Erschütternde Erkenntnisse von Varlet ================================================================================ Kapitel 20: Ruhe vor dem Sturm ------------------------------ Obwohl es mitten in der Nacht war, saß James noch immer am Computer und studierte die Akte über den Vorfall von vor 20 Jahren, bei dem sein Partner und dessen Frau ums Leben kamen. Jedes Jahr fühlten sich dessen Geburtstage und der Todestage wie die reinste Qual an. Und dann war da noch die Tochter seines Partners – Jodie. Die kleine Jodie. Sie war gerade erst sieben Jahre alt und musste die Tragödie mit ansehen. Wo sie war wusste niemand, sodass sie seit dem Vorfall als vermisst galt. Manche Agenten spekulierten bereits, dass sie Tod war und dass die Organisation ihre Leiche verschwinden ließ. Und das nur um dem FBI einen Hauch von Hoffnung zu geben, sie suchen zu lassen und ihre Verzweiflung zu beobachten. James ballte die Faust. In regelmäßigen Abständen verspürte er Melancholie, Traurigkeit, Schuld aber auch Zorn auf sich selbst. Noch immer kam es ihm vor, als wäre die Tat erst gestern gewesen. Er selbst war an jenem Abend zum Informationsaustausch im Hause der Starlings eingeladen und hatte sich auf dem Hinweg extra viel Zeit gelassen, damit sein Partner Jodie ins Bett bringen konnte. Eigentlich war es ungerecht, dass ausgerechnet sein Partner – der Familie hatte – diesen brisanten Auftrag erledigte und James nur als Kontaktmann fungierte und die Lage beobachtete. Gerade in seinem Job war es nicht selten, dass nur wenige Minuten über Leben und Tod entschieden. Oft fragte er sich, was passiert wäre, wäre er eine halbe Stunde eher beim Haus gewesen. Würden Starling und seine Frau dann leben? Würde Jodie zu Hause sein und ein behutsames Leben führen? Oder wäre etwas ganz anderes passiert? James seufzte leise auf. Er war zu spät gekommen. Das Haus stand in Flammen. Es loderte überall und jeder Versuch in das Gebäude zu kommen, wurde von der Hitze bestraft. James hatte sofort die Feuerwehr gerufen, war mehrfach ums Haus gelaufen und hatte nach den Bewohnern gerufen. Aber es war zu spät. Nachdem der Brand Stunden später gelöscht war, blickte er auf die Trümmer des Hauses. Alles war zerstört und nachdem die ersten Überreste gefunden waren, sackte der FBI Agent in sich zusammen. Der Schock saß ihm tief in den Knochen. Er hatte sofort gewusst, dass das Feuer drei Leben nahm und dass es kein Unfall war. Erst als die Spurensicherung nur die Überreste von zwei Erwachsenen vorfand, keimte ein klein wenig Hoffnung in ihm auf. Jodie lebte und sie war irgendwo dort draußen. James wusste, dass die Hoffnung sehr gering war, da man bei der Organisation mit allem rechnen musste. Dennoch hatte er sich sofort auf die Suche nach dem Mädchen gemacht und ein Bild von ihr an alle Dienststellen in New York verschickt. Anschließend hatte er die Bahnhöfe und Flughäfen informiert und sich selbst an Orte begeben, wo Jodie hätte auftauchen können – sofern sie nicht entführt wurde. Es gab noch weitere Optionen: Jodie hatte sich in Sicherheit gebracht und sich vor Angst irgendwo versteckt. Dann würde sie am nächsten Tag, spätestens am übernächsten Tag zurück zum Haus kommen. Oder aber die Organisation – eher der Täter – würde zurück an den Tatort kehren und sein Werk bewundern. Für das alles hatte er sicherheitshalber ein Team von Agenten vor dem Grundstück positioniert. Aber Jodie blieb wie vom Erdboden verschluckt, weswegen James den Suchradius ausweitete und ganz Amerika nach ihr durchforsten ließ. Später begann er seine Fühler in der ganzen Welt auszustrecken. Natürlich alles heimlich, damit der Feind sie nicht erneut wegbringen konnte. Zudem hatte er weitere Kontakte zu Waisenhäusern, Schulen, Krankenhäusern und Ämtern. Sobald dort ein Mädchen, auf dessen Beschreibung Jodie passte, auftauchte, würde er sofort gerufen werden. Leider identifizierte er in all den Jahren immer wieder Mädchen, die nicht Jodie waren. Mit jedem Jahr schwand die Hoffnung immer mehr und er musste die Suche offiziell beenden. Die Akte wanderte als ungelöst ins Archiv. Aber trotzdem gab er die Suche nicht auf. Das konnte er nicht. Auch wenn die Ermittlungen ins Leere liefen, er war es seinem Partner schuldig. James seufzte ein weiteres Mal leise auf. Er hatte die letzten Jahre Sharon Vineyard und später ihre Tochter Chris Vineyard regelmäßig beobachtet und versuchte selbst im Ausland ihren Schritten zu folgen. Allerdings hatte es die Schauspielerin immer wieder geschafft ihre Spuren zu verwischen und führte scheinbar ein normales und sorgloses Leben. Trotzdem hatte James ein ungutes Gefühl bei ihr, immerhin war sie der Auftrag seines Kollegen. Doch ohne Beweise musste er die Füße still halten. Ausgerechnet nachdem sie eine Spur zur Organisation in Japan hatten, gab die Schauspielerin ihr Ausscheiden aus dem Show-Geschäft bekannt. Er hatte zwar Agenten zur Beobachtung an ihr Haus geschickt, aber es war nur eine Frage der Zeit bis sie von der Bildfläche verschwinden würde. Und wenn Agent Akai keine neuen Hinweise fand, hatte die Organisation gewonnen. Wieder. James zog seine Brille von der Nase und rieb sich den Nasenrücken. Wieder war ein Tag vergangen an dem er der Wahrheit ins Auge sehen musste. Wieder war er keinen einzigen Schritt weiter gekommen. Er setzte die Brille wieder auf und schloss die Akte auf dem Computer. Gerade als der Agent den Computer herunterfahren wollte, bemerkte er den kleinen Briefumschlag an seinem Mail-Programm. Er runzelte die Stirn. Eigentlich war es nicht ungewöhnlich, dass man ihm auch zu so später Stunde schrieb, aber es lag etwas in der Luft. James konnte es spüren. Wenige Sekunden später öffnete er sein Mail-Programm und rief die eingegangene Nachricht auf. Er blinzelte und las die Nachricht wieder und wieder. „Habe nun direkten Kontakt zur Organisation. Unsere Kommunikation wird deswegen noch weiter eingeschränkt sein. Werde überwacht und abgehört. Bitte schauen Sie sich das angehängte Foto an. Kommt Ihnen die Frau bekannt vor?“, murmelte der FBI Agent. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihm aus. James atmete tief durch und fuhr anschließend mit dem Mauszeiger über den Anhang. Er mahnte sich selbst zur Ruhe, aber sein Herz schlug schneller und schneller. Seine Hand zitterte, als er mit einem Doppelklick das Foto öffnete. Das Herz blieb ihm beinahe stehen. Die junge Frau auf dem Bild ähnelte der Ehefrau seines Partners: das gleiche blonde Haar, der gleiche Blick und auch vom Alter passte es. „Jodie“, wisperte James. Er sah auf die Bildunterschrift und ihm stockte der Atem. „Jodie Saintemillion…“, las er vor. Konnte das wirklich sein? Hatte die Organisation die ganze Zeit über Katz und Maus mit ihnen gespielt und Jodie unter ihrem richtigen Namen in einem anderen Land leben lassen? War das ihre Rache? Verhöhnten sie ihn die ganze Zeit? Sofort legte er seine Hand über den Mund. Er konnte sich nicht annähernd vorstellen welche Qualen Jodie erlebt haben musste oder was sie im Auftrag der Organisation tun sollte. James tippte wenige Sekunden später mit den Fingern auf dem Tisch. Er musste sie sehen und mit ihr reden. Er musste ihre Stimme hören und sie kennenlernen. Sofort nahm der Agent sein Handy und wählte die Nummer seines Kollegen. „Moroboshi.“ „Black hier“, kam es von James. „Ich habe gerade das Foto gesehen. Die neusten Erkenntnisse machen mir Sorgen. Die Frau könnte tatsächlich die Tochter von Agent Starling sein. Ich denke, es ist am besten, wenn ich auch nach Tokyo komme und mir die Frau ansehe.“ Shuichi verengte die Augen. „Nein, ich bin an einer Befragung zu meinem Telefonanbieter nicht interessiert“, sagte er. „Ich weiß, Sie finden die Idee nicht gut“, begann Black. „Aber…“ „Nein, danke.“ Shuichi legte auf. Wie vor den Kopf gestoßen, starrte James auf das Telefon. Tief in seinem Inneren wusste er, dass Akai abgehört wurde und die Geschichte des Telefonanbieters erfand. Dennoch gewann seine Euphorie über den besonderen Fund und er wählte ein weiteres Mal die Nummer seines Kollegen. Bevor er auf das Icon am Handy drückte, hielt er einen Moment inne. Kurz darauf fand er die nächste Nachricht in seinem Posteingang. „Bitte unterlassen Sie einen weiteren Kontaktversuch in der Kürze der Zeit. Kommen Sie unter gar keinen Umständen nach Japan. Wenn ich mehr über die Frau herausfinde, lasse ich Sie es wissen. Dann können Sie herfliegen. Vorher nicht“, las er leise. Der FBI Agent biss sich auf die Unterlippe. Wie sollte er nach dieser Nachricht nur die Füße still halten? Sofort durchforstete James die Akten der FBI Agenten, die sich derzeit in keinem aktiven Auftrag befanden. James sah aus dem Fenster in seinem Hotelzimmer. Er hatte einen phänomenalen Ausblick auf den Tokyo Tower und über die gesamte Stadt. Aber das war nicht der Grund warum er die weite Reise auf sich genommen hatte. Dabei hatte es ganz anders begonnen. Es war so vieles schief gegangen, nachdem Akai endlich in der Organisation Fuß fassen konnte. Seine wahre Identität flog viel zu schnell auf und sie mussten täglich fürchten, dass der Agent mit seinem Leben dafür bezahlte. Zum Glück gab es auch noch Agent Camel, der weiterhin ein Auge auf seinen Kollegen hatte und James regelmäßig über den aktuellen Stand auf dem Laufenden hielt – auch wenn es seine Schuld war, dass Akai in Furcht leben musste. Die Situation war kritisch und sie konnten von Glück reden, dass es noch so ruhig blieb. James hatte nicht damit gerechnet, dass Akai so schnell bei ihm anrief. Und dann war er noch von dessen Bitte um ein Treffen überrascht. Erst als er hörte, dass es Jodies eigene Idee war, keimte wieder ein klein wenig Hoffnung in ihm auf. Selbstverständlich hatte er den nächstmöglichen Flug nach Tokyo gebucht und seine Koffer gepackt. Neben seinen persönlichen Sachen, hatte er aus seinem Keller alte Fotoalben und andere Erinnerungen an die Starling ausgegraben und mitgebracht. Er würde Jodie jede Frage beantworten, allerdings gab es noch ein Thema, welches er nur ungerne anschnitt. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit sehr groß war, dass es sich bei ihr um die verschwundene Tochter handelte, musste dies erst bestätigt werden. Eine einfache Speichelprobe würde ausreichen. Das FBI besaß von den zahlreichen Routine-Untersuchungen seiner Agenten genug Probenmaterial, um es mit Jodies DNA abzugleichen. Und wenn sich ihre Identität bestätigte, würde er sie mit offenen Armen in Empfang nehmen und ihr den Ausstieg aus der Organisation ermöglichen. James lächelte leicht. Er hatte so viele Fragen an die junge Frau, aber er wusste, dass er mit ihr geduldig sein musste, immerhin hatte sie erst vor einigen Tagen von dieser Möglichkeit erfahren. Langsam begab sich James in den Flur seines Zimmers und schlüpfte in seine Schuhe und zog seine Jacke an. Gerade als er das Zimmer verlassen wollte, klingelte sein Handy. James zog es aus der Hosentasche und blickte auf das Display. „Mhm…“, murmelte er überrascht und nahm den Anruf entgegen. „Black, hier“, sagte er. „Ich bins“, begann Akai ruhig. „Sind Sie schon unterwegs?“, wollte er wissen. „Noch nicht“, fing der Agent an. „Ich habe mich gerade fertig gemacht und noch überlegt, ob ich jetzt schon alte Familienfotos mitbringen sollte.“ „Hm…“, kam es von Akai. „Ich glaube, das ist keine gute Idee. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber wenn Sie gleich mit Bildern ankommen, wird sich Jodie überrumpelt fühlen. Sie braucht eine Weile um diese Neuigkeit zu verdauen und sich mit der Vorstellung die Tochter eines FBI Agenten zu sein, anzufreunden. Außerdem…“ Akai seufzte. „…Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen diese schlechte Nachricht überbringen muss. Jodie fühlte sich heute noch nicht bereit für das Treffen. Ich weiß, die Idee kam von ihr aus…aber sie braucht noch einen Tag. Ich finde es daher besser, wenn wir unser Treffen auf morgen verschieben.“ „Oh“, sprach James leise. „Ich möchte Jodie ungern zu etwas zwingen, was sie nicht möchte. Oder haben Sie für morgen Ihren Rückflug gebucht?“ Black runzelte die Stirn. „Nein nein…das ist schon okay“, gab er von sich. „Ich war nur überrascht, dass es jetzt doch Probleme gibt. Aber Sie haben natürlich recht. Wenn Jodie noch nicht bereit ist, sich mit mir zu treffen, dann werden wir nichts erzwingen. Ich seh mir heute einfach ein wenig die Stadt an.“ „Das ist eine gute Idee“, fing Akai an. „Am besten Sie gehen zum Tokyo Tower. Von dort aus haben Sie einen fantastischen Blick über die Stadt.“ „Das hört sich verlockend an“, antwortete Black. „Sind Sie sich sicher, dass Jodie morgen zu dem Treffen auch wirklich bereit ist?“ „Das kann ich nicht genau sagen“, meinte Shuichi. „Ich vermute, sie schindet jetzt etwas Zeit um sich nicht mit der Realität auseinander zu setzen. Möglich, dass sie morgen ebenfalls um einen Aufschub bittet. Ich werde mein bestes geben, damit wir das Treffen morgen durchführen können.“ James nickte verstehend. „Gleiche Zeit, gleicher Ort?“, wollte er wissen. „Selbstverständlich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)