Out of Kansas von -Raven- ================================================================================ Kapitel 2: Schuldig ------------------- 2: Schuldig Es ist erst halb zwei, doch ich fühle mich, als hätte mich jemand den gesamten Weg von der Disco bis hier an den Haaren hinter sich her geschleift. Irgendwie macht mir das alles keinen Spass mehr - schließlich regst du dich nicht einmal mehr auf. Wütend feuere ich das zerfetzte Tanktop (Dieser verfluchte Idiot! Das Teil war teuer...) in die Ecke, gefolgt von der Lederhose, die du so sehr hasst. Natürlich ist genau das der Grund, warum ich sie trage... Ich greife nach dem T-Shirt, das ich irgendwann einmal aus deinem Wäschekorb entführt habe, und zögere einen Moment. Du hast es nie zurückhaben wollen... wahrscheinlich, weil ich es getragen habe. Der Gedanke tut weh, schmerzt beinahe körperlich. "Scheiße!" Mit dieser zugegeben nicht sehr intelligenten Äußerung ziehe ich mir besagtes Kleidungsstück über den Kopf und mache drei Schritte auf das Bett zu. Im Halbdunkel meines Zimmers wirkt es sehr groß und irgendwie kalt. Ich hasse die Nacht. Ich hasse es, allein zu sein, allein mit meinen Erinnerungen und Gedanken. Natürlich würde ich es niemals zugeben, doch ich fürchte die Dunkelheit. Zu viel Dunkelheit in mir... Okay, es ist also wieder mal eine dieser Nächte. Seufzend trete ich wieder auf den Flur und schleiche mich zu deiner Tür, sorgsam die am lautesten knarrenden Dielenbretter vermeidend. Einen Moment lang verharre ich, lege die Fingerspitzen an das kühle Holz und schließe die Augen. Ich sollte mir das wirklich abgewöhnen... irgendwie ist es peinlich... Und trotzdem betrete ich dein Zimmer. Du sitzt aufrecht im Bett, fast so, als hättest du mich bereits erwartet. Ein guter Witz. Früher hast du dich geärgert, hast mir Vorhaltungen gemacht und mich mit deinen Visionen bespitzelt. Nicht einmal diese Mühe machst du dir mehr... "Braddy? Darf ich bei dir schlafen?" Ich rechne mit einem gereizten "Nenn mich gefälligst Crawford", doch du scheinst heute in einer umgänglichen Stimmung zu sein. Mit einem leisen Seufzen schlägst du die Bettdecke zur Seite. "Komm schon her." Keine Diskussionen mehr heute Abend... ähm, Morgen? Schade eigentlich. Ich mag es, dich aus der Reserve zu locken. Dann musst du dich zur Abwechslung mal mit mir beschäftigen. Immerhin - du lässt mich in dein Bett. Ehe du es dir vielleicht noch anders überlegst, krieche ich zu die unter die Decke und kuschle mich an dich. Dein Körper ist so schön warm, nicht wie meiner, der mir bei meinem letzten Liebhaber den wenig liebevollen Spitznamen "Frostbeule" eingebracht hat. Ich mag deinen Geruch so sehr... ~Für wen hast du dich jetzt wieder zur Hure gemacht, Schuldig?~ Willst du das wirklich wissen? Wohl nicht, sonst hättest du die Frage laut gestellt. Würde es dich interessieren, dass er dir ähnlich gesehen hat? Dass sein Lächeln mich an deines erinnert hat? Ich vermute, eher weniger. Ja, ich könnte tiefer in deine Gedanken vordringen, um herauszufinden, was du von mir hältst. Deine Schilde sind nicht halb so stark, wie du denkst... Doch ich habe es mir abgewöhnt, in deinen Gedanken herumzuschnüffeln. Erstens kostet es mich zu viel Kraft, und zweitens... kommt es mir irgendwie falsch vor. Gerade noch rechtzeitig kann ich ein fast hysterisches Kichern unterdrücken. Rette sich, wer kann - ein gefühlsduseliger Killer. Und dann ist da auch noch Punkt drei: eigentlich will ich gar nicht wissen, wie du über mich denkst. Um noch genauer zu sein... ich habe Angst, die Wahrheit zu erfahren. Verdammt, ja, ich habe Angst. Deine Ruhe ist das einzige, was mich in dieser wirren, lauten Welt bei halbwegs klarem Verstand hält. Das Wissen, dass du mich abstoßend findest, könnte ich nicht verkraften. Dann verstecke ich mich lieber hinter Träumen und Halbwahrheiten. Eine gute Strategie, die wohl auch dazu beigetragen hat, dass ich das Labor überlebt habe. Hätte ich mich damals nicht in meine Traumwelt geflüchtet, wäre ich dort unweigerlich zugrunde gegangen... ~Ich glaube, wir sind nicht mehr in Kansas, Toto.~ Du liebe Güte! Daran denkst du noch? Nach all den Jahren? Erinnerungen werden wach, und unwillkürlich muss ich nun doch lachen. "Du weisst es noch?", erkundige ich mich neugierig. Ein Ausdruck, der beinahe ein Lächeln sein könnte, zieht über dein Gesicht. "Hm." Dieser Mangel an kühlen Bemerkungen kann nur eines bedeuten: auch du wirst wieder einmal von der Vergangenheit eingeholt. Bedeutet sie dir das selbe wie mir? Wohl kaum. Du hast nur einen Auftrag von SZ ausgeführt. Eine simple Sache: du solltest einen Telepathen für dein zukünftiges Team finden. Für mich war es weit mehr, denn an dem Tag, der mein letzter hätte sein sollen... traf ich dich. Zunächst hatte ich Angst vor dir; Leute in weißen Kitteln waren schon schlimm genug, aber Männer in Anzügen bedeuteten unweigerlich nur noch mehr Schmerzen und weitere Tests. Zu meinem großen Erstaunen wurdest du weder laut noch grob. Selbst deine Gedanken waren ruhig wie ein murmelnder Wasserlauf... nicht, dass ich zu diesem Zeitpunkt so etwas schon einmal gesehen hätte. Du warst der erste, für den ich mehr als ein Experiment mit einer Kennnummer war. Dafür bin ich dir noch heute dankbar. "Ja, Schu. Ich weiß es noch." Die beinahe zärtliche Anrede treibt mir unwillkürlich Schauer über den Rücken. Können wir nicht immer so miteinander umgehen? Immerhin haben wir bereits viel zusammen erlebt. Du kennst mich vielleicht besser als ich selbst. Schließlich hast du alles gesehen: meine Tränen, meine Angst, meine Verzweiflung... meinen Zorn, meinen Hass... und meine Resignation, als ich beschloss, dass ich mit dieser Welt und all den Stimmen nicht zurechtkommen würde. Ja, du hast alles gesehen - und doch nie etwas dazu gesagt. In jener Nacht hast du mir das Küchenmesser aus der Hand genommen, mich in mein Bett getragen und mir ein Schlafmittel verabreicht. Wie so oft hast du dann meine Hand gehalten, bis ich eingeschlafen war. Wir haben nie wirklich darüber geredet. So weit ich mich erinnere, war dein einziger Kommentar "Ich lasse dich nicht gehen." Schon, als du mich gerade aus dem Labor geholt hattest, wolltest du mich nicht "gehen" lassen. Es war, als würdest du es als persönliches Versagen ansehen, falls ich es wagen sollte, zu sterben. Wieder muß ich grinsen. "Kontrolljunkie." Hoffentlich begreifst du, dass ich ausnahmsweise einmal nicht auf Streit aus bin. Und tatsächlich fällt deine Antwort erstaunlich friedfertig aus. "Was willst du? Bis jetzt hat uns das noch immer den Hals gerettet." Dem habe ich nichts entgegenzusetzen. "Ja doch, oh großer, allmächtiger Leader." Fast trotzig schmiege ich mich noch etwas dichter an dich. Überrascht spüre ich deine Hand in meinem Haar. "Schlaf jetzt." Mhm... Wenn du noch ein bißchen weiterstreichelst, schlafe ich gleich wirklich ein. Irgendwie ist mir danach zumute, zu schnurren. Es sind diese Momente, die mir die Kraft geben, weiterzuleben. Die Momente, in denen du wieder für mich da bist, so wie früher. In denen ich nicht der nervtötende Telepath für dich bin, sondern einfach... ich. Wir haben uns im Laufe der Jahre beide verändert, und das nicht immer zu unserem Vorteil. Ich habe damals angefangen, gegen dich zu rebellieren, weil ich wollte, dass du nicht mehr das schutzbedürftige Kind in mir siehst, sondern einen Ebenbürtigen. Aber - wie hätte es auch anders sein sollen - ging der Schuss nach hinten los. Du zogst dich von mir zurück und wandest dich statt dessen Nagi zu. Gut, der Kleine brauchte Fürsorge. Aber dass wir uns deswegen so auseinander leben mussten? Je mehr du dich zurückzogst, desto aggressiver wurden meine Methoden. Ein klassischer Teufelskreis. Du weisst meine Arbeit zu schätzen, doch ich will wieder mehr für dich sein als ein funktionelles Element. Wenn ich dir nur sagen könnte, dass du deine Maske für mich nicht tragen musst! Irgendwie ist es ein bisschen wie in dieser Geschichte, die du mir damals vorgelesen hast. Das Kind, dass sich voll auf den großen, mächtigen Zauberer verlassen hat, muss plötzlich feststellen, dass dieser hinter allem Brimborium, mit dem er sich umgibt, nichts weiter als ein Mensch ist. Nein, Brad, du bist für mich schon lange nicht mehr der strahlende Held, der du damals für mich gewesen bist. Ich habe dich mit all deinen Fehlern und Macken kennengelernt - und sie stören mich nicht. Der Mensch, der du wirklich bist, gefällt mir besser als die Fassade. Und so genieße ich diese raren Momente der Nähe. Ich glaube, du brauchst sie auch. Warum sonst würdest du mir immer wieder geduldig aus der Zeitung vorlesen, obwohl du genau weisst, wie sehr mich dieser ganze Kram langweilt? Ich denke, dir ist klar, dass es mir nicht um die Entwicklung des Dow Jones oder die Teebeutelweitwurfmeisterschaft in Wladiwostok geht. Selbst wenn du mir aus dem Telefonbuch vorlesen würdest - ich würde dir noch immer zuhören. Denn ich wüßte genau, dass du es nur für mich tun würdest. Wie üblich, werden wir auch diese Nacht totschweigen. Es ist ein unausgesprochenes Abkommen zwischen uns, niemals über "diese Momente" zu sprechen. Also werde ich beim Frühstück wieder so unausstehlich sein, wie es von mir erwartet wird, und du wirst mir über den Rand deiner "Financial Times" hinweg gelegentlich eisige Blicke zuwerfen. Auch gut. So lange du mich auch in der nächsten Nacht nicht wegschickst... So lange werde ich die Kraft haben, weiterzukämpfen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)