A light in the dark von -Raven- ================================================================================ Prolog: -------- Prolog Kälte. Der beißende Geruch nach Desinfektionsmitteln. Weiße, steril wirkende Wände. Nein, das hier war keine "Klinik", so oft die Verantwortlichen auch darauf bestehen mochten. Das hier war ein gottverdammtes Labor. "Guten Tag, Mister Crawford." Irritiert rückte der Amerikaner seine Brille zurecht und musterte sein unvermutet aufgetauchtes, weißbekitteltes Gegenüber. "Dr. Koslowski, nehme ich an?" "Ähm... ja. Der bin ich. Man sagte mir, dass Sie hier sind, um 1398862 mitzunehmen." "Das ist korrekt." Koslowski wischte sich mit einem fleckigen Taschentuch über die Stirn; der Wissenschaftler sonderte eine Flüssigkeitsmenge ab, die einem Feuchtbiotop alle Ehre gemacht hätte. "Sie wissen um die... Besonderheit des Subjekts?" Ein verächtliches, knappes Nicken. "Ein überdurchschnittlich starker Telepath. So weit ich informiert bin, hatten Sie einige Probleme mit ihm." Überraschenderweise schwitzte Koslowski jetzt sogar noch stärker. "Nun... Wenn ich offen sein darf, Mister Crawford: ich halte 1398862 für nicht kontrollierbar. Sind Sie sicher, dass Sie...?" Bradley Crawford, 17 Jahre alt und Musterschüler der Rosenkreuz-Akademie, bedachte ihn mit einem geringschätzigen Blick. "Selbstverständlich." Er hatte sich eingehend mit den Akten aller in Frage kommenden Testsubjekte beschäftigt, die Faktoren einer möglichen Zusammenarbeit mit Hilfe seiner Gabe, der Präkognition, überprüft und sich schließlich für den Jungen mit der Nummer 1398862 entschieden. Hätte er nicht die Möglichkeit einer Kooperation gesehen, hätte er wohl kaum einen derart hohen Betrag aus dem Teamfonds für einen todgeweihten 12jährigen aufgewandt. Ja - wenn er den Jungen nicht mitnahm, würde dieser heute Nacht durch die Giftspritze sterben. Er hatte Rosenkreuz zu viele Ärzte, Trainer und Wissenschaftler gekostet, als dass sie ihm das Leben weiterhin gestatten konnten... es sei denn, jemand bezahlte sie dafür. "Er wird niemals in der Lage sein, in einer normalen Umgebung zu leben. Er ist viel zu stark. Die Gedanken der Menschen würden ihn über kurz oder lang in den Wahnsinn treiben - und dann wird er unweigerlich Amok laufen." Ihr hättet ihm vielleicht beibringen sollen, mentale Schilde zu errichten. "Bringen Sie mich zu ihm." "Mister Crawford, ich muss Sie ausdrücklich darauf hinweisen..." Brads ohnehin schon zum Zerreißen gespannter Geduldsfaden riss. "Sofort, Koslowski. SZ bezahlt mich nicht dafür, dass ich mich mit Ihnen unterhalte." Nein. SZ bezahlte ihn für die Zusammenstellung eines einsatzfähigen Teams von PSI-Begabten. Crawford, einer der wenigen im Feld einsetzbaren Prägkognitiven, die Rosenkreuz je hervorgebracht hatte, war sich der Verantwortung dieser Aufgabe durchaus bewusst, und er wusste auch um die Konsequenzen, die ein Fehlschlag mit sich bringen würde. Man konnte über Crawford sagen, was man wollte - er hing an seinem Leben. "Sicher. Ganz, wie Sie meinen." Während er dem Älteren durch die grellweißen und chromblitzenden Gänge folgte, erlaubte der Amerikaner seinen Gedanken, zu seiner eigenen Zeit in diesen Laboratorien zu wandern. Stunden über Stunden in kalten Räumen, angeschlossen an Dutzende von hochempfindlichen Geräten... Immer und immer wieder die Aufforderung, seine Voraussicht noch weiter zu strapazieren. "Was siehst du, wenn du noch eine Stunde weiter in die Zukunft gehst?" Höllische Kopfschmerzen. Ohnmachten. Und immer wieder die selbe Frage. "Was siehst du?" "Wir sind da." Der Wissenschaftler wies auf eine vom Boden bis zur Decke reichende Panzerglasscheibe, durch die man freien Blick auf einen quadratischen, weißen Raum mit gepolsterten Wänden hatte. "1398862 kann uns nicht sehen; auf seiner Seite ist die Scheibe verspiegelt. Für einige meiner Mitarbeiter hat sich direkter Augenkontakt mit dem Subjekt als tödlich erwiesen, daher diese Vorsichtsmaßnahme." "Verstehe." Fasziniert trat Crawford näher an die Scheibe. Ein wilder roter Haarschopf über einem blassen, spitzen Gesichtchen. Weit aufgerissene Augen... 1398862 kauerte in einer Ecke, die Knie an die Brust gezogen, unbewegt ins Leere starrend. "Wir mussten ihn sedieren... mit Hilfe eines Betäubungsgewehrs, versteht sich. Niemand wagt sich näher als notwendig an ihn heran." Ein dünnes Lächeln nistete sich in den Mundwinkeln des jungen Agenten ein. "Lassen Sie mich zu ihm." "Guten Tag. Mein Name ist Bradley Crawford. " Keine Reaktion. "Hey. Ich rede mit dir." Wie in Zeitlupe hob der magere Junge den Kopf; ein dünner Speichelfaden lief aus seinem Mundwinkel. Zwecklos. Der Kleine ist am Ende. Es wäre für alle Beteiligten das sinnvollste, ihn einschläfern zu lassen. "Sieh mich an", befahl Brad ihm mit einem Hauch von Ungeduld. Seine Bemühungen durften nicht umsonst gewesen sein! Er hatte eine Menge Geld, das nicht einmal ihm gehörte, für das Leben dieses erbärmlichen Geschöpfs gezahlt... und außerdem hatte ihn seine Gabe noch nie fehlgeleitet, seit er vor anderthalb Jahren die Akademie verlassen hatte. "Ich habe gesagt, du sollst mich ansehen." Unglaublich blaue, verschleiert wirkende Augen fokussierten sich mühsam auf sein Gesicht. "Sehr gut", lobte der Amerikaner. Erleichtert bemerkte er, wie sich der Junge mit einer fahrigen Bewegung den Speichel vom Kinn wischte. Irgendwo da drin ist wohl doch noch ein Funken Leben. "Wie heißt du?" "...13...9...88..62..." Armes Ding. "Erinnerst du dich an deine Eltern?" "...Serie 13... Testreihe 9... Gruppe 88... Versuchsleiter Dr. Maginot..." Die Stimme des Jungen war heiser und gebrochen. Du hast sehr viel geschrieen, nicht wahr? Gegen seinen Willen spürte Brad so etwas wie Mitleid mit diesem geschundenen Kind. Kein guter Einstieg, wenn der Junge ihn als Autorität akzeptieren sollte. Rasch ließ er seinen Blick über den schmächtigen, nur teilweise von einem blutbefleckten Krankenhaushemd bedeckten Körper wandern. Feuerrote, mit Blut und anderen, undefinierbaren Substanzen verklebte Haare. Schmale Schultern. Knochige, mit Blutergüssen übersäte Arme. Viel zu dünne Beine. Wider besseres Wissen sah er tief in die Augen seines Gegenübers. Er wusste nicht, was er erwartet hatte: Einen sofortigen Angriff? Eine Panikreaktion? Statt dessen erwiderte 1398862 seinen Blick beinahe fragend; in den blauen Abgründen fand Brad genug Schmerz für zwei Leben. Reiß' dich zusammen! "Du weißt, dass sie dich heute abend töten werden?" Ein kaum wahrnehmbares Nicken. "Möchtest du sterben, 1398862?" Eine schmale, bleiche Hand spielte abwesend mit einer verfilzten Haarsträhne. "...ich... weiß nicht..." Natürlich nicht. Nicht, so lange die Alternative noch schlimmer sein könnte. "Du hast jetzt die Wahl. Du kannst hier sterben - oder du kannst mit mir kommen. Ich bin von einer Organisation mit dem Namen SZ beauftragt worden, ein Team von PSI-Begabten zusammenzustellen. Meiner Ansicht nach bist du hervorragend dafür geeignet. Ich will ehrlich zu dir sein - es wird nicht immer angenehm sein. Du wirst lernen müssen, auf Befehl zu töten. Wenn du körperlich und mental stabil genug bist, werde ich dich hierher zurückschicken..." Entsetztes Zusammenzucken. Sehr gut. Er begreift die Zusammenhänge. "Keine Angst. Du musst dann nicht wieder ins Labor. Rosenkreuz betreibt eine Schule für Leute mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Ich möchte, dass du lernst, mit deiner Gabe umzugehen... und dass du lernst, dich abzuschirmen." "...keine Stimmen mehr...?" "Nur noch, wenn du es zulässt." Die kühle, zerbrechliche Hand schob sich in seine. "...Stille..." "Ja." Ehe Brad ausweichen konnte, hatte sich das zierliche Wesen an seinen Hals geworfen, klammerte sich wie ein Ertrinkender an ihn und begann, haltlos zu weinen. "Hey... Ist doch gut..." Nein. Nichts ist gut. Du spielst ein verdammt mieses Spiel, Crawford... Hilflos strich der junge Amerikaner über den schmalen, bebenden Rücken. "Shhhh... Ganz ruhig... Sag mir nur, ob du mit mir kommen willst." "...ja..." Sanft löste er sich aus dem Klammergriff; 1398862 blieb regungslos vor ihm auf dem Boden sitzen und beobachtete ihn aus tränenerfüllten Augen, als er sein Jackett abstreifte. Das Pistolenholster schien den Jungen nicht weiter zu beeindrucken - er hatte wohl schon zu oft Kontakt mit den hiesigen Sicherheitsleuten gehabt. Vorsichtig senkte Brad seine psychischen Schilde ein wenig und gestattete dem Telepathen damit begrenzten Zugriff auf seine Gedanken. "Versprichst du mir, niemanden anzugreifen, wenn wir gleich hier herausgehen?" Eine zaghafte mentale Berührung. "Sie sind so laut... sie machen mir Angst..." "Bin ich auch laut?" "Nein..." Kein Wunder. Er hatte hart trainiert, um seine Schilde zu vervollkommnen. "Ich werde dich von ihnen abschirmen. Du wirst sie höchstens noch als Flüstern wahrnehmen. Hältst du das aus?" Der kleine Rotschopf schniefte; Brad reichte ihm ein Taschentuch, was ihm einen erstaunten Blick einbrachte. "Putz dir die Nase", befahl er nicht unfreundlich. "Wenn du Amok läufst, nutzt du mir nichts. Hast du deine Fähigkeiten so weit unter Kontrolle, dass du mir versprechen kannst, nicht alles zu töten, was sich hier bewegt?" "...ja..." "Sehr gut." Mit einer Sanftheit, die ihn selbst überraschte, hüllte Crawford sein zitterndes Gegenüber in das viel zu große Kleidungsstück und erhob sich. "Komm", sagte er leise. Das Kind versuchte, ebenfalls aufzustehen, war aber zu schwach. Die dünnen Beine knickten unter dem mageren Körper weg wie Streichhölzer, und Brad konnte "seinen" Telepathen gerade noch rechtzeitig auffangen. "...Entschuldigung..." Was haben sie nur mit ihm gemacht? "Schon in Ordnung. Lass uns gehen." Im Vorraum wurden sie von einem aufgebrachten Dr. Koslowski erwartet. "Das war absolut verantwortungslos, Crawford! Sie können doch nicht..." "Sie sehen doch, dass ich kann. Ich nehme den Jungen jetzt mit. Vielen Dank für Ihre Kooperation." "Das kann ich nicht zulassen! Sie gefährden das Leben meiner Mitarbeiter! Wir müssen das Subjekt zuerst ruhigstellen, bevor..." "Er wird niemanden angreifen. Er hat es mir versprochen." Je wütender er wurde, desto mehr glich der Wissenschaftler einer aufgeblasenen Kröte. "Humbug! Niemand hat es geschafft, in den vergangenen zwei Jahren mit 1398862 zu kommunizieren! Ich weiß nicht, was Sie da für einen Hokuspokus veranstaltet haben, aber damit kommen Sie nicht durch! Selbst wenn SZ Sie schickt..." Brad verdrehte entnervt die Augen. "Okay. Ihn darfst du töten." Vermutlich war der Mann bereits tot, als er auf dem Boden aufschlug, aus Augen, Mund und Nase blutend. "Saubere Arbeit", kommentierte Crawford, gegen seinen Willen beeindruckt. Der Telepath antwortete nicht; er schlang lediglich die Arme fester um den Hals des Älteren und verbarg sein Gesicht an dessen Schulter. "Weißt du was?" Aufmunternd fuhr der Amerikaner durch die wirren roten Haare. "Ich glaube, wir werden uns gut verstehen." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)