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Erschütternde Erkenntnisse

von

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Schatten der Vergangenheit

Jodie spielte auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sie hatte immer noch das Kleidchen an, das sie in der Schule trug und hielt sich gerade noch so wach. An fast jedem Abend kam ihr Vater sehr spät nach Hause. Manchmal schlief sie dann tief und fest und sah ihn nicht einmal am nächsten Morgen. Aber dann gab es auch Zeiten in denen er die Familie überraschte und zum Abendessen da war. Wie so oft wollte sie auch heute auf seine Heimkehr warten. Sie hatte sich selbst geschworen wach zu bleiben, aber langsam überkam sie die Müdigkeit. Die junge Amerikanerin gähnte herzhaft und nahm ihren Teddy in den Arm. „Papa soll schnell nach Hause kommen“, murmelte sie leise und bedrückt. Sie vermisste ihn. Er brachte sie nur noch selten in die Schule, holte sie noch seltener ab und wenn es ein Fest gab, versprach er zu kommen. Oft musste sich Jodie später von ihrer Mutter trösten lassen, wenn es ihr Vater doch nicht mehr schaffte. Aber sie wusste, dass er einer wichtigen Arbeit nachging und – in den Augen eines Kindes – die Welt rettete. Daher verzieh sie ihm seine Unpünktlichkeit.

Minuten später hörte sie das Knarzen der Haustür. Langsam kletterte Jodie von dem Sofa herunter und lief aufgeregt in den Flur. Er war gekommen. Doch ihr Vater war nirgends zu sehen. Enttäuscht ging sie zur Haustür. Als sie die Schuhe ihres Vaters und seine Jacke am Garderobenständer sah, erstrahlte ihr Gesicht. „Papa ist wieder da“, sagte sie zu sich selbst. Sie war voller Freude und lief sofort in die Richtung der Küche.

„Da bin ich“, sagte Agent Starling und drückte seiner Frau einen Kuss auf die Wange. „Schläft Jodie schon?“, wollte er wissen.

Die Amerikanerin schüttelte mit dem Kopf. „Sie wartet im Wohnzimmer auf dich. Wollte dir unbedingt noch Gute-Nacht sagen. Du kennst ja unsere Tochter. Wenn sie sich mal etwas in den Kopf gesetzt hat…“

Starling lächelte. „Die Sturheit hat sie von mir.“

Jodie blieb vor dem Eingang der Küche stehen. Behutsam legte sie ihren Teddy auf den Boden und kicherte. „Gleich wird Papa überrascht sein“, sagte sie leise zu dem Bären. Sie kicherte aufgeregt. „Daddy!“ Jodie kam in die Küche gelaufen und umklammerte sofort seine Beine. „Du warst heute nicht beim Abendessen“, fing sie an. „Wir haben gewartet und gewartet, aber dann hatte ich großen Hunger und hab alles von meinem Teller aufgegessen.“

Der Agent hob sie nach oben. „Gomen nasai“, antwortete er. „Das ist japanisch und heißt: Es tut mir leid“, erklärte er. „Ich bin noch ein paar Wochen in diesen Fall eingespannt. Aber wenn er erst einmal abgeschlossen ist, muss ich nicht mehr so lange weg sein.“

„Versprochen?“, wollte die Siebenjährige wissen.

Starling nickte. „Und was hör ich da, du möchtest nicht schlafen gehen?“

Jodie schüttelte sofort vehement den Kopf. „Nicht solange ich dir nicht Gute-Nacht sagen durfte.“

„Was hältst du davon, wenn du jetzt nach oben in dein Zimmer gehst, dir deine Schlafsachen anziehst und ich dann vorbei komme und dir eine Gute-Nachtgeschichte vorlese?“

„Das wäre toll!“ Die Augen des Mädchens strahlten.

Der Agent lächelte. „Das habe ich von meiner Kleinen erwartet.“ Er ließ sie wieder nach unten und Jodie lief sofort aus der Küche. „Vergiss das Zähne putzen nicht“, rief er ihr nach.
 

Unruhig wälzte sich Jodie in ihrem Bett hin und her. „Mhm…“, murmelte sie. „Nein…nicht…“, gab sie ein weiteres Mal von sich. Langsam bildeten sich Tränen in ihren Augen.
 

Jodie saß in ihrem langen Nachthemd auf dem Bett und wartete. Ihr Märchenbuch lag direkt vor ihr. Die Seite war bereits aufgeschlagen und Jodie betrachtete die Bilder in der Geschichte. Sie kannte jedes ihrer Kinderbücher beinahe auswendig. Manchmal – wenn ihre Eltern dachten, sie würde schlafen – übersprangen sie beim Vorlesen ein paar Seiten. Dann schlug Jodie sofort die Augen auf und rügte ihre Eltern für dieses Verhalten. Sie lachten zusammen und die Geschichte wurde komplett vorgelesen.

Jodie wippte hin und her. Heute ließ sich ihr Vater viel Zeit. „Mensch, Papa“, murmelte sie leise zu sich selbst und kletterte aus ihrem Bett. Wieder nahm sie ihren Teddybären an sich und verließ das Zimmer. Sie sah Licht im Arbeitszimmer ihres Vaters und setzte ein schmollendes Gesicht auf. Er arbeitete wieder, anstatt ihr eine Geschichte vorzulesen.

Energisch ging Jodie zum Arbeitszimmer. Sie lugte langsam durch den geöffneten Türspalt. Dann blickte ihr die fremde Frau in die Augen.

„Wer sind Sie?“, wollte Jodie leise wissen.

„Das ist ein großes Geheimnis. Ich kann es dir nicht verraten….“

„Das ist Papas Brille“, kam es von dem Mädchen.

„Oh. Entschuldige“, sagte sie. „Hier, nimm sie.“

Jodie sah zu ihrem Vater. „Was ist mit ihm? Ist er eingeschlafen?“, fragte sie in ihrer kindlichen Art. „Dabei hat er mir eine Gute-Nachtgeschichte versprochen.“

„Es tut mir leid. Bleibst du an seiner Seite, bis er wieder aufwacht?“

„Ja“, nickte Jodie und lief zu ihm. Sie setzte sich neben ihren Vater. „Können wir die Tischlampe anlassen? Ich habe Angst im Dunkeln.“

„Natürlich“, antwortete Vermouth.

Langsam verließ die Schauspielerin den Raum und ging nach unten.

Jodie hockte Minuten später weiterhin neben ihrem Vater und döste.

„Jodie?“, fragte die Schauspielerin leise.

Das Mädchen setzte sich richtig auf und rieb sich die Augen. „Mhm…wo ist meine Mama?“, wollte sie leise wissen.

„Sie schläft“, antwortete Vermouth. „Was hältst du davon, wenn wir deine Eltern schlafen lassen und ihnen morgen einen Tag nur für sich allein lassen?“

„Und was ist mit mir?“, fragte das Mädchen.

„Du kannst heute Nacht mit zu mir kommen. Ich hab eine große Wohnung.“

Jodie überlegte. „Papa sagt, ich darf nicht mit Fremden mit gehen.“

„Aber ich bin keine Fremde, ich bin eine Freundin deines Papas. Wollen wir ihn wecken und fragen?“, kam es von der Schauspielerin.

„Au ja“, sagte Jodie sofort. Sie sah zu ihrem Vater hoch. „Papa…“, begann sie und rüttelte an seiner Hose.

„Du darfst ruhig mit ihr gehen“, antwortete Vermouth mit der Stimme ihres Vaters. „Sie wird auf dich aufpassen. Sei ein braves Mädchen und tu, was sie dir sagt, ja?“

„Jaaaa“, kam es von Jodie. Sie stand auf und nahm ihren Teddybären. In der anderen Hand hielt sie immer noch die Brille ihres Vaters. „Ich komm morgen wieder. Versprochen. Dann kannst du mir die Gute-Nachtgeschichte vorlesen.“

„Das werde ich. Schlaf gut, ich hab dich lieb.“

„Ich hab dich auch lieb, Papa“, sagte das Kind und umarmte ihren Vater.
 

Jodie schreckte aus ihrem Schlaf hoch. Sie schwitzte und atmete schnell und unruhig. „Das war nur ein Traum“, sagte sie zu sich selbst. Sie schluckte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Was war das?“, wollte sie leise wissen.

Jodie sah auf ihre Bettdecke und schloss die Augen. Sie sah die gleichen Bilder vor sich. „Nein…nein…nein…“ Die Amerikanerin schüttelte den Kopf. Das war nicht echt. Die Bilder waren eine Lüge.

Jodie zog ihre Beine an sich heran und legte die Hände auf ihren Kopf. „So war das nicht…“, wisperte sie leise. „So war das nicht…“, wisperte sie. „…sie haben mich…nicht geliebt…nein…nein…nein…“
 

Jodie weinte bitterlich. Das kleine Mädchen hielt ihren Teddybären im Arm und schüttelte den Kopf. „Ich will zu meiner Mama und meinem Papa…“

Vermouth rollte mit den Augen. „Das geht jetzt nicht“, antwortete sie.

„Ich will…zu Mama…und zu Papa…“

Die Schauspielerin seufzte. Sie kniete sich zu Jodie. „Jodie, hör mal“, fing sie an und legte ihre Hände auf die Schultern des Mädchens. „Wir hatten doch zwei gute Tage zusammen, nicht wahr?“

Jodie schniefte und nickte. „Aber jetzt…mag ich nach Hause. Bitte…bring mich zu Mama und Papa. Sie sollen mich abholen.“

„Das ist nicht so einfach“, begann Vermouth ruhig. „Weißt du, Jodie, deine Mama und dein Papa hatten dich sehr, sehr, sehr lieb, aber manchmal reicht das nicht aus. Deine Eltern möchten, dass du fortan bei mir bleibst.“

Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf und drückte ihren Teddy ganz fest an sich. „Ich mag zu Mama und Papa.“

Vermouth seufzte ein weiteres Mal. „Jodie, hast du mir zugehört?“, wollte sie mit ruhiger Stimme wissen.

Jodie nickte.

„Deine Eltern möchten, dass du bei mir bleibst. Du wirst leider nicht mehr zu ihnen nach Hause gehen.“

„Dann sollen sie es mir selber sagen“, gab Jodie trotzig von sich.

„Das geht nicht“, fing die Schauspielerin an. „Sie wollen nicht mehr mit dir reden.“

Jodie schluckte und sah Vermouth mit geröteten Augen an. „War…war…ich böse?“, fragte sie leise. „Haben Mama und Papa mich nicht mehr lieb?“

Der Schauspielerin brach es beinahe das Herz. Trotzdem musste sie in ihrer Rolle bleiben. „Das stimmt leider. Deine Eltern möchten nicht, dass du nach Hause kommst.“

Jodie schluchzte.

Vermouth atmete tief durch. „Wir werden wegziehen. Ich bringe dich zu Freunden. Bei ihnen wird es dir gut gehen.“

Jodie sah sie verunsichert an. „Du willst…mich auch nicht?“, wisperte sie leise.

„Darum geht es doch nicht, Jodie. Ich kann dir kein richtiges zu Hause bieten. Und meine Freunde haben bereits zwei Kinder. Du wirst dich sicher gut mit ihnen verstehen.“

Jodie schluchzte.
 

Jodie hielt ihre weiterhin Beine umschlungen. Sie hatte vieles aus ihren ersten Lebensjahren vergessen, Dinge verdrängt und auf falsche Wahrheiten vertraut. Als sie Jahre später Fragen nach ihren leiblichen Eltern stellte, bekam sie immer die gleiche Antwort: Sie haben dich nie geliebt und bei einer Freundin ausgesetzt. Wir wissen nicht wo sie sind.

Und Jodie wollte die falschen Wahrheiten glauben, da der Schmerz der Wirklichkeit viel stärker gewesen wäre. Sie wollte nicht vor ihren Eltern stehen und abgewiesen werden – auch wenn dies bedeutete, dass sie nicht wusste, wo sie überhaupt herkam und was passiert war. Sie kannte keine Verwandten, keine Freunde und konnte nicht einmal die Sprache.

Mit der Zeit führte sie wieder ein normales Leben – zumindest machte es den Anschein. In Wahrheit aber fragte sich das kleine Mädchen, was es falsch gemacht hatte. Und irgendwann erinnerte sie sich gar nicht mehr. Die Vergangenheit war Vergangenheit. Sie hatte das Aussehen ihrer Eltern vergessen und selbst jetzt waren die Gesichter ihrer Eltern verschwommen.

Dennoch träumte sie eine lange Zeit davon, eines Tages nach Hause zu kommen und ihre Eltern im Wohnzimmer vorzufinden. Sie würde zu ihnen gehen, in den Arm genommen werden und eine Entschuldigung bekommen. Ihre Eltern würden sie loben, weil sie zu einer jungen Frau herangewachsen war und dann würden sie alle zusammen in die Heimat zurück kehren. Alles würde gut werden. Aber es war nur ein Traum. Eine Illusion.

Selbst jetzt fühlte sich Jodie noch fremd in Japan. Die Menschen zeigten auf sie, beobachteten sie und tuschelten offen über sie. Nur wussten sie nicht, dass Jodie alles verstand und der Harmonie wegen schwieg. Und dann war da noch Sharon. Am Anfang war sie ihr Halt, aber dann entfremdete sie sich immer mehr von ihr. Schließlich begann sie für die Organisation zu arbeiten. Anfangs waren es kleine Aufgaben, dann durfte sie immer eigenständig arbeiten. Aber eines war immer gleich: Sie wurde beobachtet.

Manchmal plante Jodie die Organisation zu verlassen. Aber das ging nicht. Wer einmal in ihren Fängen war, würde nie wieder losgelassen werden – außer man wählte den Tod. Sie hatte oft Sehnsucht nach einem normalen Leben, einem Leben ohne die Aufträge, ohne die Beobachtungen – einfach nur nur Normalität. Erst als Dai in ihrem Leben auftauchte, wurde manches erträglicher und sie hoffte auf eine zweite Chance.

Jodie seufzte leise auf und wischte sich die Tränen weg. Jetzt war nicht die Zeit um in der Vergangenheit zu schwelgen und sich damit auseinanderzusetzen. Sie stand auf und zog aus ihrem Kleiderschrank ihre Kleidung für den heutigen Tag. Mit frischen Sachen ging sie in ihr Badezimmer, wusch sich, putzte sich die Zähne und zog sich um. Jodie kämmte sich ihr Haar und betrachtete ihr Spiegelbild. Man sah ihr an, dass die Nacht nicht erholsam gewesen war. Aber Jodie würde das Treffen mit James Black – dem Vorgesetzten von Dai - nicht versäumen. Komme was wolle. „Du schaffst das“, sagte sie zu sich selbst, als es an der Tür klingelte.

Langsam machte sich die Amerikanerin auf den Weg dorthin. Sie atmete tief durch und öffnete die Haustür. „Dai“, gab sie murmelnd von sich. „Du bist früh dran…“

„Guten Morgen, ich hoffe, das ist kein Problem.“ Shuichi musterte sie. „Geht es dir gut?“, wollte er wissen. „Du siehst etwas blass aus.“

Jodie versuchte zu lächeln. „Nur schlecht geschlafen...gemischt mit Nervosität…“

„Du musst nicht nervös sein“, entgegnete er. „Ich werde die ganze Zeit bei dir bleiben, außer du schickst mich raus. Bist du bereit?“

Sie nickte. „Fahren wir los.“



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