schweres Parfum in dem kleinen Zimmer und hilft Daisukes herzen nun auch nicht mehr.

Wir können die zerbrochenen Puzzleteile nicht mehr zusammenfügen.

Niemand kann es.

Niemand wird es je können-

Es ist vorbei, das fällt mir einmal mehr auf.
 

Auf dem weißen Gang, der mit grellen Neunröhren beleuchtet wird, bleibt Shizumi plötzlich vor mir stehen und sieht mich eindringlich an.
 

„Willst du vielleicht noch mit zu mir kommen?“
 

Ich blicke ihn verwundert an.

„Wie?!“
 

„Na ein bisschen über alles hier reden“.

Das war das Letzte, was ich an diesem tag erwartet hätte. Mein Gesichtsausdruck scheint Bände zu sprechen, denn Shizumi grinst mich an und stößt mich neckisch an der Schulter.

„Na komm schon, ich beiße auch nicht zu fest.“
 

Ich kann nichts erwidern, die Worte stecken in meinem Hals fest. Sie schnüren meine Kehle zu, lassen nicht zu, dass mein Gehirn genug Sauerstoff zum denken bekommt.

Die Zeit scheint still zu stehen.

Festgefroren.

Ich starre Shizumi nur weiter entgeistert an.

Versuche mich zu erinnern, wann wir das Letzte mal bei ihm gewesen waren. Das war eine Ewigkeit her!
 

Shizumi packt mich am Arm und reißt mich aus meinen melancholischen Gedankenzügen.

„Du kommst einfach mit. Und schau mich nie wieder so geistesgestört an, da bekommt man ja Angst.“
 

Den ganzen Weg bis zu seiner Wohnung sprechen wir kein Wort. Wir treffen eine Gruppe von Mädchen, die Shizumi zu kennen scheint, denn er wechselt ein paar Worte mit ihnen. Ich stehe nur daneben und werde interessiert gemustert.

Nach ein paar Minuten verabschiedet sich Shizumi wieder von ihnen, die Mädchen ziehen kichernd ab und ich kann ihre Blicke, die sie über die Schulter werfen wie Nadelstiche in meinem Rücken spüren.

Ich werde weitergezogen.

Die Abendluft ist kalt. Weiße Dampfwölkchen bilden sich vor unseren Gesichtern.

Ich weiß nicht, wie mich meine kraftlosen Füße überhaupt soweit tragen können. Mein Geist scheint in eine Art Trance gefallen zu sein. Ich erwache erst aus dieser geistigen Erstarrung, als Shizumi die Tür zu seiner Wohnung aufschließt und mir ein bekannter, warmer Geruch entgegenschlägt.

Immer noch schweigend werfe ich meine Jacke auf die Couch und setze mich darauf.

Shizumi verschwindet in der Küche und kommt mit zwei Cocktailgläsern wieder. Dann geht er zum Schrank, gegenüber von mir und holt Whiskey daraus hervor.

Er schenkt zwei großzügige Schlucke in die Gläser, stellt die Flache ab und reicht mir eines.

Ich nehme es an. Trinke. Der hochprozentige Alkohol rinnt meine ausgetrocknete Kehle hinunter und hinterlässt ein angenehmes Brennen.

Ich huste.
 

„Du musst unbedingt wieder unter Leute!“
 

Die Stille wird gebrochen. Es ist unerträglich.

„So kann das nicht weitergehen Kazu. Früher, da hast du gestrahlt. Eine Ruhe, eine Gelassenheit.. Coolness.“

Shizumi schwenkt den letzten Schluck Whiskey in seinem Glas und kippt diesen schließlich mit einem Zug hinunter.

„Man, “ er sieht mich wieder an, „lass dich nicht so hängen. Es reicht schon wenn es Daisuke so beschissen geht. Verbau dir nicht dein Leben. Dein Talent. Such dir eine andere Band, spiele Bass und erfülle dir deinen Traum!“
 

Ich runzele die Stirn.

„Ich glaube du stellst dir das alles ein bisschen ZU einfach vor.“ Mein Herz gleicht einem Klumpen Stein.

„IHR seid, beziehungsweise WART mein Traum verdammt!“

Ich breche ab, den Tränen nahe.
 

Es gibt kein hier und jetzt, es gibt keine Zukunft, in meiner Gedankensuppe schwimmen nur noch Stücke der Vergangenheit, die mich am Leben halten.

Erinnerungen an ihn.

Ich wende meinen Blick ab.

Shizumi schweigt betreten.
 

Ich hole tief Luft und sammele einen klaren Gedanken.

„Mein lieber Freund, sieh uns doch an. Sieh an, was aus jedem einzelnen von uns geworden ist.“

Ich schließe die Augen, schüttele schließlich den Kopf.

„Ich glaube es ist schon längst zu spät um etwas ändern zu können. Wir verrotten. Wie altes Holz.

Unsere Wurzeln sind tot.“
 

„Nichts ist mehr zu retten?!“ Shizumi klingt nach einem Kleinkind, das endlich verstanden hat, dass man nicht auf heiße Herdplatten fassen sollte.
 

„Ja verdammt!“

Ich seufze.
 

„Das glaube ich nicht.“
 

„Shizumi sei nicht so scheiße naiv!“, langsam regt mich seine Art auf.

Ich wende meinen Kopf und fixiere ihn.

„Dieses Zeug hier“, ich nehme die Whiskeyflasche vom Tisch und schwenke damit vor seiner Nase umher „das macht DICH kaputt. Du merkst es nicht einmal. Hat es schon so viele Zellen in deinem Kopf zerstört, dass du deine Sucht gar nicht siehst?“

Ich tippe bei diesen Worten gegen meine Schläfe.

„Warum willst du, dass ich MEIN Leben ändere, wenn du es dir genauso ruinierst? Was ist mit DEINEM Traum?“
 

Als ich seinen hilflosen Ausdruck in den Augen sehe, da tut es mir fast wieder Leid.

Shizumi war in manchen Dingen immer wie ein Kind gewesen. Und ich habe diesem naiven Lebewesen gerade seinen Lolli aus der Hand gerissen.
 

Ich stehe auf.

„Es gibt kein vorwärts, kein rückwärts.“

„Unsere leben sind eingefroren. Und das bleiben sie auch, bis wir es schaffen uns selbst zu zerstören.“

Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken.

Ich flüstere nur noch „Kagerou“ und breche in Tränen aus.
 

Shizumi steht auf und nimmt mich in den Arm.

Die Tränen laufen heiß über meine Wangen und tropfen auf den Boden.
 

Ich weiß nicht wie lange wir dort so stehen.

Mein ganzes Zeitgefühl kommt durcheinander. Shizumi streicht mir sanft über den Rücken, hält mich fest, beschützt mich vor meinen eigenen Gefühlen.
 

Bilder tauchen in meinem Kopf auf, sein Lächeln, seine Hand die Meine hält, die schwarze Fendergitarre dort in seinem Zimmer.

Staubig und verlassen.

Ich sehe Daisukes leidendes Gesicht, ich spüre seine knochige Schulter unter meinen Fingern, seine traurigen Augen blicken mich an.

Und schließlich nehme ich Shizumis Geruch war. Eine Mischung aus Rauch, Parfum und Whiskey.

Seinen Atem direkt neben meinem Ohr. Ich höre leise seinen Herzschlag, als ich meinen Kopf gegen seine Brust lehne.

Ich schließe die Augen, beruhige mich langsam. Konzentriere mich auf das monotone Ticken der Uhr im Zimmer.
 

„Sch… ist gut.“

Shizumi streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich schlinge meine Arme nur noch fester um seinen Körper.

„Du kannst heute Abend hier schlafen, ich denke das ist das Beste.“
 

Ich nicke.

Halte ihn weiter fest.

Meine größte Angst ist es in diesem Moment alleine zu sein.

Die ganzen Eindrücke prasseln auf mich nieder, sie vernebeln meine Wahrnehmungen; ich kann kaum unterscheiden was Realität und Erinnerungen sind.

Mein Mund ist wieder trocken, dennoch würge ich etwas hervor.

„Ich vermisse ihn“

Nach einer halben Ewigkeit füge ich hinzu:

„Mehr als alles andere“.
 

Der Abend hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Doch das habe ich geahnt. Ich weiß es war keine gute Idee Shizumi so nah an mich heranzulassen. Es ist dumm ihm meine Verletzlichkeit zu offenbaren, er macht sich so nur noch mehr Sorgen.

Dabei will ich IHN eigentlich beschützen.

Er ist immer der Naivste und Unerfahrenste von uns alles gewesen.

Ob es nun um Alkohol, Drogen oder um Frauen ging, immer hatte einer von uns ein Auge auf ihn.
 

Nun bin ich derjenige auf den man aufpassen muss.

Ich sollte zugeben, ich bin Shizumi wirklich dankbar, dass er nach meinem Zusammenbruch für mich da ist.

Aber im Grunde will ich ihm das nicht zumuten. Nicht in dieser Situation.

Es ist eine große Dummheit zu glauben, ich könnte alles mit mir selber ausfechten. Ich brauche Hilfe, das ist klar.

Aber nicht von Shizumi, genauso wenig wie von Daisuke.

Die beiden fechten ihre eigenen Kriege mit sich selbst.

Und ich behindere diese Gefechte gewaltig.
 

Letztendlich übernachte ich bei unserem ehemaligen Drummer. Es ist, als ob die ganzen hochgekommenen Erinnerungen meinem ganzen Körper seine Energie entzogen hätten.

Ich hatte nur die paar Schlucke Whiskey getrunken, trotzdem fühle ich mich schrecklich. Wahrscheinlich liegt es nicht am Alkohol, sondern an meiner inneren Verfassung.

Ein Wrack.

Mit großen tiefen Löchern, die den Kahn auf hoher See in Not brachten und ihn schließlich in die Tiefe ziehen.

Langsame Verrottung. Bis nichts mehr übrig bleibt.

Bis zum bitteren Ende.
 

Shizumi bringt mich ins Bett. Er stütz mich, treibt meine müden Glieder an. Wir sprechen kein Wort mehr miteinander.

Er setzt mich auf die Bettkante, geht schließlich zu seinem großen Kleiderschrank. Ich sehe mit verklärtem Blick wie er in ihm etwas sucht.

Er kommt zurück, hält eine warme Decke in den Händen, legt sie mir um die Schultern.

Ich erkenne ein müdes Lächeln in seinem Gesicht. Meine Haut spannt vom Weinen.
 

„Schlaf heilt Wunden. Leg dich hin und mach die Augen zu, ich räume noch etwas auf.“

Er geht aus dem Zimmer.
 

Ich lasse mich auf die weiche Matratze fallen. Shizumi hatte schon immer eine Vorliebe für europäische Einrichtung, das hohe Bett ist ungewohnt für mich.

Eingerollt liege ich, schlinge die Decke um meinen zitternden Körper.

Ich fühle mich mehr tot als lebendig, dieser Abend ist wirklich einer der Schlimmsten der vergangenen Wochen. Wo vor einiger Zeit Resignation und Gleichgültigkeit Einzug hielten, scheinen nun die Gefühle wieder Oberhand zu gewinnen.
 

Shizumi kehrt zurück. Meine Augen sind geschlossen, aber ich höre wie er sich sein T-Shirt auszieht. Das weiche Rascheln seiner Kleidung verrät ihn.

Ein paar schritte von nackten Füßen auf dem Parkett.

Dann spüre ich, wie sein Gewicht die Matratze sanft nach unten drückt.

Ich drehe ihm mein Gesicht zu, öffne die Augen.

Shizumi sieht mich stirnrunzelnd an.
 

„Es kommt mir wie Jahrzehnte vor, dass wir so offen miteinander gesprochen haben.“
 

„Nicht nur dir“, flüstere ich.

Meine Zunge liegt schwer in meinem Mund.
 

„Schlaf jetzt.“

Shizumi dreht sich von mir weg, liegt nun mit dem Rücken zu mir.
 

Ich habe Angst zu schlafen.

Die Albträume verfolgen mich, sie kommen immer wieder. Jedes Mal wache ich schreiend und schweißgebadet auf. Es sind keine Träume von schrecklichen Monstern, oder anderen menschenfressenden Kreaturen.

Es sind Träume, in denen ich falle. Ohne Halt. In einen tiefen schwarzen Abgrund. Die Hand, die mich früher vor diesem Abgrund bewahrte, meine Stütze in schwierigen Zeiten, sie ist verschwunden.

Auf ewig.

T h r ee

Ein helles silbernes Licht weckt mich.

Mein Nacken ist steif, ich hebe meinen Kopf, meine Wange klebt auf dem kalten Plastik des Küchentisches.

Ich stütze beide Ellbogen darauf. Lege mein Gesicht in die Hände, fahre mir über die Haut.
 

Die Träume hatten wieder angefangen, kurz nachdem ich eingeschlafen war. Ich wälzte mich unruhig hin und her, wachte wie erwartet, schreiend auf.

Er hatte mich fallen lassen. Hatte losgelassen. Und wie jedes Mal konnte ich seinen Gesichtsausdruck dabei nicht sehen, sein Kopf lag im Dunkeln, versteckt in den Schatten.

Als ich aufwachte, schweißgebadet, zitternd wie Espenlaub, schlich ich mich aus dem Zimmer, um den schlafenden Shizumi nicht aufzuwecken.

Ich war in die Küche gegangen, hatte mich an den Küchentisch gesetzt und nachgedacht.

Und war glücklicherweise dabei eingeschlafen OHNE von dem Traum heimgesucht zu werden.

Obwohl, glücklicherweise ist vielleicht falsch. Mein Nacken tut mehr weh, als damals zu Konzertzeiten.
 

Ich massiere ihn nun stöhnend und versuche das verspannte Gewebe aufzulockern. Dies stellt sich als schwieriger heraus, als ich geglaubt habe.

Ein paar tapsende Schritte verraten Shizumi, bevor ich ihn sehen kann. Nun steht er an der Küchentür, blickt mich verwundert an.
 

„Schon wach? Ich hab gar nicht bemerkt, wie du aus dem Zimmer raus bist…“
 

Ich lächle schwach.

„Hab’ ja auch nicht neben dir geschlafen Idiot.“
 

Bevor er fragen kann, warum ich nicht sein Bett geteilt habe, winke ich ab.

„Frag nicht warum, es ist nicht wichtig. Mach mir lieber einen Kaffee!“
 

„Dafür, dass du anscheinend schlecht geschlafen hast, wenn man dich mit deinen dunklen Augenringen ansieht, kannst du einen aber noch ganz munter rumkommandieren.“

Trotzdem macht Shizumi wie gefordert meinen Kaffee.

Während er an der Maschine beschäftigt ist, sehe ich aus dem Fenster. Ich wundere mich wie viele Autos zu der frühen Morgenstunde unterwegs sind, es ist Feiertag.

Menschen laufen geschäftig über die überfüllten Straßen, man hört Gehupe, ein Mann droht einem Motorradfahrer beim überqueren der Straße wütend mit der Faust, als dieser ihn fast überfährt.

Die Leute haben Recht, wenn sie meinen, Tokio würde niemals schlafen.

Es gibt keinen Tag im Jahr, an dem die Straßen leer sind. Selbst an Weihnachten nicht.
 

Shizumi stellt den dampfenden Becher neben mich, schnappt sich den nächbesten Hocker und setzt sich darauf.

Sein Blick sieht verträumt auf die Straße.

Er nippt an seinem Kaffee.

„Schon komisch, ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, woanders zu leben.“

Seine Stimme klingt seltsam verzerrt, wenn er so in den Becher spricht.
 

„Den gleichen Gedanken hatte ich auch gerade“, stimme ich ihm zu.

„Tokio ist ein Teil von uns.“
 

„Und wir sind ein Teil Tokios geworden.“
 

Ich seufze. Er hat mehr Recht, als ich zugeben möchte. Auch noch nach einem Jahr Absenz, gibt es noch genug Menschen hier, die uns auf der Straße erkennen. Genug Mädchen, die verzweifelte Fanbriefe an uns schreiben.

Allein Daisuke bekommt etwa 20 Besserungskarten pro Woche ins Krankenhaus.

Er liest sie gar nicht mehr.

„Steht doch sowieso immer nur dasselbe drinnen. Ich kann dieses naive Gewäsch nicht mehr hören!“
 

Ich seufze noch einmal.

Der heiße Kaffeedampf beruhigt meine Wangen.

„Ich glaube lange bleibe ich nicht mehr.“
 

„Was willst du denn tun?“
 

„Nach Hause fahren und versuchen dort zu schlafen.“

In der Hoffnung keinen Albtraum zu haben. Außerdem spüre ich das Bedürfnis für mich alleine zu sein. Eigentlich müsste Shizumis Nähe meiner Seele gut tun, aber es schmerzt.

Es ist ein Stechen in der Brust, wie ein viel zu enges Korsett, in das ich gezwängt werde.
 

„Na wie du meinst.“ Shizumi räumt die leeren Becher in das Spülbecken. Er steht mit dem Rücken zu mir.

„Du weißt, meine Türen stehen immer für dich offen. Mein Freund.“

Ich sehe ihn lächeln.

Ein warmes Lächeln, es schenkt mir für einen kurzen Moment ein Gefühl der Geborgenheit. Doch so schnell es aufgetaucht ist, so schnell verschwindet es auch wieder.

Ich stehe auf, bereit zum gehen.

Shizumi sieht mich erwartungsvoll an, ich bleibe stehen.
 

„Kazu, ich… ich weiß nicht wie ich es dir sagen soll. Seit gestern Abend schwirren mir so viele Gedanken durch den Kopf. Eigentlich tun sie das schon viel länger. Aber seit gestern ist mir klar geworden, “ seine Stimme stockt, „… mir ist klar geworden, wie groß dieses Loch in deinem Herzen ist. Wie sehr du ihn geliebt hast.“

Er sieht wieder aus dem Fenster.

Ich finde es komisch, wie er es instinktiv vermeidet seinen Namen in meiner Gegenwart zu gebrauchen. Es ist als ob ein Fluch darauf liegt.

„Wenn ich in irgendeiner Form etwas für dich tun kann, dann sag es mir! Ich weiß, manchmal reagiere ich etwas empfindlich. Erinnere dich nur an unser nächtliches Telefonat! Ich meine das nicht so… jede nur so kleine Sekunde, die wir miteinander verbringen, miteinander reden, diese Zeit ist mir mehr wert als alles andere. Sie bringt mich zu meinen Wurzeln zurück. Sie erinnert mich daran, was wir sind.“

Nun sieht er mir direkt in die Augen.

Mein Herz hört für einen Moment auf zu schlagen.

„Ich möchte euch nicht verlieren, weder Daisuke noch dich. Ihr seid alles was ich noch habe. Und ich mag es, wenn du mich in der Nacht anrufst…“

Den letzten Satz fügt er leise hinzu.
 

Mir will einfach kein Lächeln gelingen. Ein kläglicher Versuch, Shizumi Mut zu machen.

Ich gehe zu ihm, lege stattdessen meine Hand auf seine Schulter. Suche seinen Blick.

Er erwidert ihn, erst zögerlich, dann sieht er mich fest an.

„Tu mir einfach einen Gefallen: trink nicht soviel.“

Mit diesen Worten drehe ich mich um, lasse diesen Satz im Raum stehen. Die Stimmung ist gekippt, von einem Moment auf den anderen.

An der Wohnungstüre schnappe ich mit meine Stiefel, streife sie über und schlüpfe in meine warme Jacke.

Als ich mich vergewissert habe nichts vergessen zu haben, rufe ich einen Abschiedgruß in die Wohnung, öffne und schließe die Türe wieder hinter mir.

Die frische Luft schlägt mir entgegen und belebt sofort meine Sinne. Obwohl ich so schlecht geschlafen habe, fühle ich mich auf einmal richtig gut und lebendig. Meine Füße tragen mich nur so die Außentreppe des Hauses nach unten und als ich auf dem Gehweg lande, steht der Entschluss zu einem Spaziergang fest.

Ich schlendere durch das Viertel, in dem Shizumis Wohnung liegt und wundere mich, wie viel sich in der kurzen Zeit verändert hat. Im Grunde, war es eigentlich keine kleine Zeitspanne, über die ich hier rede.

Es war mehr als ein ganzes Jahr, doch durch die ganzen Geschehnisse ist einiges an mir vorbeigegangen.

Mein Geist ist in der Zeit stecken geblieben, während mein Körper einfach mit dem Strom mitgerissen wurde.
 

An der nächsten Kreuzung bleibe ich stehen. Als ich das Café an der Straßenecke sehe, bekomme ich plötzlich wieder weiche Knie. Wieso habe ich soviel vergessen?

Dabei war es mein größter Wunsch, alles was ich mit ihm verbinde bei mir zu halten, auf ewig.

Aber erst jetzt, als ich im inneren des Geschäftes die knallblauen Stühle sehe, da erinnere ich mich wieder an die gemeinsamen Stunden, die wir dort verbrachten.

Ich lege eine Hand vorsichtig auf das kalte Glas.

Dort hinten in der Ecke, haben wir unseren ersten gemeinsamen Song geschrieben. Es war mehr Spaß als Ernst, vor allem da Daisuke unseren Text sofort zunichte gemacht hätte. Doch wir mussten lachen, es dauerte Stunden bis wir uns wieder einigermaßen beruhigt hatten.

Dein Gesicht erscheint vor meinem inneren Auge.

Du hältst mit deinem lauten Lachen inne, die Leute sehen uns schon komisch an.

Der Ausdruck verändert sich. Auch ich halte inne.

„Ist etwas?“ frage ich.

Du siehst mich nur weiter an. Ein sanfter Ausdruck liegt auf deinen Gesichtszügen. Du antwortest mir nicht, lächelst nur.

Ich bin etwas irritiert, weiß nicht wie ich dein Verhalten zu verstehen habe.

Auf einmal tippst du auf den Zettel vor uns auf dem Tisch.

Es ist der Text in meiner Handschrift.

„Weißt du eigentlich, dass ich diesen Text gar nicht so zum lachen finde?“
 

Ich erstarre.

Es ist lange her, dass ich mich so deutlich an seine Stimmer erinnern kann. Es tut weh, unheimlich weh. Mein geflicktes Herz scheint wieder in alle Einzelteile zu zerspringen, die Wunde platzt unaufhaltsam auf.
 

Ich sehe dich verwirrt an.

„Aber warum lachst du dann?!“ Nun verstehe ich gar nichts mehr. Du bist mir einmal mehr ein Rätsel.
 

„Na schau mal. Eigentlich haben nicht wir, sondern DU den Text geschrieben. Ich habe dir nur ein paar mal passende Wörter gesagt, als dir nichts eingefallen ist.“

Du schiebst mir das Blatt vor die Nase.

„Außerdem hat das alles einen viel tieferen Sinn, als man im ersten Moment annehmen mag. Jeder Mensch, der dich nicht kennt würde sagen: Was ist das denn für ein Müll?! Vielleicht würden sie noch mehr lachen, als wir gerade eben.“

Ein bedeutsamer Blick in meiner Richtung.

„Doch… ich lese viel mehr darin. Ich lese DICH darin.“
 

Ich bin geschockt und in einem gewissen Grad spüre ich Bewunderung für dich.

Wie sooft bringe ich bei einer so großen Überraschung kein Wort hervor.

Du grinst mich nur an, weil es mehr als eine ausführliche Antwort für dich bedeutet.
 

„Ich frage mich nur, über wen du sprichst. Das ist die einzige Frage die sich mir bei diesem Text stellt.“

Du stierst nachdenklich auf den Handgeschriebenen Zettel. Suchst nach einer Antwort, denn du weißt genau, dass ich sie dir nicht geben werde. Geben kann.

Ich sitze immer noch sprach- und bewegungslos neben dir.
 

„Kazu, manchmal bist du mir echt ein Rätsel.“

Du lehnst dich Kopfschüttelnd nach hinten und verschränkst die Arme hinter deinem Kopf. Ich kann unter deiner Basekap ein neues Piercing an deinem Ohr erkennen. Wann du dir das wohl hast stechen lassen?
 

„Du bist mir genauso ein Rätsel“, gestehe ich. Meine Sprache ist in meinen Hals zurückgekehrt, der Schock ist überwunden.

„Wir kennen uns noch nicht wirklich lange und trotzdem scheinst du schon viel zu viel über mich zu wissen.“

Die Wahrheit sprudelt nur so aus mir heraus.
 

„Das liegt einfach daran, dass wir uns sehr ähnlich sind mein Lieber.“ Auf einmal grinst du nicht mehr. Bist du nun ernst- oder tust du nur so?
 

„Wenn wir das wirklich sind, warum kannst du mich dann so gut einschätzen, ich dich aber nicht?!“ es klingt sehr verzweifelt und kläglich, was ich da von mir gebe. Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Du lockst mich erneut aus meinen Reserven.
 

„Ja, ja… darüber schimpft Shizumi auch immer.“

Du legst deine Arme wieder auf den Tisch, nippst an deinem Cappuccino.

„Wenn ich ganz ehrlich bin: ich weiß es nicht.“ Dein Blick wandert hinaus auf die Straße. Ich kann erkennen, dass deine Augen den Menschen und Autos draußen folgen.

„Aber ich muss gestehen, bei dir ist das auch irgendwie etwas besonderes. Ich kann Shizumi zwar auch einschätzen und zu einem gewissen Grad sogar Daisuke, einfach weil wir drei uns schon lange kennen, doch du… manchmal habe ich Angst, weil es mir häufig so vorkommt, als könnte ich deine Gedanken lesen.“
 

In diesem Moment scheint mein gesamter Körper Achterbahn zu fahren. Mein Bauch rumort, als wäre ein Vulkan darin ausgebrochen und mein Herz schlägt, wie das eines Athleten.

Nur das es etwas irritiert gegen den Brustkasten schlägt und ich das Gefühl habe, es möchte am liebsten aus meinem Mund springen.

Ich presse die Lippen fest zusammen und hoffe inständig, dass du nichts bemerkst.

Aber dein flüchtiger Blick zu mir, verrät mir nicht, ob ich es geschafft habe, dir in diesem Moment meine Reaktion zu verheimlichen.

Es ist sowieso schwierig für mich, deinen Gesichtsausdruck einzuschätzen.
 

„Das… das freut mich sehr zu hören!“ Diese Worte sind untertrieben, aber ich weiß nicht, was ich sonst erwidern könnte.
 

Du nickst mir nur zu. Schweifst wieder mit dem Blick auf die Straße. Wahrscheinlich denkst du nach. Ich trinke meinen Kaffee aus, bin versunken in meinen eigenen Gedanken, beziehungsweise Verwirrungen. Der Text liegt vor mir auf dem Tisch.

Er wird nie an die Öffentlichkeit gelangen. Niemand wird ihn je kennen, nur du und ich.
 

Du und ich.



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Kommentare zu dieser Fanfic (8)

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Von:  vsan
2008-02-12T14:03:53+00:00 12.02.2008 15:03
HA! Habs endlich gelesen :D

nyuu~
was soll ich sagen knüpft unverblümt an die vorhergehenden Kapitel an und ist immer noch ziemlich genial ^^
Von:  -Kiu-
2008-02-11T20:01:35+00:00 11.02.2008 21:01
Fasznierend! Echt! o.o
wundervoll geschrieben...so schön gefühlvoll und so traurig...
ich hoffe du schreibst sie noch weiter ;) würde mich sehr freuen...
baibai .^^°
Von:  vsan
2008-02-11T14:15:49+00:00 11.02.2008 15:15
also~~~

krasser shit.. um das mah eindeutig zu formulieren :3

find die Schreibe ziemlich geil und auch sonst ist das ziemlich nah am Wasser gebaut und auch irgendwie ziemlich gut zu spüren was du ausdrückst~

werd dieses FF auf jeden weiter verfolgen :]

solang es nicht in eine wilde "popo-bums-orgie" (ich denk du weißt was ich meine xDDD) hinausläuft, sondern auf diesem oder einem höheren Level bleibt, wird das sicherlich noch eine ziemlich emotionale Story, die schon mal einen grandiosen Anfang genommen hat ^^
Von:  -Kiu-
2007-12-27T22:05:16+00:00 27.12.2007 23:05
Eine sehr ergreifende FF! T.T
Hattest du vor, sie noch weiter zu schreiben?

Von: abgemeldet
2007-04-13T10:10:26+00:00 13.04.2007 12:10
Ich finde echt keine Worte..

Ja ungefähr so drückt es auch mein Gefühl über das Disbanding meiner Lieblingsband aus... ._.
Von: abgemeldet
2007-02-06T18:03:30+00:00 06.02.2007 19:03
Wunderschön.Traurig.Erdrückend.Gefühlvoll.Deprimierend.
...sehr sehr schön geschrieben, hat mich sehr berührt.
Von: abgemeldet
2007-01-14T19:23:23+00:00 14.01.2007 20:23
so endlich auch mal mein kommentar
es ist kalr das man für fanfics schwieriger kommentare ergattern kann als für fanarts

aber die art wie du schreibst bereitet mir immer wieder gänsehaut
an einer stelle kamen mir die tränen

bitte lösche die fanfic nicht ich find sie so schön geschrieben und mit so viel gefühl
ich würd sie so gerne weiterlesen
Von:  sayonarakagerou
2007-01-03T18:49:15+00:00 03.01.2007 19:49
Wirlich berührend geschrieben. Drama? Ich kann nur sagen, dass es sehr gut ist, das heißt viel besser als Goethe.
Vielleicht kann man noch an der Rechtschreibung arbeiten (aber das ist im Internet ja nicht so wichtig)


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