Die Künstlerin
Hallo und danke, dass ihr meine Geschichte lest. Viel Spaß dabei!
1.
Es war seit Stunden dunkel, doch sie arbeitete wie besessen an der großen Leinwand, die vor ihr stand. Als vor einer halben Stunde der Strom ausgefallen war, hatte sie einen dreiarmigen Kerzenleuchter aus dem Chaos in ihrem viel zu kleinen Atelier gesucht. Das flackernde Licht war ungünstig für ihre Arbeit, doch sie hatte keine Zeit zu warten. Sie war im Verzug, das Bild musste in zwei Tagen fertig sein. Wenn sie doch nur eine Woche länger daran arbeiten dürfte...
Vor ihrem inneren Auge spielte sich die ganze Szene noch einmal ab. Sie, wie sie mit gemischten Gefühlen in den Wintergarten getreten war, um ihren Auftraggeber um etwas mehr Zeit zu bitten. Wie er sie verständnislos angesehen und gefragt hatte, so ein Bild werde doch in zwei Monaten zu schaffen sein? Zumal man in dieser Zeit sogar die Miete für das Atelier bezahle, damit die Künstlerin nicht auf Nebentätigkeiten angewiesen sei? Wie sie daraufhin von ihm mit einem Blick auf die Uhr und einer Bemerkung über dringende Termine hinauskomplimentiert worden war.
Sie kniff die Augen zusammen und trat einen Schritt zurück. Natürlich war so ein Gemälde in zwei Monaten zu schaffen. Aber nicht in diesem Format. Seufzend besserte sie einige Stellen mit kurzen Pinselstrichen aus.
Als sie ihr Kunststudium begonnen hatte, hatte sie davon geträumt, nur für die Kunst zu leben. Sie wollte ein Atelier besitzen und die Ideen verwirklichen, die ihr im Kopf herumschwirrten und die sie jahrelang sorgfältig bewahrt hatte. Und was für Ideen das waren! Keine monumentale Historienmalerei, keine biedere Salonmalerei, nein, sie wollte etwas ganz anderes malen, etwas, das die Fantasie der Betrachter – von denen sie natürlich viele finden würde, immerhin hatte sie Talent – anregte und sie in ihre Traumwelten entführte. Sie wollte den Surrealismus neu aufleben lassen, in ihrem eigenen Stil.
Sie lächelte wehmütig, als sie sich an ihre Träumereien zurück erinnerte. Nach ihrem Abschluss hatte sie schon bald die Realität eingeholt. Sie war gezwungen, nach Aufträgen zu arbeiten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. So malte sie nach den Wünschen ihrer Kunden, ohne je die Zeit für ein eigenes Werk gehabt zu haben. Die Zeit war vergangen, ihre Träume verblasst und die aus der Not heraus geborene Tätigkeit war Alltag geworden.
Der Pinsel in ihrer Hand zitterte leicht. Vor ihren Augen verschwammen die Farben. Sie brauchte eine Pause. Würde sie weiterarbeiten müsste sie später alles wieder verbessern. Sie legte Pinsel und Palette auf den überladenen kleinen Tisch, der neben der Leinwand stand. Die Auftragsmalerei war anstrengend. Das Malen war nicht so wie früher entspannend und heilsam. Stattdessen zehrte es an ihren Kräften und schien sie vollkommen zu verschlingen. Sie räumte einen Stapel Skizzenpapiere vom Sofa und ließ sich mit geschlossenen Augen in die weichen Polster fallen. Ein paar Minuten Ruhe, dann würde sie weiterarbeiten. Nur kurz Augen und Hände ausruhen. Nur kurz die Gedanken von der Leinwand lösen...
Ihre Gedanken entfernten sich weiter und weiter von ihrem Atelier und trugen sie in eine Galerie mit ihren Traumbildern. Sie verweilte vor ihnen und betrachtete sie lange. Einer der Rahmen öffnete sich und ließ sie in das Gemälde eintreten. Sie spazierte über das kristallklare Wasser, aus dem Hochhäuser aus Glas und Metall ragten. Von den Dächern ergossen sich Wasserfälle grünender Pflanzen bis tief hinab zu den Fischen, die durch das dunkle Blau schwammen. Ein Lichtstrahl traf auf die spiegelnde Oberfläche und zog sie langsam in eine blendende Helligkeit, bis alles um sie herum aus grellem Weiß zu bestehen schien. Ein Gedanke von brennenden Kerzen zog träge durch diesen Raum...
Sie schlug die Augen auf. Die Deckenlampe war wieder an und tauchte das Atelier in hartes, kaltes Licht. Der Gedanke von den Kerzen drang in ihr Bewusstsein. Seufzend stand sie auf und löschte sie.
Mit einem prüfenden Blick auf die Leinwand nahm sie ihre Arbeit wieder auf. Sie dachte an ihren Traum zurück. Ihre Ideen hatten sie all die Jahre über still verfolgt. Es war, als wollten diese Bilder unbedingt gemalt werden, als wünschten sie sich nichts mehr, als geboren zu werden. Noch bevor es ihr bewusst wurde, legten ihre Gedanken einen Plan zurecht. Sie würde die Großstadt und die Hektik hinter sich lassen und ein Jahr zu ihren Eltern fahren. Sie würde endlich ihre Ideen verwirklichen. Vielleicht könnte sie die Bilder in einer Galerie ausstellen, sie sogar verkaufen. Vielleicht könnte sie neu anfangen...
Und noch während sie darüber nachdachte, kam ihr ein zweiter Gedanke in den Sinn: Ja, warum eigentlich nicht?
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Wenn euch die Kurzgeschichte gefallen hat oder ihr Kritik habt, wäre ich über einen Kommentar sehr dankbar ;).
Bye lg neko