POKEMON- Carry´s Reise von parapluie ================================================================================ Kapitel 1: Nix Bergsteigen! --------------------------- In dem er sich langsam einen Weg durch den Himmel suchte, zart durch einzelne Cirruswolken stieß und in seiner Erhabenheit wohl ein göttlicher Hüter hätte sein können, lag er in der Höhe und schien dort zu verweilen. Dann aber, so plötzlich wie ein Blitz, brach er ab und stürzte in die Tiefe, prallte auf die Erdoberfläche und erhob sich wieder empor zu den Göttern. Es war der Wind, der die Nebelschwaden dieser frühen Stunden bezwang und der zu dieser Jahreszeit doch recht kühl schien. "...komm und schnapp sie dir, komm und schnapp sie dir...Pokemon!" Carry schaltete ihren MP3-Player aus und fuhr sich mit der Hand durch ihr langes, schwarzes Haar um Ordnung hinein zu bekommen, doch der Wind meinte es wohl nicht gut mit ihr. Mit einem starken Lüftchen warf er ihr geschickt die Frisur nach vorne über den Kopf, hob ihren Rock von hinten an und strich in seiner Kälte über die entblößten Oberschenkel des Mädchens. Carry fröstelte es so sehr, dass sie fast schon theatralisch ein lautes "Brrrr!" hervorbrachte und sich über sich selbst ärgerte. "Im März einen Minirock zu tragen", zischte sie, "auf diese bescheuerte Idee komme auch nur ich!" Das es März war, war ihr heute morgen beim Ankleiden durchaus bewusst gewesen, doch sie wollte diesen Rock (und nichts anderes) unbedingt an ihrem Ehrentag tragen. Ein Faltenrock in strahlend roter Farbe und einem schwarz-weiß-karierten Schottenmuster, der an dessen Saum auch noch mit kleinen, weißen Rüschen verziert war. Dieser Rock war nun leider schon so alt, das er gewisse Mängel in Stoffqualität und Festigkeit aufwies und leicht zu beschädigen war. Abgesehen von ein paar Löchern, Aufnähern (für die besonders großen Löcher) und Nähten (für Löcher an ungünstigen Stellen, für die sich Aufnäher nicht rentieren würden), war der Rock eigentlich noch ganz annehmbar (fand Carry zumindest). Außen Stehende hätten Carry´s Lieblingskleidungsstück zwar nicht als Putzlappen fürs Klo benutzt, aber vielleicht doch auf unschöne Art und Weise zweckentfremdet. Carry selbst hätte das allerdings niemand zumuten wollen, denn was ihr Äußeres anbelangt, war sie eine Schönheit. Ihr langes, schwarzes Haar fiel gelockt auf ihre zarten Schultern und machte ihre blasse Haut zu Porzellan und ihre Lippen zu einem sinnlichen Spiel mit dem Feuer. Ein Feuer, dass Carry bei vielen Menschen männlichen und auch weiblichen Ursprunges entfacht hat und in das so Viele gerne versunken wären. Ihre stechend grünen Augen hielten jedoch Jeden mit lüsternem Blick auf Distanz, denn in ihnen spiegelte sich das Selbstvertrauen und die Dynamik dieses rassigen Mädchens wieder. Carry, 16 Jahre jung und von schlanker Gestalt, blickte auf ihre Armbanduhr. "Halb Acht," dachte sie, "ich glaube ich kann jetzt klingeln.", und so drückte sie den Klingelknopf zur rechten des stählernen Tores, das ein prächtiges Haus moderner Ausstattung von der Außenwelt abschied. Dieses dreistöckige Haus hatte in der Mitte ein Haupthaus und zu seiner linken und rechten Seite seine Flügelhäuser, die geradezu mit riesigen, querliegenden Fenstern übersäht waren. Auf diese Weise war es zwar ein Leichtes einen Blick auf das Innere zu erhaschen ,doch die Flügel waren nur halb so groß wie das Haupthaus in der Mitte und das hatte im Verhältnis dazu recht kleine Fenster. Zudem glaubte Carry, dass sich darin wohl die wichtigen und geheimen Räume befanden, wie zum Beispiel das Versuchslabor (natürlich für positive Zwecke!) oder der Lagerraum der Pokemon von den Ortstrainern. Auf dem Dach des Haupthauses war ringsherum ein hohes Gitter als Zaun aufgestellt worden und sowohl eine riesige Satellitenschüssel, die man schon aus der Ferne sehen konnte, als auch ein Teleskophäuschen lagen dort oben. Außerdem befand sich ein Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach des Haupthauses, da war sich Carry sicher, denn sie hatte das Brummen der Propeller gehört, jedes Mal, wenn ein Hubschrauber mit einer Eilmeldung zu den Pokemonforschern musste. Carry drückte erneut auf den Klingelknopf, da der Professor auf sich warten ließ. "Vielleicht ist es noch zu früh und Professor Kiefer schläft noch.", dachte sie mit einem Mal und blickte sehnsüchtig auf das Haus, dass so früh am Morgen, wie verlassen schien. Sie konnte es dem Professor ja nicht übel nehmen, dass er wohl noch schlief, wo sie doch eine Frühaufsteherin aus Überzeugung und seit 6 Uhr auf den Beinen war. "Morgenstund´ hat Gold im Mund" und "das frühe Taubsi fängt das Raupy" waren ihre ungenierten Lebensmottos. Plötzlich regte sich etwas im Haupthaus. Carry hörte vom Tor aus im Haus etwas klirren und bemerkte an den Fenstern, dass das Licht in dem Raum ganz links im 3.Stock angeschaltet wurde. Ein paar schnelle, ungleichmäßige Schritte polterten die alte Holztreppe lautstark hinunter und nach einen Augenblick Stille knackte der Lautsprecher über dem Klingelknopf am Tor. "H-Hallo? Carry?" Die Stimme von Professor Kiefer ertönte und man merkte deutlich, dass er vom Rennen erschöpft war, denn er schnappte nach Luft. "Ja? Ich bin's.", gab sie zurück, doch ihr war eher zum Gehen zumute, weil sie einen alten, gebrechlichen Mann unfreiwillig zu Anstrengungen gezwungen hatte und das sollte man nicht. Außerdem glaubte sie schon zu wissen, was sie im Inneren erwartete, nämlich eine nette kleine Wanderung zu Gipfel irgendeines hohen Berges. "T-Tut mir Leid," japste er, "ich hab total verschlafen und musste erst noch runterrennen. Komm rein, Carry, ich will dich nicht noch länger warten lassen!" Damit brach er das Gespräch ab, der Lautsprecher knackte erneut und ein Zurren gab zu erkennen, dass das Tor begehbar war. Carry drückte das Stahltor auf und schloss es hinter sich wieder. Dann schritt sie gradewegs auf dem Kiesweg an den kleinen Tannenbäumchen vorbei und blieb schließlich vor der Haustür stehen. "Wieso musste er erst runterrennen?" Das kam ihr Spanisch vor. Sie war öfters bei Professor Kiefer und kannte sein Haus recht gut (abgesehen von dem Dach). "Ich bin mir sicher," überlegte Carry angestrengt, "dass die Wohnung des Professors ganz unten im Erdgeschoss liegt. Hat er nicht gesagt, dass er verschlafen hat? Wieso musste er dann erst runterrennen?" Sie wurde dem Professor gegenüber misstrauisch. "...na egal. Ich bin gespannt, was er von mir will. Gestern hat er gesagt, ich soll heute zu meinem 16. Geburtstag mal vorbeischauen und er hätte alles mit meiner Mutter besprochen." Sie fragte sich, WAS er denn mit ihrer Mutter besprochen hatte, weil diese gestern wie vom Blitz getroffen ihre Tasche gepackt hat und noch einige Besorgungen, wie sie sie nannte, machen musste. Carry hatte selbstverständlich bereits überprüft, was sich in ihrem schwarzen Rucksack, schwer wie ein Relaxo, so alles tummelte. Der genaue(!) Inhalt war: - Kulturtäschchen (mit Zahnbürste und Zahnpasta, einem Stück Seife, sowie Pflastern, Verbänden, Tabletten, Desinfektionsmittel, Schere und anderen Dingen, die Frauen so brauchen;) ) - 2 T-Shirts - 2 Hosen (1Jeans, 1 schwarze Hose) - 3 Paar Socken - 3 mal Unterwäsche (die Weicheste!) - 1 regen- und schneetaugliche Jacke - 1 Paar weiße Winterhandschuhe - 1 dazu passender weißer Schal - 1 Flasche "Softy" Waschmittel (rosa-Blüten-Duft , das Feinste vom Feinen) - 2 Handtücher - Regenschirm - 1 Seil mit Haken (geh ich etwa Bergsteigen?) - ein Schweizer Taschenmesser (das gute, teure Stück meines Vaters) - 1 Feuerzeug - 3 Konservendosen mit undefinierbarem, essbarem Inhalt - 2 Baguettebrötchen - Taschentücher (wenn ich dazu gezwungen werde Berge mit Blasen an den Fersen zu besteigen, dann wein ich wirklich!) - Taschenkalender mit Adressbuch (meine Mutter hat sorgfältig alle Adressen, Telefonnummern und Geburtstage hineingeschrieben, anscheinend verreise ich für längere Zeit) - Geldbeutel mit 10 000 (Pokedollar), Ausweis, Reisepapieren und Geldkarte (die eigene, anders wär's auch zu schön gewesen...) - (und erstaunlicherweise) 1 niegelnagelneuer PokeCom (das Ding hab ich mir so gewünscht, es ist einfach genial! In einem PokeCom befindet sich eine detaillierte Landkarte, die auch die letzten versteckten Ecken anzeigt, ein Handy, das zum Telefonieren, Mails schreiben oder Spielen verwendet werden kann, und ein Digitalradio für Informationen und musikalische Unterhaltung unterwegs.) Carry hatte in ihrem Kopf eine Liste mit allen diesen Dingen aufgestellt und immer wieder durchgerechnet, doch sie kam nur zu dem Schluss, dass sie wohl einer Bergsteigertour beitreten würde und allein der Gedanke lehrte sie das Fürchten. Da öffnete Professor Kiefer die Haustür vor der sie stand und warf ihr mit weit ausgestreckten Armen ein charmantes Lächeln entgegen. "Mädel! Lass dich ansehen!", brach er aus, "Du siehst noch viel erwachsener aus als gestern. Tehehe, Spaß beiseite. Na los, komm rein!" Nachdem er Carry höflich herein gebeten hatte, betrachtete Professor Kiefer sie von Kopf bis Fuß und konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, als er den kleinen, roten Stofffetzen auf ihren Oberschenkeln bemerkte. Ebenfalls nicht verkneifen konnte er sich das zugehörige Kommentar "Na, na, na! Das Outfit ist zu dem Anlass aber unpassend, Carry!", während er sie quer durch seine Wohnung im Erdgeschoss führte und im östlichsten Teil die alte, hölzerne Wendeltreppe hinaufstieg. Bei jedem Schritt gab der alte Holzboden mit einem vernehmlichen Knarzen zu erkennen, dass er alt war. Im obersten Stockwerk angekommen, geleitete der Professor Carry in den Pokemonlagerraum, der an dessen Wänden unzählige Pokebälle ordentlich in dafür vorgesehenen Regalen aufreihte. Neben den Regalen befanden sich einige Computer und Maschinen modernster Ausstattung, die Carry zum Teil noch nie gesehen hatte. Die roten, oberen Hälften der Pokebälle glänzten in der Morgensonne und Carry wollte das Geburtstagsgeschenk von Professor Kiefer, eine Bergsteigertour, da war sie sich jetzt sicher, ansprechen. Sie hatte gerade an den Wänden im Treppenhaus einige ältere Bilder des Professors aufgeschnappt, auf denen er mit Anderen vor der Spitze eines Berges posierte. "Also Professor..."Carry wusste nicht, wie sie Kiefer am schonensten beibringen sollte, dass sie nicht gerade ein Freak von langen Wanderungen war und die Kondition eines Relaxos besaß. "Ja bitte?" Professor Kiefer sagte das so beiläufig wie ein gelangweilter Teenager, obwohl er schon stolze 59 Jahre alt war, sein Gesicht in Falten lag und das blasse Haar auf seinem Kopf allmählich Mangelware wurde. Er ging mit schnellen Schritten zum anderen Ende des Raumes und holte eine Karte aus der Brusttasche des langen, weißen Kittels, den er immer trug. Dann schob er die Karte behutsam in den Schlitz in der Wand und tippte einige Knöpfe der Tastatur darunter. Carry war sich sicher, dass das nicht irgendeine Telefonnummer war, sondern eine Tastenkombination von großer Bedeutung. "Professor Kiefer, ich wollte ihnen mitteilen, dass sie mir mit der Bergsteigertour keinen großen Gefallen tun werden. Es ist unglaublich nett von ihnen, dass sie mir zum Geburtstag etwas schenken wollen, aber das wäre für mich mehr eine Folter, als ein Geschenk. Vielleicht könnten sie das zurücknehmen. Ich verlange von ihnen nichts Großartiges wie dieses zum Geburtstag, denn mir reicht es schon, dass ich sie bei ihrer Arbeit mit den Pokemon beobachten darf. Ich liebe Pokemon über alles. Sie sind wunderbare Geschöpfe, die uns Menschen unterstützen und dieser Welt Atem und Glanz verleihen. Wenn ich es schaffe, möchte ich später mit Pokemon zusammenarbeiten und mehr über sie herausfinden, so wie sie es tun, Professor." Carry sagte das mit klarer, fester Stimme zu Kiefer am anderen Ende des Raumes. Die Worte, von denen sie überzeugter nicht hätte sein können, hallten in dem großen, leeren Zimmer wieder und wurden dadurch in ihrer Bedeutung noch verstärkt. Professor Kiefer gab ein leises Schnaufen von sich und drehte sich zu Carry um. Die Morgensonne fiel nun steil von der Seite in das Zimmer und tauchte Wände, Maschinen und Pokebälle in ein glanzvolles, gelbes Licht. Carry versuchte am Blick des Professors seinen Reaktion auf die Absage zu erkennen, doch es war ihr nicht möglich, er war von der regelrechten Sonnenflut wie verschleiert. Das Licht legte sich auf seine Haut, überlagerte sein Profil und ließ ihn mit seinem Umfeld verschmelzen. Man erkannte ihn nur noch daran, dass sein Körper einen langen, schwarzen Schatten neben sich herzog und so das vollkommende Gelb durchbrach. Der schwarze Schatten bewegte sich langsam auf Carry zu und sie konnte den prüfenden Blick von Kiefer, der auf sie gerichtet war, deutlich spüren. War es denn so schlimm, dass sie sich nicht als Fan hoher Berge oder langer Wanderungen bezeichnen konnte? Carry fing an in stille Panik zu geraten, da die schlurfenden Schritte immer näher kamen und sie nicht wusste, was jetzt passieren würde. Sie faltete die Hände vor ihrer Brust, verbeugte sich leicht und legte dabei ihre Stirn auf die ausgestreckten Fingerspitzen, um ihr Anliegen zu verstärken. Dabei fiel ihr nichts besseres ein, als das, was sie gerade noch gesagt hatte und an das sie gerade noch geglaubt hatte, wieder zu verneinen. Sie musste einfach irgendetwas sagen, sonst wäre sie ausgeflippt. "Es tut mir wirklich Leid, Professor, dass ich das gesagt habe," Die Worte, die sie zu Sätzen zustande brachte, überschlugen sich dabei beinahe selbst und das wirkte nicht sehr glaubhaft. "Ich verhalte mich ihnen gegenüber sehr unsportlich, wo sie sich doch mit dem Arrangieren der Bergsteigertour so viel Mühe gemacht haben, sie haben sogar meine Mutter beauftragt. Ich meine, wenn ihnen so viel daran liegt, dann würde ich natürlich..." "Sag mal bist du bescheuert?", brach Kiefer aus und legte noch ein zischendes Kopfschütteln hinterher. ,,Wer hat dir denn den Mist erzählt, dass du von mir eine Bergsteigertour zum Geburtstag bekommst? Los, komm mal mit!" Er deutete ans andere Ende des Raumes und Carry konnte ein breites Grinsen auf seinem Gesicht erkennen. Sie erkannte es nicht an seinen gelben Zähnen, sondern an den tiefen, schwarzen Falten zu der linken und rechten Seite seines Mundes, angehoben und einen langen Schatten unter sich ausmachend. Während sie nun beide auf das andere Ende des Raumes zugingen, verbreitete sich wohlige Erleichterung in Carry. Sie stieß die heiße Luft aus und saugte die kühle Laboratmosphäre tief in sich ein, als Professor Kiefer schließlich sagte: ,,Weißt du, Carry, ich hab etwas ganz anderes für dich, aber das mit dem Reisen war gar nicht so falsch. Du hast gerade etwas gesagt, was meine Hoffnungen, in dir jemand Fürsorglichen und Ehrgeizigen gefunden zu haben, bestätigt hat. "Er sprach das mit sanfter Stimme, während er erneut die Tastenkombination in die Wand tippte. Carry fiel ein Stein vom Herzen und sie bemerkte jetzt erst, dass die Wand, an der sie standen, keine gewöhnliche Wand war, sondern eine voll elektronische Tür, die sich über die gesamte Fläche einer Zimmerwand hinwegzog. Als Professor Kiefer sein Tun vollendet hatte, zische die sogenannte Wand und gab, indem sie sich in der Mitte teilte, den Durchgang zu einem kleinen, hinteren Abschnitt des Lagerraumes frei. Man sah auf den ersten Blick wieder so ein großes Lagerregal, auf dem einige Pokebälle sorgfältig aufgereiht waren, doch der Inhalt dieser Bälle war von großer Bedeutung, da war Carry sich wieder einmal sicher, da der Professor eigentlich nichts vor anderen bewahrte und alle anderen Pokemon auch in dem zugänglichen Teil des Raumes lagen. Sah man sich etwas genauer in dem kleinen Hinterraum um, konnte man noch einen alten Computer, dunkel, in der Ecke stehend, erkennen und wäre man auch noch so blöd gewesen, spätestens der heruntergelassenen Rollladen hätte jedem klar gemacht, dass hier wichtige Sachen vor der Öffentlichkeit beschützt wurden. Professor Kiefer schritt zu dem Regal und nahm mit ziemlicher Sicherheit erst einen Pokeball, dann einen Zweiten und zuletzt noch einen Dritten aus seiner Halterung, und während Carry begann, sich nach dem Sinn der ganzen Angelegenheit zu fragen, sprach er mit harter Stimme: "Weißt du noch, was an genau diesem Tag vor sechs Jahren passiert ist, Carry?" Er dreht sich um und blickte mit schuldigem Blick auf das Mädchen, dass in längst vergessenen Zeiten schwebte. ,,Ja." Carry wusste es ganz genau. An diesem Tag vor genau sechs Jahren sollte sie die großartige Möglichkeit, ein Pokemontrainer zu werden, bekommen, so wie es der Brauch bei allen 10 Jährigen mit Wille und Verstand verlangte. Sie konnte vor Aufregung in der Nacht davor lange nicht einschlafen und dachte sich die gefährlichsten Abenteuer aus, während sie den Mond durch ihr Fenster betrachtete, der Rucksack fertig gepackt neben ihrem Bett stand und ihre Gedanken vor Spannung und Glück in den Nachthimmel hinausflogen. In ihren Träumen durchzog sie diesen Nachthimmel auf dem Rücken eines riesigen, legendären Vogelpokemons und berührte jeden einzelnen Stern über den Wolken. Sie war angekommen, am Ziel ihrer Träume und Anfang eines anderen Lebens, dass sie hinter diesem Horizont erwartete. Ein Anfang, den sie sich so gewünscht hatte, seit sich denken konnte. Sie wollte weg von ihrem Zuhause in die große Welt hinaus und ein selbstständiger Mensch, der nicht auf seine Eltern angewiesen ist, werden. Diesen Traum von grenzenloser Freiheit wollte sie sich am nächstem Morgen damals erfüllen, indem sie ihre eigene Pokemonreise antrat, doch das Schicksal hatte andere Pläne mit ihr. Als sie am besagten Morgen viel zu spät beim Labor von Professor Kiefer ankam, waren bereits alle Pokemon vergeben und die glücklichen Besitzer entweder auf ihren Geburtstagspartys oder bereits auf dem Weg zum Meister. Sie hatte ihren Wecker unglücklicher Weise überhört und war zum Labor gestürzt, aber Professor Kiefer hatte leider kein einziges Pokemon mehr für Carry übrig. Als er das zu ihr sagen musste, brach ihr Traum augenblicklich in sich zusammen und jedes Abenteuer, dass in ihren Vorstellungen existierte, kullerte als stille Träne über ihre Wangen, denn nach diesem Tag war es nach dem Brauch nicht mehr möglich, die Laufbahn eines Pokemontrainers einzuschlagen. Die kleine Carry ging und weinte unerbitterlich über den zerstörten Traum, der einmal ihr Herz mit Hoffnung erfüllte, doch niemand vermochte ihr zu helfen. Stattdessen zwang man sie ihr altes Leben wieder aufzunehmen. Das strukturierte Gesellschaftsleben, das nur auf Gewinn und Leistung aus ist und jeden dazu zwingt, seine Träume zurückzuschrauben. Dieses Leben der Menschen, die dazu gezwungen werden alle gleich zu sein, dafür belohnt werden und doch nicht glücklich sind, nahm ihr den Atem, denn sie hatte sich niemals darin eingliedern wollen und nun musste sie es. Sie tat es. Die kleine Carry tat wie man ihr befohl und ging wieder in die Schule anstatt durch die verschiedensten Wälder und Höhlen zu ziehen und verbrachte ihre Freizeit mit ihren Freunden und Sport anstatt Pokemonwettbewerbe zu bestreiten. So wurde Carry älter und reifte im Laufe der Jahre zu einem normalen Teenager heran, der es sich nicht einmal erlaubte, zu verschlafen. Ihr Herz jedoch war und blieb schwer von dem Traum, den sie hatte aufgeben müssen. Die Stimme des Professors holte Carry aus ihren Erinnerungen zurück. Sie blicke auf und legte einen Ausdruck von Unverständnis auf ihr Gesicht. "Professor,...warum?", fragte sie kopfschüttelnd. "Weil du mein Geschenk jetzt noch mehr schätzen wirst, als ich es ohnehin schon von dir erwartet habe.", sagte er und schaute ihr tief in die Augen. Dann hielt er ihr die Pokebälle hin und fuhr fort. "Es ist leicht ein Pokemon zu bekommen. Es aufzuziehen und zu trainieren ist umso schwieriger. Machs richtig, Carry. Such dir eins aus." Carry starrte auf die drei glänzenden Pokebälle in den Händen von Professor Kiefer und konnte keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen. Sie bekam ein Pokemon, ein richtiges, eigenes Pokemon zum TRAINIEREN, dass hatte er doch gesagt, oder nicht? Das würde heißen, dass sie durch die Welt ziehen durfte, mit ihrem Pokemon, und Arenaorden sammeln und in der Pokemonliga kämpfen durfte. Mit ihm zusammen in der unendlichen Weite der Prärie unter freiem Himmel übernachten oder am Strand Sandburgen bauen konnte. Plötzlich stand ihr der Himmel wieder offen und er strahlte noch heller, als vor vielen Jahren. Ein Pokemon sollte sie sich aussuchen. Das konnte sie kaum glauben. "Professor!!" rief sie, so überwältigt sie von dieser wunderbaren Überraschung war, warf sich auf ihn und schlang die Arme um den Hals des alten, erschrockenen Mannes, dem die Pokebälle vor Schreck aus der Hand fielen. Diese knallten zu Boden und öffneten sich. Jeder Pokeball gab ein anderes Pokemon frei, das sein Erscheinen sofort mit einem Namensruf bekannt gab. Pokemon sind Wesen, die nicht sprechen können und gewiss auch die menschliche Sprache nicht verstehen. Untereinander kommunizieren sie alle in ihrer eigenen Sprache, doch wir Menschen verstehen nur den Namen ihrer Art. Trotzdem können sich die Menschen und die Pokemon gegenseitig verstehen. Das ist ein weiteres Phänomen in der Welt der Pokemon, dass noch geklärt werden muss. Aus dem ersten Pokeball erschien mit einem hellen Lichtblitz ein kleines, hellgrünes Männchen, dessen Äußeres sich wohl am ehesten mit einem aufrecht gehenden Waldgecko in kuscheltierhafter Ausführung vergleichen ließ. Das Pokemon besaß breite, gelbe Augen mit schwarzen Pupillen und aus dem Blick konnte man etwas berechnendes herauslesen. Während der Gecko mit dem dominanten, dunkelgrünen Schwanz, der größer war, als er selbst, knapp 50 Zentimeter , auf den Boden schlug, kratzte er sich gelangweilt an seinem roten Bauch und kaute auf einem kurzen Stöckchen herum. "Geckarbor" sagte das Pokemon und schaute Carry mit einem stechenden Blick direkt in die Augen. Aus dem zweiten Pokeball hüpfte ein kleines, rotes Küken hervor und kam direkt vor den Füßen von Carry und Professor Kiefer auf. Das 0,4 Meter kleine Pokemon sah vorsichtig an den langen, unbekannten Körpern hoch und als es sich bedroht fühlte, flog es panisch piepsend hinter das Geckarbor. "Fl-Flemmi!" piepste es und blickte beängstigt hinter dem Rücken von Geckarbor hervor. Der dritte Pokeball gab eine süße, blaue Kaulquappe mit Beinen und breiten Flossenarmen frei, die sich erst einmal schüttelte und dann ihre Umgebung interessiert betrachtete. Carry stellte amüsiert fest, dass die Kaulquappe nicht nur eine Flosse auf dem Kopf hatte, sondern sich auch noch zwei weitere Flossen vom Hintern aus entfalteten. "Hydro-Hydropi!" gab die Kaulquappe von sich und blickte auf Carry. Die Wangen des Pokemon waren orange unterlegt und ein paar ebenfalls orangene Zacken ragten aus ihnen heraus. Das Hydropi schaute Carry mit seinen großen, schwarzen Kulleraugen an und ihr fiel auf, dass der Bauch, wie schon bei Geckarbor, eine andere Farbe hatte als der Rest, nämlich weiß und das galt auch für die Hinter(n)flossen. Carry blickte überwältigt auf die Pokemon zu ihren Füßen und es fiel ihr schwer, sich für eines zu entscheiden. "Schwere Wahl, nicht? Aber lass dir Zeit, die Wahl deines Partners ist von großer Bedeutung.", sagte Professor Kiefer, als er ihre hin- und herwandernden Blicke, die sich gar nicht satt sehen konnten, bemerkte und seine (von Carry´s Umarmung) zerquetschten Halsglieder lockerte. "Ich nehme Hyropi.", sagte Carry sofort, entschlossen und ohne Bedenken. "Flemmli hat zu viel Angst vor mir und ist wahrscheinlich auch anderen gegenüber sehr misstrauisch. Das passt nicht zu meiner Abenteuerlust.", entschied sie und versetzte Kiefer mit ihrer Entscheidung ins Staunen. Flemmli fiepte leise hinter dem Rücken von Geckarbor, der Hydropi zuzwinkerte und mit einer lässigen Handbewegung schnipsend auf ihn deutete. "Ja, wenn du Flemmli nicht willst, kann ich das ja verstehen...", sagte Professor Kiefer mit erstaunter Stimme, drückte auf den Knopf von Flemmli´s Pokeball, um ihn zu öffnen, und holte das Feuerküken in seinen Versteck zurück. "...und was ist mit Geckarbor?" Carry wand sich breitgrinsend an den Professor und kicherte. "Tut mir Leid. Geckarbor ist mir einfach zu cool. Zöge ich mit diesem Pokemon durch die Gegend , würde es die gesamte Aufmerksamkeit auf sich ziehen und ich bin ja auch noch da, oder? An Geckarbor kommt niemand heran was die lässige Ausstrahlung angeht, auch ich nicht, und das würde mir, glaub ich, schwer zu schaffen machen. Deswegen Hydropi. Ich hab mich sofort in dieses putzige, kleine Kaulquäpchen mit seinen Flösschen, die aus seinem entzückenden Hinterchen kommen, verliebt." Carry kicherte noch einmal und auch der Professor konnte sich dasselbe aufgrund des letzten Satzes nicht verkneifen. Er holte sowohl Geckarbor, als auch Hydropi in ihre Bälle zurück und gab Carry den Pokeball mit Hydropi. Dann ging er zu dem Lagerregal, von dem er die Pokebälle genommen hatte, legte die anderen Beiden wieder hinein und geleitete die strahlende Carry, nachdem er die elektronische Türwand wieder hinter sich verschlossen hatte, aus dem Stockwerk. Sie stiegen die Holztreppen, die auch dieses Mal nicht still sein konnten, mit knarzenden Schritten hinab und blieben im Flur der Wohnung stehen. "Warte mal, Carry.", sagte Kiefer plötzlich, "Dir fehlt noch etwas, ohne das ich dich nicht gehen lasse." Er hastete davon und Carry sank auf das kleine Schuhregal im Hausflur. Dann betrachtete sie den glänzenden Pokeball mit Hydropi, ihrem eigenen Hydropi, und konnte ihr Glück gar nicht fassen. Sie hatte ihr erstes Pokemon doch noch bekommen, zwar sechs Jahre zu spät, aber besser spät, als nie, oder? Damit brach sie die Tradition, die verlangte, dass Pokemontrainer ihre Reise am zehnten Geburtstag antreten sollten und Carry begann sich ernsthaft zu fragen, wie sie zu der Ehre kam. "So, da bin ich wieder." Professor Kiefer trat auf sie zu und reichte ihr die verschiedensten Dinge, die ein Pokemontrainer so mit sich trägt. "Ich denke, dass das hier bei dir in den richtigen Händen ist. Du kannst es bestimmt gut auf deiner Reise gebrauchen." Er hielt ihr fünf Pokebälle hin, die zum Einfangen anderer Pokemon verwendet werden konnten, einen Pokedex, die elektrische Datenbank mit Informationen über die knapp 400 entdeckten Pokemon, und einen Trainerpass, mit Passbild und Adresse. Diese drei Dinge stellen das bekannte Starterset eines Pokemontrainers dar. Carry bedankte sich für die großzügige Spende und schritt hinaus in die Sonne. "Los, Hydro!" rief sie als erstes und schleuderte den Pokeball auf den Boden. Augenblicklich erschien das kleine, blaue Hydropi und schaute sie verwundert an. "Hydro?", fragte der Professor erstaunt, "dieses Pokemon hießt Hydropi!" "Ich hab es Hydro genannt. Wie den Oberbegriff von Wasser in der Chemie", gab sie ihm zurück und blickte errötet auf ihr Pokemon, das sich darüber zu freuen schien. Das hatte sie in den sechs Jahren in der Schule gelernt. "Gut, ist ja deine Entscheidung. Ich nehme mal an, deine Reise führt dich nun nach Silva City hinter diesen Bergen." Professor Kiefer sagte das, als wollte er Carry endlich loswerden, damit sie ihrer Bestimmung folgen konnte. "Na los, jetzt geh schon! Deine Eltern wollen dich nicht mehr zu Hause sehen, bis du ein erfolgreicher Pokemonmeister geworden bist. Und ich auch nicht. Also komm ja nicht auf die Idee, jetzt noch mal bei ihnen vorbeizuschauen. Aber wenn du Probleme hast, dann kannst du dich immer an mich wenden, musst nur anrufen, hast ja meine Nummer." Carry nahm ihr Hydropi hoch und setzte es sich auf die Schulter, damit das kleine Pokemon nicht die ganze Zeit allein neben ihr herlaufen musste und sie seine Gesellschaft genießen konnte. Dann wand sie sich ab und schritt dem Tag entgegen, doch als sie schon das Tor erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal um und stellte dem Professor lautstark die Frage, die ihr seid eben auf der Zunge brannte. "Warum hab ich eigentlich doch noch ein Pokemon entgegen der Tradition von ihnen bekommen, Professor? Das geht doch gar nicht." "Doch! Das geht, seid ich das beim internationalen Verband der Pokemontrainer beantragt habe.", rief er ihr von der Haustür aus zu und seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter. "Sie werden die alte, ausgeleierte Tradition wegen mir nächste Woche sowieso ändern. Dann darf jeder Jugendliche über zehn Jahren wann immer er will mit dem Training anfangen. Ich konnte deine traurigen Augen, wenn du mir bei der Arbeit zugesehen hast, nicht mehr ertragen, deswegen bin ich auf diese Idee gekommen." Carry konnte aus der Ferne ein breites Grinsen auf dem Gesicht des Professors erkennen und rang sich dann endlich dazu durch, ihren Heimatort Grünberg, mit all seinen Häuschen und Gärten, der innerhalb einer Gebirgskette lag und von vielen Wäldern umschlossen war, zu verlassen. Sie stieg einen steilen Abhang hinauf und blickte noch einmal zurück auf das kleine Städtchen. Dann ging sie auf den angezeigten Bergpass und lief den holprigen Weg bergauf (also doch!!), der sie nach Silva City bringen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)