Yuki von Purple_Moon (*Schnee*) ================================================================================ Kapitel 1: Yuki --------------- * * *Yuki* * * "Sieh mal! Es schneit!" "Oh, tatsächlich!" "Wusstest du, dass Schnee ein Symbol für Reinheit ist?" "Hab davon gehört." "Aber wusstest du, dass er noch eine andere Symbolbedeutung hat?" "Echt? Welche?" "Tod." *** "Liebes Tagebuch. Ich habe dir seit einigen Jahren nicht mehr geschrieben, weil ich fand, dass ich kein Kind mehr bin und deshalb mit solchen kindischen Sachen aufhören sollte. Aber es gibt da etwas, das ich niemandem sonst sagen kann. Ich habe *ihn* wieder gesehen." Elisabeth hielt inne uns starrte auf die Seiten eines Buches, dass aussah, als wäre es jahrelang täglich benutzt worden. Sie kam sich ein bisschen albern vor, aber es war eine Tatsache, dass ihr niemand zuhören würde. Also hatte sie angefangen, wieder in ihr Tagebuch zu schreiben, in der Hoffnung, dass sie sich dann besser fühlte. Zumindest stellte das Buch keine Fragen. "Er hat sich überhaupt nicht verändert," schrieb Elisabeth. "Immer noch jung und so wunderhübsch, fast zu schön für einen Mann. Diese grünlich-blauen Augen... Vielleicht hat Dr. Jones Recht und ich habe ihn mir immer nur eingebildet. Er kann nicht wirklich sein. Welcher echte Mann hat langes, fast weißes, blondes Haar, das ihn wie einen Engel aussehen lässt? Einbildung, genau. Muss meine Einbildung sein." Es klopfte an der Tür, und Elisabeth versteckte das Tagebuch schnell unter einem Schreibheft. "Ja?" Ihre Mutter kam herein. "Betty, Schatz. Arbeitest du immer noch? Es ist fast Mitternacht, geh jetzt schlafen." "Nenn mich nicht Betty, Mama. Ich bin sechzehn." Elisabeth gab vor, sich auf den Text in dem Heft zu konzentrieren. "Ich muss das fertig machen, nur noch fünf Minuten." "In Ordnung, Liebling. Gute Nacht." Ihre Mutter küsste sie sachte und ging. Elisabeth wartete, bis sie die Schlafzimmertür ihrer Eltern hörte, ehe sie ihr Schreibheft wegpackte. Sie schrieb weiter: "Er stand vor dem Altersheim, und es schien wieder einmal, als ob ich die Einzige war, die ihn sehen konnte - die Passanten beachteten ihn überhaupt nicht, obwohl es schwierig ist, ihn zu ignorieren. Er ist groß und schlank, immer in eine schwarze Robe gekleidet wie ein Priester. Dieses schimmernde Haar... wie kann man ihn nicht sehen, ihn nicht anstarren? Gott, kann es sein, dass Amors Pfeil mich erwischt hat?" Elisabeth beendete ihren Eintrag und dachte über den letzten Satz nach, während sie das Tagebuch zwischen ihren Schulsachen versteckte. Sie war recht hübsch, überlegte sie. Der Mann konnte sie auch mögen... Hatte sie sich in eine Person verliebt, mit der sie nicht einmal gesprochen hatte? Vielleicht bildete sie ihn sich ein wegen ihrer frustrierenden Erfahrungen mit echten Männern. Aber zum ersten Mal hatte sie ihn als Kind gesehen, als sie sich ganz sicher nicht für Männer interessiert hatte. Warum hatte sie sich dann nicht einen Teddybär eingebildet? Vielleicht bilden Kinder sich keine Teddies ein, wenn sie im Krankenhaus sind und gerade erfahren haben, dass ihre Großmutter gestorben ist. Elisabeth seufzte und schaltete die Schreibtischlampe aus. Sie war schon im Nachthemd und fand den Weg zum Bett leicht, weil eine Straßenlaterne immer durch die dunkelblauen Vorhänge fiel. Ihr Bett war wirklich bequem und warm, aber sie wusste schon bald, dass sie diese Nacht nicht schlafen konnte. Sie hörte das leise Geräusch von leichtem Winterregen. Es war nicht kalt genug für Schnee. Warum war der geheimnisvolle Mann noch immer so jung wie vor zwölf Jahren? Dr. Jones sagte, Kinder erfinden oft aus irgendeinem Grund imaginäre Freunde, und in Elisabeths Fall war es der Verlust ihrer Großmutter, die sie sehr geliebt hatte. Sie hatte den Arzt regelmäßig besucht, fast zwei Jahre lang, ehe sie geheilt worden war. In Wahrheit hatte sie einfach aufgehört, über den Mann zu sprechen, und dann hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Als sie älter wurde, hatte Elisabeth sich gesagt, dass die Person einfach das Produkt des deprimierten Hirns eines traurigen Kindes gewesen war. "Werde ich verrückt?" fragte sie das Halbdunkel. Es stimmte, dass sie nie die Chance gehabt hatte zu beweisen, dass der Mann echt war. Er pflegte jedes Mal zu verschwinden, wenn sie versuchte, sich ihm zu nähern. Zuletzt hatte sie ihn auf der anderen Straßenseite gesehen, und dann war ein Bus vorbeigefahren und der Mann war verschwunden gewesen. Es war frustrierend, nicht genau zu wissen, ob sie geistesgestört war oder nicht. Elisabeth drehte sich im Bett um. Sie sah den Schatten einer kleinen Engelfigur auf dem Regal an der gegenüberliegenden Wand. Sie hatte ihrer Großmutter gehört. Elisabeth sammelte alles über Engel, seit sie diese Figur besaß. Während andere Teenager ihr Zimmer mit Postern ihrer Lieblingsstars voll hängten, hatte sie ihres mit Bildern von Engeln verziert. Sie war auch gut darin, sie selbst zu zeichnen. Aber sie hatte nie den blonden Mann gemalt. Irgendwie... sie wusste nicht warum... sie schaffte es einfach nicht. Sie hatte es zum ersten Mal als Kind versucht, als der Arzt sie darum gebeten hatte, aber das Bild hatte nur einen gewöhnlichen Mann mit langem, blondem Haar gezeigt, der eine schwarze Robe trug. Sie konnte sowieso nicht schlafen, also stand Elisabeth wieder auf, durchquerte das Zimmer und sah aus dem Fenster. Das Haus war still und dunkel, wie die Winternacht da draußen. Die Bäume im Vorgarten waren kahl, die Blumenbeete leer. Alles sah grau und unheimlich aus, sogar das Licht der Straßenlaterne. Eine Katze rannte über die Straße, aber sonst schien dort nichts zu leben. Plötzlich war Elisabeth starr vor Schreck. Etwas bewegte sich vor dem Nachbarhaus. Und sie sah, sehr deutlich im Vorgarten... *ihn*. Er schien von sich aus zu leuchten. Trotz des Regens wehten sein langes Haar und seine Robe ein wenig hinter ihm her, wenn er sich bewegte. Dieses Mal war er nicht allein. Elisabeth traute ihren Augen nicht. Der alte Mr. Harris stand neben ihm und sprach mit ihm! Mr. Harris konnte ihn sehen! Aufgeregt riss Elisabeth das Fenster auf. Dieses Mal würde er nicht entkommen. Sie war sehr gut darin, aus dem Fenster zu klettern, denn sie hatte es oft getan, seit sie laufen konnte. Sie war auch daran gewöhnt, es im Nachthemd zu tun. Der geheimnisvolle Mann und Mr. Harris, der sein Haus ansah, als wäre es das letzte Mal, gingen langsam davon. "Wartet!" rief Elisabeth, während sie auf den Rasen sprang, den der Regen in Matsch verwandelt hatte. "Bitte...!" Sie rutschte aus und stürzte. Schnell stand sie wieder auf... aber die beiden Männer waren verschwunden. Elisabeth rannte auf die Straße, aber keine Seele war draußen bei diesem Wetter. Sie merkte plötzlich, dass sie vollkommen durchnässt und schmutzig war. frierend drehte sie sich zum Haus um. Oben im Schlafzimmer ihrer Eltern brannte Licht, und ihre Mutter stand in der Eingangstür. "Betty! Was zum Teufel machst du da? Du willst dir wohl den Tod holen! Komm rein, beeil dich!" Elisabeth murmelte etwas von Schlafwandeln und gab vor, sich an nichts erinnern zu können. Sie war nicht sicher, was mit ihr passiert war. Halluzinationen? Sie nahm schnell eine warme Dusche, trocknete ihr langes, braunes Haar und zog ein neues Nachthemd über. Sie beschloss, am nächsten Tag nach der Schule Mr. Harris zu besuchen, vielleicht konnte er ihr irgendwie weiterhelfen. Am nächsten Tag jedoch holte ihre Mutter sie von der Schule ab. "Ich werde dich zum Arzt bringen. Du könntest dir heute Nacht eine Erkältung eingefangen haben." "Mama, ich bin in Ordnung. Bring mich einfach nach Hause und ich werde Tee trinken und im Bett bleiben, nur für den Fall, ja?" schlug Elisabeth vor. "Du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen, Schatz," warnte ihre Mutter. "Weißt du was? Mr. Harris ist gestern am späten Abend gestorben. Er war gerade 71, denke ich, und etwas krank in letzter Zeit. Arme Mrs. Harris, sie ist jetzt ganz allein. Vielleicht kann sie zu ihrem Sohn ziehen..." Elisabeth sagte nichts. Sie hatte Mr. Harris gestern Abend gesehen, als er bereits tot gewesen war. Vielleicht irrte sich ihre Mutter und er war später gestorben. Oder vielleicht... Nein. Das war wirklich verrückt. Hatte sie einen Geist gesehen, einen Toten? Und war *er*...?! Der Gedanke hatte eine gewisse Logik. Ich bin geistesgestört, entschied Elisabeth. Aber tief in ihrem Herzen wünschte sie sich verzweifelt, den blonden Mann zu treffen, mit ihm zu reden, ihn... zu lieben... So ein schöner Mann... Ich könnte einfach sterben, dachte sie. Ich könnte irgendein Gift nehmen oder Tabletten. Aber was, wenn ich mich irre? Was, wenn er die ganze Zeit nur ein Traum war, geboren aus der Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen? Und wie würden ihre Eltern empfinden, wenn sie starb? Nun, im Grunde musste sie ja nur abwarten. Ein anderer Winter folgte auf diesen, dann ein weiterer, und ein weiterer, und ein weiterer... "Oma, glaubst du an Engel?" "Ja, Cathy, das tue ich. Siehst du diese Figur? Meine Großmutter hat sie mir gegeben, als ich drei war, kurz bevor sie starb. Nun gebe ich sie dir, mein kleiner Sonnenschein." "Wow, echt? Sie ist schön..." "Ja. Pass gut darauf auf, Cathy." "Das werde ich, Oma, versprochen. Danke." Cathy rannte zu ihrem Vater, der schon am Auto auf sie wartete. "Bis nächsten Samstag!" winkte sie. Elisabeth seufzte glücklich. Sie ging zurück in ihr Haus, das sie von ihren Eltern geerbt hatte. Ihr Haar war jetzt ganz weiß, aber noch lang und schön. Es war wieder Winter geworden. Die Luft war sehr kalt und klar, der Himmel eisblau. Sie zögerte an der Tür, um tief durchzuatmen und das frische Gefühl zu genießen. Elisabeth wohnte wieder in ihrem alten Zimmer, seit vor vier Jahren ihr Mann gestorben war. Das war in Ordnung. Ihre Tochter Sophia war in das Haus gezogen, so dass Elisabeth nicht allein war. Sophia war nicht verheiratet, hatte aber einen zehnjährigen Sohn. Ihr Bruder hatte drei Kinder, zwei Jungen und ein kleines Mädchen, Cathy. Sie besuchten Elisabeth oft. Das Leben hatte es nicht allzu schlecht mit ihr gemeint. Zurück in ihrem Zimmer nahm sie einen alten Karton aus ihrem Schrank. Der Karton war gefüllt mit Büchern, alle Tagebücher, die sie je geschrieben hatte. Sie wählte eines, das sie als Teenager beendet hatte, und las einige Einträge. "Ich habe ihn gestern gesehen, wie er Mr. Harris mitnahm. Mr. Harris ist tot. Ich denke ich weiß, wer *er* ist..." Elisabeth lächelte. Natürlich hätte ihr niemand jemals geglaubt, also hatte sie angefangen, Geschichten über ein Mädchen zu schreiben, das Tote sehen konnte. In den Geschichten konnte das Mädchen auch mit Geistern reden und erlebte deshalb viele Abenteuer zwischen Himmel und Erde. Das Buch war noch immer ein Bestseller. Sophia klopfte an die offene Tür und kam mit einer Tasse Milch herein. "Bitte sehr," sagte sie. "Gehst du schon schlafen, Mutti? Ich sehe mir einen Film an, wenn du mir Gesellschaft leisten möchtest..." "Danke, aber ich bin müde. Ich werde ein bisschen lesen, ehe ich schlafe." "Okay. Dann gute Nacht. Oh... schau, es schneit!" Elisabeth stand auf und sah aus dem Fenster. Es wurde dunkel draußen, aber dicke Schneeflocken fielen nun langsam und still. Bald war der Garten mit einer weißen Schicht bedeckt. Elisabeth lächelte. Es war ruhig und schön. Und sie fühlte inneren Frieden. "Wusstest du, dass Schnee ein Symbol für Reinheit ist?" fragte sie. Sophia antwortete nicht. Elisabeth blickte weiter aus dem Fenster. "So friedlich... es ist auch ein Symbol für etwas anderes..." "Ich weiß," sagte eine sanfte, männliche Stimme. "So... bist du also letztendlich zu mir gekommen," flüsterte Elisabeth. Langsam drehte sie sich um. Er hatte sich überhaupt nicht verändert. Immer noch jung und so wunderhübsch, fast zu schön für einen Mann. Diese grünlich-blauen Augen... Er hatte langes, fast weißes, blondes Haar, das ihn wie einen Engel aussehen ließ. Er war echt. Elisabeth hatte ihn sich niemals nur eingebildet, aber es gibt nur wenige Menschen, die den Tod sehen können. "Ich habe gewartet," klagte sie. Er lächelte. "Wieso? Du wusstest, dass ich kommen würde. Niemand sollte sein Leben damit verbringen, auf *mich* zu warten. Eine Lebenszeit ist viel zu kurz. Und es gibt sowieso kein Entkommen vor mir. Allerdings..." Nun grinste er wie ein Junge. "... ist es nett, von Zeit zu Zeit willkommen zu sein." Elisabeth lachte. "Ich schätze, viele Leute sind überrascht, wenn sie dich treffen. Übrigens, hast du einen Namen?" "Du kannst mich Yuki nennen. Es bedeutet *Schnee*." "Ja, das ist schön. Ein guter Name. Sollen wir dann gehen, Yuki?" "Kein Grund zur Eile." Er bot ihr seinen Arm an. Sie nahm dankbar an und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. Plötzlich waren sie im Freien, ihre Körper warfen blaue Schatten auf den reinen, weißen Schnee. Das einzige Geräusch kam von den Schneeflocken, die alles unter einem Mantel der Stille bedeckten. "Wo gehen wir hin?" fragte Elisabeth. "Überall hin," sagte Yuki. "Dies ist nicht das Ende, sondern ein neuer Anfang." Elisabeth wurde neben ihrem Mann begraben. Sie war 76 Jahre alt geworden. Aber sie war nicht krank gewesen, somit war ihr Tod etwas unerwartet gekommen. "Ich habe noch eine Minute zuvor mit ihr gesprochen, und als ich sagte, es schneit, hat sie nicht mehr geantwortet," schluchzte Sophia. Es war auch sehr schwer für Cathy, die ihre Großmutter sehr geliebt hatte. "Tante Sophie! Wer ist der Mann mit den langen, blonden Haaren da drüben?" fragte das kleine Mädchen plötzlich. Sophia konnte niemanden sehen. "Wo?" "Eine schöne, junge Frau in einem schwarzen Kleid steht neben ihm, sie sieht aus wie Oma auf ihren alten Fotos!" sagte Cathy. Sophia musste lächeln. "Weißt du was, Cathy? Zu Hause werden wir eins von Omas Tagebüchern zusammen lesen, ja? Ich glaube, du hast eine Gabe, genau wie sie..." Ein paar Schritte vom Grab entfernt hob Yuki seine hellen Augenbrauen. "Scheint in jeder zweiten Generation der Frauen in deiner Familie aufzutreten. Faszinierend... Also, wo willst du als nächstes hin?" "Wo immer du hingehst," entschied Elisabeth. "Ist mir recht," lächelte er. Und als sie gingen, begann es zu schneien. Ende... nein, ein neuer Anfang. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)