A light in the dark von -Raven- ================================================================================ Prolog: -------- Prolog Kälte. Der beißende Geruch nach Desinfektionsmitteln. Weiße, steril wirkende Wände. Nein, das hier war keine "Klinik", so oft die Verantwortlichen auch darauf bestehen mochten. Das hier war ein gottverdammtes Labor. "Guten Tag, Mister Crawford." Irritiert rückte der Amerikaner seine Brille zurecht und musterte sein unvermutet aufgetauchtes, weißbekitteltes Gegenüber. "Dr. Koslowski, nehme ich an?" "Ähm... ja. Der bin ich. Man sagte mir, dass Sie hier sind, um 1398862 mitzunehmen." "Das ist korrekt." Koslowski wischte sich mit einem fleckigen Taschentuch über die Stirn; der Wissenschaftler sonderte eine Flüssigkeitsmenge ab, die einem Feuchtbiotop alle Ehre gemacht hätte. "Sie wissen um die... Besonderheit des Subjekts?" Ein verächtliches, knappes Nicken. "Ein überdurchschnittlich starker Telepath. So weit ich informiert bin, hatten Sie einige Probleme mit ihm." Überraschenderweise schwitzte Koslowski jetzt sogar noch stärker. "Nun... Wenn ich offen sein darf, Mister Crawford: ich halte 1398862 für nicht kontrollierbar. Sind Sie sicher, dass Sie...?" Bradley Crawford, 17 Jahre alt und Musterschüler der Rosenkreuz-Akademie, bedachte ihn mit einem geringschätzigen Blick. "Selbstverständlich." Er hatte sich eingehend mit den Akten aller in Frage kommenden Testsubjekte beschäftigt, die Faktoren einer möglichen Zusammenarbeit mit Hilfe seiner Gabe, der Präkognition, überprüft und sich schließlich für den Jungen mit der Nummer 1398862 entschieden. Hätte er nicht die Möglichkeit einer Kooperation gesehen, hätte er wohl kaum einen derart hohen Betrag aus dem Teamfonds für einen todgeweihten 12jährigen aufgewandt. Ja - wenn er den Jungen nicht mitnahm, würde dieser heute Nacht durch die Giftspritze sterben. Er hatte Rosenkreuz zu viele Ärzte, Trainer und Wissenschaftler gekostet, als dass sie ihm das Leben weiterhin gestatten konnten... es sei denn, jemand bezahlte sie dafür. "Er wird niemals in der Lage sein, in einer normalen Umgebung zu leben. Er ist viel zu stark. Die Gedanken der Menschen würden ihn über kurz oder lang in den Wahnsinn treiben - und dann wird er unweigerlich Amok laufen." Ihr hättet ihm vielleicht beibringen sollen, mentale Schilde zu errichten. "Bringen Sie mich zu ihm." "Mister Crawford, ich muss Sie ausdrücklich darauf hinweisen..." Brads ohnehin schon zum Zerreißen gespannter Geduldsfaden riss. "Sofort, Koslowski. SZ bezahlt mich nicht dafür, dass ich mich mit Ihnen unterhalte." Nein. SZ bezahlte ihn für die Zusammenstellung eines einsatzfähigen Teams von PSI-Begabten. Crawford, einer der wenigen im Feld einsetzbaren Prägkognitiven, die Rosenkreuz je hervorgebracht hatte, war sich der Verantwortung dieser Aufgabe durchaus bewusst, und er wusste auch um die Konsequenzen, die ein Fehlschlag mit sich bringen würde. Man konnte über Crawford sagen, was man wollte - er hing an seinem Leben. "Sicher. Ganz, wie Sie meinen." Während er dem Älteren durch die grellweißen und chromblitzenden Gänge folgte, erlaubte der Amerikaner seinen Gedanken, zu seiner eigenen Zeit in diesen Laboratorien zu wandern. Stunden über Stunden in kalten Räumen, angeschlossen an Dutzende von hochempfindlichen Geräten... Immer und immer wieder die Aufforderung, seine Voraussicht noch weiter zu strapazieren. "Was siehst du, wenn du noch eine Stunde weiter in die Zukunft gehst?" Höllische Kopfschmerzen. Ohnmachten. Und immer wieder die selbe Frage. "Was siehst du?" "Wir sind da." Der Wissenschaftler wies auf eine vom Boden bis zur Decke reichende Panzerglasscheibe, durch die man freien Blick auf einen quadratischen, weißen Raum mit gepolsterten Wänden hatte. "1398862 kann uns nicht sehen; auf seiner Seite ist die Scheibe verspiegelt. Für einige meiner Mitarbeiter hat sich direkter Augenkontakt mit dem Subjekt als tödlich erwiesen, daher diese Vorsichtsmaßnahme." "Verstehe." Fasziniert trat Crawford näher an die Scheibe. Ein wilder roter Haarschopf über einem blassen, spitzen Gesichtchen. Weit aufgerissene Augen... 1398862 kauerte in einer Ecke, die Knie an die Brust gezogen, unbewegt ins Leere starrend. "Wir mussten ihn sedieren... mit Hilfe eines Betäubungsgewehrs, versteht sich. Niemand wagt sich näher als notwendig an ihn heran." Ein dünnes Lächeln nistete sich in den Mundwinkeln des jungen Agenten ein. "Lassen Sie mich zu ihm." "Guten Tag. Mein Name ist Bradley Crawford. " Keine Reaktion. "Hey. Ich rede mit dir." Wie in Zeitlupe hob der magere Junge den Kopf; ein dünner Speichelfaden lief aus seinem Mundwinkel. Zwecklos. Der Kleine ist am Ende. Es wäre für alle Beteiligten das sinnvollste, ihn einschläfern zu lassen. "Sieh mich an", befahl Brad ihm mit einem Hauch von Ungeduld. Seine Bemühungen durften nicht umsonst gewesen sein! Er hatte eine Menge Geld, das nicht einmal ihm gehörte, für das Leben dieses erbärmlichen Geschöpfs gezahlt... und außerdem hatte ihn seine Gabe noch nie fehlgeleitet, seit er vor anderthalb Jahren die Akademie verlassen hatte. "Ich habe gesagt, du sollst mich ansehen." Unglaublich blaue, verschleiert wirkende Augen fokussierten sich mühsam auf sein Gesicht. "Sehr gut", lobte der Amerikaner. Erleichtert bemerkte er, wie sich der Junge mit einer fahrigen Bewegung den Speichel vom Kinn wischte. Irgendwo da drin ist wohl doch noch ein Funken Leben. "Wie heißt du?" "...13...9...88..62..." Armes Ding. "Erinnerst du dich an deine Eltern?" "...Serie 13... Testreihe 9... Gruppe 88... Versuchsleiter Dr. Maginot..." Die Stimme des Jungen war heiser und gebrochen. Du hast sehr viel geschrieen, nicht wahr? Gegen seinen Willen spürte Brad so etwas wie Mitleid mit diesem geschundenen Kind. Kein guter Einstieg, wenn der Junge ihn als Autorität akzeptieren sollte. Rasch ließ er seinen Blick über den schmächtigen, nur teilweise von einem blutbefleckten Krankenhaushemd bedeckten Körper wandern. Feuerrote, mit Blut und anderen, undefinierbaren Substanzen verklebte Haare. Schmale Schultern. Knochige, mit Blutergüssen übersäte Arme. Viel zu dünne Beine. Wider besseres Wissen sah er tief in die Augen seines Gegenübers. Er wusste nicht, was er erwartet hatte: Einen sofortigen Angriff? Eine Panikreaktion? Statt dessen erwiderte 1398862 seinen Blick beinahe fragend; in den blauen Abgründen fand Brad genug Schmerz für zwei Leben. Reiß' dich zusammen! "Du weißt, dass sie dich heute abend töten werden?" Ein kaum wahrnehmbares Nicken. "Möchtest du sterben, 1398862?" Eine schmale, bleiche Hand spielte abwesend mit einer verfilzten Haarsträhne. "...ich... weiß nicht..." Natürlich nicht. Nicht, so lange die Alternative noch schlimmer sein könnte. "Du hast jetzt die Wahl. Du kannst hier sterben - oder du kannst mit mir kommen. Ich bin von einer Organisation mit dem Namen SZ beauftragt worden, ein Team von PSI-Begabten zusammenzustellen. Meiner Ansicht nach bist du hervorragend dafür geeignet. Ich will ehrlich zu dir sein - es wird nicht immer angenehm sein. Du wirst lernen müssen, auf Befehl zu töten. Wenn du körperlich und mental stabil genug bist, werde ich dich hierher zurückschicken..." Entsetztes Zusammenzucken. Sehr gut. Er begreift die Zusammenhänge. "Keine Angst. Du musst dann nicht wieder ins Labor. Rosenkreuz betreibt eine Schule für Leute mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Ich möchte, dass du lernst, mit deiner Gabe umzugehen... und dass du lernst, dich abzuschirmen." "...keine Stimmen mehr...?" "Nur noch, wenn du es zulässt." Die kühle, zerbrechliche Hand schob sich in seine. "...Stille..." "Ja." Ehe Brad ausweichen konnte, hatte sich das zierliche Wesen an seinen Hals geworfen, klammerte sich wie ein Ertrinkender an ihn und begann, haltlos zu weinen. "Hey... Ist doch gut..." Nein. Nichts ist gut. Du spielst ein verdammt mieses Spiel, Crawford... Hilflos strich der junge Amerikaner über den schmalen, bebenden Rücken. "Shhhh... Ganz ruhig... Sag mir nur, ob du mit mir kommen willst." "...ja..." Sanft löste er sich aus dem Klammergriff; 1398862 blieb regungslos vor ihm auf dem Boden sitzen und beobachtete ihn aus tränenerfüllten Augen, als er sein Jackett abstreifte. Das Pistolenholster schien den Jungen nicht weiter zu beeindrucken - er hatte wohl schon zu oft Kontakt mit den hiesigen Sicherheitsleuten gehabt. Vorsichtig senkte Brad seine psychischen Schilde ein wenig und gestattete dem Telepathen damit begrenzten Zugriff auf seine Gedanken. "Versprichst du mir, niemanden anzugreifen, wenn wir gleich hier herausgehen?" Eine zaghafte mentale Berührung. "Sie sind so laut... sie machen mir Angst..." "Bin ich auch laut?" "Nein..." Kein Wunder. Er hatte hart trainiert, um seine Schilde zu vervollkommnen. "Ich werde dich von ihnen abschirmen. Du wirst sie höchstens noch als Flüstern wahrnehmen. Hältst du das aus?" Der kleine Rotschopf schniefte; Brad reichte ihm ein Taschentuch, was ihm einen erstaunten Blick einbrachte. "Putz dir die Nase", befahl er nicht unfreundlich. "Wenn du Amok läufst, nutzt du mir nichts. Hast du deine Fähigkeiten so weit unter Kontrolle, dass du mir versprechen kannst, nicht alles zu töten, was sich hier bewegt?" "...ja..." "Sehr gut." Mit einer Sanftheit, die ihn selbst überraschte, hüllte Crawford sein zitterndes Gegenüber in das viel zu große Kleidungsstück und erhob sich. "Komm", sagte er leise. Das Kind versuchte, ebenfalls aufzustehen, war aber zu schwach. Die dünnen Beine knickten unter dem mageren Körper weg wie Streichhölzer, und Brad konnte "seinen" Telepathen gerade noch rechtzeitig auffangen. "...Entschuldigung..." Was haben sie nur mit ihm gemacht? "Schon in Ordnung. Lass uns gehen." Im Vorraum wurden sie von einem aufgebrachten Dr. Koslowski erwartet. "Das war absolut verantwortungslos, Crawford! Sie können doch nicht..." "Sie sehen doch, dass ich kann. Ich nehme den Jungen jetzt mit. Vielen Dank für Ihre Kooperation." "Das kann ich nicht zulassen! Sie gefährden das Leben meiner Mitarbeiter! Wir müssen das Subjekt zuerst ruhigstellen, bevor..." "Er wird niemanden angreifen. Er hat es mir versprochen." Je wütender er wurde, desto mehr glich der Wissenschaftler einer aufgeblasenen Kröte. "Humbug! Niemand hat es geschafft, in den vergangenen zwei Jahren mit 1398862 zu kommunizieren! Ich weiß nicht, was Sie da für einen Hokuspokus veranstaltet haben, aber damit kommen Sie nicht durch! Selbst wenn SZ Sie schickt..." Brad verdrehte entnervt die Augen. "Okay. Ihn darfst du töten." Vermutlich war der Mann bereits tot, als er auf dem Boden aufschlug, aus Augen, Mund und Nase blutend. "Saubere Arbeit", kommentierte Crawford, gegen seinen Willen beeindruckt. Der Telepath antwortete nicht; er schlang lediglich die Arme fester um den Hals des Älteren und verbarg sein Gesicht an dessen Schulter. "Weißt du was?" Aufmunternd fuhr der Amerikaner durch die wirren roten Haare. "Ich glaube, wir werden uns gut verstehen." Kapitel 1: ----------- 1 "SCHULDIG! Würdest du vielleicht so gnädig sein, uns mit deiner geschätzten Anwesenheit zu beehren?" Mit einem nicht besonders gut unterdrückten Fluch auf Deutsch strich sich der Telepath seine unglaubliche rote Mähne aus dem Gesicht. "Fick' dich, Crawford", murmelte er übellaunig. Er hatte eine lange Nacht hinter sich und wollte eigentlich nur noch schlafen... was, Crawfishs Tonfall nach zu urteilen, gerade in unerreichbare Ferne rückte. "Mastermind! Ich werde mich nicht wiederholen!" Was tust du, wenn ich jetzt nicht antanze? Muss ich dann ohne Abendessen ins Bett? Wütend schnippte er seine Zigarettenkippe über das Balkongeländer und machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer. Brad schien der einzige zu sein, der wirklich Wert auf seine Anwesenheit legte; der irre Ire betrachtete fasziniert die Klinge seines neuesten Jagdmessers, und Nagi hackte auf seiner Tastatur herum. Es entging Schuldig nicht, dass die kleine Seuche sich möglichst nah bei Crawford positioniert hatte. Pestbeule. Betont gelassen ließ "Mastermind" sich auf die Couch fallen und schlug seine langen Beine übereinander. "Was ist denn so dringend, Braddy?" Augenblicklich verdüsterte sich das Gesicht des Amerikaners. Bingo. "Crawford", korrigierte der Schwarz-Leader kühl. "Du wirst heute mit Farfarello arbeiten. Mr Takatori wünscht eure Anwesenheit bei dem heutigen Empfang." Na toll. "Warum gehst du nicht hin? Ihr versteht euch doch so gut, du und Takatori." Wow. Das war doch mal ein im wahrsten Sinne des Wortes mörderischer Blick! Gerade noch rechtzeitig konnte der Rothaarige sich ein böses Kichern verbeißen. "Mr Takatori hat ausdrücklich nach dir verlangt. Außerdem haben Nagi und ich noch etwas zu erledigen." Klar. Die Pestbeule muss selbstverständlich mit. Wahrscheinlich geht der Kleine perfekt bei Fuß... Und überhaupt: Bodyguard für Takatori? Kein Mensch mit einem halbwegs gut entwickelten Geschmackssinn würde auch nur in Erwägung ziehen, dem Typen näher als zehn Meter zu kommen. Natürlich gab es Scharfschützengewehre - aber gegen die konnte ein Leibwächter auch nichts ausrichten. Es sei denn, er war Telepath und konnte den Attentäter spüren. Mist. Was den Iren anging... Farfarello war reichlich... nun ja... abseitig. Und eine solche Beurteilung ausgerechnet von Schuldig wollte schon etwas heißen. "Werde ich auch mal gefragt?" "Nein." "Aber..." "Ich werde keine Grundsatzdiskussionen mit dir führen, Schuldig. Tu, was ich dir sage." Das 'sonst' blieb unausgesprochen im Raum stehen. 'Tu, was ich dir sage, wenn du nicht wieder im Labor landen willst.' Und der Bastard meinte das durchaus ernst. Es war noch gar nicht so lange her - sechs, vielleicht sieben Jahre - da hatte er seine Drohung wahrgemacht. Und wer konnte schon wissen, ob Crawford ihn auch dieses Mal noch drei Wochen wieder 'nach Hause' holen würde? Jeder war ersetzbar, selbst ein überdurchschnittlich starker Telepath. Es war also wieder einmal an der Zeit, die Zähne zusammenzubeißen und zu schweigen... auch wenn ihm das angesichts von Nagis hämischem Grinsen ausgesprochen schwer fiel. "In Ordnung. Komm, Farfarello." "Warte. Ich möchte kurz mit dir sprechen. Unter vier Augen." Auch das noch! Jetzt kam vermutlich wieder die "Reiß dich gefälligst am Riemen, Schuldig"-Predigt. War ja nichts neues... "Von mir aus..." ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Es war also wieder einmal einer dieser Tage. Innerlich seufzend rückte Brad seine Brille zurecht und winkte Schuldig, ihm ins Büro zu folgen. Betont ruhig ließ er sich hinter seinem Schreibtisch nieder; der Telepath setzte sich demonstrativ auf die Fensterbank. Schon wieder einer dieser kleinen rebellischen Akte, die sich in letzter Zeit so häuften... "Was ist los mit dir, Schuldig?" Eine feingezeichnete rote Augenbraue wanderte in die Höhe. "Ich war in der Disco. Und jetzt bin ich müde. Ich hasse Takatori, und ich kann mir bei weitem schöneres vorstellen, als ausgerechnet mit Farfarello zusammen zu arbeiten." "Das meine ich nicht." "Sondern?" Der Amerikaner wusste nicht so recht, ob er sein Gegenüber jetzt lieber schütteln oder schlagen wollte. "Mastermind...", grollte er entnervt. Ein ernster Blick aus viel zu tiefen, viel zu blauen Augen traf ihn. "Ruf ihn nicht zu häufig - sonst kommt er wieder." Jeder hat mich gewarnt - Telepathen neigen zu Psychosen. Ich wollte davon ja nichts hören. Und jetzt habe ich den Salat. Schuldig spinnt mal wieder. Aber wenigstens hatte der Rothaarige dieses Mal noch nicht angefangen, im Plural von sich selbst zu sprechen... Wie viel von diesem Gehabe Provokation war und wie viel eine echte Persönlichkeitsstörung, war schwer zu beurteilen; immerhin fünf SZ-Psychiater hatten bereits entnervt das Handtuch geworfen. "Und wenn?" Das breite Grinsen hätte der Cheshire-Katze alle Ehre gemacht. "Denkst du, du kannst ihn kontrollieren?" "Bis jetzt gab es keine Probleme." "Nein. Weil er deine Spielchen unterhaltsam findet. Noch." "Findest du dieses Spielchen auch 'unterhaltsam'?" "Sollte ich?" Korrektur: weder schütteln noch schlagen. Baden. Paradoxerweise konnte der Deutsche ganze Stunden unter der Dusche verbringen - aber wehe, ein Vollbad drohte. Das war eine der ersten Erfahrungen gewesen, die Brad mit Schuldig gemacht hatte... ~*~*~*~*~*~*~ "Halt still." "Ich mag nicht baden." "Es tut doch nicht weh... Hey, bleib hier!" Härter als beabsichtigt umfasste er den mageren Arm; verstörte blaue Augen sahen flehend zu ihm hoch. "Ganz ruhig... Ich tue dir nichts... Vorausgesetzt, du tust, was ich dir sage." Es war ein ausgesprochen kläglicher Versuch, seine Autorität zu wahren, doch das Kind war so verschüchtert, dass die Taktik sogar anschlug. "Nicht böse sein... Bitte... Ich mache, was du willst... Aber sei bitte nicht böse auf mich..." Das ist ja nicht zum Aushalten! "Schon gut. Halt einfach still." Ohne viel Federlesens packte der Amerikaner das magere Geschöpf und beförderte es in die Wanne. Der kleine Rotschopf wimmerte leise, verbiss sich aber jeden weiteren Protest. Erst, als Brad ihn kurz mit dem Kopf unter Wasser drückte, um seine Haare zu waschen, begann der Junge, zu strampeln. Sofort ließ er los; am liebsten hätte er sich selbst für seine Dummheit getreten. So ging man nicht mit Kindern um, vor allem nicht, wenn es sich bei ihnen um unbezahlbar wertvolle, hochsensitive Telepathen handelte... ~*~*~*~*~*~*~ Selbst Wochen danach hatte Schuldig sich beharrlich geweigert, sich von Brad die Haare waschen zu lassen. Lieber hatte er es selbst versucht und dabei seine wilde rote Mähne derartig verknotet, dass sie kaum noch ohne Schere zu entwirren gewesen war... "Schön, dass wenigstens du Spaß an der ganzen Sache hast." Die gallenbittere Bemerkung riss den Schwarz-Leader aus seinen Gedanken und brachte ihn dazu, seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Kollegen zu fokussieren. "Schuldig..." "Was denn noch?" Kann es zwischen uns nicht wieder so sein wie früher? Du hast mir doch mal vertraut... Und dein Lachen fehlt mir so sehr. "Versau es nicht. Du weißt, dass wir Takatori vorerst noch brauchen." "Schon klar. Ich soll also weiterhin zulassen, dass er mich mit Blicken auszieht." "Nur noch für eine Weile." "Wenn du meinst, oh großer, allmächtiger Leader..." Gedehnt, betont gelangweilt, unterschwellig boshaft. Auftrittsapplaus für Mastermind. "Bis später." "So long, Braddy." Noch ehe Crawford gegen die respektlose Anrede protestieren konnte, wirbelte Schuldig bereits aus dem Büro, die Tür einen Tick lauter hinter sich zuschlagend, als es angemessen gewesen wäre. Kopfschüttelnd nahm der Präkognitive die Brille ab und fuhr sich mit einer erschöpften Bewegung durchs Haar. Wo sind wir falsch abgebogen, Schuldig? Warum hat sich alles zwischen uns geändert? Und seit wann bin ich eigentlich so ein sentimentaler Trottel? ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Kaum saßen sie im Auto, begann Schuldig, obszön zu fluchen. Nicht, dass es etwas an der Situation geändert hätte... aber es war ungemein befreiend. "Ich hasse diesen Kerl!" Ein heiseres Lachen vom Beifahrersitz rief ihm in Erinnerung, dass er nicht allein war. "Wen? Crawford oder Takatori?" "Beide!", schnappte der Rothaarige gereizt. Der Ire lachte. "Takatori nehme ich dir sogar ab." "Kümmere dich um deinen eigenen Kram." "Hast du Angst?" Na super. Farf hat 'ne philosophische Phase. "Nein." "Die solltest du aber haben." Der Telepath schnaubte verächtlich. "Vor dir?" Ein rätselhafter Blick aus einem einzelnen bernsteinfarbenen Auge streifte ihn, beinahe uninteressiert. "Nein. Vor dir selbst." Ich glaube, es schlägt dreizehn. "Und das von jemandem, der sich nur dann lebendig fühlt, wenn er Priester niedermetzeln kann? Das tut Gott weh." Farfarello lächelte beinahe gutmütig. "Erstens weißt du gar nichts über mich und meine Motivation... und zweitens ist dieser Spruch wirklich witzlos. Er war es schon, als Nagi ihn zum ersten Mal gebracht hat." "Hm." Übellaunig ließ der Deutsche den Wagen an und setzte schwungvoller als vernünftig zurück. "Warum hältst du nicht einfach die Klappe? Ich äußere mich nicht mehr über dich, wenn du dich aus meinen Angelegenheiten heraushältst." Wieder dieses wahnsinnsnahe Lachen. "Right. Das ist fair." ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Schuldig hatte es aufgegeben, die Zigaretten zu zählen, mit denen er im Verlauf dieses Tages seine Lunge teerte. Hauptsache, er konnte sich an irgend etwas festhalten, seine Aufmerksamkeit zumindest gelegentlich darauf richten und somit so tun, als würden ihm Takatoris Blicke nicht auffallen. "Braaaaaad..." "Nein." "Es würde niemandem auffallen. Versprochen." "Es würde SZ auffallen." Der Telepath konnte ein Seufzen nicht unterdrücken; der japanische Tycoon warf ihm einen interessierten Blick zu. "Takatori ist doch ohnehin schwer schlaganfallgefährdet... jedenfalls laut seiner medizinischen Akte." "Ich sagte ,nein'." "Vielleicht ein kleiner epileptischer Anfall?", schlug der Jüngere hoffnungsvoll vor. "Zum letzten Mal, Schuldig: NEIN. Und jetzt konzentrier dich gefälligst auf deine Aufgabe." "Aber..." "Später." Damit wurde die gedankliche Konversation abrupt beendet; alles, was Schuldig noch spüren konnte, war die eiskalte mentale Barriere seines Leaders. Wütend biss er sich auf die Unterlippe. Warum nur behandelte Crawford ihn immer noch wie ein kleines Kind? Er war immerhin ein starker, voll ausgebildeter Telepath. Er konnte mit einem einzigen Gedanken töten oder jemanden in den Wahnsinn treiben - und musste sich von dem Amerikaner allen Ernstes Vorwürfe über das Chaos in seinem Zimmer anhören! Das ist nicht fair... Gereizt schüttelte er seine Haare in den Nacken. Noch immer klebten Takatoris Blicke an ihm wie zäher Schleim... diese Gedanken waren ja schon sexuelle Belästigung! Ich habe die Schnauze so gestrichen voll... >Heul doch.< Oh ja, er kannte diese Stimme. Sie war immer da... Halt dich da raus. >Nein.< Schuldig konnte Masterminds dreckiges Grinsen nahezu vor sich sehen. Das war um so erschreckender, als dass der andere sein Gesicht hatte. Lass mich in Ruhe. >Nicht doch. Ich bin dein einziger Freund, schon vergessen?< Das ist nicht wahr. Brad... >Kümmert sich einen Dreck um dich, solange du nur funktionierst. Du bedeutest ihm nichts. Er sieht dich nur als Mittel zum Zweck.< Also hat meine Existenz immerhin eine Bedeutung für ihn. >Träum weiter. Er könnte dich jederzeit ersetzen. Vielleicht tut er es irgendwann.< Der bloße Gedanke an diese Möglichkeit schmerzte. Nein. Das wird er nicht. >Sei dir nicht zu sicher... Aber keine Angst: ich bleibe bei dir. Ich lasse dich nicht allein. Auch dann nicht, wenn er dich ins Labor zurückschickt.< Ein kalter Schauer überlief die blasse Haut des jungen Telepathen. Undeutlich bekam er mit, dass ihn jemand ansprach, doch die Worte machten keinen Sinn... >Nur du und ich. So wie früher.< Etwas warmes lief aus seiner Nase... Blut? Erstaunt betrachtete Schuldig seine feuchten, roten Fingerspitzen. Sein Kopf schmerzte, und mit einem Mal war ihm unerträglich heiß. >Lass dich einfach fallen. Hab keine Angst. Lass mich nur machen.< Wimmernd presste er die Fingerknöchel gegen seine Schläfen. Hör auf... Wenn er Mastermind jetzt die Kontrolle überließ, würde Takatori innerhalb der nächsten Minute sterben. Und dann? Würde er sich damit zufrieden geben? "...dig?" Mach, dass es aufhört. Bitte...! "Schuldig!" Ein harter Schlag traf sein Gesicht; verschwommen nahm er Farfarellos Gesicht über sich wahr. Seine Hand war angenehm kühl auf Schuldigs glühender Stirn. "Er hat Fieber. Ich rufe Crawford an." Takatori schob sich in Schuldigs Gesichtsfeld, und dann strich der Japaner in einer schlechten Imitation von Besorgnis über die Wange des Deutschen. Alles in Schuldig verkrampfte sich, schrie auf. Ich will das nicht...! "Wir sollten ihn in den Ruheraum bringen..." Von wegen! Die Absicht hinter dem fürsorglichen Vorschlag war ja wohl mehr als deutlich... "Vielen Dank, Mister Takatori, aber das ist nicht nötig. Ich werde mich um Schuldig kümmern." Brads tiefe, ruhige Stimme durchbrach das mentale Chaos und brachte für einen Moment sogar Mastermind zum Schweigen. "Crawford? Woher wussten Sie...?" "Ich hatte eine Vision." Die große Hand des Amerikaners strich vorsichtig durch Schuldigs Haar. "Wenn Sie uns entschuldigen würden, Mister Takatori?" "Natürlich, natürlich. Sehen Sie zu, dass er bald wieder... einsatzfähig ist." "Selbstverständlich." Starke Arme umfingen ihn und hoben ihn sanft hoch. Unwillkürlich schmiegte der zitternde Telepath sich an Crawford und schlang die Arme um seinen Hals. >Ist ja rührend. Und da wunderst du dich noch, dass er dich behandelt wie ein Kind? Du benimmst dich schließlich auch so!< Bitte sei doch endlich still... Ich kann meine Barrieren bald nicht mehr aufrechterhalten... Wimmernd verbarg Schuldig das Gesicht an Brads Schulter. "Ganz ruhig. Ich bringe dich nach Hause. Schlaf." Er spürte, wie der Ältere seine mentalen Schilde ausdehnte, ihn darin aufnahm. Augenblicklich verstummte das Wispern der unzähligen Gedanken, die auf normalerweise ungebremst über ihn hereingebrochen wären. Dankbar überließ er sich der Stille und glitt hinüber in die Dunkelheit. Kapitel 2: ----------- 2 Schuldig erwachte mit bohrenden Kopfschmerzen; schwarze Schleier tanzten vor seinen Augen. >Guten Morgen... oder eher, Abend.< Stöhnend rollte der Rothaarige sich auf die Seite und zog sich die Decke über den Kopf. >Du kannst dich nicht verstecken.< Bitte nicht... Hör auf... Wimmernd presste er das Gesicht etwas fester ins Kissen, die auftretende Atemnot ignorierend. Stille.. >Oh, oh. The big bad one's here.< Jemand fasste ihn hart an der Schulter, drehte ihn unsanft wieder auf den Rücken und entwand ihm die Decke. "Schuldig! Lass diesen Unsinn!" So weit der Telepath das momentan beurteilen konnte, war sein Leader ernsthaft wütend. Was habe ich denn nun schon wieder falsch gemacht? Dieses Mal war es wirklich nicht meine Schuld! "B...Brad..." "Würdest du wohl die Güte haben, mir zu erklären, was dein Problem ist? Wenn deine Fähigkeiten dir Schwierigkeiten bereiten, bin ich der erste, der davon erfahren muss! Wie oft muss ich dir das denn noch sagen?" "Mhmh..." "SCHULDIG!" "...Kopfschmerzen..." Mit einem Mal wurde das Gebrabbel der Milliarden Gedanken lauter, schwoll zu einem Mahlstrom von Lärm an... "Schon gut. Wir reden darüber, wenn es dir wieder besser geht." Beruhigend strich Brad ihm über die Wange. >Du bist so jämmerlich.< Und DU hast Sendepause. Unwillkürlich drängte Schuldig sich der Hand entgegen; kaum hatte der Ältere ihn berührt, wurde es still in seinen Gedanken. Das Fieber versengte ihn innerlich, ließ seine Zähne aufeinander schlagen und seinen Körper zittern... doch mit Brad war die Stille zu ihm gekommen. "...nicht weggehen..." Wie zu erwarten, bestand die erste Antwort aus einem ungeduldigen Kopfschütteln. "Schuldig, ich kann nicht die ganze Nacht hierbleiben. Ich habe noch eine Menge Papierkram zu erledigen. Wie stellst du dir das denn vor?" "...bitte..." Flehend schmiegte er sein glühendes Gesicht an Brads Fingerknöchel. >Wie niedlich. Du würdest ihm sogar die Schuhe ablecken, damit er bleibt, oder? Das ist erbärmlich.< Sei endlich STILL! Schuldig schluchzte hilflos auf. Es war genau wie früher: Fieber, Schmerzen und Masterminds höhnische Bemerkungen. Was, wenn er das alles nur geträumt hatte? Wenn er das Labor niemals verlassen hatte? Wenn... "Crawford? Die Medikamente." Mit gerümpfter Nase feuerte Nagi das rote Kästchen mit den diversen, exakt auf Schuldigs Körperchemie abgestimmten Pharmazeutika neben dem fiebernden Telepathen auf das Bett. "Hat er sich 'ne Geschlechtskrankheit gefangen, oder was ist es diesmal?" Nein. So was wie die Pestbeule KANN man sich gar nicht einbilden. Leises, boshaftes Kichern. >Bist du dir da ganz sicher?< "Raus", schnauzte Brad unliebenswürdig. Für einen Augenblick war Schuldig irritiert. Hatte der Amerikaner etwa mit Mastermind gesprochen? Sein Irrtum wurde ihm erst bewusst, als Nagi mit einem schnippischen "Gern geschehen. Gute Nacht." den Raum verließ. Zu gerne hätte Schuldig ihm etwas hinterhergeworfen, doch in diesem Augenblick spürte er bereits einen kurzen Schmerz in der Armbeuge. "...hngh..." "Shhhh." Beinahe sanft massierte Brad die Einstichstelle; hätte der Deutsche nicht gewusst, dass es nur der schnelleren Verteilung des Mittels diente, hätte er es fast für eine zärtliche Geste halten können. Crawford und zärtlich? Zu MIR? Klar, und die Erde ist eine Scheibe. "Eine noch." Routiniert zog der Schwarzhaarige eine weitere Injektion auf. Schuldig hasste Nadeln. "...nein...", protestierte er halbherzig, wohl wissend, dass er ohnehin keine Chance hatte. "Wenn du dich wehrst, tut es nur noch mehr weh", mahnte Crawford ruhig. Ein weiterer Stich; zähflüssige Wärme kroch durch die Adern des Jüngeren. "Sag... ihnen nichts. Bitte..." >Eine Stunde, vielleicht zwei. Dann kommen sie und holen dich ab.< Tränen brachten Brads Gesicht vor seinen Augen zum Verschwimmen. Nein... ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Nachdenklich betrachtete Brad das angespannte Gesicht des kranken Telepathen. Obwohl Schuldig inzwischen eingeschlafen war (Gott segne die pharmazeutische Chemie...), quollen noch immer Tränen unter seinen Lidern hervor. Behutsam tupfte der Amerikaner die glitzernde Feuchtigkeit von der blassen Haut. 'Sag ihnen nichts?' Du weißt doch, dass sie uns beobachten. Und selbst wenn nicht - Takatori wird ihnen den Vorfall melden. Er nahm die feinknochige, noch immer zitternde Hand zögernd in seine. "Ich lasse nicht zu, dass sie dir wehtun, Schu." Wie oft hatte er Situationen wie diese schon erlebt? Jedes Mal, wenn Schuldig zusammenbrach, zweifelte SZ erneut Brads Kompetenz im Umgang mit dem hypersensiblen jungen Mann an. Vielleicht sogar zu Recht, denn es wurde von Mal zu Mal schlimmer. Was würde geschehen, wenn er Schuldig eines Tages nicht mehr beruhigen konnte und der Telepath Amok lief? Du wirst ihn erschießen müssen - wenn er dich nicht als ersten erledigt. Stöhnend ringelte der Rotschopf sich zusammen; vermutlich fror er noch immer. Ich habe die Verantwortung für dich übernommen. Ich habe dir versprochen, dass dir niemand mehr wehtun wird. Aber so, wie es aussieht, kann ich dich nicht einmal vor dir selbst beschützen. Eigentlich hatte er vorgehabt, sich aus dem Zimmer zu stehlen, sobald der Jüngere eingeschlafen war, doch irgendwie brachte er es nicht über sich. Es war nicht Schuldigs verzweifelte Bitte, die ihn berührt hatte - schließlich war er ein Profikiller - sondern der gehetzte Blick dieser blauen Augen. Es war der Blick jenes verängstigten Kindes gewesen, das sich ihm so bedingungslos anvertraut hatte. Jenes Kindes, das sich bereits einige Tage nach ihrer ersten Begegnung schüchtern an ihn gekuschelt und "Ich hab dich lieb", gemurmelt hatte. War das tatsächlich erst zehn Jahre her? Es kam Brad wie eine halbe Ewigkeit vor. Warum habe ich dir damals bloß nicht die richtige Antwort gegeben? Vielleicht wäre dann heute einiges zwischen uns einfacher. Brad wusste, dass Schuldigs "Gabe" momentan durch die Psychopharmaka weitgehend ausgeschaltet war - doch das galt wohl nicht für die quälenden Erinnerungen, die Ängste und Alpträume... "...nicht..." Bevor er überhaupt dazu kam, über das nachzudenken, was er da tat, strich er bereits durch das wirre Haar, zeichnete die Konturen des schmalen Gesichts mit den Fingerspitzen nach und hauchte schließlich einen Kuss auf die Nasenspitze des anderen. "Schlaf", wiederholte er leise. Ich muss den Verstand verloren haben. Methodisch entledigte er sich seiner tadellos geputzten Schuhe, der Krawatte und des Jackets. Das ist so ziemlich das unvernünftigste, das du in den letzten fünfzehn Jahren getan hast, Bradley Crawford. Mit diesem Gedanken legte er sich neben den Deutschen, ließ einen Arm um seine Taille gleiten und zog die Decke über sie beide. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Im Morgengrauen erwachte er, Schuldig noch immer in den Armen haltend, das Gesicht halb in der feuerroten Mähne vergraben. Im Lauf der Nacht hatte der Telepath sich eng an Brad geschmiegt, als suche er Schutz; nun waren seine Gesichtszüge entspannt, und er wirkte beinahe kindlich... Schluss jetzt. Vorsichtig löste der Hellseher sich von dem knochigen Jungen, suchte seine Sachen zusammen und verließ lautlos das Zimmer. Es roch angenehm nach Kaffee - Nagi war also bereits seit einer Weile auf. Den Gesprächsfetzen aus der Küche nach zu urteilen, hatte Farfarello einen seiner guten Tage und suchte die Gesellschaft seiner Kollegen. Das war bei weitem nicht immer der Fall, aber ein gutes Zeichen. Nicht allzu viele Unberechenbarkeiten heute... von der ganz bestimmten im Zimmer am Flurende mal abgesehen. "...ungefähr so emotional wie ein Vier-Sterne-Gefrierfach. Du denkst doch wohl nicht wirklich..." "Glaub, was du willst, Kleiner. Aber ich bin nicht blind. Und nur, weil du an deiner Eifersucht fast erstickst..." Der Ire unterbrach sich und äußerte in einem völlig neutralen Tonfall: "Guten Morgen, Crawford." "Guten Morgen, Farfarello. Nagi." Augenblicklich sprang der kleine Japaner auf; er wirkte beinahe schuldbewusst. "Kaffee?" So einfach kommst du mir dieses Mal nicht davon, Naoe. Laut sagte er: "Ja, danke. Wenn du aus der Schule zurück bist, sollten wir beide uns mal unterhalten." Der Junge warf ihm einen perplexen Blick zu. "Ähm... Crawford... Heute ist Samstag. Ich habe keine Schule." Bin ich schon so durcheinander? Verärgert über sich selbst griff Brad nach der angebotenen Tasse. "Umso besser", entgegnete er kühl. "Dann besprechen wir die Angelegenheit am besten gleich." Er blinzelte, um das Schwindelgefühl zu vertreiben, das die erste Vision dieses Tages mit sich brachte. "Sofort nach dem Anruf aus dem SZ-Hauptquartier, heißt das." Es ging doch nichts über eine exakte Tagesplanung...Probehalber nippte der Amerikaner an seinem Kaffee. Erstaunlicherweise schmeckte er heute einmal nicht nach Spülwasser - Farfarello musste ihn gekocht haben. "Stell etwas Kaffee für Schuldig warm. Er wird um zehn Uhr neunzehn aufstehen und dann noch nicht in der Lage sein, sich selbst welchen zu machen." Seufzend strich er sich das Haar aus der Stirn. "Nagi, ich erwarte dich in zehn Minuten in meinem Büro." Mit dieser nicht gerade freundlichen Anweisung folgte er dem fordernden Klingeln des Telefons. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Der Wecker zeigte zehn Uhr sechzehn, und das Kopfkissen roch nach Brad. Schnurrend presste Schuldig die Wange in den kühlen Stoff und sog den fremden und doch so vertrauten Duft ein. "Mmmmmmm..." >Süß.< Schnauze. Er hatte jetzt keine Lust, sich mit Mastermind zu streiten, nicht jetzt, wo er sich noch so angenehm dösig fühlte. >Kein Wunder - nach der Dosis, die er dir gestern verpasst hat.< Der blauschwarze Bluterguss in seiner Armbeuge bestätigte diese Aussage. Aber wenigstens hatte er kein Fieber mehr, und die Kopfschmerzen hielten sich auf einem akzeptablen Level. Ein halber Liter Kaffee, eine heiße Dusche, und er wäre wie neu. >Bist du sicher? Du kennst den Preis, den du für unsere Fähigkeit zahlst. Oder hat er es dir nicht gesagt?< Ich sagte, du sollst dich verpfeifen. Sein Alter Ego lachte. >Wie du willst. See you later, alligator.< Never again, I hope - crocodile. Der Mistkerl hatte es tatsächlich geschafft, seine aufkeimende gute Laune sofort wieder zunichte zu machen. Hurensohn. Mit einigen nicht jugendfreien Flüchen wälzte Schuldig sich aus dem Bett und schlich in Richtung Küche. Aus Crawfords Büro hörte man Nagi brüllen. Vermutlich hatte der 'great almighty leader' es gewagt, der Pestbeule einen neuen Computer zu verweigern. Erstaunlich... Ob sich die Rotationsrichtung der Erde wohl geändert hatte, während er schlief? "Morgen, Farf." "Guten Morgen." Der Ire musterte ihn amüsiert. "Kaffee?" "Mhm." Äußerst unelegant ließ der Rothaarige sich auf einen der Küchenstühle fallen. "Schwarz, nehme ich an?" "Mhm. Und mit viel Zucker." "Ah. Schwarz wie die Seele und süß wie die Sünde", frotzelte Farfarello. "Ja, ja. Was auch immer du sagst. Gib schon her." Schuldig gähnte so ausgiebig, dass er schon selbst beinahe befürchtete, sich den Unterkiefer auszurenken, und stürzte sich dann wie ein Geier auf sein pechschwarzes Lebenselixier. Nach einigen Minuten mehr oder weniger zufriedenen Schweigens, die der Telepath zum endgültigen Wachwerden und der Berserker zum Messerwetzen nutzten, erkundigte Schuldig sich vorsichtig: "Was ist'n da los?" "Crawford hat schlechte Laune - Anruf von SZ. Und Nagi hat sich gestern ziemlich danebenbenommen." "Tut er das nicht immer?" Ein sanftes Lächeln huschte über das vernarbte Gesicht, als Farfarello die Messerklinge anhauchte und mit dem Tischtuch polierte. Zum Glück war Crawford nicht hier, sonst hätte sich seine Laune wohl noch weiter verschlechtert. "Die Sympathie zwischen euch beiden ist wirklich atemberaubend." Er musterte seinen deutschen Kollegen mit schiefgelegtem Kopf und fuhr dann fort: "Der Kleine kann nichts dafür, dass Crawford euch gegeneinander ausspielt." "Tut er das?" Sicherheitshalber tat Schuldig so, als habe er in den Tiefen seiner Tasse eine ungemein interessante neue Lebensform entdeckt. "Es ist ihm vielleicht nicht bewusst, aber: ja." DAS war nun wirklich zu viel. "Brad und sich etwas nicht bewusst sein? Ich bitte dich. Wir sprechen über Oracle." "Und genau dieses Gespräch hatte ich vor drei Stunden mit Nagi." "Oh." Die Bürotür flog auf und knallte mit ziemlicher Wucht gegen die Wand. "Du kannst mich mal, Crawford!" Wenn er sich so aufregte, klang Nagi ziemlich genau wie eine hysterische Version von Mickey Mouse. "Sprich nicht in diesem Ton mit mir, Nagi." "Wenn dir mein Ton nicht passt, schrei doch Schuldig an! Der braucht das!" Besagte Person spuckte fast seinen Coffeinaufguss über den Tisch. "WIE BITTE?!" "Du wirst sofort auf den Zimmer gehen und dort bleiben, bis ich dir erlaube, es wieder zu verlassen." "Damit du in Ruhe mit deiner deutschen Schlampe vögeln kannst, oder was? Pass lieber auf, dass..." Hey! Wer ist hier eine Schlampe? Der Geräuschkulisse nach zu urteilen, war das, was Nagis Redefluss gestoppt hatte, eine erstklassige Ohrfeige Marke Bradley Crawford gewesen. "Schluss jetzt." Das Orakel klang gefährlich ruhig. "Geh auf dein Zimmer. Du hast zwei Wochen Hausarrest. Und die Klassenfahrt kannst du auch vergessen." Autsch. Brad hat wirklich gute Laune. Befriedigt grinsend biss Schuldig in ein trockenes Brötchen. Er hatte schließlich nicht alle Tage das Vergnügen, zuzuhören, wie Brad die Pestbeule zusammenfaltete. Und dann auch noch wegen ihm... "Heb' nicht ab", mahnte Farfarello. "Du wirst dir wahrscheinlich auch noch die eine oder andere Nettigkeit abholen dürfen." "Schon gut. Musst du mir jedes Mal den Spaß verderben?" Nagis Zimmertür flog mit einem ohrenbetäubenden Krachen ins Schloss; kurz darauf betrat Crawford die Küche. "Morgen, Brad", begrüßte Schuldig ihn kauend. "Guten Morgen, Schuldig. Man spricht nicht mit vollem Mund. Außerdem wäre ich dir sehr verbunden, wenn du morgens nicht halbnackt durchs Haus laufen würdest." "Hm?" Verblüfft sah Schuldig an sich herab; er fand keinen ekelerregenden Ausschlag oder anomale Auswüchse, und so schlimm waren seine Tweety-Boxershorts nun auch wieder nicht... "Wenn du dich später in der Lage fühlst, ein halbwegs vernünftiges Gespräch führen und auch verstehen zu können, komm in mein Büro." "Hm." Danke, Brad. Wie schön, dass du mich immer wieder daran erinnerst, dass ich in deinen Augen ein totaler Vollidiot bin. "Und gib nicht ständig diese... Laute von dir, sondern sprich vernünftig. Farfarello, das Tischtuch ist nicht dazu gedacht, deine Messer zu reinigen." Und da soll noch mal einer sagen, dieser Mann taugt nicht zum Familienvater... Kapitel 3: ----------- 3 Nicht schon wieder... "Nein. Nicht schon wieder!" Brad warf seinem deutschen Kollegen einen eisigen Blick durch unheilvoll blitzende Brillengläser zu. "Es ist nicht so, als hätten w... als hättest du die Wahl." >Ups. Da fühlt sich wohl jemand für uns verantwortlich.< Das ist sein Job. >Ja. Und wenn er versagt - was er, nebenbei bemerkt, mal wieder getan hat - bekommt er richtig Ärger mit SZ. Glaub mir, er tut das nicht, weil er dich so gerne hat.< Ich weiß. Oh ja, Schuldig war sich dieser Tatsache sehr wohl bewusst. Und es tat weh... Wenn es um die Pestbeule ginge... >Würde er Himmel und Hölle in Bewegung setzten, um das kleine Mistvieh zu beschützen. Was sagt uns das?< "Schuldig!" Gereizt schlug der Amerikaner mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. "Würdest du mir bitte zuhören, wenn ich mit dir rede?" Der Rothaarige zuckte zusammen und verachtete sich bereits im selben Augenblick dafür. "Ist ja gut. Denk an deinen Blutdruck, Braddy." >Falsche Antwort.< Unsanft wurde er am Kragen gepackt und näher an seinen Leader herangezogen; er sah das zornige Funkeln in den braunen Augen. Es ist ihm ernst... >Er hat Angst um seine Karriere.< "Ist dir eigentlich klar, wie ernst diese Sache ist? Sie wollen dich wieder ins Labor stecken, um dich zu 'stabilisieren'. Sogar ein neurochirurgischer Eingriff wurde bereits erwogen!" Schlagartig bildete sich Gänsehaut auf Schuldigs Unterarmen. "Neu...neurochirurgischer Eingriff...?", erkundigte er sich vorsichtig; eigentlich wollte er gar keine Details wissen. "Allerdings. Damit würden sie deine Fähigkeiten endgültig beseitigen..." Klingt doch gar nicht mal so übel. "...und den Großteil deiner Intelligenz gleich mit. Von den Auswirkungen auf deinen Bewegungsapparat wollen wir mal ganz absehen. Immerhin: sie könnten dann immer noch diverse Krankheitserreger an dir testen. Biologische Waffen sind heutzutage sehr gefragt, und SZ könnte das Geld gut gebrauchen. Würde dir das gefallen, Schuldig? Ein Tod für die Wissenschaft und die Konten von SZ?" Er meint es ernst... Ich muß zurück ins Labor! Ich... ich will nicht... Bitte... NEIN! "Immer noch besser, als deine Marionette zu sein, du rückgratloser Klappspaten." Bevor Schuldig ihn daran hindern konnte, hatte Mastermind sich seiner Stimme bedient und den respektlosen Kommentar herausposaunt. Mastermind...! >Was denn? Ist doch wahr. Besser als mit dem sind wir überall dran.< Brads rechte Hand kollidierte ausgesprochen hart mit seiner Wange, und für einen Moment sah er im wahrsten Sinne des Wortes Sterne. "Hey..." Genau so heftig, wie er ihn gepackt hatte, stieß der Schwarzhaarige ihn wieder von sich. Der Telepath taumelte hilflos einige Schritte rückwärts und landete ausgesprochen unelegant auf dem Teppich. "Tu dir selbst einen Gefallen und hör auf, dich wie ein trotziges Kleinkind aufzuführen. Die Wissenschaftler müssen den Eindruck bekommen, dass du dich selbst und deine Fähigkeit voll unter Kontrolle hast. Dann werden sie sich vielleicht darauf beschränken, die Dosis deiner Medikation zu erhöhen. Wenn sie allerdings Hinweise darauf finden, dass du eine Gefahr darstellst - und den Verdacht haben sie momentan - kann ich für nichts mehr garantieren." Jetzt wirkte der "Great almighty leader" beinahe hilflos... aber eben auch nur beinahe. Oder war es tatsächlich echte Sorge, die da in seinem Blick aufflackerte? Gerade, als Schuldig sich aufrappeln und zu einem flapsigen Kommentar ansetzen wollte, brachen die Stimmen erneut über ihn herein. Stöhnend krümmte er sich zusammen. Wo in diesem Tohuwabohu war er? Er kam sich vor wie ein Ertrinkender, als die Flut der Gedanken ihn zu verschlingen drohte. Er wollte schreien, brachte jedoch nur ein gepresstes Wimmern heraus. Oh bitte... Ein undeutliches Krachen... Die Tür? Etwas Hartes traf ihn an der Schulter... Ein brennender Schmerz... und dann nichts mehr. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Was für ein Desaster! Es war schlimm genug, dass die SZ-Söldnertruppe hier hereinplatzte - aber es wäre keinesfalls nötig gewesen, die Bürotür einzutreten. Sie war ja nicht einmal abgeschlossen gewesen! Unwillig rückte Brad seine Brille zurecht; nur mit äußerster Selbstbeherrschung gelang es ihm, wenigstens halbwegs die Contenance zu wahren und dem Kommandanten der Einheit nicht an die Kehle zu gehen. "Könnten Sie mir freundlicherweise erklären, was das soll?" Der einäugige Blonde grinste humorlos. "Befehl von oben. Wir sollen ihren Telepathen einsammeln und umgehend in die Schweiz schaffen." "Warum bin ich nicht informiert worden?" "Das nennt man 'Überraschungseffekt', Mister. Wir wollten vermeiden, dass Ihre Wärmflasche sich vorzeitig absetzt. Sieht aus, als würden die Oberen Ihnen nicht über den Weg trauen." Unverändert grinsend steckte der Söldner sich eine Zigarette an. Brads Beschluss, dem Kerl eines Tages einen langsamen und sehr schmerzhaften Tod zu bescheren, verhärtete sich drastisch. "Unterlassen Sie das bitte. Im Übrigen ist Schuldig nicht meine 'Wärmflasche'. Solche Anspielungen sollten Sie besser für sich behalten, Mister..." "Captain. Captain Maginot." Maginot? Doch wohl nicht verwandt mit... "Mein Großvater." Das Mienenspiel des Kämpfers verriet Abscheu. "Man kann sich seine Verwandtschaft leider nicht aussuchen." Achselzuckend aschte er in den Topf von Brads Lieblings-Grünlilie. "Bitte sorgen Sie dafür, dass Ihr Berserker meine Männer nicht länger behindert. Es würde mir leid tun, ihn ausschalten zu müssen." Er nickte knapp in Richtung der Türöffnung, wo Farfarello, mit zwei langen Jagdmessern bewaffnet, Schuldigs Abtransport zu verhindern versuchte. "Das würde sich in unserem Bericht nicht gut machen, verstehen Sie? Widerstand gegen einen ausdrücklichen Befehl..." Brad knirschte mit den Zähnen. Innerlich kochte er Wut, aber so ungern er es zugab: der andere hatte Recht. "Schon gut. Farfarello! Lass diese Gentlemen ihren Auftrag ausführen." "Nein! Ich lasse das nicht zu, Crawford! Du weißt, was sie mit ihm machen werden!" "Sie werden ihm helfen, seine Schwierigkeiten mit seiner Gabe zu überwinden. SZ will nur das Beste für uns alle." Und obwohl er oft genug gelogen hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, wurde ihm in diesem Augenblick schlecht. Schuldig... Aufreizend langsam trat der Ire beiseite, die Messer noch immer erhoben und seinen Leader ungläubig anstarrend. "Glauben Sie das wirklich?" Maginots Blick war beinahe mitfühlend. Unter Aufbietung aller seiner inneren Kraft straffte Brad die Schultern und zwang sich, dem anderen in das verbliebene blassgrüne Auge zu sehen. "Nein. Sie?" Der Söldner winkte ab. "Ich werde bezahlt, um Befehle auszuführen, nicht, um eine eigene Meinung zu haben. Das steht nicht in meinem Vertrag..." Er wurde von einer kleinen, dunkelhaarigen Frau unterbrochen, die offensichtlich sein Lieutenant war. "Sir? Wir sind dann so weit." "Gut. Schaffen Sie das Zielobjekt in den Hubschrauber. Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen." Falls sie sich wunderte, ließ sie sich nichts anmerken; ihr hartes Gesicht blieb völlig ausdruckslos. "Ja, Sir." "Wegtreten." Damit wandte er sich wieder Brad zu. "Wenn es Ihnen hilft: sie wollen ihn wirklich nur untersuchen." Der Amerikaner schnaubte verächtlich. "Und woher wollen ausgerechnet Sie das wissen?" Wieder dieses leere Lächeln, das jedem anderen als Crawford kalte Schauer über den Rücken gejagt hätte. "Ich weiß es eben." Die Einsicht traf das Orakel wie ein Schlag. "Sie sind Telepath..." Schulterzucken. "Man hat sich noch nicht auf die passende Kategorie geeinigt. Der Schwerpunkt meiner Fähigkeiten liegt in einem anderen Bereich -oder was glauben Sie, warum Sie unseren 'Besuch' nicht vorhergesehen haben? Oder warum Sushi hier", er wies auf den totenblassen, zornbebenden Nagi, "mich noch nicht an der Mauer zerquetscht hat?" "Sein Name ist Nagi. Aber Sie haben Recht: das erklärt einiges." Widerwillig fragte sich Brad, ob Doktor Maginot wohl seinen Anteil an den Fähigkeiten seines Enkels gehabt hatte... "Die Wunder der präparativen Genetik, Mister Crawford. Ein ausgetauschtes Basenpaar hier, ein zusätzliches Gen dort... Sie kennen das ja." Zum ersten Mal zeigte das Gesicht des Söldners so etwas wie eine echte Gefühlsregung. "Legen Sie sich nicht mit denen an, Crawford. Noch nicht. Warten Sie, bis..." "Etienne." Die zierliche Frau war zurückgekehrt und legte ihrem Kommandanten sanft eine Hand auf den Arm. "S'il te plaît..." Ebenso zärtlich nahm er ihre Hand in seine und drückte sie kurz. "Alors... On y va." Damit wandte er sich wieder Brad zu und salutierte spöttisch. "Es war mir ein Vergnügen, Mister Crawford." ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ "Wie konntest du das zulassen, du Mistkerl?" "Ich glaube, ich habe dir heute schon einmal etwas zu deiner Ausdrucksweise gesagt, Nagi." Wie hätte Brad auch zugeben können, dass er sich selbst diese Frage in genau dieser Formulierung schon seit dem Abflug von Maginot und seinem Team stellte? "Ich dachte, du magst Schuldig nicht einmal." Der kleine Japaner drohte überzuschäumen. "Darum geht es hier doch gar nicht! Schlampe oder nicht, er ist einer von uns. Du hättest..." "Mich SZ entgegenstellen sollen? Dann hätten sie uns alle getötet, und Schuldig... Du willst dir gar nicht vorstellen, was sie dann mit ihm gemacht hätten. Ich werde alles daran setzen, ihn da herauszuholen, das kannst du mir glauben. Aber zu seinem eigenen Schutz musste ich den drei Alten erst einmal ihren Willen lassen." Er zuckte nicht einmal mit der Wimper, als Farfarello in einer plötzlichen Aufwallung von Wut einen Dolch in die Wand rammte - etwa zwei Zentimeter neben Crawfords rechtem Ohr. "Fühlst du dich jetzt besser?" "Nein. Ich wusste, dass du ein Bastard sein kannst, aber dass du Schuldig so im Stich lassen würdest... Wie viel haben sie dir dafür gezahlt?" "Vielen Dank für euer Vertrauen." Erschöpft ließ Brad sich in seinen Sessel fallen, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Normalerweise hätte er eine solche Zurschaustellung von Schwäche vor seinem Team um jeden Preis vermieden, doch nun... "Das Problem ist, dass gewisse Leute in der oberen Schicht von SZ mir misstrauen. Ihrer Ansicht nach sind wir als Gruppe zu stark und haben das Wohlwollen der Oberen zu sehr für uns vereinnahmt. Wenn ich mich jetzt einer direkten Anordnung widersetzt hätte, wäre das der Beweis gewesen, nach dem sie schon suchen, seit ich Schuldig zu mir genommen habe. Er ist zu wertvoll, als dass sie ihn einfach eliminieren würden, aber..." "Sie würden ihn verhören und umprogrammieren, nicht wahr?" Überrascht musterte Brad seinen minderjährigen Kollegen. Manchmal konnte Nagi wirklich erschreckend reif für sein Alter sein. "Genau das. Von seiner Persönlichkeit würden nur Trümmer übrig bleiben. Das ist nicht besonders erstrebenswert." Bei der Erinnerung an andere "reprogrammierte" PSI-Agenten lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er würde sich nie verzeihen, wenn diese unglaublichen Augen ihr herausforderndes Funkeln verlieren würden... wenn Schuldig wieder das würde, was er damals gewesen war. ~*~*~*~*~*~*~ "Was ist das?" "Ein Eichhörnchen. Komm jetzt." Trotz dieser Aufforderung blieb der junge Telepath stehen und betrachtete fasziniert das kleine Tier, wie es eifrig nach Nahrung suchte. Ungeduldig nahm Brad seinen Arm, bereit, ihn wenig sanft zum Weitergehen zu bringen. "Nun tu nicht so, als hättest du noch nie ein... Oh." Natürlich hatte der Junge noch nie irgend ein Tier gesehen - die Schäferhunde des Wachdienstes einmal ausgenommen. "Es ist doch bloß ein Eichhörnchen", versuchte er das Kind zu beschwichtigen. "Aber... Können wir nicht..." "Wir haben wirklich keine Zeit. Komm jetzt bitte." Die eben noch glänzenden blauen Augen wurden dunkel, bevor der kleine Rotschopf unterwürfig den Kopf senkte. "Natürlich... Bitte entschuldige..." Es zerriss dem Amerikaner fast das Herz. "Hey. Wenn wir mal Zeit haben, machen wir beide ein Picknick im Park. Dann kannst du Tiere beobachten, so lange du möchtest. Okay?" Der Kleine warf ihm einen verunsicherten Seitenblick zu. "Wirklich?" "Ja. Wirklich." "Versprochen?" Seufzend festigte Brad seinen Griff und zog seinen nun nicht mehr widerstrebenden Schützling mit sich. "Versprochen." ~*~*~*~*~*~*~ Ein weiteres Versprechen, das er nicht gehalten hatte. Farfarello hat recht: ich bin ein Bastard. Entschlossen griff Crawford zum Telefonhörer. "Was hast du vor?", erkundigte der Ire sich misstrauisch. "Pack ein paar Sachen zusammen, Farfarello. Wir fliegen in die Schweiz, du und ich." ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Das Licht tat seinen Augen weh; blinzelnd versuchte Schuldig, sich umzudrehen, was ihm jedoch nicht gelang. Was...? "Ah. Es ist wach. Sehr schön." Diese Stimme! Das war doch... >Freu dich. Es ist unser alter Freund, Dr. Maginot. Unser Schöpfer.< "Verstehst du, was ich sage, 1398862?" Am liebsten hätte Schuldig geschrien. Dieser Geruch... die weißen Wände... Mühsam zwang er sich zu einem Nicken. "Sehr gut. Ich werde jetzt die Gurte lösen, mit denen wir dich fixiert haben. Mach keine Dummheiten - du würdest es bereuen." >Und du erst, du miese Beutelratte im Laborkittel.< Mastermind. Bitte. Meinst du nicht, wir haben schon genug Schwierigkeiten? Manchmal ließ das Mistvieh, das ein Teil seiner selbst war, mit sich reden. Dieses Mal schien das auch der Fall zu sein. >Okay. Aber wenn du es verbockst, übernehme ich.< Alles klar. Routinemäßig machte der Rothaarige sich daran, seine Umgebung mit Hilfe seiner Fähigkeiten zu untersuchen - und scheiterte. Es war, als habe jemand seine Gabe einfach... ausgeschaltet. Durch den bloßen Versuch, die Blockade zu durchbrechen, wurde ihm elend schwindelig; beinahe wäre er seitwärts von der Liege gekippt, als er sich sehr vorsichtig aufsetzte. "Wie fühlst du dich?" Gespannt musterte der grauhaarige Wissenschaftler sein verstörtes Gegenüber. "Mir... mir ist schlecht..." "Eine Nachwirkung des Beruhigungsmittels. Du wirst es überstehen." "Meine Fähigkeit..." >Herzlichen Glückwunsch. Du hast uns gerade freiwillig ans Messer geliefert. Wie blöd bist du eigentlich?< "Was ist damit ?" Eifrig beugte der alte Mann sich vor. "Sie... ist blockiert." "Tatsächlich?" Triumphierend lächelnd machte Maginot sich eine rasche Notiz auf seinem Klemmbrett. "Das ist... erfreulich. Unser Versuch scheint sich positiv zu entwickeln... aber wir werden selbstverständlich weitere Tests durchführen." Er wandte sich dem anderen Mann zu, der bis jetzt schweigend im Hintergrund gewartet hatte. "Etienne? Komm her." Kapitel 4: ----------- 4 -- Als er erwachte, lag der Raum in einem tröstlichen Halbdunkel; offenbar hatte man beschlossen, ihn zumindest zeitweilig in Ruhe zu lassen. „Geht es dir besser?“ Erschrocken fuhr Schuldig hoch. Schon wieder dieser Kerl, dessen Gedanken er nicht spüren konnte... „Ganz ruhig. Für heute hast du's hinter dir. Monsieur le docteur hat schon vor zwei Stunden Feierabend gemacht.“ „Oh...“ Humorlos lächelnd liess der Mann sich neben ihm auf der Liege nieder. „Er wird dir nichts tun – nichts, was dauerhafte Schäden hinterlässt. Noch bist du zu wertvoll für ihn.“ Noch. /Sorg gefälligst dafür, dass es so bleibt./ Wie meinst du das? /Tu, was sie von dir verlangen. Du hast doch gehört, was er gesagt hat, oder? Was auch immer sie tun werden – es wird vorbeigehen. Und je weniger du dich wehrst, desto größer sind unsere Chancen, mit heiler Haut hier herauszukommen./ Aber... Brad... /Was glaubst du, auf wessen Veranlassung du hier bist?/ NEIN! /Doch./ Das glaube ich nicht! Er würde nicht... /Bist du dir da ganz sicher?/ ...nein... Geknickt senkte Schuldig den Kopf. Brad hatte ihn verraten... Brad, dem er trotz aller Differenzen immer mehr oder weniger vertraut hatte. Brad, der ihm versprochen hatte, ihn zu beschützen...! „Hey.“ Das schmale, scharf geschnittene Gesicht des anderen drückte beinahe so etwas wie Mitgefühl aus. „Er wird kommen.“ „W...was?“ „Du weißt genau, wen ich meine. Hier – trink erst mal was.“ Gehorsam nippte der Telepath an dem angebotenen Glas. Das kalte Wasser darin erschien ihm wie ein Geschenk des Himmels. „Langsam, sonst wird dir noch schlecht.“ Erstaunt starrte Schuldig sein Gegenüber an. „Was soll das? Warum kümmerst du dich um mich?“ Schulterzucken. „Ich habe den Befehl dazu bekommen.“ „Und du tust alles, was sie dir befehlen?“ „So lange sie mich dafür bezahlen – ja.“ Auf Anhieb fielen dem Deutschen zu dieser Aussage mindestens fünf gehässige Kommentare ein, doch die verbiß er sich lieber. Nachdenklich wickelte er sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger. „Wie heißt du eigentlich?“ „Etienne Maginot.“ „Oh...“ „Frag nicht.“ „Okay.“ Schweigen. Dann: „Ist es nicht sehr anstrengend?“ Schuldig musterte sein Gegenüber mißtrauisch. Das ist unmöglich. Das kann er nicht wissen. „Was meinst du?“ „Deinen... Mitbewohner. Wie war doch gleich sein Name...?“ Zu seinem Entsetzen spürte der Rothaarige eiskalte Spinnenfinger nach seinem Hirn tasten. Mastermind schrie panisch auf; Schuldig schleuderte dem Eindringling all seine Kraft entgegen... und rannte buchstäblich ins Leere. Es war, als würde er gegen einen Schatten kämpfen, denn Etienne wich ihm immer wieder aus. „Nein...“ Er berührte einen nebligen Erinnerungsfetzen, sah einen kleinen Jungen; lange Nadeln steckten in seinem Schädel. Derselbe Junge, in einem mit Nährlösung gefüllten Tank gefangen, konvulsivisch zuckend. Etienne, nur wenig jünger als jetzt, blutüberströmt, seinen Zorn hinausschreiend, die Maschinenpistole im Anschlag. Etienne, der... „Das reicht.“ Schlagartig senkte sich diese eigenartige geistige Taubheit wieder auf Schuldigs Gedanken. Verstört zog er die Beine an und schlang die Arme um die Knie. Was hatte der Söldner wohl in seinen Gedanken gesehen? „Nichts, was dir unangenehm sein müsste. Andererseits... was findest du ausgerechnet an DEM?“ Schuldig beschloß, diese Frage sicherheitshalber weder laut noch gedanklich zu beantworten. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Die Reise war ein recht guter Vorgeschmack auf das gewesen, was ihn dereinst in der Hölle erwarten mochte. Als hätte es nicht genügt, dass Nagi so lange gequengelt und bei zukünftigen Missionen mit Streik gedroht hatte, bis Brad zähnekirschend zugestimmt hatte, ihn mit in die Schweiz zu nehmen – nein, jetzt hatte der Teenager auch noch eine seiner Trotzphasen und nörgelte in einer Tour. Der Pilot war geflogen wie der letzte Henker, die Stewardessen waren unfreundlich und das Essen unter aller Sau gewesen. Was die beiden Nonnen und den Priester anging, die zwei Reihen vor ihnen gesessen hatten... Nicht, dass Farfarello nicht ohnehin schon seit Schuldigs Verschwinden unausstehlich war, aber das hatte nun wirklich alles in den Schatten gestellt. Der Fairness halber mußte man allerdings erwähnen, dass der Ire sich schließlich – wenn auch nur widerstrebend – Crawfords Argumentation gebeugt hatte: 1)Es ist schwer, in einem Flugzeug eine Leiche verschwinden zu lassen – vor allem in einem voll besetzten. 2)Zu viele potentielle Zeugen. 3)Kein Schuldig, um gegebenenfalls die Erinnerung derselben zu verändern. 4)Häßliche, hartnäckige Blutflecken auf den Sitzen (und, wenn man Farfarellos üblichen Modus operandi bedachte, vermutlich auch auf Crawfords Anzug). Selbst jetzt, als sie sich längst mit einem Leihwagen durch die Alpen kämpften, hatte der Berserker noch immer übelste Laune. Schweigend hockte er neben dem stur auf seinen Laptop einhackenden Nagi und spielte mit seinen im Duty-Free-Shop erworbenen Messern. Seufzend wandte Brad seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu. Großartig, schon wieder eine kreuzende Kuhherde! Für das Orakel, das den größten Teil seines Lebens in Großstädten verbracht hatte, stand fest, dass die Hölle entweder wie das hier oder wie das Innere einer Linienmaschine der Schnürzli-Air aussehen musste. ~*~*~*~*~*~*~ „Crawford?“ „Was ist denn? Ist dir schlecht?“ Der kleine Rotschopf schüttelte energisch den Kopf; seine Wangen glühten vom Fieber. „Was passiert mit uns, wenn wir sterben?“ Irritiert sah der Amerikaner den Jüngeren an. „Wie meinst du das?“ „Was kommt danach?“ Crawford runzelte die Stirn. Unglaublich, aber wahr: die Laborratte stellte philosophische Fragen. Schweigend beugte er sich vor und tupfte einmal mehr den Schweiß vom Gesicht des Jungen. „Du wirst nicht sterben. Noch nicht“, sagte er schließlich barsch. Irgendwie brachte er es nicht über sich, seiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen, dass es kein „danach“ gab. 1398862 blinzelte verwirrt. „Aber irgendwann werde ich sterben. Und dann?“ „Dann?“ Brad überlegte einen Moment. „Ich weiß es nicht. Meine Großmutter hat immer gesagt, dass man, wenn man stirbt, zu einem Stern wird.“ Ein schwaches Lächeln huschte über das schmale Gesicht. „Das wäre schön“, murmelte das Kind verträumt. „Ich wäre gerne ein Stern.“ „Bis dahin hast du aber noch eine Menge Zeit.“ Mit einer Zärtlichkeit, von der er nicht gewußt hatte, dass er dazu überhaupt fähig war, strich er über das wirre rote Haar. „Versuch, ein bißchen zu schlafen.“ Wie so oft stahl sich die schmale Hand des Jungen in seine. „Okay...“ ~*~*~*~*~*~*~ „...du mir erklären, warum unsere Überwachungskameras über Stunden hinweg nichts als Schnee aufgezeichnet haben?“ Das Gezeter des Chefwissenschaftlers war bereits auf dem Gang zu hören; seine Bürotür stand halb offen. Sofort hielt der Wachtposten, der Brad durch das Labyrinth der unterirdischen Gänge geführt hatte, ihn auf. „Warten Sie einen Moment. Der Doktor ist offenbar beschäftigt.“ „...nicht meine Schuld, dass die Kameras in meiner Gegenwart spinnen. Und Sie wollten doch, dass ich mich um ihn kümmere!“ „Werd' jetzt nicht unverschämt!“ „Pardon, aber das ist eine Tatsache.“ Jemand schlug mit der Faust auf einen Tisch. „Geh mir aus den Augen!“, fauchte der Wissenschaftler. „Bien sûr, Großvater. Ganz, wie Sie wünschen.“ Prompt stürmte der blonde Söldner aus dem Büro, das verbliebene Auge blitzend vor Zorn. Als er Brad sah, stellte er zumindest das Zähneknirschen ein. „Ah. Bonjour, Monsieur Crawford.“ „Guten Tag, Captain Maginot.“ Der Franzose musterte ihn ernst. „Sie sind wegen Ihres Telepathen hier.“ Das war doch wohl offensichtlich! Brad räusperte sich ungeduldig. „Wissen Sie Näheres?“ Ein fast unmerkliches Zögern. „Er... schläft jetzt.“ Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, doch in diesem Moment trat Dr. Maginot auf den Gang. „Was diese andere Sache angeht, Etienne... Oh. Crawford.“ „Dr, Maginot. Wie Sie sich denken können, bin ich hier, um...“ „Es geht Ihnen um 1398862.“ „...Schuldig abzuholen“, fuhr der Amerikaner ungerührt fort. „Sie können es noch nicht mitnehmen – die Untersuchungen sind noch nicht beendet.“ ES...?! Zorn kochte in Brad hoch. „Das ist mir egal. Sie können nicht einfach ein wichtiges Mitglied meines Teams in Ihr Labor verschleppen, während wir uns mitten in einer äußerst heiklen Mision befinden!“ Maginot lächelte dünn. „Ganz offensichtlich haben Sie 1398862 aber nicht im Griff. Es ist hypernervös und hat Schwierigkeiten, seine Fähigkeiten unter Kontrolle zu halten.“ Mit einem weiteren unverbindlichen Lächeln fügte er hinzu: „So lange ich keine direkte Anweisung von einem der SZ-Oberen bekomme, kann ich nicht verantworten, es auf freien Fuß zu setzen. Etienne – begleite Monsieur Crawford hinaus.“ Zum Glück waren Nagi und Farfarello im Hotel geblieben, sonst hätte es jetzt wohl Wissenschaftler-Gehacktes gegeben. So beschränkte Brad sich auf ein unauffälliges Zähneknirschen. „Sie werden diese Anweisung sehr bald bekommen, verlassen Sie sich darauf. Und jetzt bringen Sie mich zu ihm.“ Der alte Mann schien widersprechen zu wollen, doch ein kurzer Blick von Brad belehrte ihn eines Besseren. „Von mir aus“, räumte er widerwillig ein. „Aber nur fünf Minuten.“ Das Orakel fixierte ihn kalt. „Ich werde gehen, wenn ich es für angebracht halte.“ Es geht doch nichts über subtile Drohungen. Hilfesuchend sah der Doktor zu seinem Enkel hinüber, doch der schien plötzlich sehr am Zustand der Wände interessiert zu sein. „Soll ich Monsieur Crawford zu 1398862 begleiten?“, erkundigte er sich gelassen. Hastig wischte Maginot sich den Schweiß von der Stirn. „Ja, ja. Von mir aus.“ Es war kalt hier unten... und es roch noch genau wie damals. Energisch verdrängte Brad den winzigen Hauch von Unbehagen, der sich seiner bemächtigen wollte. Momentan ging es nur um Schuldig – alles andere war nebensächlich. „Wir sind da.“ Sie standen vor einer gepanzerten Tür mit mehreren Sicherheitsschlösser und unverwüstlich aussehenden Riegeln. „Ist so etwas wirklich nötig...?“ Der große Blonde zuckte mit den Schultern. „Die da oben scheinen eine Heidenangst vor Ihrem Telepathen zu haben.“ Gelassen deaktivierte er die Schlösser und schob die Riegel zurück. „Voilá.“ Brad gab sich nicht die Blöße, noch einmal tief durchzuatmen, bevor er die Zelle betrat, obwohl er es bitter nötig gehabt hätte. So nickte er dem Captain nur knapp zu und trat ein. Schuldig lag auf einer Art Bahre; er war erschreckend bleich, und er hatte unübersehbar Nasenbluten gehabt. Für einen Moment befürchtete Brad das Schlimmste. Mit drei schnellen Schritten war er an der Seite des Jüngeren und tastete nach dessen Puls. „Schuldig!“ Die flammend roten Wimpern flatterten, und eine kalte, blasse Hand machte ungeschickte Versuche, Brads Berührung zu verhindern. Zu behaupten, dass Brad in diesem Moment ein gesamtes Gebirge vom Herzen fiel, wäre noch untertrieben gewesen. „Schuldig...“ „B...Brad...“ Mühsam hob der Telepath den Kopf und sah seinen Leader an. Die blauen Augen waren verschleiert; offenbar stand er unter starken Beruhigungsmitteln. Ein leises Räuspern riß Crawford aus seinen sorgenerfüllten Gedanken. „Ich habe etwas dringendes zu erledigen. Sie werden mir doch keinen Ärger machen und einfach so mit Ihrem Telepathen abhauen, oder?“ Mißtrauisch beäugte Brad den grinsenden Söldner. „Wie meinen Sie das?“ „Nun ja... Sie würden doch wohl nicht Ihren Telepathen nehmen und ihn jetzt, wo sich in diesem Stockwerk gerade keine Wachen befinden, nach draußen bringen. Noch dazu, wo meine Männer am Ausgang Wache halten und mit einem einfachen Passwort dazu zu bewegen wären, Sie durchzulassen.“ Er legte den Kopf schief. „Nein... das würden Sie nicht tun.“ Damit wandte er sich zum Gehen; in der Tür drehte er sich jedoch noch einmal um. „Je m'en vais chercher un grand peut-être.“ Mit einem nachlässigen Winken verließ er den Raum. Kurz darauf verhallten seine Schritte in den endlosen, unterirdischen Gängen. Zögernd sah der Amerikaner zu Schuldig. Nein, das war keine Falle, jedenfalls nicht, so weit seine Vorausschau es ihm verriet. Aus irgend einem Grund schien der Enkel des Wissenschaftlers ihm tatsächlich helfen zu wollen... Entschlossen wickelte er den zitternden Telepathen in das dünne weiße Laken, mit dem man ihn notdürftig zugedeckt hatte, und hob ihn auf seine Arme. „Hm...?“ „Wir gehen jetzt nach Hause, Schuldig.“ Ein schwaches Lächeln verzog die blassen Lippen. „...okay..“ Als er den Deutschen durch die weiße Hölle der Laboratoriumsanlage nach draußen trug, konnte Crawford sich ein humorloses Grinsen nicht verkneifen. Manchmal wiederholte sich die Geschichte eben doch. Aber dieses Mal hatte er sich gefährliche Feinde gemacht. So, wie es aussah, hatte der Krieg gerade begonnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)