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Wenn du weinst

[Vidoll] Jui und Rame sind normale Studenten und Freunde. Aber wer ist Rame wirklich? Wird Jui es rausfinden? Und was hat Ayano damit zu tun?
von

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Echte Liebe?

Lang lang hat's gedauert, aber hier ist es nun endlich das 8. Kapitel ^^

fürs lange warten werdet ihr aber auf jeden fall belohnt... kommt viel raus ^^
 

ich hoffe es gefällt und bleibt spannend ^^

viel spaß beim lesen
 

[comments/critics wie immer erwünscht ^^]

[P.S. ein großes Danke an Ney fürs betalesen *hug*]
 


 


 

8. Kapitel Echte Liebe?
 

„Was soll es denn sonst sein?“

„Für mich klingt es eher nach jemandem, der gegen die Wand schlägt.“ sagte ich leise.

Rame lachte.

„Na du bist mir Einer. Wer soll denn bitte hier gegen die Wand klopfen?! Hier ist niemand außer uns.“

Ich sah Rame an. Versuchte in seinem Blick zu lesen, ob er die Wahrheit sagte oder nicht. Doch ich konnte weder das Eine noch das Andere erkennen. Sein Gesicht schien eine perfekte Maske zu sein, die es mir nicht ermöglichte seine wahren Gefühle zu deuten. So blieben meine Zweifel.

„Ich weiß es nicht.“, antwortete ich kleinlaut und senkte den Kopf.

Rame lehnte sich nach vorn und strich mir ein weiteres Mal über die Wange. Ich wich zurück. Ich wollte einfach nicht, dass er mich berührte. Ich wollte, dass er mich hier raus ließ und ich ihn für eine ganze Weile nicht mehr sehen musste. Aber mir war klar, dass sich dieser Wunsch nicht so schnell erfüllen würde.

Natürlich bemerkte Rame meine Abneigung und sah mich gekränkt an.

„Was ist los? Ich will dir doch nichts Böses. Warum weichst du vor mir zurück?“

Meine Antwort bedurfte eines Moments. Ich konnte ihm doch nicht direkt ins Gesicht sagen, dass ich seine Berührungen nicht mochte. Oder doch? Ich haderte mit mir selbst. Ich schuldete ihm nichts, denn alles was er tat beruhte auf seiner Einbildung, zumindest war das mein Gefühl. Er hatte offensichtlich nicht bemerkt, dass ich diese Art von Zuneigung nicht ausstehen konnte. Nicht von ihm.

„Gut. Wenn du nicht willst, dann werde ich jetzt gehen!“, sagte er beleidigt.

Ich ließ ihn ziehen. Was hätte ich auch sonst tun können, außer ihn zu bitten bei mir zu bleiben, was ich auch nicht wollte?!

Schnurstracks packte er seine Sachen zusammen und verschwand, fast schneller als ich schauen konnte. So ließ er mich zurück, inmitten von brennenden Teelichtern. Allein.

Und das Klopfen war weiterhin in unbestimmten Abständen zu hören.

Was sollte ich tun?

Ich war sicher, dass es jemand sein musste. Es war kein Ast oder Regen. Es war eine Person.

Das war sicher. Das war das, was ich mir herbeiwünschte.

Nichts anderes als ein Mensch. Jemand, der mir eventuell helfen konnte. Das hoffte ich.

Einige Minuten blieb ich allein in dem Zimmer sitzen, hörte das Klopfen, war mir unschlüssig was ich tun sollte. Doch dann musste ich einfach versuchen heraus zu finden was es war. Ich stemmte mich gegen die Wand, um auf die Beine zu kommen.

Es fiel mir nicht mehr ganz so schwer wie noch vor ein paar Stunden. So schaffte ich es recht schnell mich aufzurichten. Trotzdem ließ ich den sicheren Halt der Wand nicht zurück. Ich stützte mich an ihr ab und lief zu der Wand, von der ich glaubte, dass von dort die Geräusche kamen.

Ich lauschte. Das Klopfen war verschwunden. Trotzdem blieb ich stehen. Wartete.

Nach ein paar Minuten hörte ich es wieder. Ich lag richtig. Es musste von hier kommen.

Als Antwort klopfte ich ebenfalls gegen die Wand.

Ich wünschte mir, ich könnte Morsezeichen, doch selbst wenn ich es beherrscht hätte, wäre nicht sicher gewesen, dass auch mein Gegenüber damit etwas anfangen konnte.

Trotzdem klopfte es wieder.

Ich gab ein weiteres Mal ein Klopfen als Antwort. Was auch immer ich davon hatte. Denn was würde es mir bringen immer wieder gegen eine Wand zu schlagen ohne zu wissen, ob sich wirklich jemand auf der anderen Seite befand? Vielleicht war es einfach nur Zufall, dass ich immer genau in den Pausen klopfte.

Aber vielleicht auch nicht.

Das war alles was mir blieb, die Hoffnung.

Die Hoffnung, hier raus zu kommen. Noch nicht einmal um Rame zu entwischen, sondern um einfach wieder frei zu sein. Das zu tun, was ich wollte und nicht hier zu sitzen.

Hier zu sitzen und darauf zu warten was als nächstes passierte.

Einige Zeit stand ich nur da und schlug immer wieder gegen die Wand… es änderte sich nichts… es war immer nur ein Klopfen als Reaktion wahrzunehmen.

Meine Hoffnung schwand. Selbst wenn sich eine andere Person auf der anderen Seite der Wand befinden sollte, was konnte sie schon tun um mir zu helfen?

Nichts. Sie konnte ganz sicher keine Wand durchbrechen. Und wenn sie in der Lage gewesen wäre, die Polizei oder andere Hilfe zu Rate zu ziehen, dann hätte sie das doch schon längst getan oder nicht?

Deprimiert sank ich zurück, setzte mich auf den Boden.

Was sollte das alles?

Wieso war ich so dämlich zu glauben es gäbe einen Weg hier weg zukommen ohne gegen Rame kämpfen zu müssen?

Wie konnte ich so naiv sein? Es gab keinen Ausweg.

Ich seufzte. Es nützte doch alles nichts. Ich konnte wohl für die nächste Zeit meine Freiheit verabschieden. Ich hatte nicht die Kraft, um Rame zu überwältigen, und eine andere Möglichkeit gab es wohl nicht…
 

Als ich plötzlich ein lautes Krachen vernahm und mir irgendwelche Scherben buchstäblich um die Ohren flogen, hätte ich fast vor Schreck laut aufgeschrien. Geschockt und überrascht sah ich ihnen hinterher. Sie hatten sich im halben Raum verteilt.

Wo kamen die denn her? Hier gab es doch gar kein Fenster.

Mein Blick streifte zurück an den Ort, wo sie meines Erachtens her gekommen sein mussten. Ich erblickte ein Loch in der Wand.

„Was?!…“

Ohne darüber nachzudenken sprang ich auf und stellte mich ein paar Zentimeter neben das in der Wand klaffende Loch, wo vor ein paar Minuten noch ein Spiegel gehangen hatte.

Zögernd streckte ich meinen Hals, um zu schauen, was da war, und wie aus dem Nichts tauchte ohne Vorwarnung Ayanos Gesicht vor mir auf.

Fast wäre ich wieder rückwärts nach hinten gefallen. Doch ich konnte mich gerade noch am unteren Ende des Loches festhalten, was nicht gerade die beste Idee war. Denn unmittelbar schnitten sich die Überreste des Spiegels in meine Hand.

„Itte~…“, stöhnte ich, als sich der Schmerz durch meinen Körper zog. Ich spürte, wie warmes Blut kurz darauf an meiner Hand hinab floss. Doch das kümmerte mich nicht. Nicht jetzt.

Ayano!

War es wirklich Ayano gewesen, oder hatte ich schon Wahnvorstellungen?

Zögernd, aus Angst ich könnte mich doch geirrt haben, sah ich von meiner Hand aufwärts, bis mein Blick das Loch in der Wand erreichte.

Da war er. Ayano. Er war tatsächlich hier!

War er gekommen um mich zu befreien?

„Ayano…“, flüsterte ich ungläubig. „Was… was machst du hier?“

„Jui! Ich bin so froh, dass es dir gut geht! Dir geht es doch gut, oder hat Rame dir etwas angetan?“, er ignorierte meine Frage, oder war selber einfach zu überrascht mich hier zu sehen, dass er es einfach vergaß.

„Nein, nein. Er hat mir nichts angetan, außer mich hier einzusperren zumindest.“, antwortete ich trocken. Ayanos Augen spiegelten Freude und zugleich Trauer wider.

„Was hast du? Er hat doch nicht etwa… dir… also dich verletzt?“

Ayano schüttelte bedrückt mit dem Kopf. „Nein, er hat nichts gemacht. Aber… jetzt sitzen wir hier beide fest. Wie sollen wir denn hier je wieder rauskommen? Außer Rame hat irgendwann genug von uns, aber ich glaube nicht, dass er uns dann mal eben gehen lässt… ich will gar nicht daran denken…“

Als würden wir uns Jahrelang kennen, strich ich ihm rein aus Reflex über die Wange. „Hey, jetzt mach dir mal nicht so viele Gedanken, dass ist nicht gut für die Haut…“ versuchte ich ihn ein wenig aufzumuntern. „Wir finden schon einen Weg, schließlich sind wir jetzt zu zweit und Rame ist allein. Zusammen können wir ihn ganz leicht überwältigen.“

Ein Lächeln huschte über Ayanos Lippen. „Du hast Recht.“

Ich lächelte zurück. „Genauso sollte es immer sein. Du bist viel schöner, wenn du lächelst. Du solltest es wirklich öfter tun.“ Gedankenverloren strich ich ein weiteres Mal über seine Wange.

Was hatte er nur durchgemacht in seinem Leben?

Es war nicht das erste Mal, dass ich mir diese Frage stellte, aber sie kam doch immer wieder, wenn ich in seine Augen sah. Selbst wenn er lächelte, spiegelten sich Trauer und Schmerz in seinen Augen wider. Nie lachten seine Augen, zumindest nicht seitdem ich näheren Kontakt zu ihm hatte.

Ich versuchte dieses ungute Gefühl beiseite zu wischen und die wichtigeren Dinge im Moment in Angriff zu nehmen.

„Meinst du, du kannst durch das Loch klettern?“

Er zögerte.

„Ich würde es ja selbst tun, aber ich bin gerade nicht in der körperlichen Verfassung um das zu tun. Es tut mir leid dich darum bitten zu müssen…“

„Ich schaff das schon… irgendwie. Es nützt schließlich nichts, wenn wir uns in getrennten Zimmern aufhalten, wenn wir Rame überwältigen wollen.“

Ich sah ihn überrascht an. Wo hatte er plötzlich diesen Enthusiasmus her?

Gefolgt von einem Lächeln, nickte ich ihm zu.

„Ok, ganbatte!... ah, Moment. Ich hab hier eine Decke, die können wir über das Glas legen. Es reicht, wenn sich einer schneidet.“

Mit etwas Mühe gelang es ihm schließlich durch das Loch zu klettern. Geschafft setzten wir beide uns auf die Matratze und lehnten uns an die Wand

„Du weißt gar nicht wie froh ich bin, dass es dir gut geht.“, ich stockte. „Den Umständen entsprechend natürlich.“

Mein Blick suchte den Seinen. Seine Augen glänzten leicht. Hatte ich etwas Falsches gesagt?

Da mir nichts Besseres einfiel lächelte ich ihn einfach an und zum ersten Mal schenkte er mir ein echtes und aufrichtiges Lächeln zurück.

Dieses Mal sah ich nur Freude in seinen Augen, nichts anderes. Kein Leid, kein Schmerz.

Nur Freude.

Ich konnte nicht anders als ihn zu umarmen. Das wollte ich schon lange tun. Schon in Rames Wohnung hatte ich das Bedürfnis verspürt das zu tun, doch jetzt tat ich es nicht um dieses Bedürfnis zu stillen. Es war einfach nur eine Reaktion, die ich nicht verhindern konnte. Dieses Gefühl. Seine Augen. Ich wollte ihn einfach nur bei mir wissen. Die Wärme spüren, die er mir eben gezeigt hatte.

Wider Erwarten umarmte auch Ayano mich. Ich hatte nicht damit gerechnet, eher dass er meine Umarmung über sich ergehen lassen würde. Doch nun krallten sich seine Finger fast schmerzhaft in meinen Rücken.

Wie lange hatte ihn schon niemand mehr umarmt? Wie lange hatte er sich wohl schon danach gesehnt? Es gebraucht?

Ich umarmte ihn ein wenig fester. Drückte ihn an mich.

Seit das mit Sakai-sensei passiert war, hatte ich nie wieder ein so wohliges und gut tuendes Gefühl gehabt, wenn ich jemanden umarmte. Nie hatte ich mich wieder so geborgen und sicher gefühlt, wie in diesem Moment.

Sakai-sensei…

Die Erinnerungen an diesen Tag übermannten mich plötzlich erneut.

Ich wollte mich nicht daran erinnern, ich wollte es für immer verdrängen. Warum kamen sie ausgerechnet jetzt zurück, wo ich seit langem wirklich glücklich war?

Warum ausgerechnet jetzt?!
 

Es war ein ganz normaler Tag gewesen. Anfangs.

Ich war gerade 15 geworden und hatte erst meinen Abschluss gemacht. Nun stand ich kurz vor der wichtigen Prüfung, die man absolvieren musste, bevor man auf die Oberschule gehen konnte. So saß ich schon seit Wochen in meinem Zimmer und lernte, oder ich ging zum Nachhilfeunterricht in der Schule, der extra für diese Prüfung angeboten wurde. Für den heutigen Tag hatte ich mir etwas Ruhe vorgenommen. Immer nur lernen brachte einen schließlich auch nicht weiter, wenn man mit seinen Gedanken immer wieder abdriftete, weil man keine Auszeit nahm.

Also traf ich mich mit Freunden, um im Yoyogi-Park ein Picknick zu machen und die Mädels abzuchecken, die sich zu dieser Jahreszeit zu Hauf in den Parks tummelten.

Die Sonne brannte auf uns hinab. Der Sommer in Tôkyô konnte wirklich schrecklich sein. Wir machten es uns unter einem Baum gemütlich und tranken heimlich ein paar Bier, die uns ein älterer Schüler besorgt hatte. Schließlich waren wir noch nicht 20 und somit durften wir offiziell noch keinen Alkohol trinken.

Wir feierten, alberten herum und machten hier und da ein paar Mädels an. So wie es in diesem Alter normal war.

Bis ich einen Anruf erhielt. Überschwänglich nahm ich ab.

„Hai, hai?“

Es dauerte eine Weile, bis sich die Person am anderen Ende meldete. Ich hatte sogar vergessen nachzusehen wer es überhaupt war.

„Moshi, moshi? Wer ist da?“

Ein Schluchzen ertönte am anderen Ende.

„Ich bin’s, Jui. Papa.“

Mein Herz schien stehen zu bleiben. Wieso weinte er?

„Papa! Was ist los? Ist etwas passiert?“

Unbewusst war ich aufgesprungen, bereit, sofort loszurennen, wenn es etwas Schlimmes war.

„Deine Mutter…“

„Was? Was ist mit meiner Mutter? Was ist passiert?“

„Sie… sie hatte…“, er schluchzte erneut. „Sie hatte einen Unfall, Jui.“

Wie versteinert stand ich da. Meinen Herzschlag konnte ich in meinem Kopf spüren. Ich sagte nichts. Meine Gedanken überschlugen sich. War sie etwa…?

„Jui, bitte komm’ sofort ins katholische Krankenhaus. Das in der Naka-Ochiai, du weißt welches?“

„Hai.“, sagte ich kaum hörbar.

„Beeil’ dich!“

Damit hörte ich nur noch das Freizeichen. Ich stand da und lauschte auf meinen Herzschlag und das Tuten des Telefonhörers.

Was war passiert? War es schlimm? Würde sie sterben? Würde ich sie verlieren? Für immer?

Tränen formten sich in meinen Augen.

Meine Freunde starrten mich irritiert an.

„Ich… ich muss weg!“, mit diesen Worten rannte ich einfach los.

Ein Taxi, ein Taxi. Ich brauchte ein Taxi!

Ich sprang fast auf die Straße, um die Taxifahrer auf mich aufmerksam zu machen. Endlich hielt Eines an und ich stieg ein. Das Krankenhaus war nicht weit entfernt, aber ich wollte so schnell wie möglich dort sein. Am liebsten hätte ich mich dorthin gebeamt. Ich wünschte, es wäre so einfach.

Die Fahrt kam mir endlos vor, doch dann erreichten wir das Hospital. Ich warf dem Fahrer meine halbe Geldbörse hin und verschwand nach drinnen. Mein Vater stand in der Empfangshalle. Ich fühlte mich wie gelähmt. Mein ganzer Körper war taub, als ich langsam auf ihn zuging. Er sagte nichts. Stattdessen zog er mich an sich und umarmte mich mit tränenüberströmtem Gesicht.

„Wie… wie… geht es ihr?“, fragte ich ihn mit erstickter Stimme.

Er sagte noch immer nichts, sondern drückte mich nur noch fester an sich. So standen wir dort, mitten unter tausenden von Menschen. Hielten uns in den Armen und weinten.

Mir war klar, was das bedeutete. Ich wusste es. Ich hatte es schon gewusst, als ich ihn gesehen hatte.

„Jui… deine Mutter… sie… sie ist… jetzt“, er brach ab und wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht. Dann zog er meinen Kopf hoch, so dass ich ihm in die Augen sehen konnte. „Sie ist jetzt… an einem besseren Ort.“

Ich sah ihn an.

Ich hatte es nicht hören wollen. Ich hatte diese Worte nicht hören wollen.

„Nein....“ Mein Körper fing an, unkontrolliert zu zittern. „Nein, das kann nicht sein.“ Tränen liefen unaufhaltsam meine Wangen herab. „Sie ist nicht tot! Sie ist nur auf Arbeit. Sie ist NICHT tot!“ Meine Beine gaben unter mir nach. Ich fiel auf den Boden und blieb da sitzen. Und weinte. Mein Vater kniete sich vor mich und zog mich erneut in seine Arme.

„Sie ist nicht tot. Papa, sag, dass sie nicht tot ist. Sie ist nur auf Arbeit. Sie wartet heute Abend wieder mit Tempura auf uns. Heute ist doch Donnerstag, da hat sie immer Tempura gemacht…“ Meine Stimme brach. Mein Vater drückte mich fest an sich. Und ich spürte wie seine Tränen mein T-Shirt durchnässten.

„Sie ist nicht tot... Papa. Sie ist nicht tot.“
 

Die Tage danach waren wie ein Traum. Ich verkroch mich in meinem Zimmer und weinte. Ich konnte nichts anderes als zu weinen.

Wieso musste es ausgerechnet sie treffen? Wieso musste es ausgerechnet unsere Familie treffen?

Es verging ungefähr eine Woche bis ich endlich wieder etwas zum Mensch wurde. Gelernt hatte ich in dieser Zeit überhaupt nicht, aber das war mir egal. Die Prüfung war erst in zwei Wochen, und ich hatte schon früh begonnen dafür zu lernen. Andererseits war ich jetzt gar nicht in der Stimmung, diese Prüfung zu absolvieren. Ich wollte mich einschließen und in meiner Welt sterben. Was hielt das Leben schon für mich bereit?

Ich konnte doch nicht einfach so tun, als wäre sie nicht tot. Als wäre alles völlig normal, so wie früher. Nein, nicht wie früher. So als wäre sie nie da gewesen…

Um mich abzulenken, ging ich zum Gesangsunterricht, den ich die letzte Woche ebenfalls geschwänzt hatte. Mein Lehrer, Sakai-sensei, würde mich sicher ablenken, außerdem musste ich endlich wieder einmal mit jemandem sprechen. Mit meinem Vater konnte ich das einfach nicht, es würde doch nur damit enden, dass wir auf Mama zu sprechen kamen und uns dann weinend in den Armen lagen. Ich konnte das im Moment einfach nicht mehr. Ich wollte nicht, dass er meinetwegen wieder an sie dachte und weinte.

Und Sakai-sensei war wie ein Freund für mich. Er wusste für alles einen Rat.

Ich klingelte an seiner Tür und er öffnete mit einem überraschten Gesichtsausdruck.

„Jui, was machst du denn hier? Heute hast du doch gar keinen Unterricht.“

„E-entschuldigung, störe ich?“

Er lächelte. „Nein, nein. Komm ruhig rein.“

„Danke…“

Ich zog meine Schuhe aus und ging in das Wohnzimmer, was gleichzeitig auch sein Unterrichtszimmer war. Er hatte ein kleines, aber wohnliches Haus und das Wohnzimmer war voll gestellt mit diversen Instrumenten. Er liebte die Musik genauso wie ich.

„Setz dich… Was liegt dir auf dem Herzen?“

„Ich wollte mich entschuldigen… dafür, dass ich die letzten drei Stunden geschwänzt habe.“

Er nahm die gewärmte Kanne Tee vom Tisch und füllte zwei Becher. Einen davon drückte er mir in die Hand, bevor er antwortete.

„Darüber brauchst du dir keine Gedanken machen. Ich habe von dem Unglück in deiner Familie gehört. Es tut mir sehr leid. Ich werde dir die verpassten Stunden in so einem Fall natürlich nicht anrechnen. Ich kann nachvollziehen, wie schrecklich das für dich sein muss. Also, wenn du etwas auf dem Herzen hast und darüber sprechen möchtest, dann bin ich für dich da.“

Ich sah ihn mit glänzenden Augen an.

„Danke. Ich…ich…vermisse sie so sehr…ich will, dass sie zurückkommt…“

„Ich weiß was in dir vorgeht. Es ist schwer, aber es wird dich auch stärken. Und bedenke immer, sie ist bei dir. Auch wenn du sie nicht sehen kannst, sie wird dich immer beschützen.“

Nun konnte ich meine Tränen endgültig nicht mehr zurückhalten. Damit er nicht sah, dass ich weinte, drehte ich mich weg, doch plötzlich fühlte ich, wie sich seine Arme um mich legten und mich in eine Umarmung zogen.

„Du brauchst dich nicht dafür schämen, dass du um sie trauerst. Du musst deinen Schmerz herauslassen, damit du ihn verarbeiten und überwinden kannst. Weine nur. Weine so sehr du kannst, dann wird es dir besser gehen.“
 

Ich bleib den ganzen Nachmittag bei ihm, bis in die Abendstunden. Wir sprachen über viele Dinge und immer wieder hatte er Ratschläge für mich parat. Weisheiten, bei denen ich mich fragte, woher er sie kannte. Er war gerade einmal fünfzehn Jahre älter als ich, aber weise, als hätte er schon zwei Leben hinter sich.

Bei ihm fühlte ich mich geborgen. Er hatte mir schon immer seelischen Beistand geleistet, wenn ich mit Problemen nicht zu meinen Eltern gehen konnte, oder glaubte, sie würden mich nicht verstehen.

Er war wie ein großer Bruder für mich. Ihm konnte ich alles anvertrauen und er würde mich immer verstehen. Zumindest würde er immer meinen Standpunkt nachvollziehen können, auch wenn ich falsch lag. Und er konnte mir diese Fehler vor Augen führen ohne mich zu belehren.

Er war der Mensch, dem ich in dieser Zeit am meisten vertraute.

Doch er sah offensichtlich mehr in meiner Zuneigung zu ihm.

Wieder waren wir auf den Tod meiner Mutter zu sprechen gekommen. Ich konnte kaum etwas sagen, denn bei jedem Gedanken an sie schnürte es mir den Hals zusammen und ich spürte dieses starke Stechen in meinem Herz.

Er umarmte mich, so wie er es schon öfter an diesem Tag getan hatte und ich krallte mich in seinem T-Shirt fest. Mein Körper zitterte und meine Tränen durchnässten sein Hemd, so wie die Tränen meines Vaters Meines durchtränkt hatten. Sanft streichelte er über meinen Rücken um mich zu beruhigen. Er streichelte mich wie meine Mutter es immer getan hatte.

Ich fühlte, wie er meinen Kopf küsste.

Doch dann berührten seine Lippen meinen Hals und küssten ihn. Ich schrak auf und sah ihn an.

„Was ist los?“

„Sie… sie haben mich…“

„Geküsst. Ja, da hast du Recht.“, sagte er mit einem Lächeln.

„A-aber…“

„Weißt du, nicht nur Frauen und Männer können einander lieben. Ein Mann kann auch einen anderen Mann lieben. Ich liebe dich und du liebst mich, nicht wahr?“

Ich sah ihn verwundert an. Wieso sprach er wie aus dem Nichts so ein Thema an?

„Ich?... Nein, ich liebe sie nicht.“

„Sei nicht so schüchtern. Es ist nichts Schlimmes, einen anderen Mann zu lieben. Wenn man liebt, dann liebt man. Egal welches Geschlecht es ist. Du brauchst dich also dafür nicht zu schämen.“

„Ich-ich liebe sie aber nicht. Sie sind ein Freund. Aber ich liebe sie nicht.“

Er streichelte über meinen Kopf.

„Nun reicht es aber.“, sagte er freundlich wie immer. „Warum willst du denn nicht ehrlich zu mir sein, und vor allem ehrlich zu dir selbst?“

Ich löste mich nun gänzlich aus der Umarmung.

„Aber ich bin ehrlich. Zu ihnen und zu mir.“

Er lachte gehässig.

„Das glaube ich nicht, Jui. Nicht so wie du mich ansiehst.“

„Wie ich sie ansehe?“

Ich war nervös, was wollte Sakai-sensei plötzlich von mir?

„Ja, Jui-kun. Deine Augen verschlingen mich fast. Nun fass dir ein Herz und sag was du wirklich fühlst. Du willst es mir doch sagen, nicht wahr? Du willst doch, dass ich dir sage, dass ich das gleiche für dich empfinde.“

Ich sah nach unten.

Meine Augen verschlagen ihn? Aber ich wollte doch gar nichts von ihm. Ich wollte doch nur, dass er mein Freund war.

Mit einer Hand zog er meinen Kopf wieder nach oben.

„Also hatte ich doch Recht. Du brauchst dich nicht schämen. Es ist völlig in Ordnung so zu fühlen.“

Noch bevor ich reagieren konnte pressten sich seine Lippen auf meine und seine Zunge versuchte in meinen Mund zu gelangen. Im Gegenzug presste ich meine Lippen so fest ich konnte aufeinander. Was hatte er vor?

Ich versuchte mich aus seinem Griff zu befreien und stemmte mich gegen ihn.

Er unterbrach den Kuss und sah mich forschend an.

„Was soll das werden, Jui-kun? Erst gestehst du mir deine Liebe und dann wehrst du dich gegen meine Zärtlichkeiten? Jetzt tu nicht so, als ob es nicht das wäre weswegen du immer wieder außerhalb der Unterrichtstunden zu mir kommst!“

„Ich hab ihnen meine Liebe nicht…“, erneut pressten sich seine Lippen auf meine und unterbrachen mich. Diesmal gelang seiner Zunge, was sie zuvor nicht geschafft hatte.

Mit aller Kraft versuchte ich gegen ihn anzukommen und ihn wegzudrücken. Aber er war natürlich viel stärker als ich. Durch Körperkraft konnte ich ihn nicht bezwingen. Ich suchte verzweifelt nach einem Ausweg.

Seine Zunge strich über meine Lippen und da sah ich meine Chance. Ich nahm all meinen Mut zusammen und biss einfach zu.

Sakai-sensei schrie auf und wich sofort zurück. Ich konnte sein Blut in meinem Mund schmecken.

Geschockt hielt er seine Hand an seine Lippen.

„Was sollte das denn? Bist du völlig wahnsinnig geworden?!“

Genau in dem Moment, in dem ich losrennen wollte, packte er mich und warf mich auf den Boden. An seiner Lippe saugend krabbelte er über mich.

„Böse Jungs müssen bestraft werden, das weißt du doch.“

„Lassen sie mich in Ruhe. Ich möchte gehen. Ich möchte nach Hause!“

„Du kannst nach Hause gehen nachdem du deine Bestrafung bekommen hast, Jui- kun.“

Er holte mit seiner Hand aus und ich ging davon aus, dass er mich schlagen würde. Ich schlug meine Arme vors Gesicht um nicht zu hart getroffen zu werden.

Doch statt einer Ohrfeige spürte ich plötzlich seine Hand unter meinem T-Shirt. Ich keuchte auf.

„Ach Jui, du solltest wissen, dass ich einem so hübschen Jungen wie dir nicht wehtun kann. Auch wenn du es eigentlich verdient hättest. Ich bin nicht böse auf dich. Ich werde dir jetzt ein Geschenk machen. Ich werde dich zum Mann machen. Das möchtest du doch, nicht wahr? Ein Mann sein?“

Ein Mann sein… Natürlich wollte ich das, welcher Junge wünschte sich nicht ein richtiger Mann zu sein? Aber mir war nicht wohl bei dem Gedanken. Wie konnte mich ein anderer zum Mann machen? Das musste man doch von allein schaffen, ich musste aus eigener Kraft und Erfahrung zum Mann werden. Das hatte meine Mutter mir immer gesagt, wenn ich sie gefragt hatte, wann ich ein richtiger Mann sein würde.

„Nein, sie können mich nicht zum Mann machen.“

„Was erzählst du denn da? Natürlich kann ich dich zum Mann machen.“

„Ich muss allein zum Mann werden…“

Verzweifelt versuchte ich mich unter ihm heraus zu winden, doch er ergriff plötzlich meine Kehle und drückte zu. Ich starrte ihn geschockt mit weit aufgerissenen Augen an.

„Entweder du lässt dich von mir zum Mann machen oder du wirst nie Einer werden!“, hisste er.

Mein Atem bestand nur aus einem lauten Röcheln, als ich versuchte Luft zu holen. Es tat weh. Wollte er mich umbringen?

Es schien so.

Zumindest solange ich nicht das tat was er wollte.

Ich starrte ihn weiterhin an. Er war so anders. Der warme, liebevolle Schimmer in seinen Augen war verschwunden. Stattdessen brannten Wut und Verlangen in ihnen.

Ich musste etwas tun.

Ich musste etwas tun, wenn ich nicht sterben wollte.

In meinem Augenwinkel entdeckte ich die Teekanne, die gleich neben mir auf dem Tisch stand. Ohne zu überlegen griff ich nach ihr und schlug auf seinen Kopf ein. Ich tat es mehrere Male, aus Panik und Angst, er würde mich verfolgen.

Nach drei Schlägen fiel er keuchend zur Seite und ich nutzte diese Chance um aufzuspringen.

Er hielt sich seinen stark blutenden Kopf und sah mich herausfordernd an.

Ich erwiderte ihn mit einem kalten Blick. Ich wollte, dass er wusste, dass ich keine Angst mehr vor ihm hatte, auch wenn ich jetzt floh.

Seit diesem Abend war ich nie wieder bei ihm gewesen. Ich hatte ihn nicht einmal wiedergesehen.

Womöglich hatte er kurz nach dieser Auseinandersetzung die Stadt verlassen…
 

„Was ist denn hier los?!“, quiekte Rame aufgebracht durch den Raum.

Just im selben Moment schraken Ayano und ich auf und starrten fassungslos in die Richtung, aus der Rames Stimme gekommen war.

Rame nutzte den Überraschungsmoment und betätigte den Auslöser einer kleinen Sprühflasche.

Pfefferspray!, schoss es mir durch den Kopf, gerade als mich die fein zerstäubte Flüssigkeit traf.

Ayano schrie leise auf.

Verdammt!

Wie konnten wir nur so dermaßen in Gedanken abdriften, dass wir nicht einmal bemerkt hatten, dass Rame den Raum betreten hatte?

Meine Augen brannten und Tränen liefen meine Wangen hinab.

Das dringende Bedürfnis, mir die Augen zu reiben, durchströmte meinen Körper.

Nein, du darfst nicht reiben! Du darfst nicht reiben! Das macht es nur noch schlimmer. Reiß dich zusammen. Reiß dich zusammen!!

Ayano hatte dem Drang offensichtlich nicht standhalten können. Er wälzte sich keuchend auf dem Boden.

Durch den schmerzenden Schleier des Sprays und meiner Tränen konnte ich schemenhaft erkennen, dass Rame sich vor mich hockte.

Seine Hand berührte kurz meine Wange.

„Du hast es also doch herausgefunden… Naja, es hätte mir von vorn herein klar sein müssen, dass du dich nicht so schnell von deinen fixen Ideen abbringen lässt. Nun, da es jetzt raus ist, kann ich dir nicht mehr verheimlichen, dass Ayano nicht im Krankenhaus ist. Aber das ist ja nicht schlimm.“

Meine Stirn legte sich irritiert in Falten.

Was wollte er damit bezwecken? Ok, er hatte mich angelogen was den Standort von Ayano betraf, doch das war mir relativ egal. Aber wieso hatte er ihn nicht weggebracht? Und wieso war er so gelassen?

Ich hatte eigentlich erwartet, dass er aus der Haut fahren würde. Stattdessen, tat er so, als wäre nichts Besonderes passiert.

„Nur eins stört mich, Jui.“, fuhr er immer noch ruhig und gefasst fort.

„Ich wollte nur eins. Dass du mich liebst. Und jetzt sitzt du hier mit Ayano in deinen Armen. Warum musst du immer alles kaputt machen?“

Ich antwortete nicht.

Was war das für eine neue Masche? Vorwürfe, Drohungen in freundlichem Ton? Was erhoffte er sich davon? Außer, dass er nicht wegen zu viel Aufregung einen Herzinfarkt bekam.

„Du hast mir einmal einen Rat gegeben, Jui.“, er sah kurz zu Ayano hinüber, der noch immer versuchte, die Wirkung des Pfeffersprays loszuwerden. „Kannst du dich daran erinnern? Du sagtest: Wie man ein Ziel erreicht ist unwichtig, es kommt nur darauf an dass man es erreicht.“

Der Schleier über meinen Augen lichtete sich ein wenig. Es war wirklich gut gewesen, nicht zu reiben. Während Ayano noch damit kämpfte, ließ der Schmerz bei mir langsam nach.

„Das war kein Rat, Rame. Das war eine situationsbedingte Reaktion. Ich habe nie gesagt, dass man das auf alles anwenden kann.“

Rame lächelte, das erkannte ich an der Art, wie er stoßartig ausatmete.

„Das stimmt, aber diesen Tipp brauche ich nicht. Man kann diese Sicht der Dinge immer gebrauchen. Solange man nicht viel von Moral hält natürlich nur.“

„Und du hältst nicht viel von Moral?“

„Sagen wir es so, wenn sie mir im Weg ist, ignoriere ich sie einfach.“ Er kam näher und flüsterte in mein Ohr. „Und ich scheue nicht davor zurück, Gewalt anzuwenden, um das zu bekommen was ich will.“

„Hmpf.“, ich lächelte bitter. „Das brauchst du mir nicht zu sagen, das habe ich schon bemerkt, Rame-kun.“

„Wie dem auch sei…“, er wischte einige der Tränen von meiner linken Wange. „Es tut mir leid, dass ich das Pfefferspray benutzen musste, aber ihr habt mir keine andere Wahl gelassen.“ Nun wischte er sie auch die auf der rechten Seite weg.

„Jetzt sind deine Augen ganz gerötet und dabei sind sie doch das, was ich immer so sehr an dir mochte, Jui. Sie sind ein wenig arrogant, aber trotzdem voll Wärme und Mitgefühl. Daher wusste ich, dass du nicht ganz das bist, was du vorgibst zu sein. Und ich wusste auch, dass du dich in Wirklichkeit nach echter Liebe und Zuneigung sehnst, aber zu misstrauisch geworden bist, so dass du selbst echte Gefühle verstößt. Doch jetzt muss ich jeden Tag feststellen, dass dieses warme Licht einem kalten, harten Licht gewichen ist. Ich sehe nur noch Abscheu. Abscheu gegen mich. Dabei wollte ich dir doch nie etwas Böses…“ Tränen formten sich Rames Augen und liefen scheinbar in Zeitlupe seine Wangen hinab. „Ich wollte doch nur, dass du mich magst. Dass du mich so magst wie ich dich mag. Ich wollte glücklich mit dir sein, doch nun verweigerst du mir alles. Du sprichst fast nie mit mir, ignorierst mich. Wenn du mit mir redest, dann wie mit einem Fremden und nicht wie mit deinem besten Freund…“ er schluchzte und wischte sich ein paar der Tränen aus dem Gesicht. „Hab ich dich denn wirklich so sehr erschreckt? Dass du mich nur noch hassen kannst?“

Ich sah ihn zweifelnd an.

Warum musste er auch immer von einem Extrem ins nächste springen?

Einmal hatte ich das Gefühl, ich sah den Teufel persönlich vor mir und ein anderes Mal kam er mir nur wie ein kleines leidendes Kind vor, das aus lauter Verzweiflung immer genau das falsche tat, um das zu bekommen was es wollte.

Wieso konnte er denn nicht einfach etwas normaler sein, so dass ich wenigstens ein bisschen herausfinden konnte, wer er wirklich war?

Teilweise konnte ich seine Reaktionen sogar nachvollziehen, und er hatte ebenfalls mit allem Recht, was er eben gesagt hatte.

Er hatte hinter meine Maske geblickt und es schien ihm nicht einmal schwer gefallen zu sein.

Was wusste ich hingegen über ihn? Fast nichts!

Ich konnte nur mutmaßen.

So wie er sich verhielt, musste er einiges durchgemacht haben. Offensichtlich hatte er nicht die Liebe bekommen, die er brauchte. Würde er sie sich sonst wirklich einfach mit Gewalt nehmen?

Würde er sonst alles mit Gewalt an sich reißen, wenn er wüsste, dass man Liebe nur freiwillig bekam?

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wie so oft in letzter Zeit.

Ich sah ihn einfach weiter schweigend an. Darüber grübelnd, was nun sein wahres Ich war und was nicht. Was nur Maskerade war, oder vielleicht auch nur pure Überreaktion.

Doch was sollte das schon bringen?

Ich versuchte das doch schon die ganze Zeit.

Ja, ich wollte meinen besten Freund nicht aufgeben, aber ich wollte genauso wenig, dass er mit mir tat was er wollte und mich quälte… und Ayano.

Er war mir fast wichtiger als ich selbst.

Rame sollte ihm nichts mehr antun und wenn er es tat, würde er dafür bezahlen.

Wut flammte erneut in mir auf.

Wenn er es wagte ihm etwas anzutun…

„Weißt du, Rame, es ist nicht lange her, da habe ich dich geliebt wie einen Bruder. Ich hätte meine Hand für dich ins Feuer gelegt, ich hätte dir bei jedem Problem geholfen, egal wie groß es ist. Doch jetzt weiß ich nicht mehr wer du bist. Wie soll ich dich dann wie einen Freund behandeln?“

Er sah mich mit solch verletzten Augen an, dass ich beinahe spüren konnte, wie sehr sein Herz sich vor Schmerz verkrampfte.

Plötzlich tat er mir leid. Waren meine Worte wirklich so verletzend gewesen?

Er ließ den Kopf sinken und sagte eine Weile nichts, sondern schluchzte nur. Doch dann verstummte auch sein Schluchzen.

Er hob seinen Kopf wieder und starrte mich mit vor Wut fast wahnsinnigen Augen an.

„Es ist wegen diesem Jungen, nicht wahr?!“, zischte er.

Wenn ich nicht schon an der Wand gesessen hätte, wäre ich vor ihm zurückgewichen, doch das konnte ich nicht. Was war plötzlich in ihn gefahren?

„Es ist wegen deinem kleinen Schatzi, Ayano, nicht?! Na los, sag es! Sag mir, dass du ihn liebst! So ist es doch!! Du liebst ihn, aber mich kannst du nicht lieben?! Du bist ja hetero. Ach Moment, du weißt aber, dass Ayano auch ein Mann ist! Also kann das nicht der Grund sein. Also hast du mich die ganze Zeit angelogen!“

Rame steigerte sich so sehr in seine Wahnvorstellungen, dass seine Stimme immer lauter und aufgebrachter wurde.

„Dann nenn mir den Grund, Jui!! Sag mir, warum du ihn lieben kannst, aber nicht mich! Warum magst du ihn so viel mehr als mich, obwohl ihr euch gar nicht richtig kennt? Mich hingegen kennst du schon seit über einem Jahr! Sag es mir!! Warum, Jui, warum kannst du ihn lieben?! Er ist nicht besser als ich. Er hat nichts, was mich übertrumpft!!“

Ich musste mir eingestehen, dass er Recht hatte, wieder einmal.

Meine Gefühle für Ayano waren in letzter Zeit immer stärker geworden. Ich hatte keine Ahnung, ob ich das schon Liebe nennen konnte, aber es war eindeutig mehr als pure Freundschaft. Er zog mich an, sehr sogar. Die Wärme, die er ausstrahlte, die Liebenswürdigkeit. Er trug ebenfalls eine schwere Last auf seinen Schultern, doch er hatte es trotzdem geschafft er selbst zu bleiben. Er war einer der wenigen Menschen, die ich kannte, die fast nie eine Maske trugen. Er war er selbst, sein wahres Ich. Ich wünschte mir so sehr, ich könnte so sein wie er. Vielleicht mochte ich ihn deswegen umso mehr.

Ja, Ayano konnte mir noch viel beibringen.

„Doch, es gibt einen entscheidenden Unterschied. Er hat ein Herz! Ein warmes, sanftes Herz, das nicht nur für ihn, sondern auch für seine Mitmenschen schlägt, nicht so wie dein kaltes Herz. Oder meins…“

Rame starrte mich im ersten Moment geschockt an.

Doch dann raste ohne Vorwarnung seine Faust auf mein Gesicht zu. Er erwischte mich unvorbereitet. Immer wieder schlugen seine Fäuste auf mich ein. Mein Gesicht, mein Körper, er schien keine Stelle auslassen zu wollen.

Trotzdem wehrte oder schützte ich mich nicht. Ich saß einfach nur da und ließ es über mich ergehen. Ich hatte es wohl auch irgendwo verdient.

Außerdem war es mir lieber, er ließ seine Wut an mir aus als an Ayano. So konnte ich ihn zumindest ein wenig beschützen.

Nach ein paar Minuten stoppte Rame und blieb keuchend halb auf mir liegen. An seinen Händen sah ich, dass ich wohl bluten musste, doch spürte nichts. Mein Körper war taub.

Vielleicht war es auch gar nicht mein, sondern, sein eigenes Blut, obwohl es recht unwahrscheinlich war, dass nur er bluten würde.

Er begann erneut zu schluchzen.

„Wieso tust du mir das an? Wieso tust du mir so weh?“

„Ich kann nichts dafür, Rame. Ich kann deine Gefühle nicht ändern, genauso wenig wie meine. Das einzige, was ich tun kann, ist die Wahrheit zu sagen oder dich anlügen. Beides würde dir nicht gefallen.“

„Du irrst dich in einem Punkt.“

Er richtete sich wieder auf und sah mich mit geröteten Augen an.

„Lüg mich an, Jui. Sag mir, dass du mich liebst.“

Er überraschte mich immer wieder aufs Neue.

„Gut, wenn du es unbedingt möchtest. Ich liebe dich.“, antwortete ich trocken.

„Siehst du, es ist gar nicht so schwer mich zu lieben.“ sagte er mit einem Lächeln und umarmte mich.

„In was für einer Welt lebst du eigent…“, das krampfartige Schütteln seines Körpers unterbrach mich.

Also war er doch noch nicht so verblendet, wie ich geglaubt hatte. Selbst er konnte sich nicht einreden, diese Lüge sei die Wahrheit gewesen.

Er wusste genau, dass ich keinerlei Gefühle für ihn hatte und dass selbst eine Lüge ihn nicht vor der Tatsache schützen konnte. Es musste ihn noch viel mehr schmerzen, diese süßen Worte zu hören, die er schon immer hatte hören wollen, und zu wissen, dass sie nicht stimmten. Dass sie nur Schall und Rauch waren.

Langsam löste er sich wieder aus der Umarmung und sah mich mit traurigen Augen an, trotzdem hatte er ein Lächeln auf den Lippen.

„Nun, ich werde mich jetzt erstmal um deinen Freund kümmern!“, er stand auf und ergriff Ayanos Arm um ihn nach oben zu ziehen. Sein Gesicht war gerötet und geschwollen, besonders um die Augen.

„Was hast du vor?“, ich wollte aufstehen, doch Rames Schläge hatten doch mehr angerichtet, als ich geglaubt hatte. Mein Körper wurde von einem Schmerz in der Magengegend durchbohrt. Ich musste wohl ein paar geprellte Rippen haben. Dabei hatte es gar nicht wehgetan als er mich geschlagen hatte.

„Ich werde ihn nur wieder in sein Zimmer bringen, keine Sorge. Er nützt mir mehr, wenn er hier und am Leben ist!“, antwortete er mit einem undeutbaren Lächeln, das mir kalte Schauer über den Rücken sendete.

Trotzdem war ich beruhigt, dass er ihm nichts antun würde. Ich glaubte ihm. ER hatte es Ernst gemeint.
 

Nach einer Weile kam er zurück in den Raum. Er setzte sich vor mich hin und sah mich an.

„Jui, Jui, Jui. Was soll ich nur mit dir machen?“

Mein Blick wanderte von Rame zu der Stelle, an der sich noch vor ein paar Stunden ein Spiegel befunden hatte. Er schien keine Anstalten machen zu wollen, um dieses Loch zu schließen oder irgendetwas zu tun, um uns davon abzuhalten, wieder hindurch zu klettern.

„Das Loch in der Wand scheint für dich interessanter zu sein als ich. Du brauchst dir keine Gedanken darüber zu machen Jui, keiner von euch, weder Ayano noch du, wird noch ein weiteres Mal hindurchklettern können.“

Ich sah ihn verwirrt an, doch dann spürte ich plötzlich kaltes Metall um mein Handgelenk und hörte ein Klicken.

Handschellen?, schoss es mir durch den Kopf und schon hörte ich ein weiteres Klicken.

Ich sah auf mein Handgelenk und musste feststellen dass ich richtig gelegen hatte.

„Wa-?!“

„Es ist toll was man in einem alten Gefängnis so alles findet!“, säuselte Rame und grinste mich an.

Bevor ich etwas sagen konnte, stand er auf und verließ mit einem „Bis später“ das Zimmer.

Ich starrte benommen auf die Tür.

Er hatte mich tatsächlich hier gefesselt und ich war auch noch dumm genug gewesen nichts dagegen zu unternehmen.

Du warst zu überrascht, Jui. Mach dir keine Vorwürfe.

Ja, diese Erkenntnis half mir trotzdem nicht weiter. Jetzt war es zu spät. Jetzt hatte ich die Handschellen um mein Handgelenk.

Ich hob meinen Arm und stellte fest, dass es keine normalen Handschellen waren. Sie hatten eine Art Kette aus verstärkten Metallgliedern zwischen den Schellen. So konnte ich trotzdem ein wenig im Zimmer umher laufen und aufs Klo gehen, wenn die Kette lang genug war. Dennoch, Metall konnte man nicht so leicht zerstören wie einen Spiegel.

Der Spiegel… jetzt verstand ich auch warum hinter dem Spiegel ein Loch gewesen war.

Das hier musste ein Vernehmungsraum gewesen sein.

Ein Gefängnis also…

Wie passend, stellte ich deprimiert fest.
 

Ich erwachte durch einen Schrei. Erschrocken sprang ich auf, ohne mir der Schmerzen in meiner Brust bewusst zu sein und stürmte zu dem Loch. Instinktiv hatte ich gemerkt, dass der Schrei nicht aus meinem Zimmer gekommen war.

Als ich das Loch erreicht hatte und hindurch sah, blieb ich wie angewurzelt stehen.

„Ayano…“, entwich es leise meinen Lippen.

Rame stand geschockt in Ayanos Zimmer und hielt sich die Hände vors Gesicht.

Mein Blick glitt zurück zu Ayano.

Er lag auf dem Boden.

Seine Augen waren geschlossen.

Sein linker Arm lag ausgestreckt auf dem Boden, geziert von einem langen roten Strich, der über seinen halben Unterarm reichte.

In seiner rechten Hand hielt er eine Scherbe umklammert.

Unter seinem Arm hatte der Betonboden eine rote Tönung bekommen.

„…tot…“, flüsterte ich und brach zusammen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2007-12-10T22:04:03+00:00 10.12.2007 23:04
OMG, bitte schreib schnell weiter, sonst verecke ich xD
Das beste FF, das ich bisjetzt in meinem ganzen Leben gelesen hab ;__;
Es berührt mich ;____;
Du kannst die Gefühle der Personen so gut ausdrückn, beschreiben ;__;
*gerührt is*
schreib schnell weiter >.<
Von:  Gedankenchaotin
2007-12-05T16:57:08+00:00 05.12.2007 17:57
Hallo,
ich hab heute deine Story entdeckt und ich muss ehrlich sagen, dass sie mich wirklich vom ersten Kapitel an gefesselt hat.
Du hast wirklich einen tollen Schreibstil und bringst die Gefühle der Beteiligten gut rüber, sodass man sich das bildlich vorstellen kann.
Mata ne und bis bald
*kekse dalass*
Aki
Von: abgemeldet
2007-10-20T00:35:07+00:00 20.10.2007 02:35
es war sehr spannend zu lesn un es ging sehr schnell rum die zeit.
war auf einmal zu ende. böse zu ende...;_;

bin ma gespannt was rame da noch so für sachen findet und anwendet...XD
rame is echt gestört....>_<
Von:  Intetsu
2007-10-18T11:09:44+00:00 18.10.2007 13:09
Dieses Kapitel ist bis jetzt das Beste und dann dieses gemeine Ende...
Ich finde, du steigerst dich mit jedem Update
Deine FF ist so anders und richtig erfrischend
Es gibt zwar sehr viele FFs (allerdings nicht gerade von Vidoll >>), aber deine sticht deutlich hervor
Weiter so <3


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