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Liebe, Leid und Leben

Mamorus Jugend
von

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VORWORT DES AUTORS
 

Widmungen: (der Fairness halber alphabetisch geordnet)
 

Cherubin: Danke für Deine super FFs! Und ich danke Dir, dass Du immer so schnuffelig zu mir bist!
 

Furu: Es macht wahnsinnigen Spaß mit Dir im RPG! Für Dich (und natürlich, weil es schlicht und ergreifend gut gepasst hat) hab ich Motoki mit in der Story! Sei von mir totgeflauscht! Und nochmals danke, dass Du meine Fragen beantwortet hast!
 

Kaguya: Auch Dir möchte ich diese Geschichte widmen. Du bist eine tolle Freundin, und Du hast mir viel geholfen, und hast mir vieles beigebracht. Dafür bin ich wahnsinnig dankbar.^^ Und natürlich danke ich auch für die tollen Mangas!^^
 

Rally-Vincento: Ganz besonders Dir widme ich diese Story, denn Du hast mich durch Deine FF zum Schreiben inspiriert. Es tut mir in der Seele weh, dass ich in der nächsten Zeit nicht mehr von Dir hören werde. Es tut mir Leid, dass es so kommen musste. Ich hoffe nur, Du findest Deinen Weg zu mir und zum Animexx zurück! Fühl Dich von mir geknuddelt, meine Rally-chan!!!
 

Man vergebe mir bitte, dass der sonst so erwachsene, verantwortungsbewusste, herzensgute Mamoru, so wie wir alle ihn kennen und lieben, in dieser Story leicht "out of Character" geraten ist, aber in Anbetracht dessen, was die Hormone der Pubertät doch alles in einem menschlichen Gehirn vernebeln können, ist womöglich verständlich, dass Mamoru, in dieser Geschichte etwas mehr als sechzehn Jahre alt, sich dann und wann ein wenig daneben benimmt. Ich hoffe, ich war nichts desto trotz in der Lage, seine grundlegenden persönlichen Eigenschaften, die ihn zu einem einzigartigen Individuum machen, beibehalten zu können. Sollte mir dies dennoch nicht gelungen sein, so bitte ich erneut vielmals um Vergebung, aber gegebenenfalls ist es einfach situationsbedingt unumgänglich.

Außerdem werde ich von nun an versuchen, nicht mehr ganz so hochtrabend zu klingen. Sorry, so bin ich halt.^^
 

"..." = gesagt

<...> = gedacht

Text = extrem betont
 

Diese Geschichte besteht zum Teil aus dem Anime, zum Teil aus dem Manga. Einige Aspekte musste ich mir zurechtlegen und selbst ausdenken. Die Figuren Mamoru Chiba, Motoki Furuhata, Unazuki Furuhata und Usagi Tsukino, als auch der Silberkristall und einige Infos der Backgroundstory sind Eigentum von Naoko Takeuchi, alle anderen Charaktere sind meiner Feder entsprungen.
 

Kleiner Tipp am Rande: Ich bemühe mich darum, nicht zu viele Charaktere einzufügen. Womöglich ist es dennoch angenehmer, sich eine Liste mit den aufgeführten Namen der Charaktere zu machen, um auch wirklich den Überblick zu behalten.

Achtung: Namen schreibe ich wie in Deutschland üblich, also zuerst den Vornamen und dann den Nachnamen!
 

Für Verbesserungsvorschläge und sogar für Rechtschreibkorrekturen bin ich offen und dankbar!
 

Danke an Euch alle fürs reinschauen!
 

Nun also zur Story:
 


 


 

LIEBE, LEID UND LEBEN

MAMORUS JUGEND
 

Kapitel 1
 

Überall Farben, helle Lichtblitze, Schemen. Dann dieser goldene Schimmer. Blondes Haar. Langes, blondes Haar. Und dazwischen diese sanfte, engelsgleiche Frauenstimme:

"Finde ihn. Bitte, Du musst ihn finden! Suche den Heiligen Silberkristall!"

...

Mit einem Ruck wachte Mamoru auf. Weißes, gleißendes Licht blendete seine verschlafenen Augen. Stöhnend hielt er sich die Hände vor sein Gesicht, um sich vor der Helligkeit zu schützen.

"Morgen, Kleiner! Aufstehen, Du musst zur Schule!"

Die Tür aufreißen, erbarmungslos das Licht einschalten, rufen, und dann wieder in der Küche verschwinden. So weckte ihn seine Tante Kioku jeden Morgen auf, und das schon seit ungefähr einer Dekade.

<Ja> dachte sich Mamoru gerade. <So lange sind meine Eltern schon tot. Leider.>

Noch immer trauerte er dem Verlust hinterher. Er kannte sie praktisch nur von Fotos und Erzählungen. Er selbst hatte seine Erinnerungen an sie verloren. Seit sie nicht mehr lebten, wohnte er bei seiner Tante Kioku und seinem Onkel Seigi, dem Bruder seines Vaters.

Seigi arbeitete als kleiner Büroangestellter in einer mittelgroßen Firma. Er musste jeden Morgen schon früh außer Haus und kam Nachmittags, manchmal auch erst spät Abends heim. Kioku hingegen war schlichte Hausfrau. Bevor Mamoru zu ihnen gezogen war, hatte sie etwas gekellnert, aber nun hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, ihren einzigen Neffen zu beaufsichtigen, als sei er ihr eigenes Kind. Sie konnte keine Kinder bekommen, und so war sie sehr froh, dass sie Mamoru um sich hatte. Auch, wenn die Umstände, unter denen er zu ihr und ihrem Mann gekommen war, wirklich nur mit einem Wort zu beschreiben waren: bemitleidenswert.

"Was ist? Steh endlich auf!", tönte es durch die offene Tür herein.

"Ja", antwortete Mamoru laut.

"Verdammt", presste er danach leise durch geschlossene Zahnreihen. Er rieb sich die Augen, stand auf, streckte sich, und schloss erst mal die Tür zu seinem Zimmer, damit er sich ungestört umziehen konnte.
 

Wenig später ließ er seine Schultasche neben den Esstisch fallen und setzte sich. Kioku hatte ihm schon ein Frühstück bereitet, und er bediente sich. Es schmeckte wie immer fantastisch, doch Mamoru hatte irgendwie schlechte Laune und kaute lustlos herum.

"Beeil Dich, Kurzer. Du hast schon ne Menge Zeit vertrödelt", meinte Kioku, während sie einige Utensilien zur Spüle brachte, um sie abzuwaschen. Sie nannte Mamoru oft "Kleiner" oder "Kurzer", obwohl er sie schon um gut einen Kopf überragte. Und er steckte immer noch im Wachstum.

"Du solltest langsam mal lernen, aufzustehen, wenn ich Dich rufe", belehrte ihn seine Tante. "Immerhin bist Du schon 16 Jahre alt."

"Fast sechzehn ein halb", nuschelte Mamoru kauend.

Kioku grinste. "Kannst es nicht erwarten, erwachsen zu werden, wie?"

"Will selbstständig sein. Will ausziehen. Will ne eigene Wohnung", motzte er rum.

"Ich sag Dir was, Kurzer: bleib so lange hier wie Du nur kannst. Die Welt da draußen ist groß und gefährlich", hielt Kioku wieder ihren berühmten Vortrag. "Hier geht's Dir gut, warum willst Du das wegwerfen?"

"Damit ich mir keine Vorträge mehr über die große, gefährliche Welt anhören muss", seufzte Mamoru während er aufstand, um sein Geschirr abzuräumen. Er hatte nicht sehr viel gegessen, ihm war einfach nicht danach.

"Und wer kocht für Dich und macht Dir Deine Wäsche?" Na toll. Kiokus liebstes Argument.

"Ich selber."

"Na, das will ich sehen. Beweis mir hier zu Hause, dass Du das kannst, und dann reden wir weiter", antwortete Kioku schnippisch.

"Ich hab Dich auch lieb", meinte Mamoru sarkastisch und würgte damit das Gespräch ab. Wie eh und je stand es unentschieden. Wahrscheinlich würde es ewig so bleiben, so kam es Mamoru zumindest vor. Er drückte seiner Tante ein Küsschen auf die Wange.

"Ich muss jetzt los. Bin schon spät dran. Mach's gut."

Mit diesen Worten packte er seine Tasche, verließ die Küche, lief den Gang der großen Wohnung entlang, zog sich in der Eingangshalle Jacke und Schuhe an und verließ das Haus. Kioku kam zu spät, als sie ihm das vergessene Lunchpaket und einen dicken Schal nachbringen wollte.
 

Es schneite erbärmlich, als Mamoru auf dem Weg zur Schule war. Überall lagen noch immer ausgebrannte Böllerhülsen herum, obwohl Silvester schon eine Weile her war. Mamoru kickte eine dieser Hülsen vor sich her, während er in Gedanken versank.

<Wer ist dieses Mädchen, das ich immer wieder in meinen Träumen sehe? Und was zum Teufel ist der Silberkristall? Wo soll ich danach suchen?>

Mamoru sah die Bewegung erst, als es schon zu spät war. Er knallte gegen etwas, fiel, und landete mit dem Hintern auf dem schneebedeckten Boden.

"Oh, das tut mir Leid", meinte er, richtete erst dann seinen Blick auf denjenigen, den er angerempelt hatte... und erstarrte. Geschmeidig wie ein Panther drehte sich der große Junge zu ihm um und starrte Mamoru mit finstrem Blick an.

"Du, Chiba?"

Es handelte sich um keinen geringeren als Chikara Shizen. Chikara war der wohl sportlichste Kerl der ganzen Stufe... und wahrscheinlich auch etlicher Stufen darüber. Allein aus seinen gewaltigen Muskeln könnte man einen ganzen, neuen Mamoru fertigen. Die extrem kurzen, blonden Haare ließen ihn wirken, als sei er Soldat, und sein hartes, kantiges Geschicht unterstrich das noch. Er war noch dazu gut einen Kopf größer als Mamoru.

Dieser saß übrigens immer noch reglos im Schnee und starrte sein hochgewachsenes Gegenüber an.

"Es sollte Dir besser WIRKLICH Leid tun, Chiba. Ich hab's nicht gern, wenn man mir Scheiße auf die Nase bindet. Also?"

Ganz offensichtlich erwartete Chikara etwas Besonderes.

Und genauso offensichtlich wusste Mamoru nicht, was das genau war.

Jedenfalls stand er endlich auf, klopfte sich den Schnee aus den Klamotten und meinte schließlich: "Es tut mir wirklich, wirklich Leid, Chikara. Ehrlich!"

Der große Blonde packte den kleineren Schwarzhaarigen am Kragen und zog ihn nah an sein Gesicht ran. Der Griff war stahlhart, und selbst, als sich Mamoru auf die Zehenspitzen stellte, um die gewaltige Höhe auszugleichen, wurde sein Hals immer noch etwas zugedrückt. Chikara war so nahe heran, dass Mamoru sein Spiegelbild in den grauen Augen des Blonden sehen konnte. In diesem Spiegel wirkte sein Gesicht schneeweiß. Endlose Sekunden verstrichen scheinbar völlig bewegungslos.

Dann lockerte Chikara den Griff wieder. "Bäh, Du bist es nicht wert."

Mamoru wurde leicht nach hinten geschubst. Das heißt, für Chikara war es nur ein leichter Schubs. Immerhin reichte es, um Mamoru ein paar Schritte rückwärts taumeln zu lassen, auf der Suche nach seinem Gleichgewicht. Derweil hatte Chikara sich schon umgedreht und war weitergegangen.

Erleichtert seufzte Mamoru. Er hatte es nie gewagt, sich mit Chikara anzulegen, und er wollte es dabei belassen. Trotz seines jahrelangen Karatetrainings.

Er fühlte eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen, und nun, da er aus seinen Gedanken gerissen war, wurde ihm die eisige Kälte wieder bewusst, die ihn umgab.

Er sah auf seine Uhr. Der Zwischenfall hatte erstaunlich wenig Zeit gekostet. Mamoru konnte es noch gut schaffen, rechtzeitig in der Schule zu sein. Auch, wenn er jetzt natürlich einen etwas längeren Umweg einschlagen würde, um nicht den selben Weg wie Chikara gehen zu müssen. Eine solche Begegnung an einem Tag reichte völlig.

"Ich hasse Montage", raunte Mamoru seinem Nebensitzer und besten Freund Motoki zu, als endlich die Schulglocke zur Pause klingelte.

"Mach Dir nichts draus, Du bist damit nicht allein auf dieser Welt", antwortete dieser gut aufgelegt. Daraufhin verdrehte Mamoru nur die Augen und legte resigniert den Kopf auf den Tisch.

"Du bist heute zu nichts zu gebrauchen, mag das sein?", meinte Motoki kichernd. Er erhielt darauf nur ein Brummen.

"Und woran liegt es?"

Stille.

"Sehr gesprächig bist Du grade nicht."

"Gut beobachtet, Sherlock Holmes", nuschelte Mamoru vor sich hin.

Motoki gab sich endlich zufrieden und blätterte in seinem Kalender herum, solange Mamoru noch vor Selbstmitleid zerfloss. So verging bestimmt eine Minute ereignislos, bis ein lautes Krachen Mamoru dazu nötigte, den Kopf zu heben, die Augen zu öffnen und sich zu orientieren. Er war mit einem Schlag hellwach, als er realisierte, was da für dieses Geräusch verantwortlich gewesen war: vor seinem Tisch kniete Hikari Kage, das wohl schönste Mädchen des Universums, und sammelte die Stifte ein, die zusammen mit ihrem Mäppchen runtergefallen waren. Mamoru sprang auf (was Motoki schier zu Tode erschreckte) und stürzte sich regelrecht auf die Stifte, um Hikari zu helfen. Mit jedem Stift, den er aufhob (IHRE Stifte! Er hielt tatsächlich IHRE Stifte in seiner Hand! Was für ein Segen!) warf er einen kurzen Blick auf Hikari. Das lange, pechschwarze Haar floss wie ein Wasserfall aus dunkelster Tinte über den Boden. Ihre wunderschönen grünen Augen glänzten und funkelten wie Smaragde. Mamoru bedauerte, dass die langweilige graue Schuluniform mit den weinroten Ärmeln ihr etwas von ihrer starken, geheimnisvollen Aura nahm. Sie wäre bestimmt noch tausendmal hübscher ohne Uniform. Ohne...?

Mamoru wurde rot bei diesem Gedanken. Nur gut, dass er auf den Boden schaute, während er weiterhin Stifte (ja, IHRE Stifte) aufsammelte, sonst hätte wohl jeder seine Gesichtsfarbe bemerkt.

Nur noch ein Stift lag auf dem Boden herum. Der Dunkelgrüne, dessen Farbe beinahe so intensiv war wie Hikaris Augen. Aber eben nur beinahe. Mamoru griff beherzt danach. Gerade da schloss sich Hikaris Hand darum, und Mamoru, der nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte, ergriff sie mit der seinen. Er fühlte die zarte Haut, die zerbrechlichen Finger, die sanfte Wärme. Er glaubte sogar, ihren Herzschlag spüren zu können; ein gleichmäßiges und kräftiges Pulsieren ging von seinen Fingerspitzen über seine Nerven genau in sein Gehirn und verankerte sich dort. Mamoru starrte fasziniert ihre Fingernägel an: sie waren dunkelblau lackiert. Eine Farbe, die wunderbar mit ihrer Augenfarbe harmonisierte.

Sein Blick wanderte an ihrer Hand hoch, über ihren Arm hinweg, machte einen ganz kurzen Halt an ihren wohlgeformten Brüsten, erhob sich dann weiter, an ihrem zierlichen Hals entlang und blieb schlussendlich an diesen smaragdfarbenen Augen hängen. Sie sah ihm direkt in seine!

Mamoru schluckte heftig. Sein Herz pochte wie wild und das Blut schoss ihm nur so in die Wangen.

Graziös und überirdisch schön wirkte sie, fast wie von einer anderen Welt, als sie Luft in ihre Lungen sog, und dann den Mund öffnete, diesen wunderschönen Mund mit dem sanften, erdbeerfarbenen Lipgloss, um mit ihm, Mamoru, zu reden:

"Würdest Du mich auch irgendwann wieder loslassen?"

"Oh, ähm, ...natürlich", stotterte Mamoru und zog die Hand schleunigst wieder zurück.

"Ääh, hier, Deine Stifte." Leicht zitternd hielt er ihr etwa die Hälfte ihres Mäppchens entgegen.

Sie blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, nahm die Stifte entgegen, meinte "Danke" und setzte sich zurück an ihren Platz.

Wie auf Wolken schwebte Mamoru auf seinen Stuhl zurück und seufzte tief.

"Sie hat tolle Brüste, nicht wahr?", flüsterte ihm Motoki zu.

"Wie bitte???", meinte Mamoru entsetzt und starrte seinen Freund ungläubig an.

"Tu nicht so. Ich weiß genau, wo Du hingeschaut hast. Bist ja ein richtiger Kavalier", antwortete Motoki mit einem Augenzwinkern.

"Wie kommst Du darauf? Mann, Du redest nur Scheiße", tat Mamoru es ab, während die rote Farbe auf seinen Wangen wieder leicht zunahm.

Mit allwissendem Geschichtsausdruck sah Motoki ihn von der Seite an. "Gib's doch zu: Du bist verliebt."

"Himmel und Hölle, verdammt nein!"

"Oh, doch! Und wie!"

Nun, Motoki hatte Recht. Hikari war vor etwa vier Monaten in die Klasse gekommen, und Mamoru hatte sich schon im aller ersten Augenblick verknallt. Er hatte sich aber nie an sie herangetraut, und das hatte einen besonderen Grund...

"Uh-oh!", machte Motoki, "da kommt Ärger."

"Was? Wie?" Mamoru hatte viel zu spät bemerkt, dass Chikara auf ihn zugestürmt gekommen war. Geschmeidig, und mit der Grazie und Geschwindigkeit eines Panthers. Nun fühlte sich der arme Junge erneut hochgerissen und scharf angestarrt.

"Was zum Teufel suchst Du bei meiner Freundin?", fragte der Blonde, in bedrohlich ruhigem Tonfall.

"Ich, äh, hab ihr bloß geholfen. Wirklich!" Mamoru versuchte, sich dem Griff zu entwinden. Es blieb bei dem Versuch.

"Niemand... nähert sich ihr. Verstanden? Niemand!" Das letzte Wort hatte Chikara ausgespieen, wie eine Kobra ihr Gift.

Mamoru hatte nur eine Chance, das wusste er: er musste cool bleiben und die Nerven bewahren.

Er wollte gleichgültig klingen. Er schaffte es nicht wirklich so ganz: "Wäre es Dir lieber gewesen, sie wäre auf dem Boden herumgekrochen? Ich denke, da ist es Dir dann doch lieber, wenn ich so höflich bin, und ihr etwas..."

"zur Hand gehe" wollte er sagen, aber das ließ er dann doch besser.

"...helfe" beendete er kläglich den Satz.

Chikara knurrte wie ein Wolf. "Hör zu, Chiba. Wenn ich Dich noch einmal bei ihr erwische, mach ich Dich kalt."

"Nun hör schon auf, Chikara. Lass ihn endlich", ertönte Hikaris engelsgleiche Stimme.

Brummelnd ließ Chikara Mamoru los. Er wandte sich zu Hikari um und umarmte sie. Sie gingen zusammen zu den Fenstern, und Chikara redete auf Hikari ein. Mamoru konnte nicht wirklich viel verstehen, er hörte nur so was raus wie "dieser Schwächling", "kann nix, hat nix, is nix" und "gnade ihm Gott".

Motoki stieß einen kurzen Pfiff aus. "Mein lieber Scholli, Du hast grad ganz schön Schwein gehabt. Ich dachte schon, der nimmt Dich auseinander."

"Ach, und Du hättest Dir Popkorn besorgt und Chikara angefeuert? Oder hättest Du Dich eventuell irgendwann einmal dazu bequemt, mir..."

"...zur Hand zu gehen?", unterbrach ihn Motoki grinsend, dem wohl der selbe Gedanke durch den Kopf gegangen war, wie Mamoru vorhin.

Mamoru verspürte die fast unbändige Lust, seinem besten Freund eine Kopfnuss zu verpassen, doch gerade da klingelte erneut die Schulglocke, und Frau Hanabira, die ewig pünktliche Englischlehrerin, betrat den Raum. Sie war total in Ordnung, fand Mamoru. Sie war klein und flink, noch ziemlich jung für eine Lehrerin, und mit ihr konnte man sich gerne auch mal einen Spaß erlauben. Mamoru hatte ganz besonders großen Respekt vor ihr, weil er wusste, dass auch sie Karate trainierte, und einige Stufen über ihm war.

Motoki lehnte sich zu Mamoru rüber und flüsterte: "Und Du bist doch in Hikari verknallt."

Mamoru verdrehte die Augen. "Fängst Du schon wieder damit an?"

"Jedenfalls war es schlau von Dir, diesen Mantel anzubehalten", meinte Motoki geheimnisvoll.

"Was soll das schon wieder? Du weißt doch genau, dass ich andauernd friere."

"Ja, ja, das würde ich jetzt auch sagen."

"Wovon, zum Teufel, sprichst Du?", fuhr Mamoru ihn an. Er hatte diese Andeutungen satt.

"Sagen wir so", grinsend suchte Motoki nach den passenden Worten, "mit dem Mantel hat man das knapp unter Deiner Gürtellinie für eine Falte halten können. Ohne den Mantel hätte es ein jeder klar als das identifizieren können, was es tatsächlich war: eine Latte. Ein dicker, fetter Ständer. Oh, Mann. Chikara hätte Dich durch den Fleischwolf gedreht."

Mit offenem Mund starrte Mamoru den von einem Ohr zum nächsten grinsenden Motoki an.

Gerade da wurden sie von Frau Hanabira ermahnt: "He, die beiden Herren auf den billigen Plätzen! Chiba! Furuhata! Würde es Sie sehr stören, wenn ich mit dem Unterricht fortfahre? Danke!"

"Ja, ja, fahr Du nur fort. Weit fort", witzelte Motoki im Flüsterton, als sich Frau Hanabira wieder ihrer Arbeit zuwandte.

Mamoru flüsterte ihm zu: "Wer Dich zum Freund hat, der braucht keine Feinde mehr."

Als Antwort erntete er nur ein breiteres Grinsen.

"Find ich auch. Feinde hast Du genug", meinte Motoki mit Seitenblick auf Chikara.

"Musst Du mich dauernd an ihn erinnern?", stöhnte Mamoru leise vor sich hin.

"CHIBA!", so riss ihn die Lehrerin aus dem Gespräch.

"Was?", fragte er überrascht.

"Was! Das heißt nicht ,was'! Wie sagt man da richtig?"

"Hä?" Mamoru wusste ganz genau zu sagen, was Frau Hanabira von ihm verlangte, nämlich ein simples "Wie bitte?", aber so konnte er immerhin einige Trümpfe ausspielen und sich Sympathie-Boni in der Klasse sammeln. Er wurde auch prompt mit heiterem Gelächter belohnt.

Frau Hanabira schlug theatralisch die Hände über dem Kopf zusammen.

"Meine Nerven", murmelte sie, "würden Sie bitte einfach nur meine Frage beantworten?"

"Die hab ich jetzt akustisch nicht verstanden, tut mir leid." Das war immer noch besser, als zuzugeben, dass er nicht aufgepasst hatte. Das hatte Frau Hanabira aber offensichtlich mitbekommen, wie man ihrem schmunzelnden Gesichtsausdruck ablesen konnte. "Hätten Sie die übergroße Güte, sie noch mal zu wiederholen?"

"Ich würde gerne wissen, was ,übertreiben' heißt", versuchte es Frau Hanabira noch mal.

"Das ist, wenn man zuviel macht", kam Mamorus Antwort wie aus der Pistole geschossen.

Erneutes Gelächter.

"Ich will keine Definition, ich will wissen, was es auf Englisch heißt."

"Also, wenn Sie das schon nicht wissen..."

Doch Mamoru merkte, dass es genug war mit dem Spaß, und so antwortete er endlich:

",Übertreiben' heißt ,exaggerate'."

"Korrekt", meinte Frau Hanabira und atmete gekünstelt auf. "Geht doch."

"Ach, hier bist Du! Ich hab Dich schon überall gesucht!", meinte Motoki, als er angestapft kam. Mamoru machte sich nicht mal die Mühe, ihn anzusehen. Er blickte gedankenverloren den Schnee an, der stetig vom Himmel fiel. Sein Körper zitterte jämmerlich, doch er gab sich Mühe, es zu ignorieren.

Motoki störte es wenig, keine Antwort zu bekommen, dazu kannte er Mamoru schon zu lange. Mit einem leichten Schulterzucken ließ er sich neben Mamoru auf der Bank nieder, platzierte sein Lunchpaket auf seinem Schoß und begann, es auszupacken.

Noch immer reagierte Mamoru nicht. Nicht mal, als Motoki mit seiner Hand vor Mamorus Gesicht rumfuchtelte. Ein weiteres Schulterzucken später biss er herzhaft in sein Reisbällchen hinein.

Dann wurde die Stille von einem lauten Knurren durchbrochen.

"Mensch, Mamo! Dasch klingt ja, alsch hättescht Du einen Schäbeltschantiger verschluckt", nuschelte Motoki mit vollen Backen.

"Vergiss es", brummelte Mamoru.

Motoki reichte ihm eines seiner Reisbällchen hin und lächelte verständnisvoll.

"Ich sagte: Vergiss es! Ich will ni..."

Ein weiteres lautes Knurren.

Kurzes Zögern.

Dann packte Mamoru doch zu und ließ es sich schmecken. Motoki saß daneben und sah vergnügt zu. Sosehr er Mamoru auch manchmal mit seinem Sarkasmus auf die Nerven ging, die beiden waren und blieben immer die besten Freunde. Motoki schien immer genau zu wissen, was mit Mamoru los war.

Und umgekehrt.

"Was tust Du eigentlich hier draußen?", fragte Motoki nach einer Weile des Schweigens.

"Wusstest Du das nicht? Ich bin ein verzauberter Wetterfrosch. Immer, wenn es schneit, zieht es mich nach draußen. Und dann warte ich auf meine Schneeprinzessin, die mich küsst und in einen mächtigen Hexer verwandelt. Oder was dachtest Du?", meinte Mamoru sarkastisch.

"Ach, und ich hab Dich immer für Schneewittchen gehalten", lachte Motoki. "Schnee... -wittchen? Schnee? Du verstehst?"

Eins zu null für den Blonden.

"Und jetzt mal raus mit der Sprache: was tust Du hier? Ich weiß doch genau, dass Du die Kälte mehr als alles hasst", sagte Motoki daraufhin ernst.

<Na, klar! Ich werd Dir auf die Nase binden, dass ich seit dem Tod meiner Eltern jede Nacht den gleichen Traum habe. Wieder und wieder. Und dass ich den Heiligen Silberkristall suchen soll, der mir mein Erinnerungsvermögen zurückzugeben vermag. Und Du verstehst das natürlich und lachst mich auch nicht aus deswegen.>

Als Mamoru keine Antwort gab, knuffte ihn Motoki in die Seite und fragte: "Suchst Du etwa nach Hikari?"

"Bitte?", fuhr ihn Mamoru an, "bist Du geisteskrank? Ich hab nicht das geringste Interesse daran, mich noch mal mit Chikara anzulegen. Der wischt den Boden mit mir auf!"

Motoki sah an seinem besten Freund herunter. "Stimmt. Deine Muskeln sind mehr als dürftig. Tu was dagegen!"

Er wollte den Schwarzhaarigen nur aufziehen. Motoki wusste genau, dass Mamoru schon seit langem im Karate war, und dass er, Motoki, haushoch unterlegen war. Ihm war aber außerdem bekannt, dass Chikara regelmäßig im Fitnessstudio war und sogar gleich mehrere Kampfsportarten beherrschte. Dagegen war Mamoru nur ein armes Waisenkind. ...Ok, das war er sowieso.

"Lieber keine Muskeln als eine so hässliche Fresse wie Deine", funkelte Mamoru seinen Freund an.

Eins zu eins Gleichstand.

"Lieber eine hässliche Fresse, als das Pech, Chikara zum Feind zu haben", antwortete Motoki.

Zwei zu eins.

"Ich hasse Dich, Furuhata", brummelte Mamoru.

Darauf hielt Motoki ihm ein weiteres Reisbällchen unter die Nase. "Da! Trostpreis."

Wiederwillig nahm Mamoru das Geschenk entgegen und biss hinein.

"Beeil Dich", meinte Motoki mit einem Blick auf seine Armbanduhr, "wir müssen gleich wieder rein. Was haben wir eigentlich als nächstes?"

Mamoru verdrehte wieder die Augen, als er antwortete: "Musik."

Er hasste dieses Fach über alle Maßen. Er war ein "musikalischer Analphabet", wie er sich selbst gerne bezeichnete. Er hatte es irgendwie geschafft, sich erfolgreich jedwedem musikalischen Lernstoff zu entziehen. Nicht mal die Noten konnte er lesen, und das war schon Stoff der Grundschule gewesen. Musik war pures Auswendiglernen - Mamoru sah darin weder eine Logik, noch die Möglichkeit zur eigenen Kreativität. Er konnte zwar richtig gut singen, aber das hatte dummerweise nichts mit Beethoven zu tun.

"Sei wacker, mein getreuer Kampfgefährte", lachte Motoki, "selbst so unmusikalische Nachttöpfe wie Du können sich dem grausamen Schicksal nicht entziehen."
 

Mit ganzer Kraft schlug Herr Arashi, der Musiklehrer, auf den Deckel seines Klaviers. Eigentlich wollte er auf diese Art und Weise für Ruhe sorgen, aber das störte so ziemlich gar keinen. Erst, als seine imposante Bassstimme den Raum erfüllte, die da brüllte: "HE! Leute! Es reicht, nu kommen Sie endlich zur Ruhe!", breitete sich ein Schweigen über die Schüler.

"Na, das wurde aber auch Zeit, wurde es das. So, willkommen zu meinem Unterricht. Mit stolz geschwelgter Brust darf ich ankündigen, dass Suiren Chishiki sich freiwillig gemeldet hat, uns heute ein Referat über Beethoven zu halten. Chishiki? Darf ich bitten?"

Suiren, die Klassenbeste, suchte in Windeseile ihre Utensilien zusammen, während sich Herr Arashi gemütlich auf den Weg in den hinteren Teil des Raumes machte, um sich dort an einem freien Tisch niederzulassen und seine Notizblätter auszubreiten. Selbstverständlich wählte er den einen bewussten Tisch hinter dem von Mamoru und Motoki. Diese Handlung hatte einen präservativen Hintergrund; war doch längst bekannt, dass die beiden des Öfteren nur Blödsinn im Schädel hatten. So konnte Herr Arashi sie besser im Auge behalten, was den beiden pubertierenden Jugendlichen selbstredend so gar nicht behagte.

Suiren war inzwischen bereit. Sie hatte ein doch relativ dickes Päckchen von Karteikarten in der Hand, von dem sie im Zweifelsfalle Daten und Fakten ablesen konnte. Was sie natürlich, wie schon so oft, kaum nötig hatte. Unter Zuhilfenahme von Folien und dem Projektor hielt sie ihren Vortrag über Beethoven, seine Biographie und seine bedeutendsten Werke.

Obwohl Suiren berühmt war für ihre übersichtlichen und ausführlichen Handouts, forderte Herr Arashi dennoch eigenständiges Mitschreiben wichtiger Information. Zur Übung, wie er es begründete.

So erfuhren die Schüler, dass Beethoven mit vollem Namen "Ludwig van Beethoven" hieß, am 17.12.1770 in einer deutschen Stadt namens "Bonn" getauft wurde, und am 26.3.1827 im österreichischen "Wien" starb. Er war kurzzeitig Mozarts Schüler, bildete sich aber später auch bei Haydn, Schenk und anderen Komponisten weiter, um dann 1795 in Wien mit eigenen Werken aufzutreten. Sein Gehörleiden setzte 1795 ein und 1818 war er völlig taub.

Von diesen Fakten abgesehen notierte man sich noch dies und das, dazu noch die Namen einiger seiner berühmtesten Werke, und nach ungefähr einer Viertelstunde wurde Suirens Vortrag mit Beifall quittiert.

Mit einem Seufzer sammelte Herr Arashi seine Notizen zusammen, ging wieder nach vorne zu seinem geliebten Klavier, dass er gerne zum Pult umfunktionierte, als sich Shôgai meldete.

"Ja, Yorokobi? Ist das ne Frage zum Referat?", fragte Herr Arashi.

"Nein, eigentlich nicht", meinte Shôgai Yorokobi leicht verlegen, "darf ich mal für kleine Musiker?"

"Ja, verpissen Sie sich", entgegnete Herr Arashi.

Mit breitem Grinsen auf den Lippen und von lautem Gelächter begleitet trabte Shôgai davon.

Daraufhin meldete sich Odayaka Suimin, der Klassenclown, zu Wort: "Herr Arashi?"

"Sagen Sie jetzt bitte nicht, Sie wollen das selbe fragen", brummte der Musiklehrer.

"Nein", wiedersprach Odayaka, "nicht das selbe. Sondern das gleiche."

Der beliebte Runninggag von Odayaka. Um das selbe sagen zu können, müsste er schon Shôgai persönlich sein. Er konnte höchstens das gleiche sagen, also den gleichen Wortlaut verwenden. Die meisten Menschen störten sich nicht an diesem Unterschied und nutzten diese beiden Worte als Synonyme für einander. Und genau diese schlechte Angewohnheit bot den perfekten Angriffspunkt für Odayaka.

Augenrollend machte Herr Arashi eine Handbewegung zur Tür hin und entließ den Komiker damit.

Als nächstes gaben die Schüler ein Feedback für Suirens Vortrag, während ihr Handout ausgeteilt wurde. Wie man es schon von ihr gewohnt war, gab es nur sehr wenige Punkte am Referat zu bemängeln, der größte Teil des Feedbacks bestand aus positiver Kritik.

"Man kann sich das gar nicht vorstellen", meinte Herr Arashi gerade, "dass er tatsächlich in der Lage war, Lieder zu schreiben ohne dabei etwas zu hören! Beethoven war Jahre lang, gar Jahrzehnte lang gehörlos. Er hatte die phänomenale Fähigkeit, sich die Lieder vorzustellen, deren Noten er aufschrieb. Und das hat dann sogar richtig gut geklungen. Ich hab passend dazu etwas vorbereitet."

Während er zur HiFi-Anlage ging, um seine Hörspielkassette einzulegen, kamen gerade Shôgai und Odayaka vom Klo zurück und setzten sich rasch auf ihre Plätze.

Anfängliche technische Schwierigkeiten zögerten das Musikvergnügen leicht heraus, was die Klasse dazu nötigte, in Gespräche und Gemurmel zu verfallen. Was sich auch dann nicht legte, als endlich Beethovens ach so wundervolle Musik aus den Boxen der Anlage tönte. Herr Arashi bemühte sich vergebens um Ruhe. Als es ihm dann doch zu bunt wurde, brüllte er laut in die Klasse: "Mann! Immer redet einer während meinem Vorspiel! Ich kann das nicht leiden, ich steh auf Vorspiele!"

Nach kurzem Gelächter beruhigte sich die versammelte Mannschaft schnell wieder. Musik erklang, eine sanfte Atmosphäre entstand, und gelangweilt gähnte Mamoru, als er Odayaka und Shôgai beim Kartenspielen zuschaute. Shôgai schien zu gewinnen. Mamoru kannte das Spiel nicht, aber es sah hoch kompliziert aus.

Das Musikstück dauerte nur wenige Minuten an, wurde dann allmählich von Herrn Arashi leiser gedreht und dann endgültig aus gemacht.

"Was treiben Sie beide eigentlich da?", fragte er Shôgai und Odayaka.

"Kartenspielen. Sieht man doch", war Odayakas Antwort.

"Und wie kommen Sie dazu, das in meinem Unterricht zu tun? Noch dazu in meinem persönlichen Lieblingsvorspiel???", bohrte der Lehrer weiter.

"Na ja", erklärte Shôgai geduldig, während er auf die HiFi-Anlage wies, "das da ist doch immerhin eine Hörspielkassette. Also eine Kassette, bei der man gleichzeitig hören und spielen kann."

"Wissen Sie was?", meinte Herr Arashi in drohendem Unterton, "machen Sie so weiter, und Sie dürfen schauen, ob die Tür von außen auch weiß ist!"

Von Neuem brach allgemeine Heiterkeit aus. Herr Arashi wartete mehr oder weniger geduldig einige Augenblicke ab, damit wieder Ruhe einkehren konnte.

"Also", so fuhr er endlich mit dem Unterrichtsstoff fort, "man merkt klar und deutlich, dass Beethoven schlicht und ergreifend ein atemberaubendes Genie war. Es ist mehr als nur unglaublich, wie Beethoven taub komponierte..."

"...und Sie ohne jegliches Wissen Musik unterrichten...", wurde er von Motoki unterbrochen.

"Na, wundertoll", seufzte Herr Arashi, "noch so'n Komiker."

Mit einem Schulterzucken ließ er es aber dabei beruhen. In seinen knapp 25 Jahren Dienstzeit als Lehrer war er schon so einiges gewohnt.

"Jedenfalls", so nahm Herr Arashi die Thematik von vorhin wieder auf, "ist Beethovens Musik nicht nur für die wunderbare Vielfältigkeit bekannt, berühmt und begehrt, sondern auch das harmonische Zusammenspiel der Instrumente passte haargenau zusammen. Ist einer von Ihnen besonders musikalisch veranlagt? Chiba?"

"Hä? Was?", fragte Mamoru, aus seinen schönen Tagträumen hochgeschreckt.

"Was spielen Sie?", fragte Herr Arashi.

Darauf Mamorus Antwort: "Fußball!"

<Was zum Teufel ist der Silberkristall?>, fragte sich Mamoru schon zum wiederholten Male an diesem Tag. Sollte man wirklich auf das blöde Geschwätz eines Traumes Wert legen? Aber andererseits handelte es sich dabei um einen ständig wiederkehrenden Traum. Das musste doch was zu bedeuten haben. Oder?

Per Definition Sigmund Freuds ist ein Traum nichts weiter als zu verarbeitende Körperreize, Tageserlebnisse, Kindheitserinnerungen, Wünsche und Konflikte. Eigentlich, so Mamorus persönliche Meinung, ist man nicht dazu in der Lage, etwas zu träumen, dass man nicht aus der Realität kennt. Und Mamoru kannte auf jeden Fall keinen Silberkristall, der in der Lage war, verlorene Erinnerungen zurück zu bringen. Nicht mal Fantasy-Romane kannten so einen Blödsinn!

<Es wird sich alles aufklären, sobald ich ihn gefunden habe.>

Mamoru schüttelte leicht den Kopf. Dieser Gedanke setzte automatisch voraus, dass es den Silberkristall faktisch gab! Wenn es zumindest einen Beweis gäbe; eine Spur, einen Zeitungsartikel, irgendwas! Doch da war nichts. Mamoru hatte schon viel Zeit in der Bibliothek verbracht. Hatte Bücher über Edelsteine gelesen, hatte sich Fachliteratur über Kristalle angeeignet, war sogar mal resigniert in die Märchenabteilung gelaufen - nichts! Absolut nichts!

<Wieso tu ich mir das eigentlich an? Es macht meine Eltern auch nicht mehr lebendig. Wenn es diesen verdammten Kristall wirklich gibt, was soll's? Er kann mir womöglich tatsächlich meine Erinnerung geben. Und was mache ich dann damit? In den sechs Jahren vor meinem Unfall wird doch nicht so viel Spannendes gewesen sein.

...Und wenn doch?>

Mamoru blieb unvermittelt stehen und starrte in den Schnee vor sich.

<Was, wenn ich etwas weiß? Etwas Wichtiges? Womöglich habe ich als kleiner Junge ein Verbrechen beobachtet, und dieser Unfall ist nur geschehen, weil man mich loswerden wollte? Wer weiß, vielleicht war das gar kein Unfall?>

Die Welt vor seinem Blick verschwamm, als sich seine Augen mit Tränen füllten. Es hätte vielleicht irgend eine Möglichkeit gegeben, seine Eltern zu retten. Irgend eine!

<Ob es tatsächlich so war oder nicht, kann ich erst wissen, wenn ich den Silberkristall finde!>

Mamoru zog sich einen Handschuh aus und wischte sich die Tränen aus den Augen. Er war wieder fest entschlossen, den Kristall zu suchen und zu finden. Koste es, was es wolle!

Sein Leben lang, oder viel mehr, sein bewusstes Leben lang kämpfte er mit sich selbst, rang mit sich um die Entscheidung, was zu tun sei. Entweder, er würde den Kristall finden, oder... auf ewig weiter mit sich selber kämpfen.

Er zog sich den Handschuh wieder an und lief mit knurrendem Magen weiter. Immerhin war das Frühstück nicht allzu sonderlich reichhaltig gewesen, und Motokis Reisbällchen hatten auch nicht sehr viel geholfen. Außerdem war schon später Nachmittag. So stapfte Mamoru weiter durch den Schnee, erneut in seine Gedanken versunken.

"Ich sag Dir Bescheid, wenn ein Laternenpfahl kommt", erklang plötzlich Motokis Stimme neben Mamorus Ohr. Erschrocken wandte sich dieser um, stolperte prompt über einen kleinen Schneehügel, verlor das Gleichgewicht und plumpste hin. Kopfschüttelnd stand der blonde Freund über ihm und sagte: "Langsam glaube ich, Du bist doch nicht mehr zu retten. Na, hopp! Steh auf!" Er reichte Mamoru seine Hand hin. Doch dieser schlug das Angebot aus und raffte sich aus eigener Kraft hoch. "Was willst Du?"

"Ich dachte nur, ich sollte Deinen Kopf vor Beulen bewahren", grinste Motoki. "Da sind sowieso schon ziemlich viele Hügelchen drauf, findest Du nicht?"

"Warum musst Du nur immer so verflucht ehrlich sein?", regte sich Mamoru auf, als er sich erneut Schnee aus den Klamotten klopfte.

Darauf zuckte Motoki bloß mit den Schultern. "So bin ich eben."

Sie liefen nebeneinander auf dem Gehweg entlang.

"Pffft, Hügelchen...", fing Mamoru wieder an, "Ich hab vielleicht Pickel, aber dafür wirst Du früher Falten haben als ich."

"Na und?", lachte Motoki, "ich als Mann darf so was!"

"Wo siehst Du hier einen Mann, Knabe?", grinste Mamoru.

"Und das aus Deinem Munde?", feixte Motoki zurück, "bezeichnest Du Dich etwa als Weib?"

"Ich hasse Dich immer noch, Furuhata", brummelte Mamoru vor sich hin.

"Tut mir ja Leid, aber da hast Du Dich wirklich selbst reingeritten", antwortete Motoki vergnügt.
 

"Willst Du mit zu mir?", fragte er nach einer Weile. "Meine Eltern haben einige neue Automaten in der Spielhalle. Da ist auch ein Action-Videospiel dabei, das macht riesen Spaß!"

Darauf schüttelte Mamoru den Kopf. "Heute mal nicht. Ich muss dringend nach Hause."

"Warum so eilig? Gibt es irgendwas Besonderes?", wollte Motoki wissen.

"Muss mein Zimmer aufräumen", nuschelte Mamoru vor sich hin.

"Wie?", rief Motoki aus, "Du putzt freiwillig? Ausgerechnet Du? Dass ich nicht lache!"

Mamoru zuckte missmutig mit den Schultern. "Was soll ich denn machen? Ich muss meiner Tante und meinem Onkel unbedingt beweisen, dass ich selbstständig sein kann. Sonst werde ich in hundert Jahren noch bei ihnen leben! Ich hab einfach keinen Bock mehr darauf, andauernd von meiner Tante hören zu müssen, wie groß und gefährlich diese Welt ist."

Motoki nickte verständnisvoll und hakte sich bei Mamoru unter. "Ok, kein Problem, ich helfe Dir."

"Das würdest Du tun?", sagte Mamoru und sah seinem besten Freund aus großen Augen an, "aber... ich muss es allein schaffen. Sonst zählt es nicht."

"Kein Problem", grinste Motoki, "wir machen Arbeitsteilung daraus: Du arbeitest, ich teile. Besser: ich teile ein. Ich sage Dir, was Du tun sollst und so. Das mach ich doch gerne für Dich, brauchst Dich nicht zu bedanken."

Offenen Mundes starrte Mamoru ihn an. "Mistkerl", brummelte er.

"Was sagst Du?", bemerkte Motoki übertrieben theatralisch, "und das zu mir? Deinem besten Freund auf Erden? Deinem einzigen Freund? Ich bin empört!"

Spielerisch schubste Mamoru seinen einzigen Freund auf Erden in den Schnee. Als sich dieser wieder aufrichten wollte, hatte Mamoru längst den Schulranzen hingeworfen, nahm nun Anlauf und sprang auf Motoki. Eine wilde Keilerei hatte begonnen.
 

Vergnügt lachend kamen beide in der Wohnung der Familie Chiba an. Mamoru hatte eine aufgesprungene Lippe, und Motoki blutete etwas aus einem Kratzer über dem linken Auge und würde wohl am nächsten Tag ein paar blaue Flecke haben, aber Derartiges waren die Kerle schon gewohnt. Das geschah ständig. Auf dem Heimweg hatte man sich mit Taschentüchern ausgeholfen und diverse Schrammen mit Schnee gekühlt. Mehr war nicht nötig.

"Willst Du was zu trinken?", bot Mamoru seinem Gast an.

"Cola", antwortete dieser und verschwand bereits in Mamorus Zimmer. Er kannte diese Wohnung fast schon besser als das eigene Zuhause. Seit Jahren schon waren er und Mamoru die dicksten Freunde.

Mamoru brachte eine Flasche Cola und zwei Gläser heran, letztere füllte er direkt mit der süßen braunen Flüssigkeit. Sie stießen an.

"Auf die Freundschaft!", meinte Mamoru.

"Und darauf, dass diese Schlägereien nie ein Ende haben mögen!", bestätigte Motoki und nippte an seinem Getränk. Beide grinsten.

"Wo ist eigentlich Deine Tante?", fragte Motoki beiläufig zwischen zwei Schlucken.

"Keine Ahnung", meinte Mamoru, "vielleicht einkaufen? Aber es ist immerhin die Chance für mich. So kann ich eine Überraschung draus machen. Aber zuallererst...", er lächelte entschuldigend, "will ich was essen. Ich hab einen Bärenhunger. Du auch?"

Motoki nickte freudig grinsend. "Voller Magen und leerer Kopf - was braucht man mehr zum Arbeiten?"

"Muskeln", antwortete Mamoru lachend und verschwand mit Motoki in der Küche, wo sich die beiden Sandwiches zubereiteten.
 

Anstatt Arbeitsteilung nach Motokis Spezialdefinition zu betreiben, hielten sich die beiden schlussendlich doch lieber an die herkömmliche Bedeutung des Begriffes. Anfangs hatte Mamoru zwar immer noch darauf bestanden, es alleine schaffen zu müssen, aber darauf hatte Motoki geantwortet: "Warum? Wir könnten doch auch in eine WG ziehen, oder? So langsam geht mir meine kleine Schwester nämlich auch auf den Senkel. Dann halte ich es doch lieber mit Dir aus. Und dann machen wir doch auch alles zusammen, oder etwa nicht?"

Mamoru gefiel diese Idee. Er wusste, wie nervig seine kleine Schwester Unazuki sein konnte. Sie war immerhin erst zwölf, ein grausiges Alter. Klar, dass Motoki da gerne ausreißen wollte. Und wenn er tatsächlich mit Motoki zusammenziehen konnte, erhöhte sich damit die Chance, tatsächlich wegziehen zu dürfen; wer weiß, ob er überhaupt die Erlaubnis bekommen würde, eine Wohnung allein bewohnen zu dürfen? Obendrein, mit niemandem auf der Welt als Motoki hätte er eine Wohnung lieber geteilt. Außer vielleicht, wenn er doch Hikari eines Tages rumkriegen konnte...

So sah der Plan aus: Mamoru wollte sich zuerst um sein eigenes Zimmer, danach um das Bad kümmern. Währenddessen sollte Motoki die Küche säubern und das Wohnzimmer aufräumen. Dann wollten sie gemeinsam die Wäsche machen; Mamoru sollte am Bügeleisen arbeiten, und Motoki sollte die Wäsche zusammenlegen.

"Das ist ein Klacks! In einer Stunde sind wir damit locker fertig!", so waren sie sich einig.

Denkste!

Nach gut zwei Stunden war kaum die Hälfte dessen, was sie sich vorgenommen hatten, geschafft. Dennoch waren alle beide völlig groggy. Schwitzend und schwer atmend saßen sie im Wohnzimmer und schworen, nie wieder irgend eine Form von Unordnung herbeizuführen. Gerade da kam Kioku nach Hause.

"Mamoru? Bist Du da? Entschuldige bitte, ich hab eine alte Bekannte getroffen und mich rettungslos vertratscht. Ich mach Dir gleich was zu essen, Okay?"

Erst da kam sie im Wohnzimmer an.

Das erste, das sie bemerkte: "Oh, Motoki! Du auch hier?"

Das zweite: "Mamoru, hast Du hier aufgeräumt???"

Die beiden Jungs strahlten von einem Ohr zum andren.

"Ich will ja nicht angeben", meinte Mamoru, und es klang nicht annährend so beiläufig, wie es geplant war, "aber schau Dir mal mein Zimmer an!"

"Ich will genauso wenig angeben", setzte Motoki dazu, "aber die Küche kannst Du Dir auch anschauen, Kioku!"

Tante Kioku stand erst mal regungslos da. Dann kam sie auf Mamoru zugestürmt und legte ihre Hand auf seine Stirn mit den Worten: "Nein, Fieber scheinst Du nicht zu haben... Hast Du irgendwelche Drogen genommen? Ich hab Dir gesagt, Kurzer: kauf kein weißes Zeug in kleinen Tüten, dass Dir irgend ein Kerl auf offener Straße andreht! Die Welt dort draußen ist groß und gefährlich!"

Motoki amüsierte sich königlich, während Mamoru nur mit den Augen rollte und mit knallrotem Gesicht nuschelte: "Mensch, Tante Kioku! Lass das doch jetzt! Ausgerechnet, wenn Motoki da ist. Du blamierst mich."

Darauf lachte Kioku erst mal lauthals und herzte ihren Neffen. "Ich weiß, ich weiß. Image und Coolness sind das wichtigste für Leute in Deinem Alter. Ich danke Euch beiden auch von ganzem Herzen für Eure Bemühungen. Wie wär's, wenn ich Euch jetzt erst mal was Leckeres koche? Habt Ihr Hunger?"

Lautes Gejohle antwortete. Sämtliche durch die Sandwiches angefutterten Kräfte waren längst verbraucht, und Kerle in diesem Entwicklungsstadium brauchten viel Nachschub.

"Mir tut nur Leid", meinte Motoki mit traurigem Blick, als er Kioku in der Küche verschwinden sah, "dass mein Werk nicht etwas länger hält. Kaum bin ich fertig, da wird schon wieder dreckig gemacht. Es ist eine Schande."

Kioku, die das noch gehört hatte, streckte noch mal kurz den Kopf zur Tür raus und antwortete mit einem Zwinkern: "Ja, nicht wahr? Und mit diesem Fass ohne Boden schlage ich mich schon seit Jahren rum. Aber Du siehst doch hoffentlich ein, Motoki, dass es auf jeden Fall nötig ist, alles reinlich zu halten, oder?"

Motoki winkte ab und nickte nur noch erschöpft. "Was auch immer!"
 

Kioku, die eine hervorragende Köchin war, zauberte ein köstliches Sukiyaki auf den Tisch. Vergnügt sah sie dabei zu, wie sich die beiden Jugendlichen die Bäuche voll schlugen. Als sich Motoki schlussendlich zufrieden zurücklehnte, betrachtete Kioku ihn eingehend.

"Was ist mit Deinem Auge passiert?", wollte sie wissen.

"Dasselbe, was mit Mamorus Lippe passiert ist", antwortete dieser grinsend.

Kioku griff nach dem Kinn ihres Neffen und wurde schneeweiß im Gesicht.

"Um Himmels Willen, Kurzer! Wie hast Du denn das geschafft?"

"Er ist dummerweise in meine Faust gelaufen", antwortete Motoki an seiner statt.

"Halt die Klappe", meinte Mamoru mit vollem Mund.

"Was soll ich?", fragte Motoki herausfordernd, wobei er das Kinn reckte und die Fäuste hob, "hast Du noch nicht genug? Komm ruhig her, Du!"

"Nein, lieber nicht", meinte Mamoru und schob sich noch was in den Mund. "Onkel Seigi sagt, ich soll nicht mehr so viele Blutlachen in der Wohnung hinterlassen. Außerdem ist unser Keller sowieso schon voll von Leichen. Gell, Tante Kioku? Wir sollten bald mal wieder ausmisten."

"Schon wieder?", spielte Kioku das Spielchen mit, "Du übertreibst aber auch immer. Wie oft hab ich Dir schon gesagt, dass Du das lassen sollst! Geh endlich mal zum Mafiaboss um die Ecke und sag ihm langsam mal, was aus seinen Leuten geworden ist. Er macht sich bestimmt schon Sorgen."

"Och, nö! Nicht jetzt. Ich geh morgen."

"Das sagst Du schon seit einer Ewigkeit."

Amüsiert verfolgte Motoki dieses Spielchen. So was kannte er von Zuhause nicht. Seine Eltern waren da eher fantasielos.

"Wie auch immer", beendete Mamoru die Reise ins Land der Fantasie, "wir danken wie besessen für dieses tolle Fressen. Wir verziehen uns in mein Zimmer. Mach's gut."

"Einen Moment noch, junger Mann!" Sie wollte eigentlich herrisch klingen, aber das ging in einem Schmunzeln unter. "Wer essen kann, der kann auch abwaschen. Du willst ja eigenständig sein, oder irre ich mich da?"

Zögerlich drehte sich Mamoru zu seiner Tante um und meinte kleinlaut: "Wenn ich eigenständig bin, kann ich mir ja auch selber aussuchen, wann ich abwasche, oder?"

"Falsche Antwort, Kleiner." Kioku schüttelte den Kopf. Mit ausgestrecktem Arm wies sie auf das Spülbecken. "Hopp! Los geht's!"

Resigniert ließ Mamoru den Kopf sinken. "Du bist gemein."

"Die ganze Welt da draußen ist gemein, groß und gefährlich. Daran kann ich auch nichts ändern", antwortete Kioku und drückte ihm die Teller in die Hände. Mit einem Seufzer krempelte er die Ärmel seines Hemdes hoch. Für derartige Arbeit war die Schuluniform eigentlich nicht gedacht.

"Wir könnten jetzt noch Fußball spielen gehen", meinte Motoki mit spitzbübischem Blick auf Mamoru, der die Teller abgewaschen hatte während sich Motoki faul auf das Bett in Mamorus Zimmer gelegt hatte. "Oder wir machen ne Radtour. Und gleich danach putzen wir den Rest vom Haus. Was sagst Du dazu?"

Mamoru zog ihm das Kissen unter dem Kopf hervor und schleuderte es dem Blonden ins Gesicht.

"Du hättest mir ruhig helfen können", sagte er und ließ sich erschöpft in seinen weichen Chefsessel fallen. Das Leder knirschte unter ihm.

"Wozu?", fragte Motoki, "immerhin bist Du derjenige, der selbstständig sein will, oder etwa nicht?"

"Und was war mit Deinem tollen Vorschlag mit der WG?", fragte Mamoru müde.

"Arbeitsteilung", meinte Motoki wie aus der Pistole geschossen.

"Du kannst mich mal", murmelte Mamoru und schloss die Augen.

"Zur Putzfrau machen? Aber das bist Du doch schon", antwortete Motoki.

"Nu hör schon auf, mir alle Wörter im Mund rum zu drehen."

Mamoru war in diesem Punkt nicht mit Motoki auf einer Ebene. Und genau das störte ihn. Er wünschte sich oft, Motokis Schlagfertigkeit zu besitzen. Meist vertröstete er sich einfach mit dem Gedanken, es wohl eines Tages zu können.

Eine ganze Weile lag tiefe Ruhe im Raum. Doch dann durchbrach Motoki die Stille:

"Was willst Du eigentlich tun?"

"Ich kann keine Gedanken lesen. Du wirst mir schon sagen müssen, wovon Du sprichst", sagte Mamoru, immer noch mit geschlossenen Augen.

"Wegen Chikara", meinte Motoki in selbstverständlichem Ton.

"Was soll ich da groß tun? Ich werd ihm natürlich in den Arsch kriechen und hoffen, dass er mich leben lässt. Is doch klar. Oder hast Du nen besseren Vorschlag?", antwortete Mamoru.

"Wehr Dich", antwortete Motoki ganz sachlich und simpel.

Mamoru nickte. "Klar doch. Ich sag Dir Bescheid, sobald ich aussehe wie eine Mischung aus Arnold Schwarzenegger und Jackie Chan."

"Da hast Du aber ganz schön was zu tun. Jackie Chan hat nicht so viele Pickel. Mach mal was gegen Deine fiesen, kleinen Mitesser."

Nun machte Mamoru zum ersten Mal seit langem die Augen wieder auf und sah Motoki böse an.

"Der einzige fiese Mitesser hier bist Du! Und ich hab auch noch Deinen Teller abgewaschen!", giftete er.

Es ist nicht schwer, zu erraten, was Motoki nun tat: er grinste wieder.

"Dabei finde ich doch, dass Arbeit was Tolles ist! Ich könnte stundenlang dabei zusehen!", witzelte Motoki. "Aber jetzt mal ernsthaft: Willst Du Hikari oder willst Du sie nicht?"

Natürlich wollte er. Mehr als alles. Mamorus größter Traum war es, Hikari in seinen Armen zu halten. In diesem Traum war er immerhin auch zwei Meter groß und hatte ein Gesicht wie der amerikanisch-griechische Schauspieler John Stamos. Allerdings zu der Zeit, als der noch seine langen Haare trug.

Resigniert ließ Mamoru den Kopf hängen und seufzte. Er zuckte mit den Schultern.

"Lieber verzichte ich auf sie als zu Mus gestampft zu werden. So viel bedeutet sie mir auch wieder nicht."

"Ach, komm. Gib es doch endlich zu! Du erreichst gar nichts, wenn Du nicht zu Deinen Gefühlen stehst. Du musst Dir selbst gegenüber ehrlich sein! Ich weiß doch, dass Du seit Monaten in diese scharfe Braut verschossen bist."

Mamoru sah seinen Freund ungläubig an. "Wo zum Henker hast Du diesen gequirlten Mist aufgeschnappt?"

"Na wo wohl?", lachte Motoki, "das hab ich aus irgend ner Magical-Girl-Serie, die sich Schwesterherz regelmäßig reinzieht. Ich persönlich käme doch nie auf so'n Kram. Obwohl da natürlich ein gewisser wenn auch winziger Wahrheitsgehalt drin steckt. Ne halbherzige Liebe ist nicht, das kannst Du gleich vergessen. Wenn Du Dich schon um diese Frau kümmerst, dann auch richtig. Sonst brennt die Dir mit dem nächstbesten Waschlappen durch."

"Bevor sie mir durchbrennt", überlegte Mamoru laut, "muss ich sie erst mal haben. Und davor muss ich schauen, dass Chikara mir nicht weiter auf die Pelle rückt. Was meinst Du, kaufen wir ihm ein One-Way-Ticket nach Alaska?"

"Meinst Du, das ist weit genug weg?", spekulierte Motoki, "der schafft's doch glatt und schwimmt wieder zurück. Ich tendiere eher zur Antarktis."

"Bitte, Reisende soll man nicht aufhalten. Ich wünsch Dir viel Spaß. Und nimm Chikara mit."

"Sehr witzig", meinte Motoki. Er besah sich seinen Freund genauer. "Sag mal, Mamoru, ist diese Frisur eigentlich Absicht? Oder hast Du einfach seit... Monaten... nicht mehr in den Spiegel gesehen?"

"Was meinst denn Du damit?", fragte Mamoru völlig unvorbereitet, "Die Frisur kennst Du doch schon lang."

"Genau das ist es ja. Probier doch mal was Neues! Die langen Haare stehen Dir einfach nicht. Lass Dir doch ne Frisur schneiden, wie ich sie hab: kurz."

Mamoru griff nach hinten, löste das Haarband aus seiner Frisur und betrachtete seine Mähne.

"So lang sind die doch gar nicht", beschwerte er sich, "im Gegenteil. Ich will richtig lange Haare. Und eines Tages einen langen Bart. Wie die Typen von ZZ Top. Was hast Du dagegen? Nenn mir einen guten Grund, warum ich mich Dir angleichen sollte? Wenn wir im Partnerlook auftauchen, hält uns doch jeder für schwul."

Motoki zuckte mit den Schultern. "Ist das nicht so schon der Fall?"

Er erntete Mamorus erzürnten Blick.

"Okay, Okay", winkte er ab, "war nur Spaß. Aber Du könntest es zumindest mal versuchen. Was spricht dagegen? Sieht bestimmt cool aus!" Er ging zu Mamoru, machte die Haare ganz straff hinten zusammen und stellte Mamoru vor seine Vitrine, in deren Glas sich das dunkle Spiegelbild der beiden abzeichnete.

"Na ja", gab Motoki zu, "man sieht es nicht wirklich gut. Du brauchst einen richtigen Spiegel. Aber es könnte toll aussehen. Oder noch besser..."

Er legte sich wieder auf das Bett, während Mamoru noch etwas vor dem improvisierten Spiegel stehen blieb.

Motoki fuhr fort: "...stell Dir einfach vor, wie ich mit schwarzen Haaren aussehen würde."

Mamoru hatte Schwierigkeiten mit der Vorstellung. Schon allein deshalb, weil Motoki grüne Augen hatte, Mamoru hingegen dunkelblaue.

"Ich weiß nicht recht", gestand er. Er setzte sich wieder in seinen Sessel.

Motoki fragte grinsend: "Wie siehst Du eigentlich im Smoking aus? Das würde mich mal interessieren!"

"Du spinnst wohl", rief Mamoru aus, "ich? Mit Anzug und Krawatte? Nie im Leben! Sobald ich die Schule hinter mir hab, kauf ich mir Lederklamotten und ne Harley, und dann ziehe ich nach Amerika!"

"Was mich auf eine neue interessante Frage bringt", meinte Motoki, "was willst Du später mal werden? Beruflich?"

Mamoru zuckte mit den Schultern. "Weiß nicht. Vielleicht Detektiv? Ich bin ja so ein schlaues Kerlchen. Oder Sänger in einer Rockband. Oder ich werde Autohändler und verkaufe Ferraris. Keine Ahnung."

"Kann ich mir gut vorstellen", sagte Motoki, "dann kommst Du heim und rufst: Schatz, ich hab Dir was mitgebracht! Und darauf sagt Hikari: Nicht noch ein Ferrari. Wir haben doch schon ein Dutzend!"

"Blödsinn", antwortete Mamoru mit roten Wangen, "es steht doch noch gar nicht fest, ob das mit Hikari überhaupt was wird."

"Wenn Du meinst", lenkte Motoki ein.

Er griff unter die Bettdecke und zog ein Stofftier in Form eines silbergrauen Wolfes hervor. "Ach, das Ding hast Du auch noch? Was meinst Du wohl, was Hikari zu Deinem Stoffteddy sagen würde?"

"Sie ist ein Wolf", zischte Mamoru mit roten Wangen, "und kein Teddy. Und ihr Name ist Ôkami-haha, das hab ich Dir schon oft genug gesagt."

"Wie auch immer", bemerkte Motoki beiläufig, "Hikari wird schreiend davonlaufen, wenn sie das hier sieht. Oder Schlimmeres. Wieso spielst Du eigentlich immer noch damit?"

"Tu ich gar nicht", antwortete Mamoru trotzig, "und jetzt lass sie in Ruhe."

Genau das tat Motoki nicht. Er stellte Ôkami-haha vor sich auf das Bett, verneigte sich leicht und sagte dann: "Hallo, Hikari! Falls Du mich noch nicht bemerkt haben solltest: ich bin Mamoru. ...Wie? Du hast mich tatsächlich noch nicht bemerkt? ...ja, Du hast Recht! Ich bin ein Blödmann! Aber ich bin blöd vor Liebe zu Dir!"

"Ach, lass doch endlich den Scheiß!", wurde er vom echten Mamoru unterbrochen. Doch daran störte er sich nicht und machte vergnügt weiter. Er bewegte Ôkami-hahas Kopf und sagte in verstellter, für ihn doch etwas zu hoch gewählter Stimme: "Ja, Du bist blöde! Aber ich liebe Dich dafür! Und ich liebe Deine Pickel!"

Dann wieder in normaler Stimmlage: "Oh, vielen Dank! Ich liebe Dich auch, Hikari! Mehr als mein eigenes Leben!"

Wieder in der hohen Stimme: "Küss mich!"

Mit schmatzenden Lauten hob er den alten Wolf mit dem schon etwas zerfledderten Fell an die gespitzten Lippen. Im letzten Augenblick konnte Mamoru sein geliebtes Stofftier noch abfangen und aus Motokis Händen reißen.

"Mann, Du bist so ein Psycho! Echt! Lass doch diese verdammte Scheiße!", schimpfte Mamoru und drückte den Wolf an seine Brust. Er streichelte ihr sanft über den Kopf während er sich wieder in seinen Sessel setzte.

Ôkami-haha war ein Geschenk seiner Eltern gewesen. Genauer gesagt: Sie war das letzte, was er von ihnen bekommen hatte, bevor sie starben. Er hatte vielleicht seine Erinnerung an sie verloren. Aber zwei Dinge von ihnen besaß er noch, die ihm wichtiger waren als alles andere: sein Stoffwolf und den Ehering, den seine Mutter getragen hatte. Diesen Ring trug er immer an einer Halskette bei sich. Jedes mal brach ein neuer Streit vom Zaun, wenn er im Sportunterricht seinen Schmuck ablegen musste. Er wollte keine Sekunde von diesem wertvollen Erbstück getrennt sein, aber leider ging es nicht anders. Genauso verhielt es sich auch mit Ôkami-haha: Ohne sie an seiner Seite konnte er nachts nicht einschlafen. Er brauchte sie. Und den Ring.

Motoki beobachtete seinen besten Freund, wie dieser schweigend und todunglücklich im Sessel saß und einen alten Stoffwolf kraulte. Und in ihm stieg das bittere Gefühl der Reue auf.

"Mamoru?", fragte er nach einer Weile, als immer noch nichts geschehen war. "Mamoru? Komm schon, rede mit mir. Ich hab's nicht böse gemeint, ehrlich!"

Keine Reaktion.

"Mamoru, ich wollte Deine Gefühle nicht verletzen, wirklich!"

Stille.

"Es tut mir Leid. Ja, es tut mir wirklich Leid. ...Mamoru?", fragte er kleinlaut.

"Ist schon Okay", flüsterte dieser endlich. "Lass es nur in Zukunft bleiben, in Ordnung? Ôkami-haha ist für mich einfach sehr, sehr wichtig. Verstehst Du?"

Motoki nickte verständnisvoll.

"Es hat eben jeder so seine eigene Macke, ich bin auch nicht perfekt", sagte der Blonde leise. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr.

"Es ist schon spät", erklärte er, "ich muss jetzt nach Hause. Wir sehen uns morgen, ja?"

Mamoru nickte leicht. Dann war Motoki auch schon verschwunden. Nur eine Minute später klopfte es an seiner Tür.

<Ach, lasst mich doch alle in Ruhe!>, dachte Mamoru schlecht gelaunt.

Es klopfte erneut.

"Mamoru?" Die Stimme seiner Tante drang dumpf durch das Holz der Tür.

"Was ist denn?", knurrte er.

Endlich betrat Kioku das Zimmer. "Was ist passiert, Kurzer? Hast Du Dich mit Motoki gestritten? Er ist so urplötzlich verschwunden!"

"Es is spät, er muss heim", murmelte Mamoru.

"Und dabei war es doch so ein schöner Abend", seufzte seine Tante und setzte sich auf Mamorus Bett. "Möchtest Du mit mir reden?"

Mamoru schüttelte den Kopf.

"Sicher?"

Kopfnicken.

"Wer ist Hikari?"

Mamoru starrte sie böse an. "Du hast gelauscht", stellte er fest.

"Gelauscht ist zuviel gesagt", druckste seine Tante herum, "sagen wir, dieses Haus besteht aus dünnen Wänden. Die Welt da draußen ist gemein, groß und gefährlich. Besonders dann, wenn man ein Geheimnis hütet. Also? Wer ist Hikari?"

"Sie ist in meiner Klasse", antwortete Mamoru leise. Sein Groll gegen Kioku war schon wieder verflogen. Was blieb war ein Gefühl der Enttäuschung. Mamoru war von Motokis Verhalten niedergeschlagen. Und er wusste noch nicht mal genau zu sagen, warum. Seit Jahren schon war er an Motokis Späße gewöhnt. Auch an die Tatsache, dass er es des öfteren übertrieb. Aber heute... Mamoru war sehr empfindlich, was Kritik betraf. Weder mochte er es, wenn ständig an ihm genörgelt wurde, noch konnte er es leiden, wenn jemand respektlos mit seinem geliebten Wolf umging. Noch immer streichelte er über Ôkami-hahas Kopf.

"Und Du liebst sie?", fragte Kioku, und ihre sonst so spitzbübische Art wich einem ehrlichen, warmen Lächeln.

"Was interessiert Dich das?" Mamoru wollte es erbost fauchen, doch er brachte es nicht übers Herz, so mit seiner Tante zu reden, die er eigentlich doch so sehr liebte. Stattdessen klang es eher jämmerlich und gleichgültig.

Kioku seufzte, doch das Lächeln wich nicht von ihren Lippen.

"Komm her, mein Junge", bot sie an und klopfte neben sich auf die Bettdecke.

Einen kurzen Moment zögerte er noch, dann stand er doch auf und setzte sich, immer noch Ôkami-haha in seinem Arm, neben seine Tante auf das Bett und ließ sich von ihr umarmen.

"Was ist los mit mir?", fragte er seine Tante bedrückt. Er war völlig verwirrt. Er stand irgendwo zwischen tiefer Verzweiflung, Zorn und Trauer. Und er konnte sich nicht erklären, warum.

Kioku fuhr ihm über den Rücken, während sie antwortete: "Das ist normal in Deinem Alter, Kurzer. Du bist jetzt irgendwas Undefinierbares zwischen einem Kind und einem jungen Mann. Dein Körper verändert sich, Du wirst erwachsener, und auch Dein Verstand entwickelt sich jetzt rasend schnell weiter. In dem ganzen Chaos ist es völlig normal, dass die Gefühle verrückt spielen. Und wenn dann noch die passenden ...oder eher: unpassenden... Hormone ins Spiel kommen, ist erst mal heilloses Durcheinander angesagt. Mach Dir nichts draus, mein Kleiner. Da mussten wir alle durch. Du tust mir so Leid."

Ihre Worte hatten etwas stark Beruhigendes auf Mamoru. Dieser Trost gab ihm die Kraft zurück, seine Tante anzulächeln.

"Geht doch", meinte sie zufrieden. Sie drückte Mamoru ein kleines Küsschen auf die Wange und stand auf. "Ich denke, ich lasse Dich nun lieber wieder allein. Wenn irgendwas ist, ich bin immer für Dich da, Okay?"

"Okay", antwortete er.

"Ach, da wäre noch eine Sache", meinte seine Tante, während das schelmische Grinsen wieder in ihr Gesicht trat.

Mamoru ahnte das Schlimmste: "Nämlich?"

"Du solltest wirklich etwas gegen Deine Pickel tun."

Damit verließ sie das Zimmer und ließ einen völlig perplex dreinblickenden Mamoru zurück.

Mamoru setzte sich an seinen Schreibtisch und legte das Buch darauf. In großer Schrift stand "Tagebuch" auf dem Buchdeckel. Mamoru steckte den kleinen Schlüssel in das Schloss, öffnete es, und schlug das kleine Buch auf. Er musste einige Seiten blättern, bis er zur nächsten leeren Seite gelangte. Eigentlich war es gar kein richtiges Tagebuch im herkömmlichen Sinne, mehr eine Art "Gelegenheitsbuch". Er brachte es nicht fertig, regelmäßig hinein zu schreiben. Das tat er nur, wenn ihm danach war. Und ihm war danach.

Er kaute auf seinem Kugelschreiber herum und resümierte im Geiste seinen Tag. Womit sollte er anfangen? Mit ihr? Hikari war morgens sein erster Gedanke, und abends sein letzter. Mit der Schule? Er war sich nicht sicher, ob er wirklich in späteren Zeiten das "Tage-"Buch aufschlagen und lesen wollte, wie er von Chikara zur Schnecke gemacht wurde. Sollte er mit Motoki anfangen? Er seufzte schwer, als er sich die leeren Seiten besah, die vor ihm lagen. Er entschied sich dazu, chronologisch vorzugehen.

<Liebes Tagebuch>

Wie einfallsreich!

<Heute...> Hunderttausend Gedanken flogen ihm wild durch den Kopf. Er musste tief einatmen, bevor er weitermachen konnte.

<...hatte ich die übergroße Ehre, Hikaris Stifte aufsammeln zu dürfen. Sie ist so wunderschön!>

Mamoru wurde wieder rot und lächelte bei diesem Gedanken in sich hinein.

<Doch der Ärger mit Chikara war praktisch vorprogrammiert. Er hat sich vor ihr groß aufgespielt und mir gedroht. Wie werde ich diesen Mistkerl wieder los?

Er hat vielleicht die größeren Muskeln, aber ich bin mir sicher, Hikaris Herz wird bald mir gehören.>

Mamoru hielt inne. Stimmte das wirklich?

<Vielleicht>, fügte er kläglich hinten dran. Er machte einen Absatz und fuhr fort:

<Von diesem Vorfall abgesehen, war der Tag eigentlich relativ in Ordnung. Relativ. Motoki und ich...>

Wie drückt man so was aus? Anfangs war es schön gewesen, doch diese positiven Gefühle waren seitdem verflogen. Stattdessen machten sich immer wieder Verwirrung und Unsicherheit breit.

<...hatten eigentlich einen schönen Nachmittag. Er hat mir geholfen, ein wenig aufzuräumen.>

Ein wenig? Ein wenig viel sogar.

<Aber dann... ich weiß selbst nicht genau, was passiert ist. Motoki hat mit Ôkami-haha gespielt. Er hat nur Blödsinn gemacht, wie immer. Hat sich über mich lustig gemacht. Aber was erwarte ich eigentlich? So ist er eben. Ein gefühlsloser, eingebildeter... Nein. Eigentlich mag ich ihn.>

Mamoru versuchte, sich seiner Gefühle klar zu werden. Was hatte Motoki heute zu ihm gesagt? "Du erreichst gar nichts, wenn Du nicht zu Deinen Gefühlen stehst. Du musst Dir selbst gegenüber ehrlich sein!"

<Ich muss lernen, respektvoller mit Kritik umzugehen. Motoki meinte es nur gut mit mir. Er wollte mir nur helfen. Ich werde in Zukunft noch viel härtere Kritik über mich ergehen lassen müssen. Und Motoki könnte mir helfen, es zu lernen!>

Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Blitzschlag. Tiefe Reue überkam Mamoru. Er hätte nicht reagieren dürfen wie eine beleidigte Leberwurst!

"Es tut mir so Leid, Motoki. Verzeih mir", flüsterte er vor sich hin.

<Ich bin im Begriff, meinen besten Freund zu verlieren. Das darf ich auf gar keinen Fall zulassen! Ich muss morgen unbedingt mit ihm reden.>

Er blickte traurig sein Bett an, wo er gerade noch mit seiner Tante gesessen hatte. Nach einem weiteren Absatz schrieb er:

<Mein Leben ist ein einziges hin- und her geworden. Im ersten Augenblick könnte man nicht in meine Nähe kommen, ohne gebissen zu werden; im nächsten Moment bin ich das kleine, süße Kuscheltier. Tante Kioku hat mir erklärt, das läge nur an den Hormonen. Kann das sein? Solche Gefühlsschwankungen wegen den paar Zellen, die in mir rumschwimmen? Es heißt, im Mittelalter nannte man die Hormone "die schwarze Flüssigkeit", weil man wusste, dass da irgendwas im Körper war, das in der Lage war, einen Menschen grundlegend zu verändern, aber man konnte ohne Mikroskope noch nichts Genaueres feststellen. So wurde die "schwarze Flüssigkeit" erfunden, weil schwarz die Farbe der Angst und des Unbekannten ist. So unrecht hatten die Leute damals nicht! Es ist ein echtes Teufelsgebräu!>

Mamoru streckte sich und musste gähnen. Es war schon spät am Abend. Er fragte sich gerade, warum sein Onkel Seigi noch nicht von der Arbeit zurück war. Er machte wieder einen neuen Absatz:

<Es ist so kompliziert, erwachsen zu werden. Ich habe das Gefühl, dass mir Tante Kioku nicht weiterhelfen kann. Sie hatte als Mädchen eine andere Art von Pubertät. Ich denke, ich werde mich stattdessen mal mit Onkel Seigi zusammensetzen müssen. Hoffentlich kann er mir einige Fragen beantworten! Gute Nacht, liebes Tagebuch! Dein Mamoru>

Er machte das Buch zu und verriegelte es wieder mit dem kleinen Schloss bevor er es zurück in das Regal stellte. Der Sicherheit halber. Ihm war zwar bewusst, dass weder sein Onkel noch seine Tante jemals einen Blick in dieses Buch werfen würden. Aus Anstand und Respekt. Aber bei Motoki war er sich da nicht so sicher. Und Motoki war oft in diesem Zimmer.

Mamoru zog sich aus, hängte fein säuberlich seine Kleidung über den Stuhl und zog sich den Pyjama an. Darauf ging er ins Bad, um sich fürs Schlafengehen fertig zu machen.
 

Er klopfte an die Schlafzimmertür. "Tante Kioku?"

"Komm ruhig rein, Kurzer", tönte es dumpf von innen.

Mamoru öffnete die Tür und tapste Barfuss an das Bett seiner Tante. Diese legte ihr Buch beiseite und lächelte glücklich.

"Gutes Buch", sagte sie, "ich kann es Dir wirklich empfehlen. Wie auch immer, Du bist bestimmt nicht hier, um mir beim Lesen zuzusehen. Was hast Du auf dem Herzen, mein Junge?"

"Wann ist Onkel Seigi wieder da? Ich mache mir langsam Sorgen um ihn", antwortete Mamoru.

"Ich habe in seinem Büro angerufen", erklärte Kioku, "er ist schon losgefahren. Mach Dir keinen Kopf. Ich bin sicher, er steckt bloß im Stau."

"Meinst Du?" Mamoru ließ enttäuscht den Kopf hängen. "Wenn er wieder da ist, wird er bestimmt zu müde sein, um noch mit mir zu reden, oder?"

"Ich glaube schon", meinte Kioku. Sie hatte wieder dieses gütige Lächeln aufgesetzt. "Aber Du kannst Dich gerne mit mir unterhalten. Ich hab Zeit."

Mamoru schüttelte den Kopf. "Das geht nicht. Du weißt schon... Männersachen."

"Ah, ja." Kioku nickte verständnisvoll. "Das berühmte Gespräch von Mann zu ...Männchen. Nicht wahr?" Sie lächelte verschmitzt.

"Tante Kioku!"

"Schon gut, schon gut."

Mamoru stand unschlüssig in der Gegend herum. Er zupfte nervös an seinem Pyjama.

"Tante Kioku?", fragte er schließlich.

"Anwesend", antwortete diese.

"Wegen dem, was Du vorhin gesagt hast, ...dass ich irgendwas bin zwischen einem Kind und einem jungen Mann... wozu tendiere ich denn eher?"

Kioku zögerte mit der Antwort. Sie musste nun ehrlich sein ohne ihn zu sehr zu verletzen.

"Weißt Du, Kurzer", begann sie, "das ist schwer zu sagen. Du bist jetzt so groß, und dafür, dass Du so viel Schlechtes erlebt hast, hast Du Dich wacker geschlagen. Und darauf bin ich auch sehr stolz! Aber es fehlt noch etwas zum Erwachsenwerden. Und das ist die Fähigkeit, weise Entscheidungen treffen zu können. Du musst lernen, für die Zukunft zu planen. Du musst lernen, Pflichten zu erfüllen. Und Du musst lernen, selbstständig zu sein. Und damit meine ich nicht selbstständiges Verursachen von Unordnung, oder die Tatsache, dass Du Dir ne Pizza in den Backofen schieben kannst, wenn ich mal nicht daheim bin. Selbstständigkeit ist etwas, das man nur sehr schwer lernen kann. So was kommt von ganz alleine, mit der Erfahrung. Und diese Erfahrung vom Leben und von der großen, gefährlichen Welt dort draußen besitzt Du einfach noch nicht. Und es nützt nichts, wenn ich Dir nur von meinen Erfahrungen erzähle. Deine eigenen Erfahrungen musst Du selber machen, das kann Dir niemand abnehmen."

"Dann... dann bin ich also noch ein Kind, und kein Mann?", fragte Mamoru enttäuscht.

"Ich würde eher sagen: Du bist jetzt gerade weder das eine, noch das andere", sagte Kioku weise.

"Und was bin ich dann?"

Kioku breitete die Arme aus und Mamoru ging zu ihr, um sich herzen zu lassen.

"Mein Kurzer", seufzte Kioku, "Du bist mein Neffe, den ich über alles liebe. Und nichts anderes."

Mamoru fuhr seiner Tante über das lange, weiche, schwarze Haar. Es duftete wunderbar nach Rosen. Das war Kiokus Lieblingsshampoo. Er sog den angenehmen Geruch tief in sich ein. Er löste sich nach einer Weile aus ihren Armen und blickte tief in ihre gütigen blauen Augen, die an den Außenrändern der Iris einen leichten silbernen Schimmer hatten.

"Darf ich hier auf Onkel Seigi warten? Nur, wenn Du nichts dagegen hast", fragte Mamoru.

"Was sollte ich denn dagegen haben? Aber Du kommst unter die Decke, sonst erkältest Du Dich noch", meinte Kioku.

Mamoru nickte begeistert. Dann schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. "Ich bin gleich da", rief er, flitzte los, und kam einen Augenblick später wieder, mit Ôkami-haha im Arm. Er schloss die Tür hinter sich und kuschelte sich ins große Bett, den Stoffwolf als eine Art Kopfkissen unter sich.

"Ich bin vielleicht noch eher ein Kind als ein Erwachsener", sinnierte Mamoru, "aber dafür hat keiner sonst in meiner Klasse so einen süßen Wolf als Stofftier, hab ich Recht?"

"Wahrscheinlich", lachte Kioku.

Mamoru kuschelte sich an sie. "Ich werde doch bald erwachsen sein, oder?"

"Na, das hoffe ich doch", antwortete Kioku.

Es dauerte nicht lange, da hörte sie schon, dass Mamoru sehr ruhig und regelmäßig atmete. Sie fuhr ihm vorsichtig durch die schulterlangen Haare und löschte das Licht.

Ein schreckliches, lautes Piepsen durchbrach die Stille. Die Lichtblitze, die verschwommenen Schatten, das golden glänzende Haar, all das verschwand vor Mamorus Augen. Die Szenerie wurde durch eine vertraute Umgebung ausgetauscht: das Schlafzimmer seines Onkels und seiner Tante. Verschlafen blinzelnd sah er sich um. Er spürte, wie eine große Hand ihm über den Kopf fuhr. Ächzend und stöhnend drehte er sich um und sah in die sanften, hellblauen Augen seines Onkels.

"Is noch vielssufrüh", nuschelte Mamoru und rieb sich die Augen, "wie schbätisses?"

"Dir auch einen wunderschönen guten Morgen", flötete Seigi, "und es ist sechs Uhr."

Einige Herzschläge lang blinzelte Mamoru seinen Onkel aus kleinen Augen an, dann drehte er sich mit einem Knurren um und zog die Decke über seinen Kopf.
 

Etwa zwanzig Minuten später gesellte sich Mamoru doch zu seiner Tante in die Küche, wo schon das Frühstück bereitet wurde.

"He, Schlafmütze! Du hier? Ich dachte, Du wärst längst wieder im Reich der Träume!", begrüßte Kioku ihn.

"Wo ist Onkel Seigi?", wollte Mamoru wissen, während er sich, immer noch im Pyjama, an den Küchentisch setzte.

"Er duscht gerade", antwortete Kioku. "Na, was ist das für ein Gefühl, mal so früh aufzustehen?"

"Ein beschissenes. Und das machst Du jeden Tag, Tante Kioku?"

"Hab ich eine andere Wahl?", sagte sie, "würde ich es nicht tun, käme Dein Onkel regelmäßig zu spät zur Arbeit. Außerdem hab ich so noch ein bisschen was von ihm. Ich sehe ihn ja sonst den ganzen Tag lang nicht. Willst Du Tee?"

Mamoru bejahte, dann stand er auf, um seiner Tante behilflich zu sein.

Es dauerte nur einige Augenblicke, da kam Seigi in die Küche. Er hatte sich schon angezogen und quälte sich gerade mit seiner Krawatte ab. Seine haselnussbraunen, kurzen Haare waren immer noch gut feucht und der Geruch seines Rasierwassers war schnell in der ganzen Küche verteilt. Er war ein hochgewachsener Mann und musste sich schon ziemlich tief bücken, um seiner Frau einen Kuss zu geben.

"Danke, Schatz", flötete diese und wies auf den Tisch, "setz Dich. Frühstück ist gleich fertig."

Genau das tat Seigi fröhlich pfeifend. Mamoru pflanzte sich neben ihn, warf ihm einen skeptischen Blick zu und fragte: "Wie kann man um die Uhrzeit nur so gut gelaunt sein?"

"Wenn Du mal erwachsen bist", erklärte Seigi, "fällt es Dir auch nicht mehr ganz so schwer, frühmorgens aufzustehen. Bei den allermeisten Leuten legt sich die Morgenmuffligkeit, wenn sie etwas älter sind."

"Bei den meisten? Nicht bei allen?"

"Nun", meinte Seigi gedehnt, "Ausnahmen bestätigen die Regel, nicht wahr?"

Kioku trug inzwischen das Essen auf, und Seigi bediente sich reichlich. Mamoru verspürte irgendwie noch keinen Hunger. Und so fragte er weiter: "Onkel Seigi? Sag mal, wie hast Du Tante Kioku eigentlich kennen gelernt?"

Seigi grinste verschmitzt, als er stolz zu berichten begann: "Ich habe früher in einer Band gespielt. Wir hießen <Yuki to Ame>..."

"Moment mal, Moment mal", wurde er von Mamoru unterbrochen, "<Schnee und Regen>? Is ja schwer originell!"

Sein Onkel zuckte mit den Schultern. "War nicht meine Idee. Jedenfalls waren wir richtig gut. Ich habe am Klavier gespielt. Wir hatten öfters mal kleine Auftritte, mit denen wir einen Teil unserer Studienzeit finanzierten. Und einer dieser Auftritte fand in diesem kleinen, gemütlichen Lokal statt."

Seigi warf Kioku einen verliebten Blick zu.

"Damals", so fuhr er fort, "war Deine Tante noch in der Schule. Sie arbeitete als Kellnerin in diesem Lokal, als Ferienjob. Sie war mir sofort aufgefallen. Diese zierliche Gestalt, die langen, schwarzen Haare, dieses süße Stupsnäschen..."

Kioku setzte sich neben ihn und kniff ihn neckisch in die Wange.

"Sie hat mich so sehr fasziniert", erklärte er weiter, "dass ich nach unserem Auftritt immer noch am Klavier sitzen blieb und ein Solo hinlegte: <Love Me Tender> von Elvis. Sie wusste genau, wer gemeint war. Nicht wahr, Schatz?"

Kioku hatte gerade die Backen voll und kaute genüsslich. Seigi drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

"Die restlichen Bandmitglieder von <Yuki to Ame> hatten sich um einen großen Tisch versammelt und tranken noch was. Aber Kioku und ich, wir haben uns in ein ruhiges Eckchen verzogen und uns kennen gelernt. Liebe auf den ersten Blick, Du verstehst? Und wir sind heute noch so verliebt wie am ersten Tag. Das könnte jetzt gut fünfzehn Jahre her sein, oder? Und seit zwölf Jahren sind wir nun verheiratet", endete Seigi und trank einen Schluck Kaffee.

"Und woher wusstest Du so genau, dass Du mit ihr zusammen sein wolltest? Woher willst Du gewusst haben, ob der Mensch, den Du zum ersten Mal gesehen hast, und dessen Namen Du noch nicht einmal kanntest, der Partner fürs Leben sein könnte?", fragte Mamoru und griff nun doch nach einer Scheibe Toast. "Ich meine, was ist Liebe auf den ersten Blick, dieses unbekannte, geheimnisumwitterte und dennoch so oft rezitierte Etwas?"

"Du stellst Fragen", meinte Seigi etwas irritiert, "so was weiß man nicht einfach so. Man muss es fühlen. Man muss es ausprobieren. Man muss ein gewisses Risiko eingehen, sonst findet man es nie raus. Man muss mit der Zeit einfach gewisse Erfahrungen sammeln."

"Erfahrungen", murmelte Mamoru. Erneut hatte ihn dieser Begriff eingeholt. Anscheinend waren Erfahrungen tatsächlich etwas sehr Wichtiges.

"Tu nicht so", meinte Seigi lächelnd, "als würdest Du so was nicht kennen. Ich bin mir sicher, Dir hat auch schon ein Mädchen den Kopf verdreht, oder? Sonst würdest Du nicht so Fragen stellen."

Mit hochroten Wangen überging Mamoru diese Frage und stellte stattdessen lieber selber eine: "Und hattest Du vorher schon viele Erfahrungen gesammelt? Ich meine, hattest Du vor Tante Kioku noch andere Freundinnen gehabt?"

"Natürlich hatte ich die", antwortete Seigi schulterzuckend, "jede Menge sogar."

"Casanova", nannte Kioku ihn liebevoll, "so viele hast Du Charmeur auch wieder nicht abgeschleppt."

Darauf grinste Seigi frech. "Woher willst Du das denn wissen?"

Zu Mamoru gewandt sagte er: "Aber jede dieser Beziehungen vor Kioku hielt sich nicht allzu lange. Meistens drei oder vier Monate. Oder auch kürzer. In diesem Alter probiert man noch sehr viel aus."

"Eine Frage hab ich noch", betonte Mamoru, dessen Gesichtsfarbe sich langsam wieder normalisierte, "in welchem Alter hattest Du Deine aller erste Freundin?"

Seigis sanfte, hellblaue Augen ruhten eine Weile auf Mamoru eh er eine Antwort gab: "Ich war etwa so alt wie Du. Womöglich auch ein kleinwenig jünger."

Mamoru biss kommentarlos in seinen Toast, während er nachdachte. Ihm wurde schmerzlich klar, dass andere aus seiner Klassenstufe längst liiert waren oder zumindest früher mal eine Beziehung hatten. Gedankenverloren strich er sich über die paar Bartstoppeln, die aus seinem Kinn sprossen. <Ich bin jämmerlich weit hinten dran>, wurde ihm bewusst.

"Mach Dir nichts draus", tröstete ihn Seigi, der seine Gedanken gelesen zu haben schien. Er klopfte dem Neffen aufmunternd auf die Schulter. "Jeder hat seine eigene Zeit. Die einen etwas früher, die andren etwas später. Aber ich bin mir sicher, Du wirst nicht leer ausgehen."

Nach einem Blick auf die Uhr stellte Seigi fest, dass er los musste. Er verabschiedete sich, sammelte seine Siebensachen zusammen und war binnen kürzester Zeit verschwunden.

Seufzend drehte Kioku sich Mamoru zu und wollte wissen: "Waren das etwa diese wichtigen Männersachen, die Du gestern Abend noch mit ihm besprechen wolltest? Das hätte ich Dir auch noch sagen können."

Mamoru nickte geistesabwesend. Obwohl noch längst nicht alle seine Fragen beantwortet waren. Er wollte nicht alles auf einmal in die Runde werfen. Er wollte nicht fragen, wann und wie sich seine Eltern kennen gelernt haben. Noch nicht. Er wollte die heitere Stimmung nicht zerstören, indem er seinen Onkel Seigi an dessen verstorbenen, älteren Bruder erinnerte: Mamorus Vater.

Ihm war aber bewusst: Er musste seine Neugierde befriedigen. Er musste eines Tages diese Frage stellen, der Vollständigkeit halber. Und er würde noch ganz andere Fragen stellen müssen. So viel war noch unbeantwortet. Ihm war schon früher klar geworden, dass der Weg zum Erwachsenwerden lang und steinig war. Aber dass er so viele Komplikationen verursachen würde, damit hatte Mamoru nicht rechnen können. Und er konnte kaum ahnen, wie schwierig dieser Weg noch werden würde...
 

Nach einem ausgiebigen Frühstück, einer heißen Dusche, einer Rasur und diversen weiteren morgendlichen Ritualen war Mamoru endlich bereit für die Schule. Er verabschiedete sich von Kioku, hatte diesmal sogar an Lunchbox und Schal gedacht, und verließ einige Minuten zu früh die Wohnung. Er wollte auf dem Weg etwas nachdenken. Über das Erwachsensein. Und über Erfahrungen. Und vor allem über Motoki.

<Motoki ist nun mal so ein Scherzkeks. Er kann ja nichts dafür... mehr oder weniger. Obwohl, er hätte sich ja wirklich mal zusammenreißen können. Andererseits... ich darf nicht direkt so zickig sein. Moment mal, ich bin nicht zickig... oder doch?>

Doch mit einem Schlag war sein Kopf wie leergefegt. Denn was er nur wenige Meter vor sich um die Ecke gehen sah, war so makellos, dass die Götter selbst sich fragen mussten, ob man diese Anmut und diese strahlende Schönheit nicht lieber mit Unsterblichkeit segnen sollte: Hikari Kage. Lange Zeit stand Mamoru da und starrte die sanften Konturen dieser wunderhübschen jungen Frau an. Diese endlosen Beine, die zierlichen Arme, dieser perfekte Hintern... Und der Wind spielte mit ihren faszinierenden schwarzen Haaren, die einmal mehr an einen wilden, zügellosen Wasserfall erinnerten, dem sich nichts, überhaupt gar nichts in den Weg stellen konnte. Anmutig schritt diese Göttin auf Erden ihren Weg entlang und schien wie der schönste aller Engel über den weißen Schnee zu schweben.

<Ich muss zu ihr!> Willenlos wie ein Zombie musste Mamoru immer wieder diesen einen Gedanken wiederholen. Er war gerade noch geistesgegenwärtig genug, sich den Speichel vom Kinn zu wischen, bevor er losrannte. Er hatte Hikari schnell eingeholt.

"G- gu- guten Mo- Morgen, Hikari", stotterte er. Vor lauter Aufregung gehorchte ihm seine Zunge gar nicht mehr.

"Erst denken, dann schlucken, dann reden", riet ihm Hikari mit einer schier einzigartigen Coolness. Sie würdigte ihn keines Blickes.

<Sie lässt sich durch absolut nichts aus der Ruhe bringen>, dachte Mamoru begeistert.

"Ich... ich wollte Dich fragen, darf... darf ich Deine Schultasche tragen?"

<Ich hab's gesagt! Ich hab's gesagt!>, freute sich Mamoru.

Wie angewurzelt blieb Hikari stehen und starrte ihn an.

"Bitte?", fragte sie verwirrt, "bist Du mein LeNOR, oder was?"

"Lenor?", fragte Mamoru verwirrt, "der Weichspüler?" <Hält sich mich für einen derartigen Waschlappen?>

"LeNOR", erklärte Hikari geduldig, "<Leibeigener Neger Ohne Rechte>. Hältst Du mich für so verweichlicht, dass ich nicht mal diese Tasche tragen kann? Freundchen, lass Dir eins gesagt sein: der Begriff <schwaches Geschlecht> passt nur mäßig auf uns Frauen. Schreib Dir das hinter die Ohren."

<Wow, die Frau hat Power! Abgesehen davon, dass ihre Aussage leicht politisch inkorrekt war.>

"So hab ich das auch gar nicht gemeint", rechtfertigte sich Mamoru, nun schon etwas zuversichtlicher, "Ich wollte Dir nur einen Gefallen tun. Also? Darf ich?"

Hikari pustete sich eine Haarsträhne aus dem sanften, etwas genervt dreinblickenden Gesicht und fragte: "Wer bist Du überhaupt?"

Für Mamoru brach eine Welt zusammen. <Du weißt nicht, wer ich bin? Ich bin Dir niemals aufgefallen? Du hast schon vergessen, dass ich Dir die Stifte aufgeräumt habe? Bin ich so unsichtbar?> Er konnte diese Worte noch nicht einmal stottern. Ihm war, als falle er in unendliche Tiefen.

"Nu glotz nich so", meinte Hikari, "Ich weiß schon wer Du bist. Aber wofür hältst Du Dich, dass Du es wagst, mir immer wieder zu nahe zu kommen, wo Du doch genau weißt, dass ich schon mit Chikara zusammen bin?"

Eine ganze Gebirgskette fiel Mamoru vom Herzen, als er hörte, dass er Hikari doch aufgefallen war. Etwas besseres hätte ihm gar nicht passieren können! Im Geiste jauchzte er und sprang herum. In der Realität jedoch beließ er es bei einem Grinsen. Er zuckte mit den Schultern und meinte so gelassen, wie es ihm nur möglich war: "Ich halte mich für einen netten Kerl, der das Bedürfnis verspürt, einer hübschen Dame zu helfen."

Er wurde leicht rot bei diesen Worten. Doch das überging Hikari. Sie sah sich suchend um.

"Wo ist hier ne hübsche Dame? Weißt Du was, Kleiner? Ich verspüre das Bedürfnis, Dich hier einfach eiskalt stehen zu lassen. Du langweilst mich. Es ist nicht so, dass Kerle nur nett sein müssen. Da muss noch etwas mehr dahinter stecken. Werd erwachsen, vielleicht kapierst Du es dann irgendwann mal."

Sie drehte sich um und lief weiter.

<Sie ist so ehrlich! Sie hat keine Scheu, zu sagen, was sie denkt! Ein echtes Rasseweib!>

Doch Mamoru hatte nicht vor, schon aufzugeben. Er nahm allen Mut zusammen, holte sie wieder ein und fragte: "Und was genau fehlt mir noch? Komm schon, ich will das wissen! Das interessiert mich!"

Im Gehen funkelte Hikari ihn erbost an. Dieser Kerl erdreistete sich doch tatsächlich, ihr weiter nachzustellen!

"Schmeiß mal Deine Wachstumshormone an und besorg Dir ein neues Styling, dann reden wir weiter."

<Dann reden wir weiter! Sie will mit mir reden! Juchhu!>

Es kränkte ihn zwar ein wenig, so harte Kritik zu erfahren von jemandem, in den er so sehr verschossen war, aber er sah diesen Tipp als gute Chance an.

<Motoki hatte Recht. Ich muss wirklich etwas an mir arbeiten>, wurde ihm bewusst.

Er straffte die Schultern, reckte den Kopf in die Höhe, legte ein ernsteres Gesicht auf, verbeugte sich dann tief vor Hikari und fragte mit klarer, freundlicher Stimme: "Darf ich Dir dennoch diese Last abnehmen? Es wäre mir eine große Ehre."

Augenrollend hielt ihm Hikari die Tasche hin und seufzte resigniert: "Bitte, wenn Du mich dann in Ruhe lässt! Aber Du hältst die Klappe, kapiert? Und Du bist selbst schuld, wenn wir so Chikara begegnen und er Dich dann auf den Mond katapultiert, klar?"

Mamoru nickte, griff freudestrahlend nach der Tasche und schlenderte siegessicher neben Hikari her.

<Das muss ich Motoki erzählen.> Erst da erinnerte er sich an den letzten Abend. Ihm wurde schmerzlich bewusst, wie sehr ihm der gute Freund fehlte, und wie viel beide schon erlebt haben. Das musste man doch wieder geradebiegen können!

Mamoru versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen: "Sag mal, was genau findest Du eigentlich an Chikara? Ich meine, eine Frau wie Du hat was besseres verdient als ein Anabolika frühstückendes Monstrum, für den die Worte <Rücksicht> und <Menschlichkeit> Fremdworte sind?"

Hikari sah ihn wütend an: "Erstens: Du wagst es tatsächlich, so mit mir über meinen Freund zu sprechen? Und zweitens: Was meinst Du wohl, was eine Frau wie ich verdient? Etwa so ein Milchbrötchen wie Dich?"

<Autsch.>

"Nein, ich meine", stammelte Mamoru, "...ich meine, wieso ausgerechnet er?"

"Warum nicht er?", wollte Hikari wissen.

Mamoru seufzte, während er nach den passenden Worten suchte. "Ich hätte doch nur gerne gewusst, aus welchem Grund Du Dich ausgerechnet für ihn interessierst, wo es bestimmt Tausende anderer Jungs gibt, mit denen Du vielleicht sehr viel glücklicher sein könntest."

"So wie mit Dir etwa?" Hikari lachte. "Du willst es also unbedingt wissen, wie? Na ja, in einem Punkt hast Du schon Recht: Chikara ist bekloppt wie ein Schnitzel von zwei Seiten. Besonders was den Umgang mit anderen Menschen betrifft. Aber er kann mich beschützen, wenn's drauf ankommt."

"Vor wem beschützen?"

Hikari hatte dieses boshafte, kalte Lächeln der Fernsehschurken auf den Lippen, als sie antwortete: "Vor ungebetenen, aufdringlichen Pubertierenden, die zu viele Fragen stellen."
 

Das Schicksal war ihm gnädig. Weder auf dem Weg, noch in der Schule begegneten sie Chikara. Auch Mamorus Bedenken, Hikari könnte ihrem Liebhaber etwas von gewissen aufdringlichen Pubertierenden erzählen, waren sehr schnell verstreut. Es gab an diesem Morgen nur einen einzigen Faktor, der Mamoru so gar nicht in den Kram passte: Motoki war nicht da. Der Lehrer verkündete, seine Mutter habe angerufen und ihn als krank gemeldet.

<Krank vor Schuldgefühlen?>

...

Direkt nach der Schule rannte Mamoru in den nächstbesten Supermarkt. Er hatte vor, Motoki zu besuchen, um sich nach dessen gesundheitlichen Zustand zu erkundigen. Reue und große Sorgen um den besten Freund plagten Mamoru, der fast eine ganze Tüte voller Schokolade kaufte. Auch, wenn er selbst die allergrößte Lust verspürte, die leckeren Süßigkeiten alleine aufzuessen. Doch er musste es sich verkneifen. Die Schokolade war ein Entschuldigungsgeschenk für Motoki.

<Was mich wohl erwarten wird?>, fragte sich Mamoru aufgeregt, als er wenig später an der Wohnungstür der Familie Furuhata klingelte. Nur einen Moment später öffnete Motokis Mutter.

"Mamoru, Du bist es?", fragte sie mit sorgenvollem Blick, "komm rein."

Mamoru schloss aus dem Kummer, der in ihren Augen lag, dass es ihrem Sohn noch nicht besser ging. Und aus der freundlichen Aufforderung schloss er, dass Motoki ihr nichts vom gestrigen Streit erzählt hatte. Er bedankte sich, trat ein, zog sich die Schuhe aus, lief schnurstracks zu Motokis Zimmer und klopfte an der Tür. Ein müdes, leicht quengelig klingendes "was ist denn?" antwortete ihm. Zögerlich öffnete er die Tür und trat ein. "Motoki? Darf ich?"

Motoki lag im Schlafanzug im Bett und sah Mamoru an. In seinem Blick lagen Verwirrung und Skepsis, gepaart mit Unsicherheit und der Verwunderung über Mamorus Auftauchen. Dennoch lag auch ein nicht näher beschreibbarer Ausdruck der Freude in seinen Augen. Anscheinend hatte Mamoru ihm die Entscheidung abgenommen, ob er sich bei dem melden sollte, den er offensichtlich so sehr verletzt hatte.

"Klar, komm rein. Setz Dich", antwortete der Blonde leise, worauf er etwas husten musste. Anscheinend war er tatsächlich nicht so ganz gesund.

Mamoru legte die Schultasche ab und zog Mantel und Schal aus. Er blieb aber lieber stehen und zögerte, irgendetwas zu tun oder zu sagen. Es gab Hunderte Dinge, die er gerne losgeworden wäre und die ihm einfach nicht über die Lippen wollten. Schon bald hielt er Motokis fragendem Blick nicht mehr stand und schaute weg. Sein Blick fiel auf ein etwas älteres Foto, auf dem er sich bei Motoki eingehakt hatte. Beide grinsten in die Kamera, um in dieser Pose verewigt zu werden. So was konnte doch nicht durch so einen kleinen Streit zerstört werden!

"Wie geht es Dir, Motoki?", fragte er endlich kleinlaut.

"Ich bin erkältet", gab dieser ebenso kleinlaut zurück.

"Soso", murmelte Mamoru. Er musste heftig schlucken, um den folgenden Satz sagen zu können: "Und was ist der wirkliche Grund, warum Du heute nicht in die Schule gekommen bist? Wegen etwas so banalem fehlst Du nicht einfach am Unterricht."

Motoki fummelte an seiner Decke herum. "Ich bin mir sehr sicher, das weißt Du ziemlich genau."

Mamoru nickte. Er wusste es. Oder er konnte es zumindest ahnen. Motoki hatte sich nicht getraut, Mamoru zu treffen. Wollte nicht auf engstem Raum mit ihm eingepfercht sein. Hier, in der Wohnung, wo beide Jungs tun und lassen konnten, was ihnen beliebte, und wo sie beide gehen konnten, wann immer sie wollten, war das Klima einfach passender, um über solch prekäre Lagen zu sprechen.

"Ich hab Dir was mit", stammelte Mamoru, "sozusagen zur guten Besserung. Hier!"

Er öffnete seine Schultasche, kramte die Tüte mit der Schokolade hervor und überreichte sie Motoki. Der schaute hinein und sah Mamoru dann fassungslos an.

"Du schenkst mir Schokolade? Ausgerechnet Du? Der Du doch so dermaßen scharf auf das Zeug bist wie kein Zweiter auf diesem Erdball?"

Mamoru zuckte hilflos mit den Schultern. "Du bist mein Freund, und Du bist mir ein gutes Stück wichtiger als alle Schokolade dieser Welt. Schokolade..." Mamoru versuchte zu lächeln. Es wirkte eher kläglich. "...Schokolade lässt nicht solche idiotischen Sprüche los wie Du. Und eigentlich mag ich diese Sprüche ja. Du bringst mich zum Lachen. Das schafft Schokolade nicht."

Zuerst blickte Motoki ihn einige Sekunden ungläubig blinzelnd an.

"Himmel, Arsch und Zwirn!", rief er dann plötzlich lachend aus, "Du magst meine idiotischen Sprüche? Ich hab immer gehofft, damit könnte ich Dich ärgern???"

"Ja, das schaffst Du auch des öfteren", gab Mamoru zu und bemühte sich um einen leicht beleidigten Unterton. Er war jedoch ein miserabler Schauspieler. "Aber trotzdem... Ich brauch Dich doch. Gib endlich zu, dass ich Dir auch wichtig bin und dann lass uns die Sache vergessen. Ich muss nämlich bald wieder Heim. Tante Kioku hat keine Ahnung, bei welchen fiesen Typen dieser großen, gefährlichen Welt ich mich wieder herumtreibe."

Motoki lachte: "Wahrscheinlich malt sie sich gerade aus, wie Du Mafialeute zusammenprügelst oder weißes Zeug in kleinen Tüten kaufst, dass Dir irgend ein Kerl auf offener Straße andreht."

Die beiden grölten vor Lachen. Was Mamoru an Schauspielkunst fehlte, glich Motoki locker aus. Er hatte Kiokus belehrendes Gesicht perfekt imitiert.

"Übrigens", fiel Motoki ein und er griff nach einer Tüte, die neben seinem Bett gestanden hatte. "Ich hab auch was für Dich. Großzügig von meinen Eltern gespendet und von mir persönlich liebevoll zusammengesucht."

Verblüfft nahm Mamoru die Tüte entgegen, öffnete sie, ...und hätte sie beinahe vor Erstaunen fallengelassen.

"Das... das ist ja...", stotterte er.

"Ganz genau", grinste Motoki, "Schokolade. Mein Entschuldigungsgeschenk. Mann, Du hättest gerade Dein doofes Gesicht sehen sollen! Ein Bild für die Götter!"

Das kleine bisschen Spannung in der Luft, dass noch übrig geblieben war, verflog schlagartig. Mamoru hüpfte auf und ab, brüllte freudig, stürmte auf Motoki zu, hechtete auf das Bett und umarmte seinen besten Freund auf Erden, obwohl dieser versuchte, sich der doch überraschenden Zuneigung zu erwehren. Erfolglos. Mamorus durch langes Karatetraining gestählten Muskeln hielten Motoki eisern fest. Seine Unterlegenheit erkennend ließ Motoki schlussendlich die Prozedur über sich ergehen, lachte dabei vergnügt und hustete hin und wieder.

"Wir sind definitiv schwul", diagnostizierte er. Doch diesmal störte sich Mamoru daran kein bisschen.

Von dem lauten Getobe angezogen öffnete Motokis Mutter die Tür. "Alles in Ordnung, ihr beiden?"

Mit annährender Lichtgeschwindigkeit kletterte Mamoru wieder von Motoki runter. Er hoffte inständig, die rote Farbe in seinem Gesicht wurde auf die Anstrengung der Toberei zurückgeführt, und nicht auf den Gedanken, auf den man in dieser Situation tatsächlich kommen könnte: <was hat es zu bedeuten, wenn zwei Jungs auf einem Bett herumtollen, sich dabei total verausgaben und einen Höllenlärm verursachen...?>

"Ja, ja, alles in Ordnung", antwortete Motoki grinsend.

"Verausgab Dich bitte nicht", riet seine Mutter, "Du scheinst immer noch etwas krank zu sein. Du hast knallrote Wangen. Aber..." Sie lächelte beruhigt. "...anscheinend geht es Dir jetzt ein gutes Stück besser. Deine Augen sind nicht mehr so geschwollen."

Sie musterte ihn mit den Argusaugen einer Mutter.

"Mama, bitte! Lass das." Motoki musste wieder etwas husten.

"Das wird schon wieder", meinte die Mutter zuversichtlich, schritt zu Motoki und fuhr ihm durch die verstrubbelten Haare, "ich koche jetzt einen Tee für Dich, ja? Mamoru, willst Du auch einen?"

"Nein, danke", wehrte dieser ab, "ich muss nach Hause. Meine Tante macht sich bestimmt schon Sorgen."

Die Mutter nickte. "Ist besser so. Ich denke, Motoki sollte sich jetzt auch ein wenig ausruhen. Vielen Dank für Deinen lieben Besuch, Mamoru."

Damit verließ sie das Zimmer auch wieder.

"Oh, Mann", stöhnte Mamoru, "Ich glaube, ich gehe jetzt besser wirklich."

Er verstaute die Tüte mit der Schokolade (ja, SEINER Schokolade) in der Schultasche. Dann hielt er aber noch kurz inne, grinste, und setzte sich zu Motoki aufs Bett. Seine dunkelblauen Augen ruhten freundlich dreinblickend auf Motoki. Dieser nickte. Er wusste genau, was Mamoru von ihm wollte.

"Es tut mir sehr Leid, was gestern passiert ist. Ich mach's auch nie, nie wieder. Versprochen."

"Danke", meinte Mamoru lächelnd, "und mir tut Leid, dass ich so eingeschnappt war. Wir machen's von jetzt an so: jedes Mal, wenn ich wieder so launisch bin, schenke ich Dir was von meiner Schokolade, Ok?"

Darauf grinste ihn Motoki an. "Aha, Du willst also, dass ich gemein zu Dir bin?"

"So ähnlich", brummte Mamoru in den nicht vorhandenen Bart, in der Hoffnung, auf diese Art eine Weiterführung der Diskussion im Keim zu ersticken, "Aber bevor ich gehe, gibt es da noch eine Sache..."

Er ging zu seiner Schultasche, wühlte ein wenig darin herum bis er fand, was er gesucht hatte, dann ging er, von einem Ohr zum andren grinsend, zu Motoki zurück und hielt ihm mehrere Zettel unter die Nase. "Ich hab Dir die Hausaufgaben mitgebracht."

Motoki verdrehte stöhnend die Augen, zog sich die Bettdecke über den Kopf und knurrte: "Das ist also die göttliche Rache für meine Freveltaten..."
 

Wieder zu Hause angekommen warf sich Mamoru erst mal auf die Couch im Wohnzimmer. Fröhlich vor sich hin pfeifend griff er in seine Schultasche, kramte die Tüte mit Motokis Schokolade hervor und wühlte darin herum. Genießerisch fuhr er mit der Zunge über die Lippen, als er sich endlich für eine besonders große Tafel entschieden hatte. Gerade, wie er sich am Verschluss zu schaffen machen wollte, kam Kioku in den Raum.

"Du bist endlich da? Wo hast Du nur wieder gesteckt? Und was zum Teufel hast Du da?"

Sie nahm Mamoru die Tafel aus der Hand und betrachtete die Tüte skeptisch.

"He!", beschwerte sich Mamoru lautstark, "die hab ich von Motoki geschenkt bekommen!"

Kioku setzte wieder ihre belehrende Mine auf, als sie erklärte: "Erstens koche ich gerade Abendessen. Und zweitens ist dieses Zeug viel zu süß. Davon lässt Du die Finger!"

"Was soll das heißen?", fragte Mamoru hilflos.

"Das heißt, junger Mann, dass ich Dich hiermit auf sofortige Diät setze. Bis auf weiteres ist dieses Teufelszeug konfisziert."

"BITTE?", beschwerte sich der Jugendliche.

"Stattdessen", fuhr seine Tante ungerührt fort und verschwand kurz in der Küche, "hab ich da was anderes Schönes für Dich. Da!" Sie kehrte zurück und hielt ihm ein Glas Honig unter die Nase.

"Was denn, Honig???", meinte Mamoru perplex und hob eine Augenbraue zum angewiderten Gesichtsausdruck.

Darauf nickte Kioku. "Honig ist eine wundervolle Gesichtsmaske. Du darfst auch gerne was davon naschen, es enthält Vitamine und ist nicht annährend so zuckerig. Ich will, dass Du sofort im Bad verschwindest und Dir das Zeug in die Fresse schmierst, und zwar ohne Wenn und Aber. Und das machst Du jetzt jeden Tag. Ferner gibt es so schnell keine Süßigkeiten mehr. Glaub mir, Kurzer: das alles ist nur zu Deinem Besten. Wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht vielleicht doch diese mehr als hässlichen Pickel aus Deiner Haut bekommen."

"Aber... aber..."

Der letzte Versuch eines verzweifelten Aufbäumens tangierte Kioku herzlich wenig.

"AB! SOFORT!" Sie wies mit ausgestrecktem Arm durch Wände hindurch in Richtung Badezimmer.

Mamoru war nichts weiter als ein todunglückliches Häuflein Elend, das gesenkten Hauptes durch das Wohnzimmer, den Flur entlang, bis ins Badezimmer schlurfte, wo er sich eine klebrige, schmierige, gelbe, halbflüssige Substanz relativ homogen im ganzen Gesicht verteilte. Er hatte entfernte Ähnlichkeit mit einem Hepatitiskranken, der gerade irgend eine Allergie durchlitt. Erst eine dreiviertel Stunde später erlaubte Imperatorin Kioku ihm, die Paste wieder entfernen zu dürfen. Ihr Kommentar zu seinem daraufhin frischgewaschenen Gesicht, als sie ihm über die Wangen fuhr: "Nein, wie niedlich! Du hast jetzt Bäckchen, so zart wie ein Babyarsch!"

Gedankenverloren saß Mamoru an seinem Platz und starrte die langen, schwarzen Haare an, die nur einen Meter vor ihm über Hikaris Schultern flossen. Würde er sich nur ein wenig vorbeugen, könnte er nach dieser seidigen, schier einzigartig dunklen Haarpracht greifen. Doch er ließ es besser. Chikara saß nämlich direkt neben ihr und wachte wie ein Schießhund über seine Angebetete. Und ihm entging nicht die allerkleinste Bewegung. Mamoru war also völlig chancenlos und fügte sich in sein Schicksal.

Doch das störte ihn im Moment nur mäßig. Denn er war zu sehr damit beschäftigt, Hikaris Haare zu bestaunen. Diese glatten, langen Haare, die wohl weich wie Wolken sein mussten, und die sich im allerkleinsten Lufthauch bewegten. Es schien, als spielten sie mit dem Wind, nur um Mamoru zu verzaubern, ihn zu faszinieren, ihn völlig in einen unüberwindbaren Bann zu ziehen!

Da regte sich der schwarze Schleier, gleich einem Theatervorhang, der zur Seite gezogen wurde, um einem Schauspiel sondergleichen platz zu machen: je mehr die Haare zur einen Seite verschwanden, um so mehr erschien Hikaris Gesicht auf der anderen Seite. Sie drehte sich wahrlich zu Mamoru um!

Ihre sanften Smaragdaugen wandten sich ihm zu, und sie warf einen tiefen Blick in Mamorus lapislazulifarbene Augen, die begierig jeden einzelnen Farbton assimilierten, der sie traf.

Ungeachtet der Gefahr, die Chikara verkörperte, widerstand Mamoru nicht, Hikari ein Lächeln zuzuwerfen. Er schwebte geistig auf höchsten Wolken!

...bis ihm plötzlich klar wurde, dass jeder, wirklich absolut jeder der Klasse ihn anstarrte. Wer seinen verklärten Blick nicht gesehen hatte, musste blind sein! Entsetzt stellte er weiterhin fest, dass auch Chikara nicht entgangen war, wie Mamoru Hikari zugelächelt hatte.

<Ok, das war's. Ich bin tot. Ich lass mich einsargen.>

Mit tomatenrotem Kopf sah sich Mamoru nach einem Mauseloch um, in das er sich verkriechen könnte. Doch die Schulleitung schien gutes Geld für Schädlingsbekämpfung hinzulegen. Es war weit und breit kein Loch zu finden.

"Chiba?", meinte Herr Fune, der Geschichtslehrer, da gerade. In seiner Stimme schwang ein leicht gereizter Unterton mit, und es war normalerweise schwer, diesen sonst so lässigen Lehrer zu reizen. "Würden Sie meine Frage bitte beantworten, bevor Sie weiterträumen?"

<Welche Frage?> Mamoru fühlte sich hoffnungslos hilflos. Er stupste mit der Fußspitze Motokis Fuß an.

"Was soll ich jetzt sagen?", flüsterte er ohne jedwede Lippenbewegung.

Motoki antwortete, ebenfalls so, dass man es nicht merkte: ""Du musst ja nichts sagen, Du sollst nur reden." Er konnte sich den dummen Spruch wohl nicht verkneifen. Wieder einmal.

"Klugscheißer", murmelte Mamoru.

"Also?", meinte Herr Fune. Er hatte inzwischen die Arme vor der Brust verschränkt. "Ich warte!"

"Öh, wie war doch gleich die Frage?", fragte Mamoru kleinlaut.

"Ich würde gerne von Ihnen wissen, wie das europäische Weltbild vor 1600 aussah."

Froh darüber, diese Frage beantworten zu können, sprudelte es aus Mamoru heraus: "Die hatten ne Scheibe als Kugel, ...äh..."

<Ups, total verhaspelt.>

Er erntete allgemeine Heiterkeit, was ihm in seiner prekären Lage aber auch nicht weiterhalf.

"...ich meine, damals hat man die Welt für ne Scheibe gehalten, und noch nicht für eine Kugel", verbesserte er sich. Innerhalb einer Nanosekunde entschloss er sich, alles auf eine Karte zu setzen und fügte noch hinzu: "Oder besser gesagt: man hat sie nicht mehr für eine Kugel gehalten. Denn dass die Erde eine Kugel ist, wussten schon die alten Griechen. Aber dieses Wissen ist bis in das Zeitalter des Mittelalters verloren gegangen." Seine Stimme war, während er sprach, immer leiser geworden und verstarb nun völlig.

Herr Fune nickte.

<Etwa ein zufriedenes Nicken?>, fragte sich Mamoru hoffnungsvoll.

"Sie haben sich soeben wieder gerettet, Herr Chiba. Meinen Glückwunsch! Die Antwort war völlig korrekt und zudem noch mehr, als ich zugegebenermaßen erwartet hätte", meinte Herr Fune, nun wieder lausbübisch lächelnd, "Ich darf Sie dennoch um Aufmerksamkeit in meinem Unterricht bitten. Oder was machen Sie sonst hier in der Schule, wenn es Sie nicht mehr interessiert?"

Mamoru, der schon wieder etwas an Selbstvertrauen zurückgewonnen und dafür an roter Gesichtsfarbe verloren hatte, antwortete mutig mit einem Schulterzucken: "Hier ist es warm und ich hab ein Dach überm Kopf."

Seine Klassenkameraden lachten, diesmal nicht über ihn, sondern mit ihm. Selbst Herr Fune schmunzelte. Und außerdem, man höre und staune, sogar Hikari schien der Spruch zu gefallen. Sie ließ ein glockenhelles Lachen vernehmen, und ihre wundervollen grünen Augen strahlten pure Begeisterung aus.

Was Mamoru allerdings nicht auffiel, war die Tatsache, dass seine plötzliche Beliebtheit Chikara gar nicht in den Kram passte. Es gefiel dem muskulösen Blonden überhaupt nicht, dass Hikari ihre Aufmerksamkeit auch nur einen Augenblick lang an einen Kerl wie den da verschwendete. Chikara beschloss, dieses Problem aus der Welt zu schaffen. Und er würde dafür sorgen, dass es nie wieder zum Problem werden konnte...
 

Mamoru streckte sich ausgiebig. Gerade hatte die Pause begonnen, und nun hatte er fünf Minuten Zeit, sich zu sammeln und etwas auszuruhen, bevor die zweite Geschichtsstunde beginnen würde.

<Doppelstunde Geschichte ist was echt Mieses. Aber ich kann es mir ja nicht aussuchen.>

Er hatte beobachtet, wie Chikara direkt nach dem Klingeln der Schulglocke zu seinem Freund Buki gegangen war, mit ihn wenige Worte gewechselt hatte und dann mit ihm verschwunden war. Nun saß Hikari alleine an ihrem Platz und kontrollierte ihr Make-up im Spiegel. Sie sah hinreißend aus!

<Jetzt oder nie!>

"Motoki? Tust Du mir einen Gefallen?", raunte Mamoru seinem Freund zu.

"Was bekomme ich dafür?", wollte er wissen.

"Du hast die Wahl zwischen einem Knutscher auf die Wange und keinem Tritt vors Schienbein", kam prompt die Antwort.

"Dann nehme ich keinen Tritt vors Schienbein, bitte. Wenn's geht mit ner rosa Schleife drum herum. Worum geht's also?"

"Stell Dich an die Tür und steh Schmiere. Wenn Chikara oder Buki, oder noch schlimmer, beide zurückkommen, dann... äh... dann pfeifst Du irgend ein Lied. Aber laut, hörst Du?", verlangte Mamoru und ließ dabei nicht eine Sekunde lang den Blick von Hikari schweifen.

"Moment mal", beschwerte sich Motoki, "von einem Himmelfahrtskommando war aber nicht die Rede! Was hast Du vor, willst Du Dich an Hikari ranmachen?"

Mamoru nickte und lächelte selbstsicher.

"Wer hat Dir ins Gehirn gerülpst? Bist Du wahnsinnig? Was Du da vorhast, nennt man im Allgemeinen <Harakiri>! Das ist Selbstmord! Du spinnst ja wohl! Und mich da mit reinziehen! Nein, mein Bester, ohne mich!"

"Was heißt hier <mit reinziehen>?", meckerte Mamoru, "Du sollst doch bloß Spalier stehen. Sonst nichts! Ist doch nicht ungewöhnlich, wenn Du mal ein Liedchen pfeifst!"

"Ich spiel Dir das Lied von Tod", giftete Motoki augenrollend.

"Och, komm! Bitte, bitte, bitte!", bettelte Mamoru, "Ich flehe Dich an!" Er faltete die Hände, zog eine Schnute und funkelte Motoki mit seinem herzerweichendsten Blick an.

Dieser seufzte.

"Na gut, na gut", lenkte er endlich ein, "wenn Du mich dann nicht mehr so ansiehst. Aber was tust Du, wenn Hikari Dich hinterher bei ihrem Schoßhündchen verpetzt und der sich dann in einen Werwolf verwandelt?"

"Lass das meine Sorge sein. Und nun geh endlich! Ich hab schon genug Zeit verloren."

Motoki stand auf, spazierte zur Tür und postierte sich dort. Selbst von weitem wirkte er angespannt und nervös.

<Wenn er dadurch bloß keine Aufmerksamkeit auf sich zieht!>

Mamoru räusperte sich. Er fuhr sich schnell durch die Haare, kontrollierte, ob die Krawatte seiner Schuluniform richtig saß, holte noch mal tief Luft und schlenderte mehr mit gespielter denn mit echter Coolness auf Hikari zu. Sein Weg war nicht weit.

Sie beachtete ihn nicht mal, als er direkt neben ihr stand und umständlich hüstelte. Sie war gerade damit beschäftigt, ihre zarten Lippen mit einem sanften Rosa zu bestreichen, indem sie den Lippenstift vorsichtig mit ihren zierlichen Fingern führte.

Mamoru schüttelte leicht den Kopf. Er war schon wieder drauf und dran, wie hypnotisiert im Land der Träume zu versinken. Er hüstelte erneut, diesmal lauter.

Hikari hielt kurz in der Bewegung inne. "Was willst Du?" Dann fuhr sie fort, ohne auch nur einmal den Blick von Spiegel erhoben zu haben.

<Erst denken, dann schlucken, dann reden>, erinnerte sich Mamoru. Diesen Rat befolgte er. Es half tatsächlich, etwas ruhiger zu werden.

"Ich wollte Dir sagen, dass Du heute wirklich fantastisch aussiehst, Hikari."

Sie nickte. "Noch was?"

"Wann hat Chikara Dir das zum letzten Mal gesagt?"

Es war ein Risikospiel. Die Chance stand fünfzig-fünfzig. Und er hatte anscheinend ins Schwarze getroffen.

"Setz Dich", bot Hikari ihm an. Er ließ es sich nicht zweimal sagen. Er war ihm zwar unangenehm, sich auf Chikaras Stuhl zu setzen, aber er gab sich Mühe, das Unbehagen zu ignorieren.

Hikari warf noch einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel, bevor sie ihn weglegte und sich Mamoru zuwandte.

"Woher weißt Du, dass ich nicht allzu viele Komplimente von ihm bekomme? Spürst Du uns etwa nach?", fragte sie.

"Nein, das tue ich nicht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er dazu in der Lage ist. Er ist so... so..." Mamoru wollte nicht schon wieder den Fehler begehen, Hikaris Lover in ihrer Gegenwart schlecht zu machen.

"Klotzig?", half ihm Hikari aus, "ja, das ist er. Er zeigt seine Gefühle nur selten. Aber glaube mir eines: er hat welche. Er ist nicht mit mir zusammen nur um der Welt zu zeigen, wie toll er ist. Er empfindet wirklich etwas für mich. Was ihm fehlt, ist die Fähigkeit, seine Gefühle in Worte zu kleiden."

"Oh, ich glaube, das kann er sogar sehr gut", seufzte Mamoru, "solange Hass und Eifersucht seine dominierenden Gefühle sind."

Hikari kicherte. Es war ein sanfter, wohltuender Klang.

"Ja, das ist wahr", bestätigte sie. "Wow. Mit Dir kann man sich ja wirklich unterhalten. Is ja krass."

"Hast Du das nicht gewusst?"

"Ich habe es nicht erwartet", gestand sie, "Versteh mich nicht falsch, aber ich bin es nicht gewohnt, dass Jungs auch feinfühlig sein können." Sie kicherte erneut, eh sie hinzufügte: "Und ich habe gedacht, heute wäre wieder nur so ein Sladi."

"Ein... was... bitte?"

"Ein Sladi", erklärte Hikari, "Ein Sau langweiliger Dienstag."

"Hmmm", machte Mamoru. Er lächelte.

<Wie kommt man nur auf solche Ideen?>

"Hikari, ich würde gerne etwas von Dir wissen. Liebst Du ihn genauso, wie er Dich?", fragte Mamoru. Er hatte lange Zeit Angst davor gehabt, diese Frage zu stellen. Hatte Angst vor ihrer Reaktion, vor ihrer Antwort. Aber er musste es unbedingt wissen. Und er musste fragen, solange die Atmosphäre es zuließ, und solange er sich noch traute, so eine Frage zu stellen. Solange Hikari noch Zeit hatte, sie zu beantworten, bevor Chikara zurückkehrte.

Hikari kicherte erneut. So gern Mamoru dieses Kichern auch genossen hätte, er brauchte dringend eine Antwort. Und die Zeit wurde langsam knapp.

"Ich glaube kaum, dass ich Dir das in einem einzigen Satz beantworten kann, Mamoru."

<Sie hat mich zum ersten Mal bei meinem Namen genannt! Das ist super! Er klingt so wunderschön, wenn sie ihn ausspricht!>

"Wenn das so ist, was würdest Du dann davon halten, wenn wir uns mal irgendwo treffen würden?", fragte Mamoru mutig drauflos und betete darum, dabei keine knallroten Wangen zu bekommen. Es klappte... so mehr oder weniger. "Wir könnten uns bei einer Tasse heißem Kakao unterhalten... oder Kaffee, wenn Du den lieber magst. Hast Du heute Zeit?"

"Na ja, ich weiß nicht recht", druckste Hikari grübelnd herum.

Da zog ein Geräusch Mamorus Aufmerksamkeit auf sich. Motoki pfiff so laut er nur irgend konnte <alle meine Entchen>. Wahrscheinlich war ihm auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen. Er zog so natürlich einige seltsame Blicke auf sich. Armer Tropf.

Alarmiert sprang Mamoru in die Höhe. "Ich sollte jetzt lieber gehen. Ähm, die Stunde fängt ja gleich wieder an."

"Hab schon verstanden", lächelte ihn Hikari verschmitzt an, "keine Angst, ich sag ihm nichts von unserer kleinen Unterhaltung."

Dankbar strahlte Mamoru sie an, kletterte dann schleunigst über seinen Tisch und setzte sich an seinen Platz. Nur zwei Sekunden später war Motoki bei ihm und setzte sich ebenfalls. Er war vollkommen verschwitzt.

"Einmal und nie wieder, Freundchen", stöhnte er, "ich hab gerade ganze Sturzbäche an Schweiß verloren, aus lauter Sorge um Dich. Wenn ich deinetwegen vertrockne, nehme ich Dich mit in die Hölle, klar?"

"Null Problemo", grinste Mamoru, "vom Fegefeuer in die Hölle is ja nicht weit."

"Und, wie ist es gelaufen?", flüsterte Motoki Mamoru zu. Inzwischen saß auch Chikara wieder am angestammten Platz, also direkt vor Motoki.

Der Schwarzhaarige lächelte darauf siegessicher und flüsterte zurück: "Sie sagt, sie wird mich nicht verpetzen. Deine Sorge war also umsonst. Außerdem..." Er lächelte wie ein Schneekönig. "Sie überlegt sich gerade, ob sie sich mit mir treffen will."

"Moment mal", fuhr Motoki ihn ungläubig an, "Auszeit! Du hast was vor?"

"Pscht", machte Mamoru nervös mit vorsichtigem Blick auf seinen Widersacher, der ihm immerhin schräg gegenüber saß, "sei gefälligst leise. Ja, ich will mich mit ihr treffen, um einen Kaffee zu trinken. Ist doch unglaublich, was?"

"Ja, das ist es." Flüsternd schimpfte Motoki wie ein Rohrspatz. "Und zwar unglaublich blöde. Du hast doch wirklich ein schwarzes Loch zwischen den Ohren sitzen! Sag mal, denkst Du mal zur Abwechslung über das nach, was Du tust? Wenn er das rausfindet, trinkst Du Deinen Kaffee bei den Englein im Himmel!" Er machte eine leichte Kopfbewegung in Chikaras Richtung.

<Warum eigentlich nicht? Dann wäre ich wieder bei meinen Eltern.>

Mamoru schüttelte sachte den Kopf, was Motoki natürlich in diesem Zusammenhang völlig falsch interpretierte.

"Ja, ja, Du machst Dir da keine Sorgen. Aber was tu ich, wenn Du nicht mehr da bist? Das wird ja dann langweilig!"

Mamoru seufzte. "Was auch immer", gab er von sich. Inzwischen klingelte die Schulglocke erneut und kündigte die zweite Geschichtsstunde an.

"Nehmen Sie mal bitte Ihre Bücher zur Hand", verlangte Herr Fune von seinen Schülern.

Eifriges Herumkramen entstand. Nach nur einem kurzen Augenblick stellten Mamoru und Motoki fest, dass weder der eine, noch der andere das Buch mitgebracht hatte.

"Ähm, Entschuldigung, Herr Fune?", meldete sich Mamoru, "wir haben leider beide unsere Bücher vergessen."

"Tja", antwortete darauf Herr Fune, "dann organisieren Sie sich bitte eines. So, Leute, Seite zwei und nein. Äh. Doch. Ja. Seite zweiundfünfzig. Und Sie, Herr Chiba, Sie besorgen es sich jetzt."

Lautstarkes Gegröle, besonders aus männlichen Kehlen, entstand. In sämtlichen Gesichtern war allwissendes Grinsen zu lesen.

"Nicht, was Sie schon wieder denken", versuchte sich der Lehrer zu verteidigen, aber mit einem Schmunzeln auf den Lippen sah er ein, dass man bei einem Publikum diesen Alters sehr vorsichtig mit der Wortwahl sein musste.

Mamoru lieh sich Suirens Buch aus und setzte sich wieder an seinen Platz.

"Herr Chiba, Sie sind mehr oder weniger schuld am allgemeinen Trubel, deswegen werden Sie jetzt bitte mal vorlesen", forderte Herr Fune.

"Von oben?", fragte Mamoru grinsend nach.

Erneut entstand eine Mordsgaudi.

"Spaßvogel", brummelte der Pauker.

Nun las Mamoru also vor. Der Text handelte von dem berühmten italienischen Diplomaten Niccolo Machiavelli, der etwa um 1500 herum lebte. Dieser hatte 1513 sein Hauptwerk "Der Fürst" verfasst, in dem er politische Ratschläge gab, wie sich ein Herrscher optimal zu verhalten hatte. Dieses Werk besagte, ein Gebieter solle eher gefürchtet als geliebt sein, da man ihm so wahrscheinlich weniger in den Rücken fallen und ihn dafür mehr respektieren würde; allerdings solle er aus Furcht auch nicht Hass werden lassen, da er dann womöglich seines Lebens nicht mehr sicher sei. Also solle ein Fürst die perfekte Mitte finden zwischen Milde, Treue und Menschlichkeit, und dem genauen Gegenteil davon.

Als Mamoru geendet hatte, teilte Herr Fune die Klasse in kleinere Gruppen ein, händigte Klarsichtfolien aus und gab Order, die Aussage des Textes grafisch oder stichpunktartig darzustellen. Mamoru und Motoki bildeten zusammen mit einem halben Dutzend Klassenkameraden eine Gruppe, die sich dazu entschloss, die Aufgabenstellung grafisch zu lösen.

Man teilte die Folie in drei etwa gleich große Gebiete ein. Oben stellte ein Strichmännchen mit Krone den Fürsten dar, der von seinem Volk umringt wurde und überall im Bild flogen Herzchen umher. Ein anderes Strichmännchen schlich sich mit einem Messer von hinten an.

Im unteren Bereich der Folie war wieder das Strichmännchen mit der Krone zu sehen. Es war von seinem Strichmännchenvolk umringt, überall flogen Blitze durch das Bild und das Männchen mit der Krone baumelte am Galgen.

In der Mitte schließlich hielt das Männchen mit der Krone ein Zepter in die Luft, die eine Hälfte des Volkes warf Herzchen um sich und die andere kniete in Ehrfurcht auf dem Boden.

Auf seinem Kontrollgang durch die Klasse kam Herr Fune auch an Mamorus Gruppe vorbei, schaute sich die Folie an, schüttelte lachend den Kopf und kommentierte dieses Meisterwerk mit den Worten: "Wenn der Machiavelli sehen könnte, was Sie da aus seinem Text gemacht haben, der würde sich im Grabe rumdrehen, mit 2000 Umdrehungen pro Minute! Den könnte man als Friedhofsventilator benutzen!"

Als die Bildchen fertig gemalt waren, griff Motoki nach dem Stift, schrieb oben und unten dran <so nicht>, notierte ein <richtig so> neben das mittlere Bild und fügte die Namen der Gruppenmitglieder unten an den Rand. Er nickte zufrieden. "So, das war's. Feierabend."

Leider war noch nicht ganz Feierabend. Mamoru und Motoki, die mehr kommentiert als gemalt hatten (mangels Talent, wie sie erklärten), wurden dazu verdonnert, die Folie öffentlich vorzustellen.

Noch während sie zum Tageslichtprojektor marschierten, zog Motoki eine Grimasse, sah Mamoru an und fragte: "Wer macht es von uns beiden? Ich nicht."

<Na toll. Da bleiben mir ja noch große Auswahlmöglichkeiten übrig.>

Wieder die berühmte Furuhata'sche Arbeitsteilung: Mamoru stellte die Folie vor und Motoki stand hin und wieder nickend und freundlich lächelnd daneben. Sozusagen als Dekoration.

Mamoru beendete seinen Vortrag mit der berühmten Erkundigung: "Gibt es noch Fragen?"

Herr Fune meldete sich zu Wort: "Was ist das für ein komisches Gekritzel mitten im Bild?"

Mamoru wies auf Motokis Geschreibsel und erklärte: "Da steht: <richtig so>, also, es wird eigentlich nur das Bild näher beschrieben."

Erstaunt schnappte der Lehrer nach Luft: "Wie? Das soll ne Schrift sein? Ich bitte Sie! Das ist keine Schrift, das sieht aus wie Stacheldraht!"

Die beiden Freunde setzten sich wieder an ihre Plätze. Während Herr Fune noch einige Worte über Machiavelli verlor und den Fernseher samt Videorecorder für einen seiner kleinen, lehrreichen Filme vorbereitete, entdeckte Mamoru auf dem Boden etwas Interessantes: Ein kleiner Zettel lag da zu seinen Füßen. Er hob ihn auf, faltete ihn auseinander und las:

<Heute Abend, 19:00 Uhr, Café "Jugend rockt". Du lädst mich ein, klar? Hikari>

"Mamoru?", versuchte Motoki, seinen Freund in die Realität zurück zu holen, "He, Mamoru! Vergiss nicht zu atmen, das ist ungesund. Was hast Du denn da?"

Wortlos übergab Mamoru Motoki den Zettel. Der las ihn und starrte Mamoru ungläubig an.

"Wie hast Du das gemacht? Hast Du sie mit einem Diamantring bestochen oder was?"

Keine Antwort. Mamoru, der inzwischen doch wieder zu atmen begonnen hatte, saß da, starrte Löcher in die Gegend und grinste wie geisteskrank.

<Sie will mich treffen! Mich! Sie will tatsächlich! Sie will! Sie lässt mich nicht sitzen! Sie hat meine Einladung angenommen! Ich bin der glücklichste Kerl auf der Welt!>

"Mamoru?", machte Motoki erneut und wedelte vor dem Gesicht des glücklichsten Kerls auf der Welt herum.

"Hää? Was is? Was?", murmelte dieser. Er fühlte sich wie aus tiefster Trance erwacht.

"Du willst da doch nicht wirklich hingehen, oder?", fragte Motoki.

"Wieso nicht? Motoki! Meine kühnsten Träume gehen heute in Erfüllung! Verstehst Du das? Sie will sich mit mir unterhalten!"

Darauf schüttelte der Blonde nur den Kopf. "Bist Du wahnsinnig? Die spielt doch nur mit Dir! Die hat was bessres zu tun, als sich mit Dir abzugeben."

"Danke schön."

"Bitte. ...Ich meine es ernst! Geh da nicht hin! Diese Frau reißt Dir das Herz raus und tanzt Flamenco darauf! <Du lädst mich ein, klar?> Die will Dich doch nur benutzen!"

Mamoru funkelte ihn wütend an und sagte erregt: "Was hast Du denn? Bist Du eifersüchtig oder was?"

"Mein lieber Mamoru." Motoki bemühte sich um eine ruhige Stimme, obwohl er schon genauso gereizt war. "Glaube mir, ich bin alles andere als eifersüchtig. Bei jeder andren Frau auf der Welt würde ich Dich beglückwünschen, aber..."

Er wurde in seiner Standpauke jäh von Herrn Fune unterbrochen: "Ruhe jetzt! Ich würde nun gerne den Film abspielen!" Anscheinend hatte er schlussendlich den Kampf mit der Technik gewonnen.

Leise flüsternd fuhr Motoki mit seiner Belehrung fort: "Versteh doch: Hikari ist eine Frau sondergleichen. Sie nimmt ohne zu geben! Ich will... Ich will Dich doch nur vor einem schlimmen Fehler beschützen. Ich sage das alles wirklich nicht, um Dich aufzuziehen, sondern ich sage es Dir als Dein Freund: lass die Finger von ihr! Ich habe mir die ganze Sache lange genug ohne jeglichen Kommentar angesehen, aber jetzt gehst Du eindeutig zu weit!"

"Und wieso hast Du früher noch nichts gesagt?", fragte Mamoru nach.

"Weil... na ja... ich hab nie gedacht, dass es wirklich soweit kommt. Ich habe immer gehofft, Du traust Dich nicht, sie anzusprechen. Aber das war wohl ein Irrtum. Und jetzt versuche ich, Schadensbegrenzung zu betreiben. Glaube mir bitte: Ich will nur das allerbeste für Dich!"

"Wenn das so ist", meinte Mamoru missmutig, "dann lass mich zu ihr. Ich sehe das so, es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir passen zueinander, und werden glücklich. Oder Du hast tatsächlich Recht, was ich allerdings stark anzweifle. Wenn es wirklich so ist, dann lass mich bitte daraus für die Zukunft lernen! Lass mich..."

Er erinnerte sich an die Gespräche, die er mit Tante Kioku und Onkel Seigi geführt hatte. Er glaubte, in genau diesem Moment verstehen zu können, was die beiden die ganze Zeit über gemeint hatten.

"...lass mich Erfahrungen sammeln", fuhr er leise fort. "Lass mich meine eigenen Fehler machen, damit ich für die Zukunft gewappnet bin."

Mamoru sah seinen besten Freund an. Ein sanfter, bettelnder Ausdruck lag in seinem Blick.

"Gib mir die Chance zu beweisen, dass ich fallen und wieder aufstehen kann. Und dann tu das, wofür Freunde da sind: Wenn es tatsächlich soweit kommt, dann fang mich in meiner dunkelsten Stunde auf und hilf mir auf die Füße. Damit ich meinen Weg zum Erwachsenwerden weiterhin beschreiten kann. Ich bitte Dich: geleite mich und führe mich, so wie es eigentlich meine Eltern tun sollten, die es ja nicht können, weil sie nicht da sind. Geh neben mir den Weg! Stütz mich, wo ich es nötig habe, aber lass mich frei, wann immer ich es alleine schaffen kann. Ich muss manchmal fallen und mir das Knie aufschlagen, verstehst Du das?", schloss er mit leiser, eindringlicher Stimme.

"Oh, Mamoru. Da verlangst Du was von mir", seufzte Motoki. Aber er verstand.

Der Fernseher, der vor der Tafel aufgebaut war, warf ein sanftes, fast freundliches Licht in den sonst stark verdunkelten Raum. Und in der hintersten Reihe des Klassenzimmers, vom barmherzigen Umhang der Dunkelheit vor fremden Blicken geschützt, umarmten sich zwei treue Freunde.

Ganz sachte fuhr Motoki seinem besten Freund durch die langen Haare, die Mamoru zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Es war ein besonderes Gefühl für Motoki. Mamoru vermittelte ihm bedingungsloses Vertrauen und tief empfundene Freundschaft. Und dafür gab Motoki Geborgenheit und Sicherheit zurück.

Die Zeit stand für einen kurzen Moment still. Dann lösten sich die beiden wieder von einander. Pure Dankbarkeit lag in Mamorus Blick.

Lächelnd schlug Motoki vor: "Sollen wir uns jetzt den Film angucken?"

"Au ja!", flüsterte Mamoru.

Der Film zeigte den Unterschied zwischen dem Leben im Mittelalter und dem in der Renaissancezeit in Europa. Gerade war eine Szene auf einem Bauernhof zu sehen, wo ein Bauer damit beschäftigt war, seine Schweine zu füttern.

Suiren war von diesem Anblick ganz entzückt. "Oh, schau mal! Lauter Ferkel!", rief sie aus.

Darauf rief Motoki: "Oh, schau mal! Lauter Schnitzel!"
 

Nach der Schule liefen die beiden noch eine Weile nebeneinander her. Normalerweise nutzten sie gerne diese Zeit, um über alle möglichen Dinge zu reden. Aber diesmal nicht. Angesichts der Tatsache, dass dieser Abend ein ganz besonderer Abend für Mamoru werden sollte, lag eine schier greifbare Spannung in der Luft.

"Soll ich nicht lieber mitgehen?", fragte Motoki gerade, "so als Kindermädchen? Damit Du jemanden zum Ausheulen hast, falls irgendwas ist?"

Mamoru verneinte. "Ist schon Okay, ich bin groß genug, finde ich."

Darauf spielte Motoki eine verheulte Mutter nach: "Buääh! Mein kleines Baby wird erwachsen!"

"Na, das hoffe ich doch mal so langsam", brummelte Mamoru vor sich hin.

"Jetzt mal ohne Scheiß", meinte Motoki, und auf seinen Lippen lag ein Lächeln, das beinahe an väterlichen Stolz erinnerte, "Du hast Dich wirklich gemausert. Irgendwas ist anders an Dir seit den letzten paar Wochen. Bist Du über einen Geist in einer Wunderlampe gestolpert, oder was?"

"So ähnlich", antwortete Mamoru und zuckte mit den Schultern, "wenn man ein Honigglas als Wunderlampe bezeichnen kann..."

Verdutzt blieb Motoki stehen. "Hää? Also, das musst Du mir jetzt erklären."

"Ganz einfach", grinste Mamoru und wandte sich zu seinem Kumpel um. "Tante Kioku hat mir ein altes Hausmittel für bessere Haut verschrieben: Honig! Sie hat jeden Tag von mir verlangt, ich soll mir das Zeug ins Gesicht schmieren und etwa ne halbe Stunde wirken lassen. Und das hab ich gemacht. Seit... seit unsrem Streit, also schon... seit ein paar Wochen oder so. Wir haben ja jetzt immerhin schon Februar. Es wirkt wirklich! Ich sehe schon viel besser aus!"

"Eigenlob stinkt", lachte Motoki und besah sich seinen Freund genauer. "Aber ich muss schon sagen, Du siehst echt gesünder aus. Und Du verarschst mich echt nicht? Hinterher bist Du gar nicht der, für den ich Dich halte, sondern so ne Art jahrelang verschollener Zwillingsbruder. Was hast Du mit Mamoru gemacht?"

Als Antwort darauf krempelte Mamoru seinen rechten Jackenärmel hoch und zeigte Motoki die beiden langgezogenen Narben am Unterarm. "Noch Fragen?"

"Nein, keine mehr. Das ist besser als jeder Personalausweis", stellte Motoki fest.

Mamoru zog den Ärmel wieder herunter, und beide setzten ihren Weg fort.

"Und Du willst wirklich immer noch heute Abend da hin?", fragte Motoki, und leichte Unsicherheit schwang in seiner Stimme mit.

<Er macht sich anscheinend wirklich große Sorgen um mich.>

Mamoru nickte. "Auf jeden Fall. So eine Chance lass ich mir nicht entgehen. Wer weiß, was das alles ausmachen könnte? Kannst Du Dir das vorstellen, Motoki? Die perfekte Traumfrau und ewige Glückseligkeit in der Zukunft?"

"Na, dann hoff ich mal für Dich, dass es nicht nur eine Traumfrau bleibt, sondern eine reale Frau wird", witzelte Motoki, "obwohl ich mir ehrlich gesagt lieber etwas oder jemand anderes vorstellen würde. Ich hab so ein flaues Gefühl im Magen."

"So was nennt sich <Hunger>, das hab ich auch", lachte Mamoru, "mach Dir keinen Kopf, Kumpel, ich werd schon nicht Kopf und Kragen verlieren! ...Ach, übrigens Kragen: was soll ich eigentlich anziehen?"

Motoki lachte lauthals los. "Du klingst wie ein Weib! <Was soll ich anziehen, was soll ich anziehen!>", machte er Mamoru nach, "ich sag Dir was, mein Gefährte, zieh Dich an, wie Du auch sonst bist. Wozu solltest Du Dich verstellen? Du verlangst ja auch von ihr, dass sie ehrlich ist, dass sie sich nicht verstellt, und dass sie sich genauso gibt, wie sie auch ist, oder? Dann solltest Du Dich auch genauso geben, wie Du eben bist. Wenn sie nicht damit klarkommt, sollte sowieso besser Schluss sein."

"Na, Du machst mir Mut", jammerte Mamoru, "redest vom Schluss, bevor es richtig begonnen hat! Aber Du hast Recht. Einfach locker, lässig, latürnich."

"Natürlich latürnich, was denn sonst?!", grölte Motoki.

An der nächsten Straßenkreuzung verabschiedeten sich die beiden Freunde. Pfeifend lief Mamoru weiter nach Hause.

<Soll ich ihr ein Geschenk besorgen? ...Nöh, ich finde, vorerst reicht es, dass ich ihr das Getränk bezahle. Wer weiß, was die sonst noch bestellen mag? Kuchen oder so was Teures. Ich bin da lieber vorsichtig.>

Ihm verging das lustige Liedchen, als er sich an Motokis Worte erinnerte:

"<Du lädst mich ein, klar?> Die will Dich doch nur benutzen!"

<Und wenn es so wäre?>

Mamoru seufzte schwer.

<Ach was, er macht sich nur viel zu viele Sorgen. Das ist alles. Es wird blendend verlaufen!>

Lächelnd hielt sich Mamoru Hikaris Bild vor Augen: Die schönen, langen, schwarzen Haare, die tollen Brüste, dieses zuckersüße Lächeln...

Doch da wurde er eiskalt aus seinen Erinnerungen gerissen. Eine tiefe, wohlbekannte Stimme hinter ihm rief ihn in steinhartem, eisigem Unterton.

"Chiba?"

Sofort verschwand jegliches Blut aus seinen Wangen. Als er sich zögerlich umdrehte, machte er große, dunkle Schatten aus, die sich auf ihn zu bewegten, wie grazile schwarze Panther, die ihre Beute in der sicheren Falle wussten...

"Chiba! Was für eine freudige Überraschung, Dich hier anzutreffen! So ein verdammter Zufall aber auch." Chikaras Stimme zerschnitt die kalte Winterluft wie ein heißes Messer die Butter.

<Verdammt. Das ist genau das richtige Wort.>

Erschrocken realisierte Mamoru, dass Chikara nicht alleine war. Hinter dem Blonden tauchte ein weiterer hochgewachsener Kerl auf: Mamorus und Chikaras gemeinsamer Klassenkamerad Buki Ranbô, der als ebenso gewalttätig, doch nicht annährend so intelligent wie Chikara galt. Wie ein Hund dackelte er andauernd hinter Chikara her und wartete nur auf den Befehl: <Fass!>

Ein, wenn nötig, tödlicher Befehl...

Beide kamen grinsend auf Mamoru zu, der wie zur Salzsäule erstarrt dastand, und sich nicht entscheiden konnte, was zu tun sei. Weglaufen war unmöglich. Niemand war so schnell wie Chikara. Dableiben war auch nicht drin. Und beamen oder fliegen hatte Mamoru noch nicht gelernt.

Das Adrenalin, das nun von seinen Nebennieren in den gesamten Blutkreislauf strömte, gab Mamoru die Fähigkeit, nur noch eine einzige, letzte, freie Entscheidung zu fällen: Er würde es solange wie möglich mit diplomatischer Redekunst versuchen, aber er bereitete sich innerlich auf einen Kampf vor und traf alle dazu nötigen Vorbereitungen. Er setzte seine Schultasche neben sich ab, zog die schwere Jacke aus, legte sie fein säuberlich daneben und trat mit einem möglichst freundlichen Lächeln auf die beiden Widersacher zu. Damit war also die Entscheidung getroffen. Nun gab es kein Zurück mehr. Das Adrenalin tat seine Wirkung: Mamorus Denkfähigkeit wurde auf ein Minimum reduziert, seine Muskeln aktiviert, sein Herzschlag gesteigert, seine Entschlossenheit und sein Lebenswille auf die höchste Ebene gebracht. Er war bereit, für sich zu kämpfen.

"Hallo, Jungs! Na, was gibt's?", fragte Mamoru höflich, jedoch mit dem Ausdruck des Misstrauens im Blick. Er ließ seine beiden Kontrahenten nicht aus den Augen.

"Was es gibt?", fragte Chikara belustigt nach, "Ich sag Dir, was es gibt: ne deftige Keilerei. Ein paar heiße Ohren, ein paar auf die Mütze, das gibt es. Soll ich weitermachen?"

"Nicht nötig, ich bin nicht schwer von Begriff", kommentierte Mamoru Chikaras Antwort. Den diplomatischen Weg konnte er also vergessen. Sei's drum. Er störte sich daran schon gar nicht mehr, das Adrenalin wusste es zu verhindern.

Die drei Todfeinde waren nun nah aneinander getreten. Die Szenerie erinnerte an einen alten Wildwestfilm. Auf der einen Seite der einsame Held, der nichts und niemanden fürchtete. Auf der anderen Seite die beiden Schurken, die dem Helden zu seinem Heldentod verhelfen wollten. Anstatt Sand lag einfach überall Schnee herum. Fehlte nur noch das berühmte <Zieh, Junge!>

"Hör zu, Chiba", begann Chikara, "mir gefällt es gar nicht, dass Du Dich einer solchen Beliebtheit erfreust, klar? Du kannst Dir selbst jetzt einiges ersparen, wenn Du Dich nur an ein paar kleine Regeln hältst. Erstens: Starr Hikari nicht so an. Zweitens: Denk nicht mal an sie. Und Drittens: Schraub Deine komischen Einlagen im Unterricht runter, kapiert? Es passt mir so gar nicht, dass Du so ne Scheiße verzapfst und Deine idiotischen Sprüche raushängen lässt."

<Oder eher: Dir gefällt nicht, dass diese Sprüche bei Hikari so gut ankommen.>

"Welche Laus ist Dir über die Leber gelaufen?", fragte Mamoru herausfordernd mit selbstgefälligem Lächeln, "wirst Du ihr langsam langweilig, oder was ist los? Bist Du so ein Griesgram, dass Du mir das bisschen Spaß nicht gönnst? Wie wär's, wenn Du Dich stattdessen etwas mehr ins Zeug legen würdest? Oder willst Du etwa sagen, dass Du nicht an meine Sprachgewandtheit und meinen Witz herankommst?"

Chikara war die ganze Zeit ruhig geblieben. Herablassend hatte er gegrinst. Mamorus Selbstsicherheit war auf Chikaras außergewöhnlichen Ruhe aufgebaut gewesen. Aber jetzt hatte Mamoru mit dem roten Tuch vor dem Stier herumgewedelt.

Nun, völlig unerwartet, war diese Ruhe unermesslichem Zorn gewichen. Mamoru hatte den Schlag, der ihm jetzt ins Gesicht donnerte, gar nicht kommen gesehen. Er wurde um hundertachtzig Grad um die eigene Achse geschleudert und landete ziemlich unsanft im Schnee, der nur das Gröbste des Sturzes bremsen konnte. Die sonst so weiße Pracht färbte sich rot durch das Blut Mamorus aufgeplatzter Lippe. Er hatte gerade noch Zeit, etwas Blut auszuspucken, als er schon wieder brutal in die Luft gerissen wurde. Buki zerrte Mamoru auf die Beine, und Chikara versetzte ihm einen Haken in die Magengrube. Hustend und spuckend wäre Mamoru erneut zusammengebrochen, hätte Buki ihn nicht eisern festgehalten. Sekundenlang versuchte Mamoru, sich nach vorn zu krümmen und nach Luft zu schnappen. Wie ein Tornado, der nichts als Zerstörung hinterließ, jagte der Schmerz durch seinen Torso. Seine beiden Peiniger gaben ihm etwas Zeit, sich wieder zu fangen, eh sie ihr kleines, lustiges Spielchen weiter trieben.

Mamoru zappelte und versuchte sich loszureißen. Erst als er Buki mit aller Kraft auf den Fuß trat, lockerte sich der Griff. Mamoru fuhr herum, verkrallte sich mit der einen Hand in Bukis kurzen, braunen Haaren und versetzte ihm mit der anderen einen Schlag gegen den Hals. Keuchend und ächzend ging dieser zu Boden. Mamoru hatte keine Zeit, sich über diesen winzigen Sieg zu freuen, er musste zuerst an den anderen, viel gefährlicheren Gegner denken. Er wandte sich Chikara zu. Doch dieser hatte schon mit einer derartigen Bewegung gerechnet.

Blitzschnell tauchte der Blonde unter Mamorus Fußtritt hindurch, federte nach oben und schlug dem Gegenüber hart auf das rechte Auge. Dieser torkelte und fiel erneut. Mamoru hielt sich die Hand über das gepeinigte Auge und biss die Zähne zusammen, um keinen Laut des Schmerzes von sich zu geben. Er musste vor Chikara stark sein. Er musste zumindest abgehärtet wirken. Er durfte keine Schwäche zeigen. Das verlangte sein männlicher Stolz. Er wollte zumindest als guter Verlierer dastehen, als würdiger Gegner. Und sei es nur für Hikari.

Mamoru hörte nur das Knirschen des Schnees. Chikara näherte sich ihm. Dann fühlte er nur noch diesen explodierenden Schmerz. Chikara hatte ihm einen brutalen Tritt in die Nieren versetzt. Mamoru brüllte vor Höllenpein auf. Die Welt vor seinen Augen schien sich zu drehen.

Wieder wurde er hochgezerrt. Das linke Auge sah Chikaras verschwommene Umrisse. Wie aus der Ferne tönte die Stimme des Blonden an Mamorus Ohr heran: "Wage es nicht, Hikari zu nahe zu kommen! Verstanden?"

Chikara ließ wieder los. Mamoru landete auf dem Boden und blieb schwer atmend liegen. Ein letztes Mal starrte Chikara ihn mit bösem Blick an. Der Blonde spuckte dem am Boden liegenden Jungen ins Gesicht und ging dann mit Buki, der sich immer noch den Hals hielt, davon.

Einsam und verlassen lag Mamoru noch eine ganze Weile auf dem eiskalten Boden. Tränen liefen an seinen Wangen herunter. Er wagte nicht, sich zu rühren. Seine Nieren sendeten ununterbrochen pochende Schmerzen durch seinen ganzen Rücken. Der Schnee färbte sich immer weiter rot. Seine Eiseskälte half dabei, die Wunden zu kühlen und schlimmere Schwellungen zu verhindern. Nach einer Ewigkeit, wie es schien, schaffte Mamoru es doch, sich aufzurichten. Noch immer protestierten seine Nieren vor Schmerzen, aber er konnte unmöglich hier bleiben. Er war vom Schnee völlig durchnässt und das Blut klebte unangenehm und warm in seinem Gesicht. Keuchend blickte Mamoru sich um. Es war absolut niemand in seiner Nähe. Dabei hatte er eigentlich erwartet, dass irgendjemand seinen Schrei gehört haben musste; irgendjemand! Doch er war völlig allein.

<Mama, Papa> dachte er betrübt. <Wieso seid ihr nicht da? Wieso? Wieso habt ihr mich so allein gelassen? Ich will nicht so alleine sein. Warum habt ihr mich nicht beschützen können?>

Lautlose Tränen liefen ihm weiter über die Wangen, während er Chikaras Speichel von seinem Gesicht wischte, sich unter Qualen die Jacke wieder anzog und den Schulranzen aufsetzte.

Er schlurfte langsam die Straße entlang. Seine Gedanken schweiften immer wieder zurück zu seinen Eltern, die schon seit so langer Zeit tot waren. Das ganze Leben war so ungerecht!

Nach nicht allzu langer Zeit kam er zu Hause an. Er trat durch die Haustür, fuhr mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock, steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Der Schlüsselbund klapperte, als er den Haustürschlüssel wieder abzog um die Tür zu schließen. Er streifte sich die Schuhe ab und lief wortlos durch den Flur der großen Wohnung. Er antwortete auch nicht, als seine Tante aus dem Wohnzimmer rief: "Mamoru? Bist Du das? Du kommst spät, alter Trödler, ich hab mir schon Sorgen um Dich gemacht. ...Mamoru? ...Antworte mir gefälligst!"

Er schlich sich in sein Zimmer und schloss die Tür ab. Nachdem er seine Schultasche mit voller Wucht auf den Boden geknallt und sich die Jacke ausgezogen hatte, kauerte er sich ganz klein auf seinem Bett zusammen und starrte Löcher in die Luft. Seine Tränen waren längst versiegt und getrocknet. Seine Trauer war zu groß, als dass er sie auf so banale Art noch hätte ausdrücken können.

Es klopfte an der Tür. Seine Tante Kioku fragte: "Mamoru? Ist was passiert? Mamoru!"

Sie versuchte, die Tür zu öffnen. Doch er hatte ja abgeschlossen. "Mamoru? Bitte mach die Tür auf. ...Was ist denn los?"

Ihre Stimme klang bettelnd, fast flehend, doch er reagierte nicht. Er hörte es kaum. Das Klopfen wurde immer lauter, fordernder. Kiokus Stimme schlug in pure Sorge um. Mit besorgtem, tränenerfülltem Rufen bat sie immer wieder um Einlass, der ihr aber nicht gewährt wurde. Irgendwann sank sie vor Verzweiflung schluchzend vor seiner Tür zusammen. "Mamoru", wimmerte sie, "Was soll ich denn tun? Sag mir doch, was passiert ist! Ich will Dir doch bloß helfen! Mamoru!"

Er saß regungslos auf seinem Bett und wippte apathisch vor und zurück. Er bemerkte nicht, wie sich seine Tante irgendwann aufraffte und ins Wohnzimmer ging; merkte nicht, dass eine geraume Zeit lang absolute Stille herrschte; merkte nicht, wie die Türklingel läutete; merkte nicht, wie erneut an seine Tür geklopft wurde. Was er allerdings realisierte, war Motokis Stimme: "Mach auf, Kumpel, Dein Trauzeuge ist da."

Klar, in einer solchen Situation konnte nur Motoki ihn aufheitern. Mamoru musste leicht schmunzeln, wenn es auch nur für ein paar Sekunden war. Er krabbelte langsam vom Bett runter, schlurfte zögernd zur Tür, drehte den Schlüssel herum und kletterte wieder auf sein Bett, um weiterhin Löcher in die Luft zu starren. Motoki öffnete die Tür und starrte erst mal offenen Mundes seinen entstellten Freund an. Kioku bahnte sich ihren Weg an ihm vorbei und stürmte auf Mamoru zu. Sie blieb vor ihm stehen, schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund und flüsterte: "Oh, Himmel! Mamoru! Was ist bloß passiert?"

Man spürte ihr Zögern deutlich. Zum einen wollte sie ihren Neffen an sich drücken, wollte ihn untersuchen, sein Gesicht abtasten, ihn trösten. Er tat ihr einfach unglaublich Leid, wie er so dasaß und auf irgend einen Punkt in weiter Ferne starrte. Zum andren allerdings wollte sie ihm nicht wehtun. Überall klebte verschmiertes, getrocknetes Blut, und es war auf den ersten Blick schwer zu sagen, wo er überall verletzt war.

Motoki erlangte seine Fassung als erster wieder. "Kioku? Wir müssen ihm helfen. Gibt es hier so was wie einen Erste-Hilfe-Kasten?"

Kioku nickte leicht geistesabwesend und stürmte dann los. Motoki setzte sich zögerlich neben Mamoru. "Deine Tante hat mich gerade angerufen", erklärte er, "hat gesagt, irgendwas würde nicht stimmen. Sie klang ziemlich aufgelöst und ich hab mir schon sonst was gedacht. Aber Dich hier so vorzufinden, das ist schon ganz schön erschreckend. Was ist passiert, verdammt?"

Keine Antwort. Mamoru war längst wieder in seinen Gedanken versunken. Kioku kam zurück. Sie hatte feuchte Tücher, Desinfektionsmittel, Pflaster und diverse andere Materialien dabei. Mit Motokis Hilfe säuberte sie erst Mamorus Gesicht, was ihm schon Schmerzen bereitete, verteilte dann großzügig das Desinfektionsmittel auf die Wunden, was natürlich noch sehr viel schlimmer war, und klebte Pflaster drüber. Sie reichte ihm ein kleines Plastiktütchen mit Eiswürfeln drin, das er sich auf das rechte Auge legte, während sie seine Lippe eincremte. Er sah furchtbar aus.

Motoki und Kioku setzten sich neben Mamoru.

"Nun sag mir doch mal, was geschehen ist. Was hat Dich so zugerichtet?", erkundigte sich Kioku.

"Nichts", antwortete er missmutig.

"Schon wieder nichts?", fragte Motoki in gespielter Bestürzung, "Na, dem Nichts wird ich es aber mal zeigen! Das soll sich warm anziehen, dieses Nichts, dem zieh ich das Fell über die Ohren!"

"Glaub ich kaum", flüsterte Mamoru brummelnd, "dieses Nichts ist nämlich annährend zwei Meter groß, blond und muskulös."

"Wieso? Ich hab Dir doch gar nichts getan!", verteidigte sich Motoki. Dann wurde er ernst.

"Chikara also. Ich hab Dir gesagt: es ist ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Aber nö, Du hörst ja nicht, wenn ich Dir irgendwas sage."

"Wer ist Chikara?", wollte Kioku wissen.

"Nichts, sag ich doch", antwortete Mamoru grantig.

An seiner statt erklärte Motoki: "Er ist in unserer Klasse. Er hält sich für den besten und stärksten. Na ja, das ist er auch. Ich weiß ja, dass man sich besser nicht mit ihm anlegen sollte, aber dass er tatsächlich dazu fähig ist, jemandem so etwas anzutun, das hätte ich dann doch nicht erwartet. Mamoru hatte wirklich absolut keine Chance."

"Vor allem", ergänzte dieser, "wenn er sein kleines Schoßhündchen an der Leine führt."

"Was, Buki war auch dabei?", rief Motoki fassungslos aus, "Ich dachte, den nimmt er nur mit, wenn es ernst wird? Mann, so betrachtet hat der Kerl wirklich Schiss vor Dir! Mein Respekt!"

"Danke, danke", witzelte Mamoru ironisch.

"Aber... aber...", machte Kioku, "Aber das geht doch nicht! Der kann doch nicht einfach so daher kommen und tun und lassen was immer er will! Wir müssen zur Polizei gehen!"

"Lass gut sein, Tante Kioku", meinte Mamoru kleinlaut, "Ich hab ihm ja auch allen Anlass gegeben, wütend zu sein. Du erinnerst Dich, wie wir uns über Hikari unterhalten haben?"

Kioku nickte.

"Nun, sie ist seine Freundin. Also, seine feste Freundin. Er wollte mich vorhin nur höflich darauf hinweisen, dass ich doch bitte nicht an sie denken möge." Mamoru lachte sarkastisch. Dann fuhr er leise hinzu: "Außerdem... darf ich mich gar nicht wundern, wenn ich ihn so provoziere."

"Du durchgeknallter, verrückter Kerl hast -was- gemacht???", fragte Motoki ungläubig nach.

Mamoru zuckte mit den Schultern. "Ich weiß auch nicht, ...ich konnte nicht anders. Keine Ahnung, was mich da geritten hat. Jedenfalls hat sich mein Gehirn ausgeschaltet. Das war echt nicht so beabsichtigt!"

"Geschehen ist geschehen", bemerkte Motoki, "daran können wir jetzt auch nichts mehr ändern. Was mich nur interessieren würde ist: Hast Du immer noch vor, Dich heute Abend mit Hikari zu treffen?"

"Wie soll ich ihr denn so unter die Augen treten? Ich sehe doch zum Fürchten aus! Sie wird schreiend davonlaufen", beklagte sich Mamoru.

"Du hast nicht viel schlimmer ausgesehen, als Du die Pickel noch hattest", witzelte Motoki.

"Moment mal", schaltete sich Kioku wieder ein, "Du willst sie treffen? Und was machst Du, wenn dieser Chikara bei ihr ist? Ich kann doch nicht zulassen, dass er Dich zu Matsch verarbeitet!"

"Das ist das kleinere Problem", meinte Motoki selbstsicher und sprang vom Bett auf. "Ich begleite ihn natürlich! Ist doch Ehrensache! Ich passe schon auf! Mamoru, wenn Du echt noch da hin willst, dann solltest Du Dich lieber langsam mal umziehen."

Mamoru starrte seinen Freund verunsichert an. Zu Kioku gewandt fragte er: "Was meinst Du, darf ich mich heut Abend mit Hikari treffen?"

Sie zögerte mit der Antwort. Schließlich hob sie die Schultern und meinte: "Was soll Dich davon abhalten? Du wirst langsam erwachsen, da kann ich Dir so was doch nicht verbieten. Aber wenn Du auch nur Chikaras Schatten siehst, rennst Du wie der Teufel, klar? Und ihr beiden trennt euch keine Sekunde von einander, verstanden? Immerhin: die Welt ist groß und gefährlich, wie wir hiermit erneut feststellen durften."

Motoki machte das Daumen-Hoch-Zeichen und Mamoru nickte. "Tante Kioku? Würdest Du mich kurz mit Motoki allein lassen, bitte?", fragte er.

"Natürlich, Kurzer. Hach, ich bin froh, dass es Dir wieder etwas besser geht. Jag mir nie wieder so einen Schrecken ein, kapiert?" Damit verließ sie das Zimmer.

"Was hast Du jetzt mit mir vor?", fragte Motoki, "Soll ich Deinen Modeberater spielen, oder was?"

"Das nicht", stammelte Mamoru verlegen, "ich wollte mich eigentlich nur bei Dir bedanken. Für all die Mühe, die Du Dir mit mir machst. Danke."

"Kein Problem, Kurzer", machte er Kioku nach.

"Motoki?"

"Ja?"

"Ist es echt Okay für Dich, dass Du mitkommst? Und dass ich mich mit Hikari treffe?"

Motoki seufzte, ehe er antwortete: "Ich hab kein Problem damit, Dich zu begleiten. Aber was ich über Hikari denke, das weißt Du ja schon. Daran hat sich nichts geändert. Ich rate Dir immer noch: Sei vorsichtig!"

Mamoru nickte stumm und starrte wieder mit eingesunkenem Gesicht die Wand an.

"Was ist denn jetzt schon wieder?", erkundigte sich Motoki, "So wie ich das sehe, solltest Du jetzt in der Gegend herum hüpfen und jubeln! Du bist knapp dem Tod entgangen und triffst Dich in wenigen Stunden mit der tollsten Frau der ganzen Stadt! Was schmollst Du also noch?"

Tonlos antwortete Mamoru: "Ich hab vorhin an meine Eltern gedacht."

Betreten sah Motoki zu Boden. Er wusste, das war ein sehr heikles Thema. Er hatte keine Ahnung, wie er darauf reagieren sollte. Zu seinem Glück kam Mamoru nur äußerst selten darauf zu sprechen.

Der Schwarzhaarige fuhr fort: "Kennst Du das? Wenn man einfach nicht mehr weiter weiß und dann an jemanden denkt, den man liebt?"

"Du liebst sie? Du kennst sie doch noch nicht einmal!" Motoki hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, aber das kam zu spät. Nun war die Frage schon gestellt. Eine angespannte Stille erfüllte den Raum. Lange Zeit regte sich gar nichts. Bis Mamoru endlich antwortete: "Ich glaube, ich würde sie lieben, wenn ich mich an sie erinnern könnte. Sie waren immerhin meine Eltern. Wer weiß, vielleicht hätten sie mich irgendwie beschützen können, wenn sie noch am Leben wären? Wer weiß..."

Erneut entstand eine geräuschlose Stille. Motoki war diese Thema sehr unangenehm, er hätte viel lieber über etwas anderes gesprochen. Andererseits, wenn Mamoru einmal seinen weichen Kern präsentierte, sollte man da nicht unbedingt eine Nadel reinstechen.

Tonlos fragte Mamoru in die Stille hinein: "Glaubst Du, sie wären stolz auf mich?"

Motoki, der die ganze Zeit schweigend neben dem Bett gestanden hatte, setzte sich nun wieder und antwortete in ruhigem Ton: "Also, ich bin es."

"Danke", flüsterte Mamoru und lehnte sich an Motokis Schulter. Der nahm seinen unglücklichen Freund behutsam in den Arm.

Mamoru hatte geduscht. Er hatte sich nicht nur den Dreck vom Körper, sondern auch von der Seele gewaschen; es war nötig gewesen. Davor hatte er die Pflaster entfernt, die nun ersetzt werden mussten. Er sah nun nicht mehr so sehr zum Fürchten aus, aber schlimm war es dennoch: Seine Lippe war teilweise ziemlich hässlich verkrustet, das rechte Auge war blau angelaufen und ziemlich dick, die Augenbraue darüber war stark geschwollen und eine Platzwunde der Größe eines kleinen Fingernagels zog sich darüber hinweg. Kioku hatte wie ein Rohrspatz geschimpft, dass Mamoru nicht viel eher die Tür geöffnet hatte. Wie auch immer, nun war es sowieso zu spät. Motoki brachte ein neues Pflaster über Mamorus rechtem Auge an, nachdem er es erneut behandelt und eingecremt hatte. Mehr konnte man nicht tun.

Motoki half Mamoru auch bei der Wahl der Kleidung. Die beiden entschieden sich für ein sportlich-elegantes Outfit. Eine schwarze Jeanshose, ein dicker schwarzer Pulli mit einem silbernen, aufgestickten Drachenmotiv, dazu Turnschuhe, die im schlichten schwarz und silber gehalten waren. Mamoru würde sich später einen chicen, schwarzen Ledermantel darüber anziehen, aber dafür war es momentan noch zu früh. Eigentlich wollte er sich schnell noch mal rasieren. Aber Motoki war der Meinung, es lohne sich nicht bei dem bisschen Bart, das Mamoru hatte.

Nun saßen die beiden Freunde also in Mamorus Zimmer und harrten der Dinge, die da kommen mochten. Motoki räkelte sich relaxed auf dem weichen Chefsessel herum, während Mamoru nervös an seiner Bettdecke herumzupfte und sich immer wieder durch die Haare fuhr, die, wie schon so oft, hinten zusammengebunden waren.

"Lass doch endlich diese Rumfummelei bleiben", bat Motoki, "das macht einen ganz wahnsinnig."

"Was soll ich erst sagen?", beschwerte sich Mamoru, "die ganze Situation ist viel zu viel für mich. Heute ist der mit Abstand längste Tag meines Lebens!"

"Und man soll den Tag ja nicht vor dem Abend loben, richtig?", brummelte Motoki. Er war irgendwie ziemlich müde. Die bisherigen Erlebnisse hatten schon ganz schön geschlaucht, und nun tankte er Energie für den restlichen Abend, wie lange dieser auch immer werden konnte.

"Motoki?", fragt Mamoru ganz leise.

"Ja?"

"Ähm, also, das muss meine Tante nicht unbedingt mitbekommen, aber... Du musst mich nicht unbedingt bis ins Café hinein begleiten. Du kannst auch gerne vorher schon gehen. Es ist doch sowieso bloß langweilig für Dich."

"Oh, nein, mein Lieber", wehrte Motoki ab, "es ist überhaupt nicht langweilig für mich, Dir dabei zuzugucken, wie Dir irgendwas Peinliches passiert. Ich werde genau hinter Dir sitzen, jedes einzelne Wort mithören, und herzhaft drauflos lachen, wenn Du ausrutschst, Deiner Angebeteten Kakao über den Rock schüttest oder eine Latte bekommst. Ist doch Ehrensache, mach ich doch gern!"

"Wozu sind Freunde sonst da?", seufzte Mamoru. "Hast ja großes Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten."

"War schon immer so", antwortete Motoki vergnügt.

Mamoru warf einen Blick auf seine Armbanduhr. "Wollen wir gehen?"

"Is doch noch viel zu früh", beklagte sich Motoki und gähnte herzhaft.

"Trotzdem, Du kennst mich ja. Ich bin ein überpünktlicher Mensch. Und wer weiß, vielleicht kommt sie ja auch früher?", überlegte sich Mamoru.

"Hättest Du wohl gern, wie?", erkundigte sich der Blonde.

Mamoru bekam rote Wangen und nickte lächelnd. Darauf verdrehte Motoki nur die Augen. "Mann, Du bist echt nicht mehr zu retten. Meinetwegen, gehen wir." Er stand auf, setzte eine bedeutsame Miene auf und erklärte feierlich: "Bedenket, oh, ihr ungläubigen Sterblichen, dass heute, Dienstag, der 19. Februar 1991, der Tag ist, an dem die Welt von Grund auf verändert wurde."

"Spinner!", lachte Mamoru und zog den übermütigen Freund hinter sich her.

Noch während Die beiden Jungs Jacken und Schuhe anzogen, meinte Motoki: "Du solltest Dir besser keinen Kaffee bestellen, wenn Hikari bei Dir ist."

"Wie kommst Du denn darauf?"

Daraufhin lachte Motoki: "Sonst kriegst'n Kaffee Latte" ...
 

Draußen war es schon dunkel geworden. Und drinnen im Café herrschte auch nur gedämpftes Licht. Es war eine sehr gemütliche Atmosphäre. Der Raum war ziemlich groß und rustikal eingeräumt. Auf geschmackvolle Art verband er das Alte mit dem Neuen: Zum einen standen überall massive Holzmöbel, deren Bezüge alle in kräftigen Rot- und Blautönen gehalten waren, und in die große Theke waren beeindruckende Reliefs eingeschnitzt; und zum anderen befand sich an einer Wand eine mittelgroße Bühne, um die einige Boxen aufgestellt waren. Immer mal wieder hatten jugendliche und jungerwachsene Bands hier Auftritte, und die verschiedensten Musiksorten wurden gespielt: von der Ballade über Reggae bis hin zu Heavy Metal. Daher auch der Name des Cafés: "Jugend rockt".

Zur Zeit hingen überall Plakate, die darauf aufmerksam machten, dass die heutige Band "Dezibel" hieß und Musik vom Feinsten versprach. Was das auch immer heißen mochte. Denn Geschmäcker sind ja immerhin verschieden.

Mamoru saß mit Motoki an einem kleineren Tisch etwas am Rande des Cafés und sah sich staunend um. Er war zwar schon ein paar Mal da gewesen, aber dieses Ambiente beeindruckte ihn immer wieder. Es waren nicht viele Leute da, und die Band baute gerade erst die Instrumente auf. Bis hier mehr los war, konnte noch gut eine Stunde vergehen.

Die beiden Jungs hatten darauf verzichtet, sich etwas zu trinken zu bestellen. Mamoru wollte warten, bis Hikari da war, und Motoki sollte, auf Mamorus Wunsch hin, die Kurve kratzen, sobald sie auftauchte und sichergestellt war, dass sie allein kam. Also saßen sie da und warteten, während sie nur dann und wann ein paar Worte wechselten. Sie waren viel zu früh angekommen, und Mamorus Hoffnung, auch Hikari könnte etwas eher auftauchen, hatte sich nicht bestätigt. So hockten sie eine ganze Weile, Motoki leicht gelangweilt, und Mamoru nervös am Tischtuch rumzupfend.

"Sag mal, Mamoru", begann Motoki, "ist Dir eigentlich bewusst, dass das hier Dein erstes Date ist?"

"Mein erstes... was?", fragte Mamoru überrascht nach, "...ja, Du hast Recht... Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht. Wow. Eigenartiges Gefühl."

<Hätte ich Hikari doch etwas mitbringen sollen?>

"Ist es wirklich ein... ein Date?", stellte er unsicher fest, "immerhin ist sie ja offiziell mit Chikara zusammen. Wir treffen uns ja nicht, um zu flirten."

"Genau, warum trefft ihr euch eigentlich?", fragte Motoki mit hochgezogenen Augenbrauen.

Mamoru versuchte sich an den Vormittag zu erinnern. An das Gespräch mit Hikari. Er hatte sie gefragt, ob sie Chikara tatsächlich liebe. Und sie hatte so was geantwortet wie, dass man das nicht in einem Satz erklären könne. Im Prinzip trafen sie sich, um über Hikaris Beziehung zu Chikara zu sprechen... ein tolles Thema.

Mamoru zuckte mit den Schultern. "Wir werden wahrscheinlich über Gott und die Welt tratschen. Keine Ahnung."

<Klar, werden wir. Wenn sich Chikara für einen Gott hält... oder wenn Hikari ihn für einen Gott hält... was, wenn er wirklich ihre Welt ist? Wenn er ihr echt viel bedeutet? Was mach ich dann?>

Er musste tief seufzen.

<Cool bleiben.>

Inzwischen hatte die Band "Dezibel" sämtliche Instrumente aufgebaut und beschäftigte sich gerade mit dem Sound-check. Solange die Geräte und Instrumente noch nicht richtig auf einander abgestimmt waren, erklang nichts als scheußliches Gequäke aus den Boxen, allerdings gnädigerweise nur sehr leise eingestellt.

"Was ich Dich schon die ganze Zeit fragen wollte: wie schaffst Du das eigentlich? Noch vor wenigen Stunden hast Du auf Deinem Bett gesessen und aus allen Poren gesaftet. Du hast wirklich ausgesehen, als wärst Du in Freddy Krüger reingerannt. Und nun sitzt Du hier und hast nichts besseres zu tun, als Falten in diese Tischdecke zu machen... verdammt noch mal, lass das endlich! Das nervt!"

Mamoru zog die Finger zurück und murmelte ein "Entschuldigung."

Dann lehnte er sich zurück, versuchte es sich gemütlich zu machen und antwortete endlich mit angespannter Stimme: "Ich weiß auch nicht. Hikari... sie bedeutet mir viel, weißt Du?"

Motoki schüttelte verständnislos den Kopf. "Mein lieber Scholli, die hat Dir ganz schön den Schädel verdreht. Ich drück Dir alle drei Daumen, dass das nicht zum Schluss ne totale Pleite gibt. Aber keine Bange, mein Gefährte, ich steh zu Dir, egal was kommt. Verlass Dich drauf!" Er zwinkerte Mamoru zu. Dann sah er auf die Uhr. Es war 19:05Uhr.

"Sie kommt zu spät", stellte er missmutig fest.

"Hauptsache, sie kommt überhaupt."

"Und wenn nicht? Wenn Du hier sitzt bis Du verreckst?"

"Dann weiß ich wenigstens, dass Du mich in die Hölle begleitest", grinste Mamoru.

"Wieso das?"

"Du sagtest doch gerade, Du stehst zu mir, egal was kommt."

"Das ist Haarspalterei, was Du da machst", erklärte Motoki abwehrend. Beide lachten vergnügt. Dennoch wurde Mamoru weiterhin von einer schier unerträglichen Spannung belastet. Auch er sah jetzt auf seine Uhr. Er merkte gar nicht, wie er wieder damit anfing, die Tischdecke zu bearbeiten. Motoki übersah dies großzügig.

"Wieso verschanzen wir uns eigentlich in dieser dunklen Ecke hier, anstatt es uns an den heller gelegenen Tischen gut gehen zu lassen?", fragte er.

Nur sehr zögerlich antwortete Mamoru: "Es muss ja nicht gleich jeder sehen, dass ich eine aufs Maul bekommen hab, oder?"

"Stört Dich das etwa?", fragte Motoki beiläufig nach, "Ich meine, ich könnte ja gut verstehen, dass Du vor Hikari nicht gerne zeigst, dass Du verloren hast, aber so nah, wie sie Dir heute vermutlich kommen wird, bemerkt sie es so oder so. Warum sich deswegen also verkriechen? Ist nur unnötige Arbeit und nützt keinem was."

"Trotzdem", meinte Mamoru bestimmt. Aber irgendwie hatte Motoki schon Recht.

<Alles, was ich jetzt nicht brauchen kann, ist ein verklemmtes Auftreten. Ich muss Selbstsicherheit vortäuschen! ...oder besser: ich sollte selbstsicher sein...>

Mamoru bekam langsam Kopfschmerzen. Er spürte ein dumpfes Pochen in seiner verletzten Augenbraue, und eine leichte Müdigkeit gesellte sich zur allgemeinen Anspannung. Der Tag hatte nicht nur Spuren an Mamorus Äußerem hinterlassen. Eigentlich brauchte er dringend etwas Schlaf, um sich zu regenerieren. Doch den wollte er sich um nichts in der Welt gönnen. Hikari war viel wichtiger.

Dennoch nagten leichte Zweifel an Mamoru. War sie es wirklich wert? Immerhin litt seine Gesundheit akut unter ihr und all dem Stress, den sie unweigerlich verursachte. Ohne sie hätte er sich diese Verletzungen nie zugezogen.

Und wenn sie es wert war? Dann würde er sich nie verzeihen, wenn er diese kleine Chance jetzt sausen lassen würde.

Erneut starrte er unruhig auf seine Uhr. Es war inzwischen 19:15Uhr. Und die Tischdecke sah schon schwer mitgenommen aus.

Auch Motoki hatte mittlerweile einen nervösen Tick entwickelt: er trommelte unablässig auf dem Tisch herum, während er alle fünf Sekunden einen Blick auf die Uhr warf. Er schüttelte resigniert den Kopf. "Die kommt nicht."

"Oh, doch, die kommt. Wart nur ab."

"Ich hatte befürchtet, dass Du das sagst", antwortete der Blonde augenrollend.

Unterdessen war die Band mit ihrem Sound-check fertig. Der Bandleader von "Dezibel" trat ans Mikro, stellte sich und die Band kurz vor, entschuldigte sich dafür, dass alles so lang gedauert hatte und erklärte nun: "Unsren ersten Song, den kennt ihr sicher alle: <She's Like The Wind> von Patrick Swayze. Viel Spaß!"

Motoki stöhnte auf. "Na, wenn das mal kein Wink mit dem Zaunpfahl ist", brummte er.

Die Band brachte den Song wirklich gut rüber, und der Sänger gab sich alle Mühe, eine sanfte Stimmung in sein Lied zu legen:

"Just a fool to believe, I have anything she needs... She's like the wind..."

Und in genau diesem Augenblick schwang die Tür des Cafés auf, und eine bildhübsche junge Dame trat ein. Sie blickte sich einen Moment lang etwas verloren um, bis ihre Augen erspäht hatten, wonach sie gesucht hatte. Zielstrebig kam sie auf Mamoru und Motoki zugestöckelt...
 


 

[Anmerkung des Autors:
 

Ok, ich weiß, dieses Kappi ist extrem kurz geraten. Aber das ist pure Absicht.

(Denn ich bin gemein, wisst ihr? *teuflisch grins*)

Nee, nee. Also, ich kann versichern, dass das nächste Kappi dafür mehr hergibt. Und dann gibt es kein Zurück mehr, dann ist das Treffen mit Hikari unumgänglich fällig.

Lasst euch überraschen! Ich versichere euch, diese Story birgt noch einige Wendungen und Überraschungen!
 

Denn erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt!]

Motoki entdeckte sie zuerst. Ihm fiel wortwörtlich die Kinnlade herunter bei dem unbeschreiblichen Anblick, der sich ihm bot. Er war so überwältigt wie selten zuvor in seinem Leben. Und das auch noch von der Frau, über die er die ganze Zeit so abfällig gesprochen hatte.

Zunächst wusste Mamoru nichts mit Motokis undefinierbarem Gesichtsausdruck anzufangen. Erst, als er dem Blick seines Freundes folgte, blieb auch ihm vor lauter Staunen die Spucke weg. Hikari war bereits herangetreten, als Mamoru sich endlich umwandte, und das absolut Hinreißendste sah, was ihm je in seinem Leben untergekommen war. Hikari hatte leichte Wellen in ihr sonst so glattes Haar gezaubert, und ihre Frisur gekonnt hochgesteckt. Nur zwei lange, sanft gelockte Strähnen hingen vor ihren Ohren herunter, wie ein Rahmen für ihr Gesicht. Auf unbeschreibliche Art hatte sie es geschafft, ihre Wimpern und ihre vollen Lippen geschickt zur Geltung zu bringen, ohne gleich wie ein Paradiesvogel auszusehen. Sie wirkte sehr erwachsen und attraktiv. Momentan verbarg sie ihren Körper noch unter einem langen, schwarzen Mantel, der sie wie ein finsterer Schleier umhüllte, um den kostbaren Inhalt vor unwürdigen Blicken zu schützen. Glitzernde Schneeflocken ruhten auf dem Mantel und in ihrem Haar, und sie wirkte irgendwie unwirklich, wie ein Wesen aus einer andren Welt, wie eine Schneemagierin.

Eigentlich hasste Mamoru den Schnee und die Kälte mehr als alles, aber heute war diese weiße Pracht wie ein willkommener Bruder. Das weiße Funkeln des Schnees wurde nur noch durch eines überboten: Hikaris blütenreines, strahlendes Lächeln. Die pure Freude schillerte aus ihren leuchtenden grünen Augen, und die warme Sanftheit und die Anmut, die auf ihrem Gesicht lagen, blieben so unübertroffen, dass jeder Versuch, sie näher zu beschreiben, eine Beleidigung war.

Mamoru realisierte, wie Motoki Hikari weiterhin anstarrte. Er verpasste seinem Freund unter dem Tisch einen Tritt vors Schienbein, um ihn wieder zu wecken. Gerade, als Motoki sich beschweren wollte, schnitt ihm Mamoru sämtliche Worte ab: "Was für ein Zufall, dass Du uns gerade jetzt verlassen willst."

Das war kein Wink mit dem Zaunpfahl mehr, das war schon ein Rumgefuchtel mit dem gesamten Gehege. Und die Eifersucht, die förmlich aus den Worten sprang, hätte nicht mal ein blinder Maulwurf übersehen.

Motoki brummelte einen Abschied und verschwand irgendwo in der Menschenmenge. Mamoru achtete darauf schon nicht mehr. Er sprang auf, um Gentleman zu spielen, und seinem Gast den Mantel abzunehmen. Hikari ließ es mit Freuden zu und schälte sich mit einem verführerischen "Danke" aus ihrem Gewand. Was zum Vorschein kam, übertraf Mamorus kühnste Erwartungen: Trotz der eisigen Kälte draußen hatte sie ein hauchdünnes weißes, langärmeliges Kleid angezogen, auf dessen linker Schulter, nur knapp über dem Herzen, eine riesige, aufgestickte Rose prangte. Es handelte sich um eine wundervolle Arbeit, überall an den Blütenrändern waren schillernde Pailletten angebracht, und die Blüte selbst erstrahlte regelrecht in allen Rottönen, die man sich nur denken konnte. Das Kleid lag sehr figurbetont an, hatte einen tiefen, wenn auch nicht zu gewagten Ausschnitt, und verlief bis knapp über Hikaris Fußknöchel, die sich in schwarzen, ledernen Stöckelschuhen verbargen. Offensichtlich war sie nicht zu Fuß gekommen, sondern mit dem Auto gefahren worden. Denn anders hätte sie sich in dieser Eiseskälte da draußen bestimmt die zierlichen Füße abgefroren.

Hikari setzte sich hin. Mamoru stand mehr oder weniger wie gelähmt da und war schier fassungslos vor Freude.

<Ich halte tatsächlich ihren Mantel in meinen Händen! Wow!>

Als sie ihm einen koketten Augenaufschlag entgegenwarf, fing er sich wieder, hängte behutsam ihren Mantel über eine Stuhllehne und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.

"Ich freue mich, dass Du gekommen bist, Hikari. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, wo Du bleibst", begrüßte er sie endlich.

Sie sah ihn einige Sekunden mit einem spitzbübischen Lächeln an, ehe sie erwiderte: "Lass mich Dir gleich zu Anfang einen guten Tipp geben: eine Dame darf zu spät kommen; ein Herr sollte warten können."

"Verzeihung", sagte Mamoru. Er ließ sich dadurch aber nicht aus der Ruhe bringen. Hikari war nun mal so ein Mensch, der alles geradeheraus sagte. Und das war ihm gerade recht so. Auf diese Art und Weise konnte er mehr lernen, als wenn sein Gegenüber nur freundlich nickend alles hingenommen hätte. Er legte ein ehrliches Lächeln auf und versuchte sich mit einem Kompliment: "Du siehst wirklich fabelhaft aus. Dein Kleid steht Dir ausgezeichnet."

"Das Kleid?" Sie lachte vergnügt auf. "Und ich dachte, Dich interessiert der Inhalt. Versuch es noch mal."

Mamoru konnte gar nicht genug von ihren Ratschlägen haben. Es war wie Unterricht, aber viel interessanter. Er hatte einen Lehrer vor sich, der mehr als jeder andere von seinem Fach verstand. In Gedanken machte er sich tausend Notizen. Er sog die Worte förmlich in sich auf.

"Tja, also, äääh, ich meine,..." Er räusperte sich. "Du hast mit diesem Kleid einen wirklich guten Geschmack bewiesen. Und es passt hervorragend zu Deiner Augenfarbe." Er wurde ganz verlegen. Immerhin war er gar nicht mit Hikari zusammen und umgarnte sie schon in den ersten fünf Minuten, als sei sie Helena von Troja. Und sie amüsierte sich dabei königlich.

"Nun ja", überlegte sie, "hast Dich ja ganz gut aus der Affäre gezogen. Für den Anfang gar nicht mal so übel."

Sie strahlte übers ganze Gesicht, und ihre Heiterkeit wirkte ansteckend. Auch Mamoru begann vergnügt zu schmunzeln.

"Was erheitert Dich so?", fragte er nach.

"Mich stimmt die Tatsache glücklich, dass Du heute alles bezahlen wirst."

"Nur das?", vergewisserte er sich mit hochgezogener Augenbraue.

Sie zuckte mit den Schultern. "Ist doch schon ein ganz guter Grund", erklärte sie sehr direkt.

Er nahm es hin. Im Augenblick konnte ihn gar nichts mehr stören. Neben ihm hätte ein hungriger Löwe stehen können, er hätte es vermutlich erst gar nicht bemerkt. Und wenn er es bemerkt hätte, hätte er vermutlich nicht gezögert, sich mit Kampfgebrüll auf die wilde Bestie zu stürzen, um Hikari vor ihr zu beschützen.

Er bot ihr die Getränkekarte an. "Was möchtest Du denn gerne haben?"

Sie verbrachte einige Minuten mit dem Studium der Karte, ehe sie sich entschied. Mamoru bestellte für sie einen Cappuccino und für sich selbst eine heiße Schokolade.

Dann entstand eine gewisse, leicht peinliche Stille. Das war eigentlich die Zeit für eine Konversation, das war Mamoru bewusst, und gerne hätte er munter drauf los geplappert, aber er wusste nicht so recht, worüber. Das Wetter? Einfallslos. Ihre Beziehung zu Chikara? Zu direkt. Die Musik, die gerade gespielt wurde? Dazu hatte er zu wenig Musikverständnis und außerdem fehlte ihm jegliche Kenntnis über Hikaris Geschmack.

So fragte er schließlich etwas hilflos: "Und, wie ist Dein Tag so verlaufen?"

Sie zuckte mit den Schultern. "Nichts Außergewöhnliches. Eigentlich hab ich die Zeit nach der Schule damit verbracht, die Hausaufgaben zu machen..."

<Oh, Scheiße. Da sagst Du was.>

"...und mich auf unser Treffen vorzubereiten. Und Du?"

Verblüfft wies er auf sein blaues Auge. "Sieht man das nicht?"

"Doch, klar sieht man es. Na und? Ist das was Beachtenswertes?", fragte Hikari.

Enttäuschung machte sich in Mamoru breit. Er hatte auf etwas Mitgefühl gehofft. Er hatte vielleicht so was wie ein bestürztes <Was ist passiert?> erwartet. Aber anscheinend berührte es sie gar nicht. Sie erkundigte sich nicht einmal, wer ihm das angetan hat. Auf Mitleid wartete er vergebens.

Gerade wurden ihnen die Getränke gebracht. Das verschaffte Mamoru etwas Zeit, sich wieder zu sammeln und sich kurz einige Worte zurecht zu legen. Vielleicht konnte er doch noch ein klein wenig Anteilnahme ergattern.

"Du hast Chikara doch nichts von diesem Treffen gesagt, oder? Ich meine, er hat mich nicht deswegen in die Zange genommen?"

"Chikara war's also? Hätte ich mir denken können. Das trägt so ziemlich seine Handschrift", meinte Hikari mit einer Spur von Gleichgültigkeit in der Stimme.

Unsicher fragte Mamoru nach: "Und das lässt Dich völlig kalt?"

Hikari lachte ungeniert auf und funkelte Mamoru an. "Was interessiert mich, wer Deine Fresse poliert? Du musst schon selbst auf Dich acht geben. Sonst tut das nämlich keiner, weißt Du?"

Mamoru nickte. Das war gerade ein derber Schlag gewesen. Er begrüßte zwar Hikaris Ehrlichkeit, aber sie musste ja nicht gleich so deutlich zeigen, dass sie Spaß daran fand, rücksichtslos auf seinen Gefühlen und seiner körperlichen Unterlegenheit herumzutrampeln.

Sie fuhr ungerührt fort: "Und nein, von mir hat er gar nichts erfahren. Sonst wäre ich jetzt nicht hier, glaub mir. Das hätte er niemals zugelassen", erklärte sie.

"Er hätte es nicht zugelassen?" Mamoru horchte auf. "Du meinst doch nicht, er hätte... er wäre... ähm..."

"Er wäre brutal geworden?", erkundigte sich Hikari und sah von ihrer Tasse auf, aus der sie gerade noch einen Schluck getrunken hatte. "Da mach Dir mal keine Sorgen. So was tut er mir nicht an. Das traut er sich gar nicht. Dazu bin ich ihm zu kostbar. Nein, nein, er hätte mich nur so zugelabert, bis ich ihm sogar abgekauft hätte, die Erde sei eine Scheibe. Oder er wäre mir hinterher gedackelt und hätte Dich eiskalt auseinander genommen. Aber weißt Du was? Es ist richtig niedlich von Dir, dass Du Dir solche Sorgen um mich machst. Total süß."

Mamorus Wangen liefen rot an. Hikari überraschte ihn von Sekunde zu Sekunde mehr. Sie war ein außergewöhnliches Mädchen.

Nach einem weiteren Schluck ihres Cappuccinos sagte sie: "Aber eines würde ich ganz gerne von Dir wissen, und Du musst ehrlich antworten."

Lächelnd beugte sie sich zu ihm vor. Auch er kam ihr entgegen, bis ihr Parfüm in seine Nase stieg. Es roch sehr angenehm. Mamoru war von diesem atemberaubenden Duft gefangen, und sein Herz schlug viel schneller, jetzt, wo sie ihm so nahe war, dass er sie ohne größere Schwierigkeiten hätte küssen können. Doch er ließ es natürlich. Er wollte noch ein paar Tage länger leben.

Sie kam ihm näher und näher. Ihre sanfte Wange streifte an seiner vorbei. Er erschauderte unter der Berührung. Ihre Lippen erreichten beinahe sein Ohr, hielten an und flüsterten: ""Sag mir, was denkst Du über Chikara?"

Mit dieser Frage hatte er überhaupt nicht gerechnet. Er zuckte erschrocken zusammen, nur ganz wenig, aber so, dass Hikari es noch fühlen konnte. Wahrscheinlich hatte sie es genau so beabsichtigt. Sie wollte ihn schocken, und sie wollte seinen Schrecken spüren. Sie wollte seine Reaktion testen. Und ihre Prognose war bestätigt worden, mit der höchsten Auszeichnung.

Sie sank wieder auf ihre Bank und lehnte sich kaltblütig lächelnd zurück.

Mamoru senkte betreten den Kopf und starrte seine Finger an, die unablässig und nervös am Tischtuch herumzupften. Sie zitterten und waren schweißnass.

Er wusste nicht recht, was er antworten sollte. Zum einen musste er ehrlich sein, und zum andren wollte er nichts Beleidigendes sagen. Verständlicher Weise hatte er gar kein gutes Bild von Chikara. Er seufzte unschlüssig.

"Das letzte Mal bist Du mir böse geworden, als ich meine Meinung über Chikara kundgetan habe", beschwerte er sich hilflos.

"Das letzte Mal", erklärte Hikari geduldig, "hast Du einfach so über ihn abgelästert. Aber dieses Mal fordere ich Dich dazu auf, von Deiner Meinungsfreiheit gebrauch zu machen. Sag, was Du denkst, aber bleib objektiv. Begründe, was Du sagst."

Erneut wies er auf sein blaues Auge. "Reicht das nicht als Begründung?"

"Ich bitte Dich. Tu einfach, was ich Dir sage, Ok? Deswegen sind wir doch hier, richtig? Um klare Verhältnisse zu schaffen. Und ich hätte ganz gerne, dass Du anfängst. Also, leg los. Worauf wartest Du?"

Seufzend fügte er sich in sein Schicksal. Hikari hatte in diesem Gespräch einfach die Oberhand. Daran war nichts zu rütteln.

<Einfach drauflos. Nicht großartig denken, nur alles ehrlich beantworten. Ohne Rücksicht auf Verluste.>

"Also, dann wollen wir doch mal sehen", fing er an, "ich halte Chikara für jemanden, der weiß, wie man sich Respekt verschafft. Er sieht gut aus, und er weiß das auch. Das macht ihn arrogant. Er ist dominant und brutal. Das typische Alphamännchen. Aber er ist auch ein ziemlich kluges Kerlchen, muss ich zugeben. Ich habe ja nicht sehr viel mit ihm zu tun, aber aus den Antworten, die er im Unterricht gibt, würde ich schließen, dass er alles andre als auf den Kopf gefallen ist. Ich glaube, er... er ist genauso alleine wie ich. Aber auf eine andre Art und Weise. Er ist alleine, weil es niemanden gibt, der es wagt, sich mit ihm zu messen. Und er will auch ein Stück weit alleine sein, um ein gewisses Image zu wahren; um cool zu sein. Ich hingegen bin alleine, weil es keinen gibt, der auf meiner Wellenlänge ist. Außer Motoki. Tja... ich drücke es mal so aus: Chikara ist alleine, aber ich bin einsam. Der Unterschied ist der: er will es so, um cool zu wirken. Aber ich will es so, um meine Ruhe zu haben. Und vielleicht... will ich es auch gar nicht wirklich, sondern... es ist einfach so. Verstehst Du?"

Hikari nickte verständnisvoll. Sie lächelte, und nun wirkte es nicht mehr kalt und abweisend, sondern eher sanft und freundlich.

"Fällt Dir was auf?", fragte sie, "Du hast gerade mehr gute als schlechte Eigenschaften an ihm aufgezählt. Und es waren außerdem viele Gemeinsamkeiten dabei, die Dich mit ihm verbinden. Zumindest so, wie ich Dich einschätze. Meinst Du nicht, ihr könntest Freunde werden?"

Seelenruhig nippte sie an ihrem Getränk. Und das, obwohl ihr höchstwahrscheinlich bewusst war, welche Urgewalten sie mit ihrer Aussage geweckt hatte. Mamoru und Chikara, Freunde? Das war doch unmöglich...

Und doch, je länger Mamoru darüber nachdachte, um so fassungsloser wurde er, denn ihm wurde bewusst, wie viel Wahrheit in Hikaris Worten steckte. So ähnlich musste es sich anfühlen, die Erleuchtung zu erfahren: Mamoru wurde von einer gewaltigen Flut an Gedanken und neuen Optionen überschwemmt. Es war eine so gewaltige Menge an Information vorhanden, dass er sie gar nicht bewältigen konnte. Es war, als sei er sich dessen schon seit Ewigkeiten bewusst gewesen, aber irgendwas hatte den Weg zu seinem Bewusstsein versperrt. Waren es Vorurteile? Oder war es selbst herbeigeführte Verblendung? Was es auch immer war, der Damm war gesprengt, und die Idee, die gerade auf Mamorus Gehirn einstürmte, war so bizarr, so surreal, so überwältigend und mächtig, dass sein Kopf auf einmal wie leergefegt war. Es fühlte sich an wie die späte Erkenntnis, im Delirium eines Drogenrausches etwas Furchtbares getan zu haben. Es war ein purer Schock. Eine gewisse Übelkeit überkam Mamoru. Er musste schwer schlucken. Er soll Chikara ähnlich sein? Ihm? Seinem schlimmsten Feind? Den er immer so sehr gefürchtet hatte?

"Das kann nicht sein", flüsterte er in heiserer Fassungslosigkeit, "Du musst Dich irren, Hikari! Das kann... das darf nicht sein..."

"Warum nicht?", fragte sie wie selbstverständlich nach. "Wieso darf es nicht sein? Etwa, weil es mit einem Mal alles über den Haufen wirft, was Du schon seit... ich weiß nicht wie langer Zeit mitmachst? Deswegen etwa? Mamoru, der Mensch hat immer Angst vor dem Neuen und Unbekannten. Ganz besonders dann, wenn es sein Weltbild mit einem gewaltigen Schlag völlig zerstört. Aber das heißt nicht unbedingt, dass das neue Weltbild, das da entsteht, falsch und schlecht sein muss. Im Gegenteil."

Mamoru zog daraus eine völlig neue Erkenntnis. Mit einem Schlag war alles um ihn herum vergessen. Als hätte es nie existiert. In unendlicher Leere gab es nur noch Mamorus Bewusstsein, Hikari, und eine alles entscheidende Frage:

"Wenn das alles tatsächlich so einfach ist; wenn das wahr ist, was Du da sagst, Hikari; wenn er und ich uns wirklich so sehr ähneln; gibt es dann... eine reelle Chance... für mich, ...von Dir... von Dir ...geliebt zu werden?"

Es machte keinen Sinn mehr, es zu leugnen. Die Wahrheit war zu offensichtlich. Und Mamoru war sich inzwischen völlig sicher, dass sich Hikari durchaus seiner Gefühle für sie bewusst war. Und er selbst war sich in diesem Moment auch so sicher wie nie zuvor in seinem Leben. Alle Zweifel und alle Ängste waren wie weggeblasen. Warum sollte er seine Empfindungen weiter verstecken? Hikari war seine erste große Liebe, das fühlte er tief in sich drin.

Behutsam griff sie nach seiner Hand. Vorsichtig und sachte streichelte sie darüber. Es war für Mamoru unmöglich zu bestimmen, wie lange genau dieser Moment anhielt. Sie warf ihm einen langen, angenehm warmen Blick entgegen. Dann sagte sie: "Nun bin ich wohl an der Reihe, alles raus zu lassen, was?"

Sie ließ seine Hand nicht los. Unablässig fuhr sie ruhig über seinen Handrücken. Dieses Gefühl unendlicher Fürsorge brachte ihn beinahe um den Verstand. Hikari wusste seine Konzentration völlig in ihren Bann zu ziehen. Ein Gefühl von fast unerträglicher Hitze durchfloss seinen Körper.

Seine Blicke hafteten ohne Unterlass an ihren Lippen, als sie zu erklären begann:

"Im Großen und Ganzen stimmt Deine Sicht, was Chikara betrifft, stark mit meiner überein. Er ist dominant, eingebildet, und ziemlich brutal. Aber er kümmert sich um mich, als sei ich der größte Schatz auf Erden..."

<Das bist Du auch...>

"...Das mag für Dich jetzt befremdlich klingen, aber er ist so unglaublich liebenswürdig und fürsorglich. Du hast Recht, er ist alleine. Ein kleiner, allein gelassener Welpe, der so herzerweichend jault, dass man sich einfach um ihn kümmern muss. Aber das zeigt er selbstredend nur im Privaten. Ich war anfangs selbst überrascht, wie sehr sich ein Mensch von der ersten Sekunde auf die nächste doch verändern kann. Er hat zwar oft Schwierigkeiten, seinen Gefühlen Worte zu verleihen, aber glaube mir, die Emotionen sind wirklich da! Er kann einem so wahnsinnig gut zuhören, und er würde mir bedingungslos jeden Wunsch erfüllen. Absolut jeden. Selbst, wenn das sein Untergang wäre."

Eine kleine Pause entstand. Hikari konnte Mamoru aus irgend einem Grund nicht in die Augen sehen. Er hatte nur dagesessen und ganz ruhig zugehört. Er hätte seinen Gefühlszustand selbst nicht beschreiben können. Er stand auf dem unendlich schmalen Grad zwischen Verständnis und Wahnsinn.

Hikari holte noch einmal tief Luft, ehe sie fortfuhr: "Du hast mich heute morgen gefragt, ob ich ihn lieben würde. Nun, die Antwort lautet: Ja. Er ist sehr liebenswürdig. Und ich habe ihn ins Herz geschlossen wie keinen vor ihm. Aber etwas fehlt ihm noch, und das ist die Fähigkeit, Emotionen und Persönlichkeit zu zeigen. Ich will weder einen Granitblock haben, der zu keinen Gefühlsregungen imstande ist, noch brauche ich ein Weichei, das nur Ja und Amen sagt. Was ich will, ist eine Kombination aus Leidenschaft und Herausforderung. Ich will mich auch mal ein wenig zanken. Ich will jemanden haben, der auch mal Nein zu mir sagt. Nicht ständig, versteht sich, aber ich will... ich will jemanden an meiner Seite, der auch eine eigene Meinung hat. Verstehst Du das?"

Erst jetzt sah sie ihn direkt an. Ihrem Gesichtsausdruck war eine gewisse Erleichterung abzulesen. Es war ihr offenkundig sehr schwer gefallen, die absolute Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Und nun, wo sie es geschafft hatte, konnte sie endlich getrost aufatmen.

Mamoru zögerte lange mit der Reaktion. Er musste das alles erst mal richtig verdauen. Für einen einzigen Tag hatte er schon sehr viel erlebt.

Schließlich nickte er. "Ich denke schon, dass ich Dich verstehen kann. Immerhin bist Du für mich eine Herausforderung; und was für eine! Aber, Hikari, was würdest Du sagen, wenn... nun ja, wenn das Schicksal Chikara sozusagen als eine Art Vorboten gesandt hat, damit Du mich kennen lernst? Was ist, wenn ich genau der bin, den Du suchst?"

Hikari lachte auf. Es war mehr ein Ausdruck der Bekümmerung, der Bitternis und der Ironie. Ganz so, als hätte sie die Suche nach ihrem Traummann bereits als <unmöglich> zu den Akten gelegt.

"Ich glaube nicht an das Schicksal. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass die Zukunft schon geschrieben sein soll und ich gar keinen freien Willen habe."

"Und wenn schon", warf Mamoru ein, "Das ist doch jetzt völlig belanglos. Du beantwortest meine Frage nicht. Was wäre, wenn ich Dein Typ wäre?"

"Das, mein Lieber", funkelte sie ihn an, "müsstest Du mir erst beweisen."

"Wie?", fragte er nach.

Sie ließ jetzt erst seine Hand los und lehnte sich wieder zurück, bevor sie ihm antwortete:

"Das kann Dir nur Dein Herz sagen. Du selbst müsstest Dir etwas Außergewöhnliches einfallen lassen, wenn ich wirklich etwas an Dir finden soll."

Sie grinste geheimnisvoll. Noch immer lag ein leicht bitterer Ausdruck in ihren Augen. Sie änderte ihre Launen und ihr Verhalten schneller, als Mamoru bis drei zählen konnte. Doch davon ließ er sich nun nicht mehr entmutigen. Im Gegenteil, es machte sie für ihn nur noch interessanter. Ihr Verhalten war so unvorhersagbar. Ihm würde mit ihr wohl nie langweilig werden.

"Das heißt also prinzipiell, Du lässt mir eine Chance, es zu versuchen?", fragte er verunsichert.

Sie lächelte. Sie lachte amüsiert auf. Aus dem Lachen wurde schnell purer Hohn. Sie lachte ihn aus. Sie verspottete ihn nach allen Regeln der Kunst.

"Dir eine Chance geben?", echote sie, "wofür hältst Du mich? Ich soll mich mit Dir abgeben? Das ist einfach nur lachhaft! Hast Du es noch nicht kapiert? Selbst, wenn Du der hübscheste Mann der Welt wärst, was Du nicht bist, hätte ich doch beim besten Willen besseres zu tun, als mich von Dir langweilen zu lassen. Ist die Nachricht nun angekommen? Lass mich in Ruhe! Falls nicht, solltest Du Dir schon mal ein hübsches, lauschiges Plätzchen auf dem Friedhof aussuchen, Du verstehst?"

Enttäuscht ließ Mamoru den Kopf hängen. Sie hatte ihn wirklich zum Narren gehalten! Hatte ihm Interesse vorgeheuchelt! Sie hatte die ganze Zeit nur mit seinem Herzen gespielt! Ein teuflisches Spiel.

<Just a fool to believe, I have anything she needs... She's like the wind...>

Es war so ziemlich alles gesagt, was gesagt werden musste. Nur aus diesem Grunde haben sich die Beiden getroffen. Sämtliche Missverständnisse und Unsicherheiten waren aus der Welt geräumt.

Hikari stand derweil auf, legte sich ihren Mantel wieder an und meinte abschließend: "Danke für den Cappuccino. Es hat Spaß gemacht, mit Dir zu reden. Du siehst so niedlich aus, wenn Du Dir Hoffnungen machst."

Lachend entschwand sie im Zwielicht des Cafés.

Wie versteinert saß Mamoru noch auf der Bank und starrte seine Tasse an. Die Schokolade darin war inzwischen abgekühlt. Aber sie war nicht annährend so kalt wie Hikari. Wie konnte sie ihm das alles nur antun? Wie konnte sie ihn nur so demütigen, so sehr verletzen?

Er war so unbeschreiblich gekränkt, dass er noch nicht einmal weiter an der Tischdecke herumfummeln konnte. Er saß nur völlig geschockt da und spürte eine große Übelkeit in sich aufsteigen.

Erst sehr viel später bemerkte er, dass jemand bei ihm war. Motoki war herangetreten und hatte tröstend die Hand auf Mamorus Schulter gelegt. Dieser sah den Freund nun an. Er versuchte, dankbar zu lächeln, doch seine Gesichtszüge schienen völlig erstarrt.

"Mach Dir nichts draus", sagte Motoki in beruhigendem Ton. "Ich wusste ja, es würde so kommen. Es tut mir Leid für Dich. Alles Ok, Kumpel?"

Mamoru nickte. Oder vielmehr: er wog den Kopf leicht auf und ab. Er brachte kein Wort über die Lippen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass auf der andren Seite des Tisches jemand saß. Er hatte die Person zunächst gar nicht bemerkt. Doch nun sah er einer jungen, hübschen Frau in die Augen. Müde, aber dennoch fragend blickte er Motoki an. Dieser grinste leicht. "Darf ich Dir vorstellen? Das ist Reika. Ich hab sie grad eben hier kennen gelernt. Des einen Freud, des andern Leid, wie es so schön heißt. Zufällig wohnt Reika bei mir in der Gegend. Ist das nicht ein toller Zufall?"

Wortlos nickte Mamoru Reika zu. Sie sah wirklich schön aus, wenn sie lächelte. Sie trug die Frisur ganz ähnlich wie Hikari, jedoch waren Reikas Haare nussbraun. Außerdem hatten ihre Augen einen sehr dunklen Grauton. Ihr rotes Kleid passte irgendwie sehr gut zum Rest. Doch das alles interessierte Mamoru gerade nicht. Viel wichtiger war ihm zu erfahren: "Was zum Teufel tust Du eigentlich hier, Motoki?"

Der Gefragte zuckte grinsend mit den Schultern. "Deine Tante wollte, dass ich auf Dich aufpasse. Und Du wolltest, dass ich Dich in Ruhe lasse. Ich hab den perfekten Kompromiss gefunden: Ich habe an der Theke gesessen, war also weit genug weg von Dir, hatte Dich trotzdem recht gut im Blickfeld und habe so ganz nebenbei eine wundervolle Person kennen gelernt." Er zwinkerte Reika zu. Diese errötete leicht und lächelte freundlich.

"Komm", forderte Motoki seinen niedergeschlagenen Freund auf, "ich bringe Dich nach Hause. Ich denke, heute war ein langer Tag, und Du solltest jetzt erst mal schlafen. In Ordnung?"

Mamoru nickte wortlos, zog sich seine Jacke an, bezahlte die Getränke und zog mit Motoki und Reika von dannen.

Motoki und Reika verabschiedeten Mamoru an der Haustür des Hochhauses. Unendlich müde und abgekämpft schleppte sich Mamoru in den Fahrstuhl, fuhr hinauf und öffnete mit einem tiefen Seufzer die Wohnungstür. Er bemühte sich darum, so leise wie möglich zu sein. Er konnte es im Augenblick gar nicht brauchen, Kiokus Aufmerksamkeit auf seine Rückkehr zu lenken. Stattdessen wollte er nur sang und klanglos in seinem Zimmer verschwinden und schlafen. Doch er hatte Kiokus mehr als feines Gehör bei weitem unterschätzt.

"Mamoru? Wie ist es gelaufen?", tönte es aus dem Wohnzimmer.

Innerlich betete Mamoru ein überaus beachtliches Repertoire an Flüchen, Beschimpfungen und Beleidigungen herunter. Äußerlich beließ er es bei einem leisen Brummeln.

"Klingt ja, als hätte es hervorragend geklappt", meinte seine Tante und erschien in der Tür.

Unschlüssig blieb Mamoru mitten im Flur stehen. Er konnte kommentarlos in seinem Zimmer verschwinden oder sich seiner Tante in die Arme werfen und hemmungslos herumheulen. Die Wahl fiel sehr schwer. Kioku nahm sie ihm ab. Mit einer einladenden Handbewegung wies sie ins Wohnzimmer. "Komm, sprich darüber."

Mamoru seufzte erneut und fügte sich. Gesenkten Hauptes schritt er an Kioku vorbei und machte es sich auf einer Couch gemütlich. Ihm gegenüber saß sein Onkel Seigi in einem Sessel und machte ein betretenes Gesicht. Offenkundig hatte ihm Kioku von der Schlägerei und von Hikari berichtet.

Kioku setzte sich auf den zweiten Sessel. Dann entstand erst mal eine leicht angespannte Stille. Eigentlich war Mamoru so todmüde, dass er kaum die Augen offen halten konnte, aber er besaß dennoch genug Anstand, sich nicht einfach zum Schlafen zurück zu ziehen, wo ihn doch so offensichtlich eine Standpauke über die große, gefährliche Welt erwartete. Er unterdrückte ein Gähnen.

Zögerlich stand Seigi auf, kam zu Mamoru herüber und strich ihm durch die Haare. "Lass mal sehen", murmelte er und zog vorsichtig das Pflaster von Mamorus Augenbraue ab. Dieser biss tapfer die Zähne zusammen. Jeder allerkleinste Druck, der auch nur in der Nähe seines verletzten Auges ausgeübt wurde, war zwar eine kleine Tortur für ihn, aber er hatte einfach nicht mehr die Kraft zum quengeln.

Seigi besah sich alles sehr genau und ließ sich auch viel Zeit dabei. Er ließ sich wirklich nichts entgehen, betrachtete absolut jeden Kratzer im Gesicht seines Neffen und strich behutsam über einige der weniger schlimmen Schrammen.

"Wie geht es Dir nun?", fragte er, und er klang dabei etwas hilflos. Als sei es seine Schuld gewesen, dass sein Neffe nun so aussah.

Mamoru zuckte leicht desinteressiert mit den Schultern. "Müde", erklärte er wahrheitsgemäß.

"Hattest Du schon öfter Schwierigkeiten mit diesem Chikara?", wollte Seigi wissen.

<Aha. Tante Kioku hat es ihm also sehr detailliert erzählt.>

"Schwierigkeiten?" Er dachte nach. Dann zuckte er erneut mit den Schultern. "Nun ja, kleine Auseinandersetzungen, vielleicht. Aber er hat mich noch nie angerührt, wenn Du das meinst. Zumindest, bis heute nicht."

"Und wieso war es ausgerechnet heute anders?", fragte Seigi weiter in ruhigem Ton. Überhaupt war er ein sehr gelassener und stiller Mensch. Mamoru hatte ihn noch nie aufgebracht oder brüllend erlebt, und war auch sehr dankbar dafür. Als seine Eltern gestorben waren, hatten sich wirklich die beiden liebsten Menschen der ganzen Welt seiner angenommen.

Mamoru konnte sich gut vorstellen, was im Inneren seines Onkels vorging. Obwohl man es Seigi nicht ansah, war er tief betroffen, dass es tatsächlich jemand gewagt hatte, seinem Schützling etwas anzutun. Er wäre für Mamoru in sämtliche Breschen gesprungen; jederzeit und ohne Zögern.

Mamoru dachte ernsthaft darüber nach, ob er nun die Karten auf den Tisch legen, und erzählen sollte, wie lange er schon für Hikari schwärmte, oder ob er sich erst mal irgendwie rauswinden sollte, damit er eine Nacht über all diese Ereignisse schlafen konnte. Doch wie er es auch drehte und wendete, früher oder später musste er sagen, was geschehen war. Er konnte es unmöglich als ein ewiges Geheimnis mit sich herumtragen. Obwohl es ihm mehr als unangenehm war, von dieser Pleite berichten zu müssen. Er liebte dieses Mädchen, sie war für ihn immer noch die Schönste auf Erden. Und es wäre erst gar nicht zu dieser Schlägerei gekommen, hätte er sich ihr nicht andauernd genähert.

Und nun hatte sie ihn einfach so lächerlich gemacht.

Mamoru legte sich der Länge nach auf die Couch, stopfte sich ein Kissen unter den Kopf und legte die Beine über einander. Dann erst antwortete er auf Seigis Frage:

"Es hat Chikara nicht gepasst, dass ich mich heute in der Schule etwas beliebt gemacht habe. Du weißt ja, dass ich normalerweise kein großer Sprücheklopfer bin. Und wenn es mir einmal gelingt, den Vogel abzuschießen, dann hänge ich das gerne an die große Glocke. Langsam lerne ich die Sache mit dem Sarkasmus. Und darauf bin ich auch mächtig Stolz! Es wird auch langsam Zeit, finde ich."

"Du redest um den heißen Brei", stellte Seigi fest, "nun sag doch endlich, was heute so besonders war, dass Du ihn zur Weißglut getrieben hast."

"Du wirst lachen, aber das war es schon! Nur, weil ich was losgelassen hab, was Hikari zum Lachen gebracht hat, ist er eifersüchtig geworden. So hat er es mir zumindest verkündet, kurz bevor ich eins auf die Nase bekommen habe. Ende der Geschichte."

Mamoru hatte immer mehr Mühe, wach zu bleiben. Er hatte an diesem Tag so viele Stresshormone produziert, wie wohl selten zuvor in seinem Leben. Und er wollte eigentlich auch nicht weiter über diesen schrecklichen, langen Tag nachdenken. Er wollte ihn eher so schnell wie es nur irgend möglich war aus seinem Erinnerungsvermögen löschen.

"Und warum hast Du Dir nicht helfen lassen, sondern Dich in Deinem Zimmer eingesperrt? Das war gefährlich! Eigentlich würde ich Dich gerne jetzt noch schnell in ein Krankenhaus fahren, zur Nachuntersuchung!", meinte Seigi. Eine flehende Hilflosigkeit sprach aus seinen Worten.

"Och, nö! Bloß nicht!", beschwerte sich Mamoru. "Ich will für den Rest meines Lebens nichts mehr von Krankenhäusern hören, das weißt Du ganz genau!"

Sein Herz schlug ein gutes Stück schneller, als er sich vorstellte, er müsste wieder in ein Krankenhaus zurück. Diese nackten, weißen Wände, die sterilen Kittel, die Einsamkeit, die Medikamente und Spritzen... all das erwachte in seinen Gedanken zu neuem Leben. Er war lange genug in einem Krankenhaus gewesen. Damals, als er noch ein Kind war und seine Eltern gestorben waren. Er wollte sich um nichts in der Welt wieder an diese schreckliche Zeit erinnern, und noch weniger wollte er, dass sich das alles wiederholte.

Grässliche Bilder von Blut und zerfetzten Autoteilen krochen unaufhaltsam in seinen Erinnerungen hoch. Wie aus der Ferne hörte er noch die Schreie seiner Eltern... Er bekam pochende Kopfschmerzen, und in ebenso pochender Art und Weise machte sich seine geschundene Niere erneut bemerkbar. Er schloss leise stöhnend die Augen, drückte reflexartig die Hände gegen den Kopf und wünschte sich, die Schmerzen mögen doch aufhören. Er hatte nun wirklich schon mehr als genug Leid erfahren in seinem Leben. Er sehnte sich irgend eine Möglichkeit herbei, diesem Leid ein für alle Mal ein Ende setzen zu können.

Mamoru spürte zuerst einen sanften Lufthauch, und dann fuhr ihm eine Hand beruhigend über die Haare. Einen Spalt breit öffnete er sein gesundes Auge und sah seine Tante Kioku an, die sich neben ihn gesetzt hatte und nun das Haargummi aus seiner Frisur entfernte. Er genoss es, wie sie ihm sanft über den Kopf strich und ihm leise zuflüsterte: "Ist schon in Ordnung, mein Kurzer. Du musst nicht von hier weg. Es ist ja auch alles nicht so schlimm. Du bist nicht schwer verletzt, und morgen früh, wenn Du ausgeschlafen hast, ist alles wieder ein Stückchen besser. Mein süßer Kleiner! Jetzt wird alles wieder gut, in Ordnung? Ich werde nicht zulassen, dass Dir je wieder was Schlechtes geschieht. Du großer Schatz. Du bist mir doch wichtig. Du bist mir so sehr wichtig. Ich geb Dich nie wieder her, verstanden?"

Sein Herzschlag hatte sich längst wieder beruhigt. Er nahm die Hände vom Kopf und kuschelte sich an seine Tante. Auch sein Onkel setzte sich dazu und legte ihm die Hand auf die Schulter.

"Es wird alles gut", flüsterte er.

Mamoru war so froh, von diesen beiden wundervollen Menschen umgeben zu sein. Im Augenblick waren sie für ihn das Wertvollste, was er sich nur irgend denken konnte. Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen.

Mit dem letzten Rest an Kraft, den er zum Sprechen noch aufbringen konnte, wisperte er ihnen zu:

"Ich liebe euch."

"Wir lieben Dich auch, mein Kurzer. Und so wird es immer bleiben", antwortete Kioku.

"Ja, so ist es", stimmte Seigi zu, "Wir werden immer für Dich da sein."

"Und in Zukunft", fügte Kioku noch hinzu, "kommst Du sofort zu uns, wenn irgend etwas ist, klar?"

Doch das hörte er schon nicht mehr. Mamoru war inzwischen eingeschlafen.
 

In seinem Traum folgte er einem schwarzen Schatten durch dichten Nebel. Der Schatten wirkte groß, und abgesehen von einem langen, wehenden Umhang war nichts Genaueres zu erkennen. Mamoru wusste nicht mal, aus welchem Grund er dem Schatten folgte. Er tat es einfach. Er glaubte, dieser geheimnisvolle Schemen könnte ihm etwas Wichtiges zeigen. Der Nebel rings herum zog sich immer dichter zusammen, und bald war der Unbekannte darin verschwunden.

Mamoru blieb stehen und sah sich um. Er versuchte, irgend etwas zu erkennen, aber es war so schrecklich dunkel überall.

"Hallo? Wer ist da? Wo bist Du?", rief er in die Finsternis hinein, doch nur ein eigenartig dumpfes Echo antwortete ihm.

Er ging weiter. Irgendwohin. Nirgendwohin. Er spürte nicht mal den Boden unter den Füßen. Vielleicht ging er, vielleicht schwebte er, er konnte es nicht sagen. Oder vielleicht rührte er sich gar nicht vom Fleck.

Absolute Stille umgab ihn. Des öfteren glaubte er, huschende Bewegungen im Augenwinkel zu sehen, doch jedes Mal, wenn er sich zu konzentrieren versuchte, schien die Bewegung nie existiert zu haben.

Mamoru fühlte sich schrecklich einsam in diesem Nebel. Als er an sich herab sah, erschrak er. Er hatte wieder den Körper eines kleinen Kindes, und er trug einen hellblauen Schlafanzug. Er hob seinen Blick wieder und sah sich in einem Krankenhauszimmer in einem weißen, viel zu großen Bett sitzen. Heiße Tränen stiegen ihm in die Augen. Er wollte nicht an diesem schrecklichen Ort sein. Er hasste diese ewige Monotonie: alles um ihn herum war blendend weiß. Steril. Tot. Menschenleer.

"Mama! Papa! Lasst mich nicht alleine! Bitte! Papa! MAMA!!!", rief er verzweifelt mit seiner kindlichen Stimme, aber nicht mal das Echo war zu hören. Seine Worte wurden von der Einsamkeit verschluckt.

Er strampelte wild um sich. Er schrie, brüllte, tobte ohne Unterlass. Bald bröckelten die Wände, bekamen riesige Risse, zerbrachen schließlich in tausend Stücke und verschwanden in unbekannter Dunkelheit.

Mamoru wischte sich die letzten Tränen von den Wangen, schlug die Decke zurück und kletterte aus dem Bett. Doch anstatt auf einem Boden aufzukommen fiel er in unvorstellbare Tiefen. Er stürzte weiter und weiter nach unten, und der Fahrtwind schlug ihm erbarmungslos ins Gesicht. Kreischend hielt er sich mit den kleinen Kinderhändchen die Augen zu. Dann wurde sein Fall sanft abgebremst. Seine nackten Füßchen kamen sachte am Boden auf, und als er die Augen wieder öffnete, stand neben ihm ein Junge mit grüner Haut, spitzen Ohren und langen grünen Haaren mit zwei rosafarbenen Strähnchen drin.

"F... Fi... Fiore? Bist Du es?", fragte Mamoru.

Mamoru hatte sich eine Ewigkeit schon nicht mehr an seinen alten Freund aus Kindertagen erinnert. Fiore stand lächelnd neben ihm und hielt in seiner Hand eine wunderschöne Rose, deren Blüte noch nicht ganz aufgegangen war.

"Erinnerst Du Dich an diese Rose?", fragte der Junge.

"Wie könnte ich sie jemals vergessen?", entgegnete Klein-Mamoru, "Ich habe sie Dir zum Abschied geschenkt. Damals, als Du wieder abreisen musstest." Bedrückt fügte er hinzu: "Da hatte ich endlich mal einen Freund, und dann musstest Du wieder weg gehen. Ich hab Dich vermisst! Wo warst Du so lange?"

Fiore schüttelte den Kopf.

"Das ist nun unwichtig. Siehst Du diese Rosen dort?"

Fiore wies in eine Richtung hinter Mamoru. Als dieser sich umwandte, erkannte er einen schmalen Pfad, der von Rosen gesäumt war.

"Gehe dort entlang", verlangte Fiore.

"Wieso? Was ist dort?", fragte Klein-Mamoru, doch als er sich wieder zu Fiore umwandte, war dieser schon wieder verschwunden.

"Wieso lassen mich nur andauernd alle allein?", fragte Mamoru in die Stille hinein, doch er erhielt keine Antwort darauf. Wieder traten Tränen in seine Augen, doch diesmal wischte er sie trotzig weg.

Er ging auf die Rosenbüsche zu und folgte dem langen Pfad. Mit jedem Schritt, den er machte, wurde er etwa einen Monat älter. Nach einer Weile hatte er wieder seinen normalen Körper zurück und der Weg endete.

Nun befand sich Mamoru in einem riesigen Schlosshof. Weiße Nebel waberten umher und hüllten das Schloss in ein sanftes Licht. Das Schloss kam ihm bekannt vor. Er ging weiter, als wäre die Richtung selbstverständlich. Als hätte er diesen Weg schon oft beschritten.

Er blieb vor einem riesigen Balkon stehen, der hoch über ihm aus dem prächtigen Palast ragte und von gewaltigen, mit Schnörkeln verzierten Säulen getragen wurde, um die sich Efeu rankte. Der Balkon wurde beleuchtet durch gleißendes Licht, das durch riesige Fenster aus dem Zimmer dahinter fiel. Eines der Fenster wurde geöffnet, und eine Frau trat hindurch. Sie schritt anmutig zum Balkongeländer, sah hinunter und blickte Mamoru in die Augen.

"Bitte, finde den Heiligen Silberkristall", sprach sie.

Durch das grelle Licht im Hintergrund war ihr Gesicht nicht zu erkennen, aber Mamoru wusste trotzdem, wen er vor sich hatte. Es war die selbe Frau, die ihm schon seit einer Ewigkeit jede Nacht im Traum erschienen war, und die von ihm verlangte, den Heiligen Silberkristall zu suchen.

"Was ist der Silberkristall?", rief er zu ihr nach oben, "Und wie soll ich ihn finden? Wo soll ich ihn suchen? Bitte, wenn ich ihn finden soll, dann brauche ich Deine Hilfe!"

Die Unbekannte wirkte traurig. Mamoru hätte ihr gerne geholfen, aber er wusste beim besten Willen nicht, wie er das anstellen sollte.

"Du musst ihn suchen, und Du musst ihn finden", antwortete die Frau nur bekümmert. Sie ließ den Kopf sinken. Die beiden langen, blonden Zöpfe glitten im Wind sanft hin und her.

"Du musst erwachen, um ihn zu finden", sagte sie schließlich.

"Erwachen?", fragte Mamoru überrascht nach.

Die Frau nickte bestimmt. "Du, Herr der Erde, musst wiedererwachen. Du musst Deine Vergangenheit finden."

Mamoru störte sich seltsamerweise nicht an dem Titel <Herr der Erde>. Er kam ihm so seltsam vertraut vor. Allerdings fragte er: "Wie kann ich meine Vergangenheit finden? Sag mir endlich, wer ich bin!"

"Finde zuerst den Heiligen Silberkristall!", verlangte die Frau.

Der Nebel wurde wieder undurchdringlicher. Er nahm rasant an Dichte zu und verschluckte bald alles Licht. Es wurde so unglaublich schnell dunkel, dass Mamoru sich fühlte, als würde er von einem körperlosen Monster verschlungen werden. Er versuchte gegen die Nebelschwaden anzukämpfen, doch vergeblich. Die Dunkelheit nahm weiter zu.

In Panik schrie er um Hilfe, und absolute Finsternis hüllte ihn ein. Er zitterte am ganzen Körper, er schrie immer wieder, er presste die Augen auf einander.

Dann war alles still. Nichts regte sich.

Als er die Augen wieder aufschlagen wollte, fuhr ein stechender Schmerz durch seine rechte Gesichtshälfte. Er biss die Zähne zusammen. Erst jetzt erinnerte er sich an sein blaues Auge. Er brauchte einige Sekunden um sich wieder zu fangen. Dann öffnete er vorsichtig sein linkes Auge.

Kioku saß bei ihm und sah sehr mitgenommen aus. Sie hatte schwarze Ränder unter den Augen. Dennoch lächelte sie ihn tapfer an.

"Wie geht's meinem Kurzen heute?", fragte sie.

Mamoru war immer noch todmüde, zudem noch nassgeschwitzt, sein Rücken schmerzte, ebenso wie sein Kopf und sein Hals.

"Mir geht es gut, danke", antwortete er und versuchte sich aufzurichten. Immer noch machte seine malträtierte Niere ihm zu schaffen, aber es hatte sich schon ein gutes Stück gebessert. Er setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus seinem linken Auge. Er wagte es allerdings nicht, dem rechten Auge zu nahe zu kommen. Verschlafen blinzelnd sah er sich im Wohnzimmer um. Er saß noch immer auf der Couch. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es erst halb sechs war. Viel zu früh am Tag.

Er sah Kioku an.

"Und warum siehst Du heute so verführerisch aus?"

Kioku lächelte matt. "Du hattest einen Albtraum, hab ich recht?"

<Ertappt.>

"Du hast die ganze Nacht über mich gewacht, stimmt's?"

"So ist es, mein kleiner Schreihals", antwortete sie müde lächelnd.

Schuldbewusst ließ er den Kopf hängen. "War ich sehr laut?"

Kioku strich ihm liebevoll durch die zerzausten Haare. "Was heißt hier laut? Ich dachte schon, die hören Dich bis nach New York!"

Nun schüttelte sie doch den Kopf. "...Ach was, es ging. Wenn ich ehrlich bin: Die Lautstärke hat mich weniger gestört. Aber dass es meinem armen, kleinen Liebling schlecht geht, das hat mir den Schlaf geraubt. Aber mach Dir keinen Kopf. Zwischendurch hast Du auch mal einige Zeit recht ruhig geschlafen, und da konnte ich mich auch ausruhen. Ist also kein Weltuntergang."

Sie fuhr ihm vorsichtig über die Stirn.

"Ich glaube, Du hast etwas Temperatur. Nichts Ernstes zwar, aber wir wollen ja auch nichts Ernstes draus machen, nicht wahr?"

"Was willst Du damit sagen?", fragte Mamoru. Er war immer noch ziemlich schlaftrunken und unterdrückte ein Gähnen.

"Das soll heißen, dass Du heute vielleicht zu Hause bleiben solltest. Kurier Dich aus, Du hast es verdient", erklärte Kioku.

"Auf keinen Fall", meinte Mamoru bestimmt und entwirrte seine Beine aus der Decke, die Kioku wohl irgendwann des Nachts über ihn gelegt hatte. "Das würde Chikaras Sieg nur noch bestätigen. Wenn ich heute nicht in der Schule auftauche, hält der mich doch für einen würdelosen Schlappschwanz!"

"Und wenn Du heute doch in die Schule gehst, halte ich Dich für eine tote Leiche, wenn Du wieder zu Hause bist. Was ist, wenn er Dir wieder irgend etwas Schreckliches tut?", beschwerte sich Kioku. Die Sorge, die in ihrer Stimme lag, war überdeutlich.

Beruhigend legte er eine Hand auf ihre Schulter. "Der tut mir nichts, mach Dir da mal keine Gedanken. Auf dem Campus laufen mehr als genug Lehrer in der Gegend herum, die zu verhindern wissen, dass ich tranchiert werde."

"Und was ist mit dem Heimweg? Wenn er Dir da wieder auflauert?"

Als Antwort zuckte Mamoru nur mit den Schultern. "Motoki begleitet mich. Das ist absolut kein Problem, das macht er bestimmt gerne."

"Hältst Du es wirklich für eine gute Idee, verletzt, leicht fiebrig und noch dazu unausgeschlafen in die Schule zu gehen?", fragte Kioku bekümmert nach.

"Auf jeden Fall", antwortete Mamoru bestimmt. Somit war die Diskussion abgewürgt. Kioku nickte.

"Na schön, wie Du willst. Aber Du kannst mich jederzeit anrufen, ich komme Dich dann abholen. Und jetzt hüpf mal schnell unter die Dusche, ja? Ich mach Dir solange schon mal Frühstück, mein Kurzer." Trotzdem gefiel ihr der Gedanke überhaupt nicht. Sie verspürte dieses eigenartige, warnende Gefühl im Bauch...
 


 

[Anmerkung des Autors:
 

Hallo, Leute!

Ich freue mich wahnsinnig darüber, dass diese Story so gut anzukommen scheint!
 

Was mein Versprechen angeht, jede Woche ein neues Kappi hoch zu laden...

Nun, ich habe mir eine Verletzung am Handgelenk zugezogen, und ich weiß nicht, ob ich dieses Versprechen so ohne Weiteres einhalten kann. Schon seit drei Tagen laufe ich mit einer Schiene herum...
 

Aber ich lege mich ins Zeug. Wenn es mir irgendwie möglich ist, werde ich weiter arbeiten.

Falls es doch nicht so klappen sollte, wie ich es mir vorstelle, so bitte ich um Verzeihung. Ich hasse es, Versprechen nicht einhalten zu können!
 

Aber das wird schon! Immerhin tu ich das Ganze ja auch für mich selbst; weil ich Freude daran habe, zu schreiben. Womöglich kann genau diese Freude mir dabei helfen, wieder gesund zu werden?
 

Ich geb einfach mein Bestes und tu, was ich kann!
 

Ich danke allen, die mir so fleißig Kommis hinterlassen!]

Inzwischen war es Viertel nach sechs. Mamoru kaute betrübt an seinem Toast herum. Er hatte gerade eben die ganze Geschichte haarklein erzählt: Wie er sich mit Chikara und Buki die Schlägerei geliefert hatte; wie er dann wie hypnotisiert in seinem Zimmer gesessen hatte und unfähig war, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen; wie er dann mit Motoki in dieses Café gegangen war und schließlich, wie Hikari ihn bloßgestellt hatte. Er ließ nicht ein einziges, kleines Detail aus. Es tat gut, sich alles von der Seele reden zu können. Kioku und Seigi hatten ihm aufmerksam zugehört.

Nun war es also raus. Mamoru hatte zugegeben, dass er in Hikari verliebt war. Und trotz der Befreiung, die er empfand, als er das alles loswurde, war er schwer betrübt. Sie hatte ihm immerhin nicht nur einen Korb gegeben, sie hatte auch noch Spaß daran gefunden, ihn zu demütigen. Das war einfach zuviel.

Also kaute er immer noch kommentarlos an seinem Toast herum, nahm immer mal wieder einen Schluck heißen Kakaos, und starrte unablässig zum Fenster raus. Kalte Februarluft strich um das Hochhaus, es schneite nur ein wenig, und dicke Wolken verschluckten das Sonnenlicht.

<Fast wie in meinem Traum.>

Er dachte an seinen Traum von letzter Nacht zurück. Er erinnerte sich an Fiore, an das Krankenhauszimmer, an die unbekannte Frau. Wieso nannte sie ihn <Herr der Erde>? Und was meinte sie damit, er solle <erwachen>?

Mamoru war so sehr ins Grübeln vertieft, dass er statt in den Toast in seine Hand biss. Der Schmerz holte ihn in die Realität zurück.

"Mamoru? Hörst Du mir überhaupt zu?"

"Hä? Was?", wandte er sich seinem Onkel zu. "Entschuldige, ich war in Gedanken. Was sagst Du?"

Normalerweise hätte Seigi nun geschmunzelt und irgend einen Spruch abgelassen, aber er blickte seinen Neffen nur traurig an. Es tat ihm ganz offensichtlich unheimlich weh, ihn so still und geschunden zu sehen. Er kannte und liebte Mamoru als einen fröhlichen Menschen, der sorglos in den Tag hinein lebte und der einfach schon zu viel mitgemacht hatte, um sich ohne weiteres ins Bockshorn jagen zu lassen. Aber nun war etwas Außergewöhnliches in dessen Leben getreten, das ihn irgendwie verändert hatte. Die Tatsache, zu lieben, und nicht wiedergeliebt zu werden, machte Mamoru so fertig, dass er bloß leichenblass und wie ein Häuflein Elend dasaß und von seiner Umgebung nur noch ein Minimum realisierte.

"Mamoru", seufzte Seigi, stand auf und nahm direkt neben seinem Neffen Platz, um ihn vorsichtig in den Arm zu nehmen und ihm trostspendend durch die Haare zu fahren. Mamoru ließ es sich gerne gefallen und schmiegte den Kopf an Seigis Schulter.

"Enttäuschungen und schwere Zeiten gibt es viele im Leben eines Menschen", erklärte Seigi. "Da kommt niemand dran vorbei. Du musst jetzt einfach stark bleiben und lernen, damit umzugehen. Das schaffst Du schon."

"Genau", stimmte Kioku zu, "und wir stehen immer hinter Dir, egal was kommt."

Mamoru fühlte sich einen Augenblick lang so unendlich geborgen, wie er an der Schulter seines Onkels lehnte und einfach wusste, dass er nicht allein war. Er war zwar immer noch betrübt und enttäuscht, aber immerhin hatte das Gefühl der absoluten Verzweiflung an Intensität verloren.

Doch wie Mamoru so dasaß und behutsam von Seigi festgehalten wurde, überkam ihn eine schwer zu beschreibende Sehnsucht. Er dachte an seine Eltern und fragte sich, ob es sich wohl genauso anfühlen würde, wenn nicht sein Onkel, sondern sein Vater ihn trösten würde. Oder wäre das womöglich sogar eine sehr viel stärkere Emotion?

Mamoru versuchte sich das Gesicht seines Vaters ins Gedächtnis zu rufen. Schon oft hatte man ihm die alten Fotoalben seiner Familie gezeigt. Zwar konnte Mamoru sich nicht an einzelne Geschehnisse und Erlebnisse seiner Vergangenheit erinnern, aber es wäre auch nicht zwingend nötig gewesen. Denn auch ohne die Erklärungen, die Seigi und Kioku damals abgegeben hatten, zeigten die Fotografien eindeutig: Mamoru war das perfekte Ebenbild seines Vaters. Gut, Mamorus Vater Keibi hatte zwar eine kurze Frisur und einen Oberlippenbart getragen, aber die Gesichtsform war genau dieselbe. Er hatte außerdem dieselben extrem dunklen blauen Augen und die blauschwarzen Haare wie sein Sohn Mamoru gehabt.

Und nun war er tot. Einfach so aus dem Leben gerissen.

Genau wie seine Frau und Mamorus Mutter Megami.

Verzweifelt klammerte sich Mamoru an Seigi und verkrallte sich in dessen Hemd. So gut es ging kämpfte er das aufsteigende Gefühl der Übelkeit nieder. Er wollte jetzt keine Schwäche zeigen; er wollte jetzt seine Emotionen nicht preisgeben. Er schluckte heftig und begann, leicht zu zittern; teils vor Anstrengung, die er aufbrachte, um nicht in Tränen auszubrechen, und teils vor Mutlosigkeit und Enttäuschung darüber, dass alles immer so kompliziert war.

Der Schweiß rann an Mamorus Stirn entlang und sein Puls raste. Er hasste dieses Gefühl der Hilflosigkeit und des Kontrollverlustes. Am liebsten hätte er seine Empfindungen einfach abgeschaltet. Er bettelte eine alles auslöschende Bewusstlosigkeit herbei, um in der Dunkelheit und im Vergessen versinken zu können. Doch dieser Wunsch wurde ihm nicht gewährt. Im Gegenteil. Er wurde dazu verdammt, alles zu ertragen. Mit jeder einzelnen Sekunde etwas deutlicher.

In seiner Vorstellung saß Mamoru plötzlich nicht mehr bei seinem Onkel. Sondern derjenige, der nun den Arm tröstend um ihn legte, war sein Vater. Mamoru sah vor seinem geistigen Auge, wie Keibi lächelte; genau wie auf den etlichen Fotos. Und neben Keibi erschien das warmherzige Gesicht seiner Mutter Megami. Beide schienen sich von Mamoru wegzubewegen. Sie winkten und riefen ihren Sohn zu sich. Doch diese Vision hielt sich nur eine Sekunde lang, dann verschwamm sie wieder.

Mamoru atmete schwer und ungleichmäßig. Keuchend hielt er sich immer noch an seinem Onkel fest und ein erschöpftes Stöhnen glitt von seinen Lippen.

Seigi fuhr ganz behutsam über die schweißnasse Stirn seines Neffen und schüttelte besorgt den Kopf.

"Ich glaube, Dein Fieber wird immer schlimmer", stellte er fest.

"Du bleibst heute zu Hause!", bestimmte Kioku.

Kraftlos schüttelte Mamoru den Kopf. Mit einiger Anstrengung versuchte er, sein Zittern zu unterdrücken. Er öffnete seine Fäuste und gab Seigis Hemd wieder frei, dann lehnte er sich zurück. Immer noch keuchend stellte er die Frage, die ihm schon so lange auf der Seele brannte: "Onkel Seigi? Sag mir, wie haben sich meine Eltern eigentlich kennen gelernt?"

Nun war es also endlich raus. Es gab kein Zurück mehr. Eine Sekunde lang regte sich gar nichts; eine schier tödliche Stimmung lag über dem Zimmer. Mamoru machte sich auf viele verschiedene Reaktionen seines Onkels gefasst. Seigi könnte traurig den Blick abwenden und erst mal geschockt herumstammeln. Oder er könnte einfach aufstehen und verkünden, er müsse jetzt zur Arbeit. Vielleicht würde er aber einfach nur stumm dasitzen und in Erinnerungen schwelgen. Mamoru wusste genau, wie sehr Seigi seinen Bruder vermisste. Es war eigentlich unmöglich, voraussagen zu wollen, wie er reagieren würde.

Denn erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.

Seigi legte behutsam seine Hand auf Mamorus Knie und... lächelte ihn an. Es war ein warmes, sanftes Lächeln. Das Lächeln, das man auf den Lippen hat, wenn man ganz besonders stolz ist, oder wenn man sich an etwas Wunderschönes erinnert. Dennoch glaubte Mamoru, ein leichtes Blitzen in seinen Augen zu sehen; so, als würden sie sich mit Tränen füllen.

"Ich habe lange auf diese Frage gewartet", antwortete Seigi endlich. "Denk nicht, ich wollte Dir diese Information vorenthalten. Beim besten Willen nicht! Aber..."

Er nickte, um seine Worte zu bekräftigen.

"...Aber ich spürte, Du würdest Dich erst darauf vorbereiten müssen. Und jetzt ist anscheinend die Zeit gekommen. Jetzt bist Du alt genug, zu begreifen, wie stark Deine Eltern mit einander verbunden waren. Denn ihre bedingungslose Liebe, die alles überwunden hat, außer den Tod, basierte auf einem ganz besonderem Ereignis, das die beiden untrennbar an einander geknüpft hat."

Mamoru musste schwer schlucken. Sein Herzschlag und seine Atmung hatten sich wieder etwas beruhigt, aber immer noch fühlte er sich elend. Er saß einfach nur da und wartete ungeduldig darauf, dass sein Onkel endlich anfangen möge.

Seigi räusperte sich und begann:

"Es war Winter, und wir verbrachten ein Wochenende an einem Ferienort, der an einem schmalen Fluss gelegen war. Überall lag frischer Schnee, und Keibi machte spontan den Vorschlag, spazieren zu gehen. Ich bin immer gerne mit ihm herumgezogen. Schon damals, als wir Kinder waren, hat er mich oft in die Wälder mitgenommen und mir die Pflanzen gezeigt...

Entschuldigung, ich schweife ab. Jedenfalls gingen wir an diesem Fluss entlang. Es war herrlich! Ich sehe noch heute alles vor mir, als wäre es erst gestern gewesen. Die Bäume waren voller Schnee, und überall glitzerte es in der Vormittagssonne. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, um diesen fantastischen Tag zu genießen. Ich schätze, den meisten war es einfach zu kalt. Ist ja auch egal.

Keibi stupste mich irgendwann an und sagte: <Schau mal da>, und als ich daraufhin einen Blick über den zugefrorenen Fluss warf, wusste ich, was er meinte. Der alte Aufreißer hatte schon wieder ein Mädchen entdeckt, dass ihn interessierte."

Mamoru starrte seinen Onkel mit ungläubigem Blick an.

"Ja, Du hast richtig gehört", meinte Seigi und in seiner Stimme lag ein amüsierter Unterton, "Keibi war in der Hinsicht genauso schrecklich wie ich. Vielleicht sogar noch draufgängerischer."

Mamoru seufzte unweigerlich.

"Hey", machte Seigi tröstend, "lass deswegen den Kopf nicht hängen. Es ist nicht Deine Schuld! Die Frauen sind das Übel dieser Erde!"

"Erzähl Deine Geschichte weiter, Du Märchenonkel!", schnaubte Kioku verächtlich.

"Ist doch wahr!", verteidigte sich Seigi grinsend. Dann fuhr er mit seiner Erzählung fort:

"Keibi konnte jedenfalls den Blick nicht von dieser Frau reißen. Mit ihren Schlittschuhen schwebte sie förmlich über das Eis und machte die grazilen Bewegungen einer Märchenfee..."

<Ja, das kenne ich. Hikari bewegt sich auch auf diese schier unbeschreibliche Art und Weise. Seuftz.>

"...Ja, genauso einen verknallten Blick wie Du jetzt hatte Keibi auch gehabt."

Mamoru wurde rot. Er hoffte, Seigi würde das als eine Reaktion auf das Fieber sehen. Er glaubte allerdings nicht wirklich daran.

Seigi lächelte und erzählte derweil weiter:

"Keibis Begeisterung war schier nicht zu bremsen. Und das konnte ich auch gut verstehen. Dieses Mädchen mit den langen, braunen, leicht gewellten Haaren, das da auf dem Eis tanzte, war einfach eine Wohltat für jedes Auge."

"Hey!", unterbrach Kioku und kniff Seigi leicht in die Wange.

"Was denn?", grinste dieser, "damals war ich sechzehn! Da kannte ich Dich doch noch lange nicht! Du brauchst nicht eifersüchtig zu werden!"

"Erzähl weiter", verlangte Mamoru. Ihm ging alles viel zu langsam, und er wollte, dass sein Onkel endlich auf den Punkt kam. Und genau das tat er jetzt auch.

Seigi wurde mit einem Mal sehr ernst. Er senkte den Blick, seufzte, und fuhr mit etwas leiserer Stimme fort:

"Und da passierte es. Krach, zack, bumm... die Frau ist im Eis eingebrochen. Sie ist so wahnsinnig plötzlich verschwunden, dass ich gar nicht realisierte, wo sie auf einmal abgeblieben war! Sie hatte noch nicht einmal geschrieen. Sie hatte wohl einfach keine Zeit dazu. Ich war zu perplex, um mich zu bewegen; um irgendwas zu begreifen! Es war Keibi, der losstürmte und mich hinter sich herzog. Wir rannten über das Eis. Oder vielmehr: wir schlitterten, rutschten und fielen. Mit bloßen Schuhen ist man da ziemlich aufgeschmissen. Mir ist nur eines durch den Kopf gegangen: <Was passiert, wenn es hier noch mehr brüchige Stellen gibt, und wir womöglich in eine davon hineinfallen?> Doch Keibi ließ mich nicht los, bis wir an diesem Loch waren. Die Frau kämpfte im Wasser mit ihren Klamotten und mit den Schuhen, die sich voll Wasser gesogen hatten und viel zu schwer wurden. Der Fluss war recht breit, dafür weniger tief, und floss sehr ruhig, deswegen wurde sie nicht sonst wohin weggetrieben, aber sie wurde trotzdem vom Wasser verschluckt. Sie versuchte immer wieder, sich hoch zu kämpfen und den Rand der Einbruchstelle zu fassen, aber sie rutschte jedes Mal haltlos ab. Als wir heran waren, war die Frau gerade wieder dabei, abzutauchen. Keibi griff beherzt ins eiskalte Wasser hinein und bekam einen Zipfel der Jacke zu fassen. Das Mädchen hätte ihn mit sich hinunter gezogen, wenn ich nicht geistesgegenwärtig Keibis Beine gepackt und mich mit meinem ganzen Gewicht darauf gelegt hätte. Nur das gab ihm genug Halt. Er schrie vor Schmerz auf, weil das Wasser so wahnsinnig kalt war, aber er ließ dennoch nicht los. Im Gegenteil: Er tauchte auch die andere Hand ins Wasser und brüllte, ich solle ihn rausziehen.

Ich zog und zog wie ein Irrer. Keibi war sehr schwer, und er hatte ja zusätzlich das Gewicht der Frau zu schleppen. Fragt mich jetzt bloß nicht, wie, aber schlussendlich haben wir es gemeinsam geschafft, sie aus dem Wasser zu ziehen. Sie hatte das Bewusstsein verloren.

Ich muss dazu sagen, Keibi war zu dem Zeitpunkt einundzwanzig Jahre alt, und hatte nicht lange vorher sein Medizinstudium begonnen. Er nutzte dieses bisher angesammelte Wissen, und die Kenntnisse, die er sich bei einem Erste-Hilfe-Kurs angeeignet hatte, um der Frau so gut es ihm möglich war zu helfen. Mich schickte er los, um Hilfe zu rufen. Ich rannte wie wohl nie zuvor in meinem Leben, und schnell fand ich eine Telefonzelle und rief den Arzt.

Als der Krankenwagen kam, begleitete Keibi die Frau ins Krankenhaus und gab mir die Anweisung, zurück ins Hotel zu gehen.

Ihr beide könnt euch ja denken, was darauf passiert ist."

Seigi hob seinen Blick wieder und lächelte sanft in die Runde. Kioku nickte wissend, und Mamoru hatte eine ungefähre Ahnung von dem, was als Nächstes kam.

"Diese Frau war Megami, Deine Mutter, Mamoru. Natürlich noch nicht zu diesem Zeitpunkt. Aber sie verliebte sich in den Mann, der ihr das Leben rettete, und heiratete ihn ganz genau drei Jahre später. Am 10. Dezember 1973."

"Genau drei Jahre später?", fragte Mamoru nach.

Seigi bestätigte. "Dieses Ereignis spielte sich auch an einem 10. Dezember ab. Die Hochzeit der beiden sollte praktisch ewig daran erinnern, warum diese Heirat überhaupt stattfinden konnte: Weil Megami noch am Leben war."

Nun setzte Seigi eine geheimnisvolle Miene auf, lehnte sich etwas näher zu Mamoru herüber und fragte ganz leise: "Soll ich Dir verraten, was Megami mir an ihrem Hochzeitstag anvertraut hat?"

Mamoru nickte gespannt.

Seigis Antwort war nur noch ein Flüstern, in dem dennoch eine Spur von Stolz mitschwang:

"Sie sagte mir, sie wünsche sich einen Sohn, der genauso gutherzig und hilfsbereit sein solle wie ihr über alles geliebter Keibi. Und glaube mir, Mamoru: Den hat sie auch bekommen. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie unendlich stolz Megami und Keibi waren, als Du geboren wurdest."

Seigi lehnte sich wieder zurück und lächelte glückselig. Mamoru sah ihn mit großen Augen an und wusste zunächst nicht, was er sagen solle. Schlussendlich fasste er sich ein Herz und fragte: "Onkel Seigi? Sag, wie fühlst Du Dich jetzt? Ich meine, wo Du Dich doch jetzt so sehr an Papa erinnert hast?"

"Mamoru", seufzte der Gefragte und schenkte seinem Neffen ein gütiges Lächeln. "Ich erinnere mich unheimlich gerne an Deinen Vater. Und auch an Deine Mutter. Sicher, es tut wahnsinnig weh, alle beide nicht mehr um sich zu haben, aber das Leben geht weiter. Stell Dir vor, was wäre, wenn ich mein restliches Leben nur noch damit verbringen würde, zu trauern und Tränen zu vergießen. Ich würde erbarmungslos daran zugrunde gehen. Das würde ich nicht überleben. Es gibt noch mehr Menschen auf diesem Planeten, die es wert sind, geliebt zu werden. Und manchmal muss einfach etwas Schreckliches passieren, damit man bemerkt, was einem im Leben wirklich wichtig ist.

Hättest Du Freude daran, hier mit mir zu leben, wenn ich nur depressiv in der Ecke sitzen und nach dem Sinn des Lebens fragen würde? Wohl kaum. Und außerdem... außerdem glaube ich, dass Keibi so etwas nicht wollen würde. Er und Megami haben Dich in die Welt gesetzt, damit Du lebst. Damit ein Teil von ihnen lebt. Mamoru, die beiden haben Dich wirklich mehr geliebt als alles andere auf der Welt. Und ich bin mir sicher, ihr sehnlichster Wunsch wäre, dass Du Dein Leben genießt und glücklich bist. Deine Eltern hatten zwar nur eine kurze Zeit miteinander, um glücklich zu sein, aber diese Zeit haben sie genutzt.

Ich liebe meinen Bruder nach wie vor, und ich vermisse ihn immer noch sehr. Aber ich habe die Trauer und die Einsamkeit besiegt. Ich lasse sie nicht mehr mein Leben bestimmen. Ich bestimme mein Leben.

Und Du? Wie fühlst Du Dich jetzt?"

Mamoru zuckte mit den Schultern. "Es ist schwer, so was zu beschreiben. Irgendwie fühle ich mich einsam. Ich wünsche mir so sehr, mich wieder an meine Eltern erinnern zu können. Es ist wie das dumpfe Gefühl, das man hat, wenn man für eine lange Reise die Koffer packt und sagt <Ich hab was vergessen; ich weiß bloß nicht, was>. Ein Gefühl der Leere. Ein Gefühl der ewigen Suche.

Aber irgendwie ist da jetzt noch was. Stolz. Ich finde es mutig, dass Papa so gehandelt hat. Aber... wieso war er so unendlich mutig und stark? Und ich bin so..." Er seufzte schwer und ließ die Schultern hängen.

"Du darfst eben nicht nur darauf vertrauen, dass Dir im Leben alles einfach zugeflogen kommt", erklärte Seigi. "Du musst auch mal selber was tun. Eigene Entscheidungen treffen. Eigene Erfahrungen sammeln. Du musst an Dir arbeiten. Und vor allem: Du musst an Dich glauben!"

Mamoru lächelte leicht. "Danke, Onkel Seigi. Jetzt fühle ich mich etwas besser."

"Und wollt ihr wissen, wie ich mich fühle?", platzte Kioku mitten rein.

"Und? Wie?", fragte Mamoru.

Darauf antwortete Kioku augenzwinkernd: "Hungrig!", und nahm sich eine Scheibe Toast.

<Typisch Tante Kioku!>

"Würdest Du mir in Zukunft öfters von meinen Eltern erzählen, Onkel Seigi?", fragte Mamoru.

"Klar, gerne doch!" Seigi sah auf seine Armbanduhr. "Es wird Zeit, ich muss jetzt los. Ich werde zwar etwas spät kommen, aber das ist nur halb so wild. Das hier war wichtiger."

Er verabschiedete sich und verschwand.

Noch eine ganze Weile frühstückten Kioku und Mamoru ohne mit einander ein Wort zu wechseln. Doch irgendwann durchbrach Mamoru die Stille.

"Tante Kioku? Ähm, auf den Fotos... da hat Papa doch diese kurzen Haare. Und ich hab etliche Bilder gesehen, da hatte ich dieselbe Frisur wie er..."

Kioku trank einen Schluck Tee und nickte dann. "Ich habe Deinen Vater nie anders gekannt als mit dieser Frisur. Aber es hat ihm wahnsinnig gut gestanden. Du hast damit übrigens auch super niedlich ausgesehen."

Mamoru schnitt eine Grimasse. "Kann aber nicht nur an der Frisur gelegen haben. Sonst hätte Papa sich die Haare bestimmt anders gemacht. Oder?"

Kioku lachte auf. "Ja, da hast Du wohl recht. In Wahrheit war das Schönste an Dir Deine Augen. Als Kind hattest Du wahnsinnig große Augen, und die hatten diese wunderschöne dunkelblaue Farbe! Du warst wirklich das schönste Kind im ganzen Land. Und Du wolltest immer die Frisur so tragen wie Dein Vater. Du bist richtig böse geworden, wenn man Dich nicht alle paar Monate zum Frisör mitgenommen hat."

"Was? Wirklich?", rief Mamoru erstaunt aus.

Kioku nickte. "Du wolltest unbedingt so sein wie Keibi. Ich glaube, Du wolltest gerne älter und erwachsener sein, als Du eigentlich warst. Aber seit Du bei Seigi und mir lebst, lässt Du Deine Haare immer weiter wachsen."

<Klar. Weil ich alles vergessen habe, was mit meinem Vater zu tun hat.>

Unbewusst krempelte er sich den rechten Ärmel seines Pullovers hoch und fuhr vorsichtig über die beiden langgezogenen Narben am Unterarm.

"Tante Kioku? Was würdest Du davon halten, wenn ich mir wieder so eine Frisur schneiden lassen würde?"

Piep...

Piep...

Piep...

Dann herrschte Stille.

Kioku zog das Digitalfiberthermometer vorsichtig aus Mamorus Mund und las das Display ab: 37,8°C. Mit besorgtem Blick in den Augen schüttelte sie den Kopf.

"Ich kann Dich unmöglich so in die Schule gehen lassen, Kurzer. Völlig unmöglich. Das wäre schlicht und ergreifend verantwortungslos."

Daraufhin entstand eine lange Diskussion. Mamoru vertrat die Meinung, unbedingt gehen zu müssen. Würde er sich Chikara heute nicht präsentieren, könnte dieser ihn für einen Schwächling und Versager halten, und das wollte Mamoru um jeden Preis vermeiden.

Kioku hingegen versuchte alles menschenmögliche, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Es sei keine Schwäche, schwerkrank zu Hause zu bleiben.

Dagegen argumentierte Mamoru, leicht erhöhte Temperatur könne noch nicht als <schwer krank> bezeichnet werden.

Und so weiter.

Kioku appellierte zu guter Letzt an seinen gesunden Menschenverstand. "Die Welt da draußen ist groß und gefährlich", seufzte sie in einem letzten Aufbäumen, "besonders für jemanden, der verletzt und krank ist."

Doch schlussendlich behielt Mamoru, sturköpfig wie er war, die Oberhand. Er war einfach viel zu stolz, um seinem Widersacher Chikara einen so großen Sieg einzuräumen. Mamoru war nun mal, wie so viele Leute, die im Sternzeichen Löwe geboren waren, ziemlich dominant.

Er wollte sich noch nicht einmal von seiner Tante zur Schule begleiten lassen. Er litt regelrecht unter Verfolgungswahn: hinter jeder Laterne, jeder Mülltonne, jeder Ecke könnte Chikara stehen und ihn als Muttersöhnchen, Weichling und Jammerlappen beschimpfen. Und dann wäre seine Ehre endgültig am Ende. Kioku war ja der Ansicht, genau das sei ein guter Grund, ihren Neffen gerade nicht alleine ziehen zu lassen. In seinem Zustand konnte er sich unmöglich gegen Chikara wehren. Sollte dieser <verfluchte Mistkerl> (Zitat Kioku) Mamoru auflauern, konnte wer-weiß-was geschehen! Doch davon ließ sich Mamoru nicht beeindrucken.

Schließlich machte er sich auf den Weg. Alleine, selbstredend. Auch die wenigen Passanten, die an Mamoru vorbei gingen, verbesserten nichts an diesem Zustand. Klar, sie täuschten durch ihre bloße Anwesenheit eine gewisse Sicherheit vor, denn im Notfall konnten sie eventuell helfen oder zumindest Hilfe organisieren. Aber das änderte nichts an der Einsamkeit, die sich in Mamorus Seele eingenistet hatte.

Er war nervös. Er war sogar extrem nervös. Fortwährend sah er sich zu allen Seiten um. Ständig schienen Schatten um ihn zu huschen und wieder zu verschwinden. Mamoru schob diese Einbildungen auf seine leicht erhöhte Temperatur (er weigerte sich immer noch, es als <Fieber> zu bezeichnen) und er gab sich Mühe, diese Schemen zu ignorieren und aus seinen Vorstellungen zu vertreiben. Aber es glückte ihm nicht. Seine Angst steigerte sich stattdessen immer weiter, bis ins Unermessliche hinein. Seine Gedanken waren beherrscht von der Vorstellung, jedes Gesicht, dem er auf der Straße begegnete, könnte nur eine Maske sein, hinter dem sich ein hämisch grinsendes und zugleich entschlossen dreinblickendes, blondes Soldatengesicht versteckte.

Mamoru ging etwas schneller die Straße entlang. So viel Sicherheit die Leute um ihn herum auch bieten mochten, so unangenehm war ihm ihre Anwesenheit. Die Stille, die Mamoru umgab, wirkte trügerisch und auf nicht näher zu beschreibende Weise erdrückend. Sie war fast unwirklich und fremd! Dieser Frieden und die Ruhe wirkten richtiggehend angsteinflößend!

Immer wieder sah Mamoru sich suchend um. Der Feind konnte jederzeit überall sein. Er wusste selbst, es war völlig absurd. Aber nur ein kleiner Teil seines Bewusstseins realisierte diese Tatsache überhaupt. Der Großteil seiner Gedanken war abgeschaltet, und einem uralten Instinkt gewichen: dem Lebenserhaltungstrieb.

Er schritt noch etwas weiter aus.

<Weg hier, nur schnell weg!>

Dann verfiel er in einen leichten Trab. Schneller, immer schneller trugen ihn seine bereits müden Beine. Schließlich rannte er, so schnell es seinem abgekämpften Körper nur möglich war. Wie besessen raste er seinen Weg entlang und störte sich nicht an den verwunderten Blicken der Fußgänger um ihn herum. Sein Herz jagte schmerzhaft in seiner Brust und trotz der immer noch sehr milden Lufttemperatur rann scheinbar glühend heißer Schweiß in Strömen über seinen Rücken, seine Brust und seine Stirn. Schon nach kurzer Zeit blieb er erschöpft stehen und stützte sich keuchend an einen Laternenpfahl. Das Gewicht seines Schulranzens schien ihn fast zu erdrücken.

<Was... was ist bloß los mit mir?>, wunderte er sich schwer nach Luft schnappend, <weshalb bin ich schon so dermaßen außer Puste?>

Ihm wurde schwindlig und für ein paar Sekunden verschwamm die Welt vor ihm und schien sich immer wieder zu drehen. Er schloss stöhnend das linke, gesunde Auge und presste sich die Hand vor den Mund, um nicht das Frühstück herauszuwürgen. Der bittere Geschmack der Galle breitete sich auf seiner Zunge aus, aber er konnte sich unter Kontrolle halten.

<Ich verstehe das alles nicht...>

Schwer atmend hob er wieder das linke Augenlid und blickte sich verloren um. Noch war sein rechtes Auge zu dick geschwollen, um etwas derartiges zuzulassen. Wie er sich so umsah, war er einen ganz kurzen Moment regelrecht orientierungslos. Die Gegend, in der er sich befand kam ihm so fremd vor; irgendwie falsch. Und das, obwohl er hier schon ungezählte Male gewesen war. Sein Blick verklärte und verzerrte sich immer wieder und das Schwindelgefühl kam und ging in unregelmäßigen Abständen.

Mamoru bildete sich ein, wie von weit her Chikaras höhnende Stimme zu vernehmen. Er glaubte, Worte zu hören wie <Chiba... kann nix, hat nix, is nix... bist wohl übermüdet, was? ...wenn Du es noch einmal wagst... Schwächling...>

Träge und unendlich langsam glitt Mamorus Auge umher und versuchte seinen Feind irgendwo zu sehen, aber alles, was er wahrnahm, waren huschende Schatten, die hinter einem dicken Nebel zu sein schienen, der einzig und allein vor seinem Blick existierte. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, aber sie schienen ihm nicht gehorchen zu wollen. Seine Vernunft war wie durch einen extrem zähen Kaugummi verklebt und völlig funktionsuntüchtig.

Scheinbar unendlich dickflüssig sickerte eine neue Idee in sein Gehirn, und es vergingen schier endlose Sekunden, bis Mamoru wirklich darauf zugreifen konnte: War das alles vielleicht eine Reaktion seines Körpers auf die grässlichen Torturen, die er beim Kampf mit Chikara und Buki auf sich genommen hatte?

Wieder verging einige Zeit, bis sich Mamoru endlich etwas klarer zurückerinnern konnte: Hatte er nicht sehr lange schwer atmend und schwitzend im eiskalten Schnee gelegen? Wie lange war er überhaupt dort liegengeblieben? War er womöglich kurze Zeit ohnmächtig gewesen, und hatte sogar längere Zeit dort verbracht, als er es wahrgenommen hatte?

<Nein>, dachte er trotzig bei sich, <man wird doch nicht in so einer kurzen Zeit krank! Nicht von heut auf morgen. Das kann ich mir nicht vorstellen!>

Wieder überkam ihn ein heftiger Schwindelanfall und er musste sich stöhnend und mit aller Kraft am Laternenpfahl festklammern, um nicht nähere Bekanntschaft mit dem Kopfsteinpflaster machen zu müssen. Seine Lungen gaben einen seltsam hohen, pfeifenden Ton von sich. Kurze Zeit wurde es schwarz vor Mamorus Augen, und kleine dunkelblaue und grüne Pünktchen führten im plötzlichen Dunkel einen wilden Veitstanz auf. Um den Schwindel zu vertreiben presste Mamoru fest Augen und Zähne aufeinander, was zu noch mehr bunten Punkten führte, aber im Großen und Ganzen doch half.

Bald öffnete er das Auge erneut.

"Chikara, Du Mistkerl", knurrte er leise vor sich hin, "Du wirst für das bezahlen, was ich Deinetwegen hier durchstehen muss!"

Grenzenloser Zorn auf Chikara keimte in Mamoru auf; doch schnell war dieses Gefühl mit Hilflosigkeit und Verzweiflung gepaart. Wie sollte Mamoru seinem Widersacher je Paroli bieten können?

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Er konnte noch rechtzeitig sein, wenn er sich jetzt auf den Weg machte anstatt die Pause noch zu verlängern. Er machte einen Schritt vorwärts und wäre fast gefallen, hätte er sich nicht am Laternenmast festgeklammert. Seine Beine schienen sein Gewicht nicht mehr tragen zu wollen. Wieder bekam Mamoru einen Schwindelanfall; diesmal einen etwas leichteren. Er wischte sich mit dem Handrücken einen Schweißtropfen aus dem linken Auge und zwang sich dazu, aufrecht zu stehen und im Gleichgewicht zu bleiben. Er ließ die Laterne los und machte ein paar vorsichtige, wackelige Schritte. Es ging. Noch immer schwer atmend schleppte er sich voran.
 

Als er schließlich den Campus der Moto-Azabu-Oberschule erreichte, fühlte er sich, als sei er mit seinen Klamotten in einen Pool gehüpft. Seine Schuluniform war schweißnass und schwer, als hätte jemand Wackersteine daran befestigt. Das Schlimmste aber waren die empfundenen Tonnen, die sein Schulranzen plötzlich zu haben schien. Es war kaum zu glauben, was ein paar Bücher mit einem Male wiegen konnten!

Noch dazu schienen die Treppenstufen, die sich Mamoru nun empor schleppte, kein Ende nehmen zu wollen. Er fühlte sich, als würde er eine Rolltreppe hinaufsteigen, die in die entgegen gesetzte Richtung fuhr: direkt in die Hölle hinab.

Schlussendlich, nach etlichen Treppen und Gängen, sackte er mit einem Seufzer auf seinem Stuhl zusammen und legte keuchend den Kopf auf den Tisch. Er kletterte aus den Schulterriemen seines Ranzens und ließ diesen dann achtlos neben sich auf den Boden fallen.

So saß er also da: keuchend, vornüber gebeugt, die klatschnasse Stirn auf der Tischplatte liegend, die langen Haare durch den Schweiß am Kopf klebend, mit vor Anstrengung knallrotem Gesicht, nur um die Nasenspitze weiß wie die Wand.

Erst nach einem langen Moment der Ruhe erhob er seinen scheinbar zentnerschweren Oberkörper und besah fast schon mit Erstaunen das halbe Dutzend kleiner Schweißpfützen, die sich auf dem Tisch zusammengesammelt hatten. Seufzend zog Mamoru ein Taschentuch hervor und beseitigte die Sauerei. Und genau in diesem Augenblick trat Motoki, der sich die ganze Zeit über mit Shôgai unterhalten hatte, an ihn heran.

"Was zur Hölle tust Du hier?", fragte er besorgt. "Ich habe eigentlich angenommen, Du bleibst heute zu Hause und ruhst Dich aus! Bist Du so versessen darauf, für Chikara den Punchingball zu spielen?"

"Du redest Scheiße", stellte Mamoru entnervt fest. Der lange Schulweg hatte schwer an seinen Kräften gezehrt, und das ließ ihn heftiger als sonst auf Motokis sehr bildliche Sprache reagieren. Zudem hasste er es, wenn man ihn behandelte, als könne er nicht auf sich selbst aufpassen.

Immer wieder verschwamm sein Blick. Er versuchte, die imaginären Nebelschwaden hinfort zu blinzeln, doch es gelang ihm nicht wirklich. Manchmal tanzten erneut kleine, blaue Pünktchen vor seinem Gesichtsfeld und verschwanden urplötzlich wieder; es war ein ständiges Kommen und Gehen.

Mamorus Gedanken schweiften immer öfter ab. Mal dachte er ernsthaft darüber nach, wieder nach Hause zu gehen, mal erinnerte er sich an den seltsamen Traum von letzter Nacht. Besonders das Bild von Fiore schob sich immer wieder vor Mamorus geistiges Auge. Fiore, der kleine Junge mit der grünen Haut und den grünen Haaren, der Mamoru erschienen war, als dieser noch im Krankenhaus gelegen hatte und sehr einsam war. Mamoru hatte irgendwann begriffen, dass Fiore wohl nichts als eine Fantasiegestalt gewesen war. Eine sehr realistische, aber eben nur eine Fantasiegestalt. Um mit der entsetzlichen Einsamkeit klar zu kommen. Fiore... Warum er? Und warum jetzt? Nach so langer Zeit? Mamoru wusste darauf keine Antwort, und er suchte auch nicht wirklich danach. Bevor er den Gedanken wirklich hätte greifen können, entglitt er ihm wieder. Dann dachte Mamoru an seine Tante Kioku. Weswegen hatten sie an diesem Morgen doch gleich diesen heftigen Disput gehabt? Mamoru versuchte sich zu erinnern, aber es fiel ihm sehr schwer. Es hatte irgendwas mit Krankheit zu tun gehabt...

Stöhnend fuhr Mamoru mit der Hand über seine Stirn. Sie glühte förmlich. Für einen Moment, nur für einen ganz kurzen Augenblick, war er versucht, einfach nur zu schlafen. Er fühlte sich unendlich müde.

Als er seine Hand wieder herunter nahm, fiel sein Blick zum ersten Mal an diesem Tag auf die beiden Plätze vor ihm. Hikari und Chikara saßen da und unterhielten sich über Gott und die Welt. Und Hikari schien nicht einmal Mamorus Anwesenheit zu bemerken. Sie sagte irgendwas, hörte dann Chikara zu und lachte daraufhin amüsiert auf. Doch ihr Lachen klang seltsam leise, und wie von weit her.

Das Bild verschwamm wieder vor Mamorus Auge und schien auf seltsame Art zu wackeln. Erst Sekunden später realisierte er, dass dieses Gewackel von Motokis Hand herrührte.

"Hallo? Hörst Du mir überhaupt noch zu? Du kannst mich doch nicht einfach ignorieren, während ich Dir eine Standpauke halte! Das ist ja wohl die Höhe! Mamoru? He! Ich möchte beachtet werden!"

"Hör auf mir vor der Nase rumzufuchteln, Du rücksichtsloser Höhlenmensch! Ich bekomme Kopfschmerzen!", beschwerte sich Mamoru und schloss sein linkes Auge mit einem leicht schmerzverzerrten Gesicht. Er brauchte Motokis Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, was der tat: grinsen.

"Tja, ich arbeite eben für die Firma <Gift und Galle> und bin stolz darauf!", meinte der Blonde wichtigtuerisch.

"Du Doppelagent, Du Schwarzarbeiter", murmelte Mamoru, "Das sag ich Deinem Papi, und dann haut der Dich."

"Na, lass mal gut sein. Wir wollen mein Glück schließlich nicht herausfordern, stimmt's?", lachte Motoki. Als er dann weiterredete, klang er sehr ruhig und fast erschreckend ernst:

"Um zum Thema zurück zu kommen: Du siehst überhaupt nicht gut aus..."

"Das Kompliment gebe ich gerne zurück", unterbrach ihn Mamoru grummelnd.

"...danke, danke." Motokis Worte troffen vor Sarkasmus. "Wirklich! Ich mache mir Sorgen um Dich. Bitte, tu mir den Gefallen und geh nach Hause. Es ist niemandem gedient, wenn Du hier vergammelst. Ich kann nicht mit ansehen, wie Du hier so vor Dich hin vegetierst. Das kannst Du mir nicht antun!"

Keine Reaktion.

Mamoru fühlte sich eigenartig. Ihm war wahnsinnig heiß, und seine Brust fühlte sich an wie zugeschnürt. Er unterdrückte mit aller Macht den Impuls, einfach zu hecheln um endlich genug Luft zu bekommen. Obwohl er seine ganze Konzentration auf eine möglichst ruhige Atmung richtete, gelang es ihm nicht ganz, diesen Impuls zu besiegen. Mamoru lehnte sich weit zurück, um seinen Lungen mehr Platz bieten zu können, lockerte seine Krawatte etwas und versuchte sich einzureden, alles sei in Ordnung. Er zwang sich dazu, durch die Nase ein- und durch den Mund wieder auszuatmen. Irgendwer hatte ihm mal beigebracht, dass man sich so zur Ruhe bringen konnte. Es half tatsächlich ein wenig. Doch der große, erwartete Erfolg blieb irgendwie aus.

"Mamoru?", fragte Motoki, und in seiner Stimme schwang große Sorge mit. "Ist alles in Ordnung mit Dir?"

Es war so ziemlich die blödeste Frage, die er hätte stellen können, zumindest nach Mamorus Geschmack. Andererseits: Was hätte er auch sonst fragen sollen?

Mamoru blieb seinem Kumpel diese Antwort schuldig. Stattdessen begann sich die Welt vor seinem Blick wieder zu drehen. Doch auch dieser Anfall war schnell überstanden.

Mit einem gewissen Kummer im Blick fuhr Motoki mit der Hand vorsichtig über Mamorus Stirn, ließ sie dort einige Sekunden lang verweilen und zog sie dann mit besorgtem Kopfschütteln zurück.

"Das fühlt sich gar nicht gut an, mein lieber Freund. Du bist so heiß wie ne Harley Davidson, die stundenlang durch den Grand Canyon gekurvt ist. Und zwar in brütender Mittagssonne."

"Motoki...", stöhnte Mamoru leise vor sich hin, "...sag mir mal bitte, was ich tun soll! Ich weiß es einfach nicht. Ich..." Er stockte, um tief Luft zu holen. "Ich kann gar nicht mehr normal denken. Was soll ich tun?"

Die Verzweiflung und die Hilflosigkeit in diesen Worten waren überdeutlich zu hören.

"Du solltest nach Hause gehen, finde ich", gestand Motoki ehrlich, "Deine Gesundheit ist doch um vieles wichtiger als irgend so ne bescheuerte Hausaufgabenbesprechung!"

Mamoru wischte sich den Schweiß aus dem linken Auge und starrte seinen Freund entsetzt an.

"Hausaufgaben?", krächzte er ungläubig, "wovon zum Teufel redest..."

Und dann fiel es ihm wie Schuppen aus den Haaren.

"Ach, zum Henker! Die hab ich vollkommen vergessen! So eine verdammte..."

Mamoru stieß einige saftige Flüche aus, die wirklich alles andere als jugendfrei waren und selbst Motoki in Staunen versetzten. Er warf einen raschen Blick auf seine Armbanduhr und seufzte resigniert.

Als hätte Motoki Mamorus Gedanken gelesen, schüttelte er die blonde Mähne und meinte: "Das war mal wieder so gnadenlos viel, das hättest Du nie und nimmer vor Schulbeginn geschafft."

Dann grinste er schelmisch und fügte gedehnt hinzu: "Tja, wenn eben ein gewisser Jemand seine Pflichten erfüllt hätte, anstatt mit gewissen Mädchen auszugehen und sich dabei gewisse Körbe zu holen..."

Mamorus strafender Blick ließ Motoki verstummen, allerdings reichte es nicht, das ewig bestehende Grinsen weg zu wischen.

"Hör auf, Reden zu schwingen und hilf mir lieber, eine gute Ausrede zu finden. Das wäre sehr nett von Dir", grummelte Mamoru. Er stöhnte leise vor Erschöpfung auf. Mit jeder verstreichenden Minute fühlte er sich zusehends elender. Er konnte unmöglich abschätzen, wie lange er das hier noch durchhalten konnte. Zwar gab ihm die Vorstellung von Chikaras Demütigung neue Kräfte, aber auch diese Reserven konnten bald versiegt sein. Das war gefährlich; nicht nur gesundheitlich, sondern auch psychisch. Mamoru konnte sich etwas angenehmeres vorstellen, als gerade hier und jetzt einen Kreislaufkollaps zu bekommen und vor den Augen seines Erzfeindes den Boden zu küssen. Und dass es ihm beschissen ging, das gestand sich Mamoru inzwischen sogar ein. Immerhin ein kleiner moralischer Sieg.

Motoki sagte etwas, aber Mamoru war wieder zu sehr abgelenkt, es sofort zu bemerken. Erst, als er nachfragte, bekam er mit, was Motoki gemeint hatte:

"Ich sagte, die Ausrede sollte besser sehr gut sein. Aber was könnte es für einen Grund geben, der gut genug ist, um das Fehlen von etwas so Lebenswichtigem wie Englischhausaufgaben zu entschuldigen?"

Er setzte ein grübelndes Gesicht auf.

Mamoru lachte leise vor Ironie auf. "Immerhin habe ich bisher noch nie meine Aufgaben vergessen. Das ist doch schon mal was, nicht?"

Motoki war diese Ironie aber dummerweise entgangen. "Und was war mit dem einen Mal, als Du..."

"Du brauchst gar nicht weiter reden", wurde er von seinem Freund unterbrochen, "ich weiß doch selbst, dass das nicht stimmt!"

Motoki schüttelte verständnislos den Kopf. "Wenn Du mal nen Witz reißt, muss man immer dazuschreiben, dass es einer ist."

"Du erkennst einen guten Witz nicht mal, wenn er auf Deiner Nase Tango tanzt", brummelte Mamoru.

Genau in diesem Moment betrat Frau Hanabira das Zimmer, grüßte die Schüler und legte ihre Materialien auf dem Pult ab.

"Meine sehr verehrten Damen und Herren", näselte Motoki leise, "zu ihrer Linken sehen Sie den Ernst des Lebens."

"Ok, Leute", begann Frau Hanabira, "zunächst mal die Formalitäten. Wer fehlt denn heute? Bitte melde sich, wer fehlt."

Ein leises Kichern ging durch die Klasse.

Motoki stupste Mamoru leicht mit dem Ellenbogen an. "Meld Dich doch."

"Natürlich", zischte Mamoru, "sieht ja auch jeder, dass ich nicht da bin. Also, manchmal zweifle ich an Deinem Verstand."

<Wieso eigentlich nur manchmal?>

Doch Mamoru fand keine Zeit, sich weiter über etwas so Belangloses den Kopf zu zerbrechen. Eine wahnsinnige Hitzewelle überrollte seinen Körper und raubte ihm schier den Atem. Es war, als versuche er, flüssige Lava in seine Lungen zu pressen. Einen Moment lang wankte er auf seinem Stuhl hin und her und drohte, hilflos auf den Fußboden zu stürzen. Im letzten Moment fing Motoki ihn auf. Der Blonde sagte irgendwas, aber Mamoru hörte nur das wilde Rauschen von Blut in seinen Ohren.

<Ich muss durchhalten.>

Dieser eine Gedanke schoss ihm immer wieder durch den Kopf. Es war alles, woran er denken konnte.

<Ich muss durchhalten.>

Sekunden vergingen, doch sie krochen dahin wie Jahrtausende. Mit aller Gewalt klammerte sich Mamoru an seinem Freund fest und versuchte verzweifelt, die Kontrolle über seinen Körper zurück zu gewinnen. Es war ein harter Kampf. Doch schließlich besiegte Mamoru den Anfall. Leise keuchend und mit geschlossenen Augen sank er in seinen unbequemen Holzstuhl zurück. Sein Atem beruhigte sich allmählich wieder. Schließlich zückte er ein Taschentuch hervor und wischte sich den klebrigen Schweiß aus dem Gesicht.

Mit sorgenvollem Blick sah Motoki ihn an. "He, Kumpel, Du machst mir echt Angst. Meinst Du nicht, es wäre doch besser für Dich, nach Hause zu gehen? Was Du hier machst ist höchst gefährlich!"

Mamoru schüttelte den Kopf. Oder viel mehr, er drehte ihn nur müde hin und her. "Nein", sagte er bestimmt, "ich rühre mich hier keinen Millimeter von der Stelle."

"Aber...", begehrte Motoki auf, "aber... aber ich muss doch irgendwas tun! Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich einfach nur dasitze und Däumchen drehe. Du musst verrückt sein! Wahrscheinlich bist Du längst im Fieberwahn."

<Da hast Du vielleicht sogar recht>, überlegte sich Mamoru. Er seufzte schwer. "Motoki, lass es einfach gut sein, ja? Mir geht es schon etwas besser. Gib mir noch einen Moment, dann hüpfe ich wieder herum wie ein junges Reh."

"Du meinst, genau in ein Auto rein?"

Mamoru verdrehte die Augen und ließ Motokis Sarkasmus unkommentiert.

"Vergiss es, Mamoru", sagte Motoki bestimmt, "ich werde jetzt sofort Bescheid sagen, was mit Dir los ist; und dann kümmere ich mich darum, dass Du ärztlich versorgt wirst. Mir ist egal, was Du dazu sagst."

"Ja, das hat Dich aber auch noch nie interessiert."

"Genau. Du hast es erfasst."

"Motoki, Du wirst die Klappe halten, ist das klar?" Ein böses Funkeln erglomm in Mamorus linkem Auge. Um keinen Preis der Welt wollte er zulassen, dass auch nur irgendjemand von seinem desolaten Zustand erfuhr. Er hatte zwar inzwischen eingesehen, dass er schwer krank war, aber die Einsicht, dass er sich durch seine Sturheit in gesundheitliche Gefahr brachte, ließ auch jetzt noch auf sich warten. Noch immer war der Stolz zu groß, und Mamoru war besessen von dem Gedanken, Chikara auf jeden Fall keine Schwäche zeigen zu dürfen. Koste es, was es wolle.

"Du Sturschädel", zischte Motoki wütend, "meinst Du etwa, ich tu das nur, um Dich zu ärgern? Glaubst Du das wirklich? Jetzt hör mir mal ganz genau zu: Du bist der mit Abstand beste Kumpel, den ich in meinem ganzen Leben jemals hatte. Und glaub mir eines, ich würde einiges aufs Spiel setzen, um Dich aus der Scheiße zu ziehen. Und Du steckst tief drin, in der Scheiße. Du siehst es nur nicht, weil Du blind bist. Blind vor Stolz. Die Scheiße verschmiert schon Deine Augen! Verdammt noch mal! Ich mach mir doch bloß riesige Sorgen um Dich!"

Mamoru wandte den Blick von Motoki ab. "Ich weiß, Du hattest es nicht leicht mit mir, ganz besonders in den letzten Tagen. Und das tut mir auch wahnsinnig Leid, ja? Aber, Motoki, versuch doch auch mal, mich zu verstehen: Ich will das hier nur heute durchziehen. Nur heute, ja? Sobald die Schule vorbei ist, tu ich alles, was Du willst. Alles! Aber bis dahin musst Du mich einfach machen lassen, in Ordnung?"

"Nichts ist in Ordnung", flüsterte Motoki und warf einen prüfenden Blick in Richtung Pult. Noch schien Frau Hanabira nichts von der Unterhaltung mitbekommen zu haben, und das war gut so. Dann sah er wieder Mamoru fest in die Augen. Oder vielmehr: in das, was von dessen teilweise immer noch stark geschwollenen Augen zu sehen war. "Sieh es endlich ein, Du redest Schwachsinn! Ich werde jetzt auf der Stelle sagen was los ist, und es gibt nichts, was Du dagegen tun könntest!"

Blitzschnell griff Mamoru nach Motokis Handgelenken und hielt sie eisern fest. "Das wirst Du nicht tun", zischte er aufgebracht. Dieses Streitgespräch kostete ihn unheimlich viel Kraft, die er einfach schier nicht mehr aufbringen konnte. "Du wirst ganz ruhig sitzen bleiben und still sein, klar?"

"...sprach die Jungfrau zum Matrosen", sagte Motoki in ironischem Unterton.

"Ich meine es ernst, Du Stussschwätzer!"

"Ich etwa nicht?", knurrte Motoki.

Mit einem resignierten Seufzer ließ Mamoru die Handgelenke seines Freundes wieder los und Motoki rieb sie sich mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht.

Forderungen und Beleidigungen brachten hier gar nichts. Mamoru sah nur noch einen letzten Ausweg: ein Pseudoabkommen.

"Motoki, ich mache Dir einen Vorschlag: Ich werde noch eine Weile versuchen, hier zu bleiben. Und sobald ich mich wieder schlechter fühle, gehe ich ganz bestimmt heim, ja? Aber ich bitte Dich, gib mir eine Chance, es zu probieren! Bitte!"

Motoki sah seinen Freund mit prüfendem Blick an. "Ich weiß nicht..."

"Ich flehe Dich an. Bitte." Mamoru gab sich alle Mühe, Motoki mit bettelndem Blick anzusehen. Er war ansonsten vielleicht ein miserabler Schauspieler, aber das hat er schon immer beherrscht wie kein Zweiter. "Mir geht es auch wirklich schon ein gutes Stück besser. Ehrlich!"

Tatsächlich fühlte sich Mamoru etwas besser, aber nicht so viel, als dass man es als ein <gutes Stück> hätte bezeichnen können. Dadurch, dass er sitzen konnte und so seine Beine nicht mehr sein ganzes Körpergewicht tragen mussten, konnte er etwas Kraft sammeln.

Natürlich verschwieg er Motoki, dass sich sein Blick immer wieder leicht verdunkelte und dass die Wände sich wieder und wieder aufs Neue zu drehen schienen.

Schließlich willigte der Blonde ein.

"Na gut, aber Du gibst mir Dein Wort, dass Du wirklich ehrlich zu mir bist, und auch tatsächlich gehst, wenn es Dir wieder schlechter wird?"

Mamoru nickte. "Ja, ganz bestimmt."

Was Motoki nicht sah, war Mamorus Hand, die hinter seinem Rücken verschwand und deren Finger sich kreuzten, um das Versprechen null und nichtig zu machen.

Eine Weile hörten beide mit halbem Ohr hin, wie Shôgai einen englischen Text vorlas. Mamoru war inzwischen in der Lage dazu, seinen Blutdruck einigermaßen zu normalisieren, und ihm wurde nicht mehr andauernd schwindlig. Er fragte sich nur, was geschehen würde, wenn er sich von seinem Stuhl erhob.

"Motoki?"

"Was ist denn noch?"

Mamoru zögerte kurz. Dann stupste er seinen Kumpel freundschaftlich mit dem Ellenbogen an. "Danke, Mann. Danke, dass Du mich verstehst."

Motoki grinste sofort wieder. "Kein Thema, Alter."

Mamoru fühlte sich ziemlich mies. Er hasste es, seinem besten Freund eine heile Welt vorspielen zu müssen, aber es ging nun mal nicht anders.

<Nur ein Tag. Ich muss nur diesen einen Tag durchhalten.>

Mamoru wusste selbst nicht zu sagen, warum es ausgerechnet dieser eine Tag sein musste. Was wäre schon dabei gewesen, auf Motoki zu hören und einfach aufzugeben? Wofür quälte er sich nur so? Womöglich störte sich Chikara gar nicht an seiner Anwesenheit?

Dennoch biss Mamoru die Zähne zusammen. Er wollte unbedingt durchhalten, musste mit allen Mitteln weitermachen, musste Stärke beweisen, koste es, was es wolle! Vorsichtig und darauf bedacht, Motoki davon nichts mitbekommen zu lassen, fuhr sich Mamoru prüfend über die Stirn. Sie war nicht mehr ganz so heiß wie noch vor Augenblicken, aber dennoch war die Temperatur beunruhigend hoch.

Finde den Heiligen Silberkristall. Bitte, Du musst ihn finden!

Die Vision überkam ihn völlig überraschend. Er hörte die Stimme der Unbekannten so deutlich, als stünde sie direkt neben Mamoru.

Ich bitte Dich! Du musst ihn finden!

Pochende Kopfschmerzen begleiteten die Stimme, die wie tausendfach verzerrtes Echo hinter seiner Stirn widerhallte.

Finde den Heiligen Silberkristall!

Es kostete Mamoru all seine Kraft. Er durfte nicht schlappmachen; nicht jetzt! Die Kopfschmerzen wurden stärker und Mamoru rief seine letzten Energiereserven zusammen, um nicht vor Pein aufzustöhnen.

Der Heilige Silberkristall!

Doch so plötzlich, wie die Stimme gekommen war, so schnell verschwand sie auch wieder, und mit ihr vergingen die Schmerzen wie auf einen Schlag.

<Was war das?>

Mamoru hatte die Stimme der Unbekannten bisher nur in seinem Traum gehört. Eine Vision wie diese war ihm völlig fremd; sie ängstigte ihn sogar.

<Bedeutet das vielleicht, dass der Silberkristall hier irgendwo ist? Das kann ich mir nicht vorstellen... Ausgerechnet hier? In der Schule? ...Oder trägt ihn irgendwer bei sich, der sich in meiner Nähe befindet?>

Seine Gedanken überschlugen sich schier. War er vielleicht durch sein Fieber empfänglicher für die Stimme der Fremden geworden? Egal, er musste schnell aus diesem Klassenzimmer heraus. Er musste nach dem Kristall suchen. Fieber hin - Fieber her - er musste ihn finden.

Den Heiligen Silberkristall...

"Herr Chiba?"

Frau Hanabiras Stimme schreckte ihn aus seinen Gedanken hoch.

"Was? Äh... ja, bitte?", versuchte er sich zu retten.

Frau Hanabira legte den Kopf schief. Lag etwa Sorge in ihrem Blick?

"Herr Chiba, Sie sehen irgendwie... gar nicht gut aus, wenn ich das mal so sagen darf. Fehlt Ihnen irgendetwas?"

"Ich... na ja, also... nein... ich...", stammelte Mamoru vor sich hin. Er warf einen kurzen, fast ängstlichen Seitenblick auf Motoki, doch der rührte sich nicht. Er hielt sich an die Abmachung und ließ Mamoru den nötigen Freiraum.

Jetzt musste Mamoru nur noch eine passende Ausrede einfallen...

"Ich... ich..."

"Ja?"

"Ich..."

Mamoru atmete tief durch und setzte alles auf eine Karte.

"Ich... muss mal aufs Klo. Darf ich? Es ist echt dringend."

Ein leises Raunen und Kichern lief durch die Klasse. Frau Hanabiras Gestik forderte zur allgemeinen Ruhe auf, dann wies sie mit dem Daumen auf die Tür.

"Wenn's denn sein muss. Aber beeilen Sie sich."

"Danke sehr."

Mamoru sprang vom Stuhl auf, lief ein paar Schritte und musste dann notgedrungen um einiges langsamer laufen. Sein niedriger Blutdruck protestierte heftig gegen die plötzliche Bewegung. Mamoru wurde es schwindlig und sein Blick trübte sich einen Moment lang, aber er konnte trotz seines Blindfluges sicher zur Tür finden. Er stolperte hinaus, schloss vorsichtig die Tür hinter sich und atmete erst tief durch.

Finde den Heiligen Silberkristall...

Diesmal war es keine Vision, doch die Stimme, die sich Mamoru gerade ins Gedächtnis rief, war so frisch in seiner Erinnerung geblieben, dass kaum ein Unterschied bestand.

Er blickte den langen Gang hinauf und wieder hinunter, doch es war absolut niemand zu sehen. Doch das musste nichts heißen. Wenn sich tatsächlich der Träger des Silberkristalls hier aufhielt, dann konnte er seit der letzten Minute gut und gern wieder weiter gegangen sein.

Falls es hier denn tatsächlich jemanden gab, der den Kristall bei sich trug...

Womöglich wusste derjenige gar nicht, was er da bei sich hatte? Vielleicht hielt er oder sie es nur für ein hübsches Schmuckstück? ...Wenn der Silberkristall überhaupt ein Kristall war...

Es wurde Mamoru schon fast schmerzhaft bewusst, dass er immer noch keine Ahnung davon hatte, wie das, was er suchte, überhaupt aussah. Doch das spielte keine Rolle. Er war sich sicher, die Unbekannte aus seinem Traum würde ihm schon sagen, ob es sich um den Silberkristall handelte.

Er rannte los, wahllos irgend eine Richtung einschlagend. Die Hoffnung, einfach nur irgend jemanden zu finden, trieb ihn voran. Immer öfter musste Mamoru anhalten und sich eine Verschnaufpause gönnen. Er war absolut am Ende, und das systemlose treppauf - treppab Rennen brachte ihn nicht weiter. Weit und breit war absolut keine Menschenseele zu finden. Es war wie verhext!

Die gewaltige Anstrengung war zu viel für ihn, und je weiter er seinen gequälten Körper durch die Gegend jagte, umso schlechter ging es ihm. Er war schon völlig abgekämpft und stützte sich schwer keuchend gegen eine Wand. Die ewige Karussellfahrt vor seinen Augen rief eine entsetzliche Übelkeit in ihm hervor. Er wankte und torkelte den Gang entlang, sich ohne Unterlass an der Wand abstützend. Sein Magen krampfte sich immer wieder schmerzhaft zusammen und ein unerträglich bitterer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus. Der Geschmack von Galle. Sein Adamsapfel hüpfte unablässig auf und ab als er durch heftiges Schlucken versuchte, die Übelkeit zurück zu kämpfen.

Endlich erreichte er die Toilette, stürzte in eine Kabine hinein und musste sich übergeben. Er hing einige schreckliche Augenblicke über der Schüssel, und als sein Magen endlich ausgepumpt war, fühlte er sich zwar so unendlich kraftlos und abgekämpft wie nie zuvor in seinem Leben, aber irgendwie hatte sich jetzt ein undefinierbares Gefühl von innerem Frieden und von Erleichterung in ihm ausgebreitet.

Er beugte sich daraufhin lange Zeit unter den Wasserhahn, den Strahl bis zum Anschlag aufgedreht, und hielt seinen Kopf unter das kühle Nass, um seine Lippen zu befeuchten und den widerlichen Geschmack hinfort zu spülen.

Schlussendlich, als er wieder schwankenden Schrittes aus dem Toilettenraum hinaus getorkelt war, setzte er sich resigniert auf eine Treppenstufe und seufzte. Es war zum Haare raufen, aber er hatte nichts -nichts, nichts, nichts- erreicht; nicht einen winzig kleinen Hinweis auf den Silberkristall hatte er bei seiner Odyssee gefunden.

<Die ganze Idee war sowieso hirnrissig! In meinem Zustand sollte ich nicht auf die Stimme einer unsichtbaren Frau hören, die von mir verlangt, einen Zauberkristall zu suchen! So ein Schwachsinn!>

Mamoru schalt sich einen unendlichen Narren.

Für einen kurzen Moment schloss er sein Auge. Er hatte bei der Rennerei sein Zeitgefühl völlig verloren und so langsam fragte er sich, ob ihn Frau Hanabira schon vermisste.

Das Gefühl absoluter Resignation breitete sich in ihm aus. Nun, am Ende seiner Kräfte angekommen, begrüßte er den Gedanken, sich tatsächlich entschuldigen zu lassen und nach Hause zu gehen. Er wollte nur noch schlafen. Schlafen, träumen, und alles vergessen...

Als er das Auge öffnete, sah er verschwommen eine Gestalt vor sich stehen. Er rieb sich das linke Auge und blinzelte, doch das Bild blieb einige Herzschläge lang unerkennbar.

<Bist Du es etwa? Bist Du die Fremde aus meinen Träumen? Erscheinst Du mir, um mir zu sagen, wo ich den Kristall suchen muss?>

Er erinnerte sich an die Worte, die sie letzte Nacht im Traum zu ihm gesagt hatte:

"Du, Herr der Erde, musst wiedererwachen. Du musst Deine Vergangenheit finden."

Langsam, ganz langsam nur klärte sich sein Blick... und als er erkannte, wen er da vor sich hatte, hätte er beinahe vor Schrecken aufgeschrieen.

"Na, Chiba? Endlich aus Deiner Traumwelt zurückgekehrt?"

Chikara hatte sich vor ihm aufgebaut und starrte ihn nun aus boshaften Augen an. Das Grinsen in seinem Gesicht war trügerisch und kalt.

Mamoru konnte beim besten Willen nicht sagen, wie lange er schon dagestanden haben mochte.

"Was willst Du hier?", fragte Mamoru unsicher. Noch immer war weit und breit niemand zu sehen. Das gefiel Mamoru so ganz und gar nicht.

"Och, ich hatte Sehnsucht nach Dir", entgegnete der Blonde völlig sachlich. Dann wurde das Grinsen wie auf ein unhörbares Kommando hin von seinem Gesicht radiert.

"So, Chiba. Du hast es also tatsächlich geschafft, Deinen mickrigen, verbeulten Körper hier her zu schleifen. Meinen Respekt, das hätte ich nicht gedacht. Und was willst Du damit beweisen, Du Wurm?"

"Nichts, gar nichts. Wirklich."

<Aha. Ich habe erreicht, was ich wollte. Ich habe mich ihm hier und heute präsentiert, um zu zeigen "mich wirst Du so leicht nicht wieder los". Toll. Und wofür? Nur, um jetzt wieder feige den Schwanz einzukneifen. Aber was soll ich in meinem Zustand auch groß gegen ihn ausrichten können?>

Unsanft wurde er am Kragen gepackt und hoch gerissen. Er wehrte sich noch nicht einmal, das konnte er gar nicht. Er starrte Chikara nur trotzig an.

Doch genau dieses Verhalten provozierte den Blonden nur noch mehr. Er knurrte wie ein Wolf, der sein Territorium vor einem Rivalen verteidigen wollte.

"Was los, Würstchen? Muckst Du auf?"

Nein, das tat er nicht. Dazu war er absolut nicht in der Lage. Ein lautes Rauschen ertönte in seinen Ohren. Die ganze Welt drehte sich irr vor seinem Gesichtsfeld. Blaue und grüne Punkte tanzten auf und ab. Schweiß klebte wie eine ekelhafte Geisterhand in seinem Nacken, und immer mehr der salzigen Flüssigkeit kam hinzu. Doch das bekam Mamoru nur noch am Rande mit. Ein leichtes, fast schon sanftes Pulsieren drang in seinen Schädel, begleitet von einer angenehmen, wohligen Wärme.

Nur einen ganz kurzen Moment wurde sein Blick noch mal etwas klarer, und er sah in Chikaras Gesicht. Eine merkwürdige Veränderung schien darin vorzugehen: Für Mamoru sah es aus, als würden die Gesichtszüge des Blonden zerfließen und sich in eine zähnefletschende Grimasse verwandeln; von einer goldfarbenen Löwenmähne umgeben. Dann verschwamm das Bild wieder auf so unerträgliche, beinahe schmerzliche Art und Weise, dass Mamoru mit einem Stöhnen das Auge schloss.

<Bleib wach. Reiß Dich zusammen.>

Das war der letzte, klare Gedanke, den er noch erfassen konnte. Müde erhob er wieder das Augenlid und blickte in eine seltsam verzerrte Welt aus völlig falschen Farben, die alle hin und her wogten und gar nicht existieren durften.

Dann schob sich ein eigenartiger, zuckender Nebel vor diese grausig verzerrte Welt. Es sah fast so aus wie ein Fernsehbildschirm, der keinen Empfang hatte und nur Schnee zeigte. Alles andere war verschwunden.

In Mamorus kleiner, geistiger Welt gab es nur noch zwei Worte: <Bleib wach.>

Immer und immer wieder hämmerten diese Worte von innen gegen seine Stirn.

<Bleib wach.>

<Bleib wach.>

...

Doch bald wurden sie auf sonderbare Weise durch zwei neue Worte ersetzt:

<Wach auf.>

Mamoru konnte seinem eigenen, plötzlichen Gedankensprung nicht folgen. <Aufwachen? Aber ich bin doch immer noch wach. Ich bin wach geblieben, ich weiß es!>

Noch immer waberte der schwarz-weiße Nebel vor seinen Augen. Es erinnerte auf schreckliche Art und Weise an Tausend schwarze Ameisen, die durch Tausend weiße Ameisen hindurch wuselten.

Doch bald wurde sein Blick klarer. Irgend etwas blendete sein Auge, ein weißes, gleißendes Licht, das sich durch seine Pupille brannte und schmerzhaft in seinen Kopf hinein floss.

<Wieder eine Vision?>

Ganz leise, fast wie ein Flüstern, hörte er die Worte der Unbekannten:

...Silberkristall... suche... den Heiligen Silberkristall... Du, Herr der Erde, musst wiedererwachen. Du musst Deine Vergangenheit finden. Suche den Heiligen Silberkristall... Kristall...!

Ihre Stimme schien anzuschwellen und wieder abzuklingen, im gleichen Rhythmus, in dem das Pochen in seinem Kopf gegen seine Schädeldecke schlug.

Dann veränderten sich die Worte, die er zu hören glaubte. Sie klangen leise, obwohl die Stimme relativ nah an seinem Ohr zu sein schien. Es war die Stimme einer Frau.

"Er kommt zu sich."

Die Stimme von Frau Hanabira? Wie kam sie so plötzlich hier her?

Mamoru war vollkommen verwirrt. Sein Gehirn war mit der Suche nach einer Erklärung für das alles völlig überfordert. Ganz verstört blickte er um sich. Seine Bewegungen waren ruckartig; abgehakt. Als wären seine Muskeln völlig steif.

Endlich erkannte er seine Umgebung wieder. Er lag im Sanitätsraum der Moto-Azabu-Oberschule, umgeben von einigen Leuten, die er nicht kannte, und die Sanitätswesten trugen; noch dazu in Gesellschaft von Frau Hanabira, Chikara und - was ihn am meisten verwunderte - seiner Tante Kioku, die ein bestürztes Gesicht machte.

"Du bist wach! Mein Kurzer, ich hab mir solche Gedanken gemacht!" Kioku näherte sich ihrem Neffen langsam. Vorsichtig, als könne er zerbrechen, fuhr sie ihm über die Stirn. "Wie geht es Dir?"

Doch seine Verwirrung war noch zu groß, er hörte die Worte kaum. Sie gingen noch dazu in dem leisen Pochen hinter seiner Stirn unter.

"Was ist passiert?", fragte Mamoru total perplex, "Was tu ich hier?"

"Was passiert ist? Das würde ich gerne von Ihnen erfahren, Herr Chiba", verlangte Frau Hanabira. "Ich entlasse Sie auf die Toilette, drei Minuten später fragt mich Herr Shizen das gleiche, und zwei weitere Minuten später kommt er ins Klassenzimmer zurückgerannt und berichtet mir, Sie seien zusammengebrochen. Ich will alles wissen. Und wo Sie gerade dabei sind..." Sie sah Mamoru voller Sorge an. "...können Sie mir auch gleich erzählen, woher Sie dieses blaue Auge haben. Und die aufgeplatzte Lippe, und die Wunde über der Augenbraue. Also?"

Einen Augeblick starrte Mamoru seine Lehrerin noch verwirrt an. Dann, unendlich langsam, schärften sich seine Sinne wieder. Er blickte seiner Tante einige Herzschläge lang in die bekümmerten Augen, warf dann einen kurzen Blick auf Chikara und fasste einen Entschluss.

Er wies mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf sein geschundenes Gesicht.

"Das hier sind Verletzungen, die ich mir im Privaten zugezogen habe. Sie haben mit der Sache hier nichts zu tun."

"Und was hat dann mit der Sache hier zu tun?", hakte Frau Hanabira nach, "Hat er..." Mit wissendem Blick in den Augen sah sie Chikara an, der nur das Gesicht abwandte und wortlos die Wand anstarrte. "...Sie vielleicht bedroht oder etwas derartiges? Sie können mit mir gerne darüber reden, wenn es so war."

Mamoru litt gerade wieder einen erneuten Schwindelanfall aus. Leise stöhnend hielt er sich den Kopf und biss die Zähne zusammen, bis es vorbei war.

"Lassen Sie ihn in Ruhe", bat Kioku, setzte sich neben Mamoru und schloss ihn in ihre Arme, "Sie sehen doch, dass es ihm gar nicht gut geht."

"Schon in Ordnung, Tante Kioku", brachte er mühsam heraus und lächelte sie tapfer an. Zu Frau Hanabira gewandt antwortete er endlich:

"Nein, er hat mich nicht bedroht, im Gegenteil."

Chikaras Kopf flog herum, als hätte man ihn geschlagen. Mit ungläubigem Blick musterte er Mamoru. Das fiel Frau Hanabira allerdings nicht auf. Chikara stand hinter ihr, und ihr Blick war fest auf Mamoru gerichtet.

Dieser nickte, um seine Worte noch zu bekräftigen. "Als ich... wieder auf dem Weg zurück ins Klassenzimmer war, ist mir schwindlig geworden, und Chikara hat mich gestützt. Wäre er nicht gewesen, hätte ich mir wohl auf dem harten Boden den Kopf aufgeschlagen. Danke, Mann. Das war echt nett von Dir."

Mit den letzten beiden Sätzen hatte er Chikara angelächelt. Man musste nicht mal genau hinsehen, um zu bemerken, wie viel Kälte in diesem Lächeln lag. Aber alle anwesenden, außer Chikara selbst, waren zu sehr mit der ganzen Situation beschäftigt, um es zu realisieren. Der Blonde allerdings verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und nickte nur knapp und wortlos.

"Wenn das so ist", räumte Frau Hanabira ein und wandte sich zu Chikara um, "dann bitte ich Sie um Verzeihung, Herr Shizen, für die falsche Verdächtigung."

Wieder nickte er nur knapp als Antwort.

Einige der Fremden zogen sich ihre Sanitätswesten aus. Ihrem Alter nach zu urteilen waren sie keine wirklichen Profis, sondern auch nur Schüler, die eine Erste-Hilfe-Ausbildung hinter sich gebracht hatten und im Notfall aus dem Unterricht geholt werden konnten. Da es nun nichts mehr zu tun gab, trollte sich jetzt einer nach dem anderen. Und abgesehen vom dem Rascheln der Westen und der Schritte war es fast erdrückend still im kleinen Sanitätsraum geworden.

Schließlich brach Frau Hanabira das Schweigen mit einem leisen Seufzer. "Ich denke, mehr können wir im Augenblick sowieso nicht tun. Ich rate Ihnen, Herr Chiba, in Zukunft etwas mehr acht auf sich zu geben, und nun einen Arzt aufzusuchen. Herr Shizen? Kommen Sie? Der Unterricht geht weiter."

Damit stand sie von ihrem Stuhl auf, verabschiedete sich von Kioku und Mamoru und ging schon mal voraus. Auch Chikara wandte sich zum Gehen um.

"Chikara! Warte!", rief Mamoru. Er kletterte umständlich vom unbequemen Bett herunter, trat nah an seinen Widersacher heran und wisperte ihm tonlos zu: "Du... schuldest... mir was!"

Die Pausen legte er ganz bewusst fest, und sie verfehlten ihre Wirkung nicht.

"Ich weiß", flüsterte er ebenso lautlos zurück. "Und es gefällt mir nicht."

Dann schlurfte er der Lehrerin hinterher, ohne auch nur mehr einen einzigen Blick auf Mamoru zurück zu werfen.

Kioku trat neben ihren Neffen. "Gehen wir. Ich hab mich schon um Deinen Schulranzen und Dein Jackett gekümmert."

Mamoru nickte und folgte seiner Tante. Sie musste ihn stützen. Noch immer war er sehr entkräftet, und es bereitete ihm unendliche Mühe, sich auf den Beinen zu halten.

<Den Silberkristall habe ich nicht gefunden. Aber der heutige Tag hat dennoch einen wichtigen Nutzen für mich abgeworfen. Und eines Tages... eines Tages werde ich ihn schon noch finden...

...den Heiligen Silberkristall!...>

Mamoru stand hilflos keuchend gegen die Wand gelehnt da und wartete darauf, dass der Schwindelanfall endlich vorbei ging. Er hatte gerade die mit Abstand anstrengendste Autofahrt seines Lebens hinter sich gebracht. Eine Nachbarin war so freundlich gewesen, Kioku an die Moto-Azabu-Oberschule zu fahren und sie zusammen mit ihrem Neffen auch wieder von dort abzuholen. Dummerweise war ihr alter Toyota nur mittelmäßig gut gefedert, und bei jedem Gullydeckel oder jedem noch so kleinen Schlagloch war in Mamorus Schädel ein so schmerzhafter Gong erklungen, als hätte ein Gott mit einem gewaltigen Hammer einen überdimensionalen Amboss malträtiert. Und zwar mit der größten Begeisterung.

Doch endlich war die Tortur vorüber. Oder viel mehr: sie wurde durch eine andere ersetzt. Noch immer hatte Mamoru schwer mit seinem Blutdruck zu kämpfen. Auch jetzt, wo er endlich im Flur der Wohnung stand, kämpfte er gegen Schwindel, Brechreiz und Bewusstlosigkeit an. Ohne Kioku, die ihm beistand und ihn stützte, damit er nicht einfach zusammenklappte, hätte er diese Schlacht wohl schnell verloren.

Als er sich wieder so weit gefangen hatte, dass er einigermaßen laufen konnte, führte ihn seine Tante ins Wohnzimmer, wo er sich erst mal schwer atmend auf die Couch fallen ließ. Sein Gehirn protestierte empört gegen die plötzlichen Bewegungen, indem es ein grässliches Pochen bis in die letzten Nervenenden des Körpers entsandte.

Kioku setzte sich vorsichtig neben ihn und strich sein Haar aus seinem Gesicht. Besorgt seufzend fuhr sie über seine Stirn.

"Mein kleiner Junge, Du glühst ja förmlich. Mit Deinem leuchtend roten Kopf kannst Du nachts im Bett lesen. Jede Weihnachtsbeleuchtung wird da grün vor Neid. Selbst die Sonne verblasst neben Dir! Woher hast Du eigentlich dieses Halogenlicht? Du erinnerst mich an meinen Chemieunterricht, als wir gelernt haben, wie gut Magnesium brennt..."

"Ich hab's ja begriffen", brummte Mamoru.

"Tschuldige. Ich übertreibe mal wieder, was?" Sie lächelte. Doch die Sorge stand ihr zu deutlich ins Gesicht geschrieben, als dass ihr Lächeln hätte echt wirken können. "Mamoru, mein Kurzer, kann ich irgendwas für Dich tun? Hast Du vielleicht Hunger?"

Im letzten Moment widerstand Mamoru dem Impuls, den Kopf zu schütteln. Noch immer fraßen sich die Schmerzen an seinen Nervenbahnen entlang.

Müde antwortete er: "Nein, lass mal gut sein. Ich hab mich vorhin schon übergeben müssen und mir geht's immer noch nicht besser."

"Du hast...?" Einige Sekunden lang wusste sie nicht so recht, was zu tun sei. Schließlich stand sie mit einem Seufzer auf, murmelte ihm zu, sie komme gleich wieder, und verschwand für einen Augenblick aus dem Zimmer.

Derweil löste Mamoru den Knoten seiner Krawatte und entledigte sich des lästigen Kleidungsstücks. Schweiß ließ sein Hemd an seinem Brustkorb kleben. Und ihm war so heiß, so wahnsinnig heiß! Mamoru glaubte fast, jeden Moment ersticken zu müssen. Er öffnete den obersten Knopf seines Hemdes. Bald darauf folgte der nächste. Und der nächste.

Mittlerweile kam Kioku zurück. Sie balancierte eine kleine Wanne voller Eiswasser vor sich her, und in der einen Hand hielt sie einen Waschlappen. Sie stellte die Wanne vorsichtig neben der Couch auf dem Boden ab, griff nach Mamorus Handgelenken und zog sie behutsam vom Hemd weg.

"Lass das, Du machst es nur noch schlimmer. Du solltest Dich lieber sogar noch zudecken."

"Aber... es ist... auf einmal... so wahnsinnig... heiß hier", röchelte Mamoru. Die gewaltige Anstrengung zeichnete sich auf seinen Gesichtszügen ab. Verbissen kämpfte er gegen Schmerz und Übelkeit.

"Ach, Mamoru...", wimmerte Kioku. Sie tauchte den Waschlappen in das eiskalte Nass, wrang ihn etwas aus und platzierte ihn auf der Stirn ihres Neffen. Die Kühle tat ihm wahnsinnig gut, und er ließ geschehen, dass Kioku sein Hemd wieder zuknöpfte und eine Wolldecke über ihm ausbreitete. Immer mal wieder tauchte sie den Waschlappen in das Wasser und tupfte Mamoru damit über das Gesicht, den Hals entlang und über die Stirn. Außerdem besorgte sie schon bald ein Fieberthermometer. Während es noch mit der Messung beschäftigt war, kniete Kioku neben ihrem Neffen nieder, tupfte die Schweißtropfen von seiner Stirn und sprach ihm immer wieder beruhigende Worte zu.

Das Display des Thermometers zeigte eine Temperatur von 39,6°C an. Kioku stand schier am Rande der Verzweiflung. Sie wusste nicht, ob sie vielleicht Seigi anrufen und ihm die Situation schildern sollte - oder ob sie einfach darauf warten sollte, dass er von der Arbeit heimkam - oder...

"Tante Kioku?"

Mamorus Stimme riss sie aus ihren Gedanken. "Was ist, Kleiner? Was brauchst Du?"

"Es ist auf einmal so schrecklich kalt hier..."

Urplötzlich fing Mamoru an, wie wahnsinnig zu zittern. Er verkrampfte seine Finger in der anscheinend viel zu dünnen Wolldecke und drückte seinen Körper fester in die Lehne der Couch, wie um dort den letzten Rest Wärme heraus zu saugen.

Kioku sprang auf, holte die dicken Daunendecken aus ihrem Schlafzimmer und wickelte sie um Mamoru. Mangels einer besseren Idee stürmte sie daraufhin in die Küche um Mamoru einen Tee zu bereiten. Während die Teekanne auf dem Herd stand und sich nur allmählich erwärmte, warf Kioku einen flüchtigen Blich durch das Fenster nach draußen. Die Februarluft war schneidend kalt, und dazu kam auch noch ein starker Wind, der die dicken Schneeflocken annährend waagrecht am Fenster vorbeizischen ließ. Der Winter wollte und wollte einfach kein Ende nehmen.

Kioku atmete tief durch, warf einen prüfenden Blick auf die Teekanne, die noch nicht einmal den geringsten Laut von sich gab, ging dann in Mamorus Zimmer und suchte einige warme Kleidungsstücke zusammen, die sie zu ihrem Neffen ins Wohnzimmer brachte.

"Hier, Kurzer, zieh das an. Dann wirst Du bestimmt nicht mehr frieren. Warte, ich helfe Dir."

Mamoru konnte kaum seine Arme heben. Kioku hatte einiges zu tun, bis er endlich aus seiner nassgeschwitzten Uniform geschält war und die Winterklamotten anhatte. Die schlimmste Kleinarbeit war es, seine Arme in die Pulloverärmel zu fädeln. Ständig verhakten sich seine Finger irgendwo. Noch dazu war er kaum mehr in der Lage, sein eigenes Gewicht zu tragen. Er konnte sich nur mit Müh und Not aufrecht halten, damit Kioku den Pullover bis an die Gürtellinie hinab ziehen konnte. Alleine hätte sie das nicht hinbekommen, dafür war er einfach zu schwer. Müde sank er wieder auf die weiche Couch zurück.
 

Stunde um Stunde stand Mamoru die schrecklichsten Schmerzen aus. Die Platzwunde über seinem rechten Auge machte ihn halb rasend, sein Kopfweh minderte sich nicht im Geringsten und der ständige Wechsel von kochend heiß zu eiskalt in seinem Körper trieb ihn schier in den Wahnsinn. Mal fror er so erbärmlich, dass er mit dem Zittern nicht mehr nachkam, und von einem Schlag auf den andren fühlte er sich, als verglühe eine Sonne in seinem Inneren. Sein Herz schlug schnell und schmerzhaft in seiner Brust und sein Leib glitzerte vor kaltem, klebrigem Schweiß.

Kioku kam schier nicht zur Ruhe. Wenn sie nicht gerade mit dem Waschlappen über sein Gesicht fuhr oder neuen Tee heran brachte, dann war sie damit beschäftigt, seine Körpertemperatur zu messen, die Eisstückchen in der Wasserwanne nachzufüllen, die Raumtemperatur auf Mamorus Bedürfnisse einzustellen (was wirklich eine Sisyphosarbeit war) oder ihrem Neffen tröstende Worte zu spenden.

Hin und wieder blickte Mamoru erstaunt um sich und stellte schon fast mit wissenschaftlichem Interesse fest, dass die Sonne draußen immer wieder ein gutes Stück weiter gewandert war. Schon bald begnügte er sich mit der Antwort, dass er wohl einfach über längere Zeit eingeschlafen war. Überhaupt schien die Zeit ihre gewöhnliche Bedeutung völlig verloren zu haben. Mal krochen zehn Minuten nur so dahin; Mal war es, als habe Mamoru nur einen kurzen Moment sein Auge geschlossen, und dabei habe jemand an den Zeigern der Uhr herumgespielt.

Erneut sank sein bleischweres Augenlid herab und für einen kurzen Moment genoss Mamoru den trügerischen Frieden. Eine angenehme Wärme hüllte seinen Körper ein, er fühlte sich irgendwie leicht und unbekümmert. Es war ein Moment der Ruhe, wie er nur sehr selten an diesem Tag da gewesen war. Mamoru hörte sein Blut schnell in seinen Ohren dahinströmen, aber für ihn klang es eher wie das sanfte Rauschen der Wellen, die das Meer gegen die Küste trieb. Es war gleichmäßig und ruhig, ein sehr linderndes Geräusch. Allmählich verlor es an Lautstärke, und irgendwann klang es irgendwie dumpf und monoton. Doch damit war die Veränderung noch nicht vorbei. Das Geräusch bekam nach und nach einen höheren, irgendwie zischenden Klang. Es verwandelte sich bedächtig in ein scheinbar allgegenwärtiges Wispern, wie das unwirkliche Gespräch hunderter Geister, die sich über die Lebenden lustig machten. Auch dieses Wispern klang langsam ab; nur eine Stimme flüsterte Worte, die Mamoru nie zuvor in seinem Leben gehört hatte. Das Flüstern steigerte sich allmählich, bis es zu einer lieblichen Frauenstimme wurde. Und einer Logik folgend, die nur im Traum möglich war, verstand er die Worte mit einem Mal:

"Du, Herr der Erde, musst wiedererwachen. Du musst Deine Vergangenheit finden."

Aus einer Selbstverständlichkeit heraus, die er sich selbst nicht erklären konnte, antwortete er der körperlosen Stimme:

"Sag mir, was ich tun soll. Dein Wunsch ist mir Befehl."

"Finde den Heiligen Silberkristall!"

So, als wäre durch diese Worte ein Tor zur Vernunft aufgestoßen worden, erinnerte sich Mamoru jetzt erst daran, dass er im Grunde bei weitem zu wenig Informationen für so eine wahnwitzige Schatzsuche hatte.

"Wer bist Du?"

Die Stimme zögerte eine lange Zeit. Mamoru hätte nicht zu sagen vermocht, ob sie nicht antworten wollte, oder es schlicht und ergreifend nicht konnte.

"Sage mir, wer bist Du?"

"Die Zeit wird es Dir zeigen."

"Ich will es aber jetzt wissen! Nenne mir Deinen Namen!"

"Dazu bin ich nicht fähig."

"Warum nicht?"

Mamoru wurde langsam zornig. Ihm war beim besten Willen nicht nach einem Katz-und-Maus-Spiel.

"Weil..."

"Nun?"

"Weil... weil auch ich erst durch die Macht des Silberkristalls erwachen und meine ganze Stärke entfalten kann."

"Erwachen? Du meinst... Du meinst, Du kannst Dich auch nicht mehr erinnern, wer Du bist?"

Erneut zögerte die Fremde lange, ehe sie antwortete:

"Ja. Genau so ist es."

Es klang sehr traurig. Mamoru musste dieser Stimme einfach seinen Glauben schenken.

"Erkläre mir, woran werde ich den Silberkristall erkennen, wenn ich ihn sehe?"

"Es handelt sich dabei um einen makellosen Stein von unbeschreiblicher Schönheit, der die Farben des Regenbogens in sich trägt. Wenn Du ihm nahe bist, wirst Du es wissen."

"Wo soll ich nach ihm suchen?"

Er hörte die Stimme der Fremden noch deutlich, aber wie durch den Fingerschnipp eines bösen Zauberers waren ihm ihre Worte so fremd, als existiere die Sprache gar nicht, in der sie sprach; ja, als sei dieser Laut gar nicht menschlicher Natur!

Allmählich begann ihre Stimme zu verklingen.

"Ich höre Dich nicht mehr! Wo bist Du? Antworte mir!"

Die Stimme der Fremden machte eine grausige Metamorphose durch. Sie wurde zunächst leiser, zugleich auch tiefer, verwandelte sich dann in ein verzerrtes Lachen mit tausend Echos, und mit einem Male hatten die Geräusche um Mamoru herum eine ohrenbetäubende Lautstärke. Hohngelächter aus Millionen dämonischer Kehlen umgab ihn und der infernalische Ton war hart an der Grenze des Erträglichen.

Um dem Gebrüll die Wucht zu nehmen wollte Mamoru seine Arme hochreißen und die Hände gegen seine Ohren drücken, aber es war, als sei er gelähmt. Er konnte nicht einen Muskel seines Körpers regen. Er brüllte sich mit aller Macht die Seele aus dem Leib, teils aus Angst, teils aus dem Schmerz, den dieser Höllenlärm verursachte, teils aus dem Wahnsinn heraus, der ihm jedwede Logik verbot. Er fühlte sich von rasiermesserscharfen Krallen gepackt, die schier unmenschliche Kräfte besaßen und ihn zu erdrücken drohten. Er wehrte sich nach Leibeskräften, aber schon bald gab er erschöpft auf. Sein Körper schmerzte höllisch, seine Kopfschmerzen, die ihn während des Gesprächs mit der Fremden in Ruhe gelassen hatten, kehrten mit doppelter Macht zurück, um ihr Fehlen von vorhin auszugleichen.

Stöhnend und keuchend ließ er die Schmerzen über sich ergehen. Er konnte ja doch nichts dagegen unternehmen. Langsam spürte er, wie die unbarmherzigen Dämonenhände den Griff lockerten und sich langsam zurückzogen. Als Mamoru dann verwundert das linke Auge öffnete, sah er irgendwas Verschwommenes, Braunes über sich. Der Druck auf seinen Armen verschwand nun völlig. Er arbeitete einen Arm unter den Decken hervor und wischte sich den Schweiß aus den Augen, wobei er nicht vorsichtig genug war, als er sich über sein geschwollenes rechtes Auge fuhr. Er zog scharf die Luft durch die Zähne ein und riss den Arm blitzschnell wieder zurück.

Nun besah er sich das braune Irgendwas über seinem Kopf genauer, und allmählich, als die Schärfe in seinen Blick zurück kehrte, erkannte er endlich seinen Onkel Seigi, der nun langsam seine Hände von Mamorus Körper zurück zog. Sollen das etwa die grausigen Dämonenhände von vorhin gewesen sein?

"Mamoru? Kannst Du mich verstehen? Erkennst Du mich? Ich bin es, Seigi! ...Komm, sag schon was!"

Er sprach sehr langsam, übermäßig deutlich und eine Spur zu laut. Als wolle er mit einem Schwachsinnigen reden.

...Was tat er überhaupt so urplötzlich hier?...

"Onkel... Seigi?..."

Mamoru bemerkte den Geschmack von Blut auf seiner Zunge und tastete mit den Fingern über seine Lippen. Sie waren heiß, spröde und aufgesprungen. Er hatte einen wahnsinnigen Durst.

"Dem Himmel sei Dank, Du bist endlich wach! Wie geht es Dir? Du warst ziemlich lange weggetreten."

Prüfend und äußerst vorsichtig fuhr Seigi über Mamorus Stirn. Dieser jedoch flüsterte völlig entkräftet:

"Gib mir doch bitte was zu trinken."

Mit einem "Natürlich, sofort" reichte ihm Seigi eine Tasse inzwischen kalten Tees. Doch das war Mamoru gerade recht so. Schmeckte zwar furchtbar, was auch daran lag, dass viel zu wenig Zucker darin war, aber das war ihm allemal lieber, als sich jetzt noch obendrein die Schnauze zu verbrennen. Gierig trank er einige Schlucke.

"Besser?", erkundigte sich Seigi.

"Einigermaßen", antwortete Mamoru. Er hatte sich inzwischen so weit im Griff, dass er nicht mehr andauernd nur mit einem Nicken oder mit Kopfschütteln antworten wollte - was zweifelsohne sehr weh getan hätte.

Leicht verstört sah sich Mamoru um. Draußen vor den Fenstern war es entschieden zu dunkel - es musste inzwischen ziemlich spät sein. Das Schneetreiben vom Mittag hatte stark nachgelassen, es rieselte nur noch vereinzelte Flöckchen. Der Fernseher lief, er war sehr leise gestellt. Die große Überschrift der Nachrichten lautete "Erdbeben in der Türkei" oder so ähnlich, Mamoru sah nicht richtig hin. Sein Blick wanderte weiter unstet durch das Zimmer und blieb auf dem Couchtisch haften, wo inzwischen mehrere Tassen herumstanden, die wahrscheinlich Tee enthielten oder enthalten hatten. Überall über den ganzen Tisch verteilt waren kleine, halbrunde, glitzernde, inzwischen eingetrocknete Teepfützen zu sehen, und die Tischdecke hatte ganz schön was abbekommen. Mamoru musste allerdings betreten feststellen, dass auf "seiner" Hälfte des Tisches entschieden die aller meisten Flecke waren.

Als er den Blick wieder hob, begegnete er Seigis hellblauen Augen, die leicht amüsiert wirkten, wenn sie auch eine Spur von - ja, was eigentlich? Mitleid? - ausdrückten.

"Mach Dir keinen Kopf, Mamoru. Wenn man krank ist, dann kann man schon mal etwas ... neben der Kappe sein."

<Etwas neben der Kappe? Will der mich verarschen? Für mich sieht es hier eher so aus, als hätte ich den größten Teil des Tages nicht bewusst erlebt! Was mag ich wohl alles Grausames angestellt haben in der ganzen, langen Zeit, an die ich mich nicht mehr erinnern kann?>

Seigi fuhr sich mit der Hand durch die widerspenstigen, ewig verstrubbelten, haselnussbraunen, kurzen Haare und seufzte schwer. Gerade da betrat Kioku das Wohnzimmer, die kleine Wanne mit frischem Eiswasser vor sich her balancierend. Sie stellte die flache Schüssel vor sich ab, setzte sich zu ihrem Neffen auf die Couch, lächelte ihn an und fragte ihn dann mit einer Spur von Müdigkeit in der Stimme:

"Na, wie fühlst Du Dich nun?"

Mamoru zuckte mit den Schultern.

"Wie soll's mir schon gehen? Ich hab Kopfschmerzen, die bringen mich fast um. Und mein Auge ist so dick wie ne gigantische Kartoffel. Außerdem... ist euch nicht auch wahnsinnig heiß hier drin?"

Seigi half ihm, die Decken zu ordnen, die Mamoru in den letzten Stunden übelst zurecht gestrampelt hatte. Erleichtert atmete Mamoru auf. Er fand endlich die Kraft, sich aufrecht auf die Couch zu setzen. Kioku drückte ihm einen eiskalten Waschlappen in die Hand, den er sich unverzüglich auf die Stirn presste.

"Aber davon abgesehen", fuhr er endlich fort, "geht es mir schon ein gutes Stück besser."

"Das freut mich zu hören, mein Kurzer", meinte Kioku. Trotz der Müdigkeit, die ihr förmlich aus dem Gesicht sprang, wirkte sie glücklich und beruhigt.

Seigi ließ sich neben seinem Neffen auf die Couch fallen und schlug die Beine übereinander. "So, und jetzt verrat mir doch mal, was heute morgen los war."
 

Mamoru erzählte ihm die ganze Geschichte. Na ja, fast die ganze. Die Sache mit dem Silberkristall ließ er natürlich wegfallen. Und er blieb auch hier bei der Version, Chikara habe ihn nicht bedroht, sondern ihm geholfen. Mamoru versprach sich einen Vorteil davon, wenn die Wahrheit erst mal geheim bliebe. Im Notfall - in welchem Notfall auch immer - konnte man die Aussage immer noch im Nachhinein revidieren. Doch Mamoru hoffte, dass etwas Derartiges nicht nötig werden würde.

Er war vom vielen Erzählen wieder sehr müde und durstig geworden. Mit einer Tasse frisch aufgebrühten Tees in der Hand, der diesmal genug Zucker enthielt, saß er auf der weichen Couch, lehnte sich an Seigis Schulter und kämpfte gegen die Müdigkeit, das Fieber, und unentwegt pochende Kopfschmerzen an, die zwar nicht mehr ganz so schmerzhaft von Innen gegen seine Schläfen schlugen, aber immerhin noch stark genug waren um zu nerven.

Er nippte an seinem Tee und sah in die schweigende Runde. Kioku hatte sich Mamoru gegenüber in den Sessel gesetzt und in eine Decke eingehüllt. Ihre Augen fielen ständig zu und waren von dunklen Rändern umringt. Seigi warf immer mal wieder einen Blick auf den Fernseher.

"Was ist da?", erkundigte sich Mamoru.

Seigi nickte mit dem Kopf in Richtung Fernseher. "Da? In den Nachrichten kommt schon den ganzen Tag lang, dass es in der Türkei ein schlimmes Erdbeben gegeben hat. Immer wieder ist von heftigen Nachbeben die Rede."

Einige Minuten hörten sie schweigend einem Nachrichtensprecher zu, der ein Interview mit seiner Korrespondentin vor Ort führte. Im Moment schien alles noch sehr ruhig zu sein. Mamoru wollte nur für einen kurzen Augenblick sein Auge schließen. Vielleicht einfach ein wenig schlafen. Und das dumpfe Pochen in seinem Schädel donnerte weiter. Es steigerte sich allmählich zu einem quälenden Stechen.

"Onkel Seigi? Mein Kopf..."

Weiter kam er nicht. Das Pochen verwandelte sich urplötzlich in höllische Pein. Klirrend zerbrach die Teetasse am Boden, als Mamoru seine Hände nach oben riss und gegen seine Schläfen presste. Die Qualen steigerten sich ins Unermessliche.

Und dann geschah alles gleichzeitig.

Die Zeit schien ganz kurz still zu stehen. Mamoru warf, wie durch Hypnose dazu gezwungen, einen Blick auf den Fernseher, wo die Korrespondentin in der Türkei ein schreckensbleiches Gesicht hatte. Mamoru konnte sich nicht erklären, warum das so war, aber es interessierte ihn auch nicht.

Er hatte gar keine Zeit zum Nachdenken.

Urplötzlich ertönte in seinem Kopf die Stimme der Unbekannten aus seinen Visionen wie ein ohrenbetäubender Schrei:

DU, HERR DER ERDE, MUSST WIEDERERWACHEN!!!

Dann schien die Zeit ruckartig wieder weiterzulaufen, und die gigantischsten Schmerzen ereilten ihn, wie er sie nie zuvor in seinem Leben gespürt hatte. Aus Leibeskräften brüllte er, warf sich herum, bäumte sich auf. Er schien innerlich zu verbrennen und auf seinem Kopf lastete ein Druck wie bei einer gewaltigen Explosion.

Die Zeit spielte völlig verrückt. Sekunden der absoluten Pein schienen einfach kein Ende nehmen zu wollen, und doch verwandelten sie sich irgendwie in Jahrtausende. Im Luftholen hörte er ein seltsam klingendes Schreien und Kreischen, wie von weit her und doch unnatürlich nah. Wieder schien ihn eine unsichtbare Macht dazu zu zwingen, den Blick auf den Fernseher zu richten.

Was Mamoru da sah, war ein Bild des Grauens.

Die Erde brach dort auf, Schreie der absoluten Todespanik wurden laut, ein Geruckel und Gewackel ging durch das Bild - und dann brach der Kontakt ab.

Es war fürchterlich. Mamoru wand sich unter Krämpfen und Schmerzen. Ganz so, als würde er das Leid dieser Erde tragen.

Ein gellender Schrei entrang sich seiner Kehle - dann verlor er das Bewusstsein.

Als er die Augen öffnete, war es sehr still um ihn herum. Die Sonne sandte ihre warmen Strahlen durch das Fenster in sein Schlafzimmer. Es war ein Bild des Friedens und der Ruhe.

Von dieser Ruhe hatte man in der Nacht zuvor allerdings nichts merken können.

Unzählige Male war Mamoru in dieser Nacht unter Schmerzen aufgewacht. Jedes Mal hatte er einige Minuten lang gegen wahre Höllenqualen zu kämpfen gehabt, und jedes Mal hatte er vor Pein das Bewusstsein verloren. Nur für Minuten. Dann waren die Schmerzen zurück gekehrt. Jedes Mal aufs Neue.

Und bei jedem Mal war ein Erdbeben gemeldet worden.

Aber nun war das Schlimmste überstanden. Mamoru drehte sich in seinem Bett hin und her um eine gemütliche Position zu finden. Sein Onkel hatte ihn irgendwann in einer Phase der Bewusstlosigkeit in sein Bett getragen. Im Wachzustand wäre das nicht möglich gewesen; Mamoru hatte zwischenzeitlich gar nicht gewusst, was er tat; er hatte wild um sich geschlagen und sich tobend hin und her geworfen.

Er seufzte schwer. Er konnte sich kaum noch an die letzte Nacht erinnern. Es war, als hätte sein Gehirn den dicken Vorhang der Verdrängung und des Vergessens um die Erinnerung aufgebaut. Um seine Seele davor zu schützen, wahnsinnig zu werden.

<Was ist bloß mit mir geschehen?>

Er rieb sich die Müdigkeit aus dem linken Auge und gähnte herzhaft. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es inzwischen kurz nach zwei Uhr Nachmittags war. Seine Hand fuhr über seine schweißnasse Stirn. Sein Fieber war schon um einiges gesunken, wenn auch noch nicht völlig besiegt.

Mamorus Magen verlangte lauthals nach Futter. Immerhin war seine letzte Mahlzeit am Morgen des vorigen Tages gewesen, und dieses Essen hatte er auch noch herausgewürgt. Langsam und vorsichtig richtete er sich auf. Noch immer fühlte sich sein Kopf so dick an wie eine reife Wassermelone, aber die grässlichen Schmerzen hatten sich weitestgehend zurückgezogen; fast wie ein Raubtier, das sich ruhig verhält um im passenden Moment zuzuschlagen.

Mamoru arbeitete sich unter der Bettdecke hervor, setzte seine Füße auf dem Boden auf, hielt sich am Bettrand gut fest und stand langsam auf. Unverzüglich quälte er sich durch einen Schwindelanfall und die Welt wurde kurzzeitig dunkel vor seinem Blick. Einen Moment später hatte er sich wieder im Griff. Er zog sich die Hausschuhe an, verließ sein Zimmer und schlurfte ins Wohnzimmer, wo Kioku gerade dabei war, den Couchtisch zu wischen, der ja bis dahin noch immer übervoll war mit klebrigen Pfützen von Tee. Allerdings hatte sich der Gesamteindruck des Wohnzimmers um einiges gebessert, wenn man bedachte, dass vor einigen Stunden noch ein wahres Chaos geherrscht hatte. Die leeren Tassen waren weggeräumt und die Kissen und Decken auf den Sitzmöbeln wieder in Ordnung gebracht.

"He, Kurzer! Alles wieder im grünen Bereich?", begrüßte ihn seine Tante. Sie kam zu ihm, umarmte ihn und küsste seine Stirn. "Du bist nicht mehr ganz so glühend heiß, mein Kleiner. Bald bist Du wieder voll auf dem Damm", prophezeite sie.

Mamoru nickte zustimmend. "Ich fühle mich auch wieder ein bisschen besser. Aber..."

Er drückte die Hand gegen seine Schläfe. "...mein Kopf tut noch so sehr weh", jammerte er.

"Och, mein Kurzer, das wird wieder!", munterte ihn Kioku auf. Mit sanfter Gewalt drückte sie ihn auf das Sofa, umwickelte ihn rasch mit einer Decke und steckte ihm ein Kissen in den Nacken. "Möchte mein Kleiner was essen?"

Sein Magenknurren antwortete ihr noch ehe er seinen Mund geöffnet hatte. Mamoru bekam rote Wangen und nickte bestätigend.

Kioku lachte. "Hast Du Lust auf Hühnchen mit Reis?"

Er nickte erneut mit purer Begeisterung. "Im Augenblick ist mir alles recht."

"Das ist gut", entgegnete sie amüsiert lachend und ging in die Küche, "weil ich das heute Mittag nämlich gekocht habe. Etwas anderes hätte ich Dir so oder so nicht gemacht."

<Mal wieder typisch.>

Mamoru lehnte sich seufzend zurück und machte es sich auf dem Sofa bequem.

<Ja>, dachte er so bei sich, <so lässt es sich doch ganz passabel leben.>

Er nahm von Kioku den Teller mit dem wie sonst auch so leckeren Essen entgegen und stürzte sich gierig darauf. Kioku sah ihm belustigt dabei zu, wie er sich genüsslich durch die Speise hindurch mampfte.
 

"Bin pappsatt!", meldete Mamoru nach einem gewaltigen Nachschlag. Zufrieden stellte er seinen Teller auf dem Couchtisch ab und vergrub die Arme unter der warmen Decke.

"Dem Himmel sein Dank", bemerkte Kioku spöttisch und trug den Teller in die Küche. Als sie zurückkam, hockte sie sich neben ihn und fuhr ihm durch die langen Haare, die ein wenig zusammenklebten.

"Meinst Du, Du hast die Kraft, heute zu duschen? Oder willst Du lieber vorsichtig sein und noch einen Tag abwarten?", fragte sie.

"Ich weiß nicht", entgegnete er mit einem Schulterzucken. "Ich könnte auch einfach baden gehen."

"Auch ne Möglichkeit", bestätigte seine Tante. "Sag mal, hast Du nicht gestern morgen noch irgend was gesagt, dass Du Deine Haare schneiden lassen willst?"

"Ja, hab ich. Warum?"

"Meintest Du das ernst?"

"Klar, tu ich immer noch. Aber warum denn?"

Kioku grinste ihn spitzbübisch an. "Heute morgen beim Tratsch mit der Nachbarin..."

Mamoru verdrehte die Augen und seufzte.

"Was denn?", verteidigte sich Kioku, "Ist doch nichts dabei! Na, jedenfalls hat sie mir die Adresse gegeben von einer super Friseurin, die hat ihren Salon gar nicht mal so weit weg von hier. Da können wir hin, wenn Du wieder auf dem Damm bist."

"Ja, aber..." Mamoru lehnte seinen Kopf gegen die Schulter seiner Tante, wobei das etwas komisch aussah, da Kioku immerhin ein gutes Stück kleiner geraten war als er und er sich schon ziemlich bücken musste. Schließlich rückte er einfach einige Zentimeter zur Seite und musste so seinen Nacken nicht mehr so übel verrenken. Dann nahm er den sprichwörtlichen roten Faden wieder auf: "...aber heute noch nicht. Ich fühle mich dafür einfach noch nicht bereit. Ich brauche noch eine Menge Ruhe. Mein Kopf dröhnt so sehr."

Was für unaufrichtige Aussagen stellt man doch auf, nur um etwas bemitleidet und umhätschelt zu werden! In Wahrheit spürte er nur noch einen leichten Druck zwischen den Schläfen; nichts Weltbewegendes, nur ein wenig lästig. Aber er wollte einfach mal etwas Aufmerksamkeit haben und etwas Anteilnahme genießen. Seine Tante sprang auch sofort darauf an. Mit den Worten "Och, mein armer Kleiner!" schloss sie ihn in ihre Arme und knuddelte ihn. Er genoss ihre Zuneigung und ihre Liebkosungen.

"So", sagte Kioku nach einer ganzen Weile, "geht es Dir jetzt besser?"

Er lächelte sie zufrieden an. "Ja, viel besser. Danke schön."

"Ist doch kein Ding", meinte sie darauf. "Und was hast Du jetzt vor?"

"Ich denke, es ist jetzt Zeit zum Baden, nicht?", stellte er fest und streckte seine müden Glieder.

"Na, dann mach mal. Ich hab noch einiges zu tun. Danach können wir ja wieder etwas mit einander plaudern, was? Auf geht's, Kurzer, dann erhebe Dich mal von Deinem Thron."

Er arbeitete sich unter der Decke hervor, stand vom Sofa auf und schlurfte ins Bad. Dort angekommen schloss er die Tür ab. Ein paar Schritte weiter kam er an dem großen Spiegel vorbei, und rein gewohnheitsmäßig warf er einen kurzen, prüfenden Blick in das spiegelnde Glas. Was er dort sah, erschreckte ihn sogar ein wenig. Er schluckte schwer, latschte zur Badewanne, drehte das Wasser auf und brachte es auf eine angenehme Temperatur. Daraufhin entledigte er sich seiner Kleidung, legte sich ein Badetuch zurecht, und dann nahm er sich endlich die Zeit, noch mal viel genauer in den Spiegel zu sehen.

Er war nichts weiter als Haut und Knochen. Nun gut, er war in seinem ganzen Leben noch nie dick gewesen, noch nicht einmal leicht pummelig. Das hatte er von beiden Eltern geerbt. Aber jetzt war er bloß noch - man konnte es nur als mager bezeichnen! Der Kampf gegen das Fieber hatte schwer an seinen Energiereserven gezehrt, und das sah man seinem ausgemergelten Körper wirklich an. Das Gesicht hatte eine leichenblasse Farbe angenommen und die Haut war eingefallen, sodass seine Wangenknochen beinahe unnatürlich hervorstachen. Die Augen waren von tiefen, pechschwarzen Rändern umgeben und schienen ihren Glanz verloren zu haben. Sie wirkten dunkel, stumpf, und auf nicht näher zu beschreibende Art und Weise leblos. Die Stirn glitzerte vor teilweise eingetrocknetem, jedoch größtenteils frischem Schweiß, in dem einige der langen, zerzausten Haare klebten. Hie und da sprossen einige winzige Bartstoppeln aus dem Kinn heraus, die den erbärmlichen Eindruck irgendwie sogar noch unterstrichen. Nur eine leichte Kruste im Mundwinkel erinnerte an die aufgesprungene Lippe, die sich Mamoru beim Kampf gegen Chikara und Buki eingehandelt hatte. Allerdings prangte immer noch eine leuchtend rote Narbe über der rechten Augenbraue und das Auge selbst war auch weiterhin gut dick.

Mamoru seufzte. Er hob sich den rechten Unterarm vor Augen, drehte ihn ein paar Mal herum und betrachtete die beiden langgezogenen Narben, die er schon seit so vielen Jahren mit sich herum trug. Nach einem erneuten Seufzer und einem letzten Blick auf sein armseliges Spiegelbild wandte er sich der Badewanne zu, tapste hin, drehte den Wasserhahn ab und stieg vorsichtig hinein. Das Wasser war etwas zu heiß geraten, doch Mamoru biss tapfer die Zähne zusammen und schon bald hatte er leise stöhnend eine gemütliche, halb sitzende, halb liegende Position in der Badewanne gefunden. Er verbrachte einige Minuten damit, in der großen Wanne zu liegen, mit geschlossenen Augen das heiße Wasser zu genießen, das seinen geschundenen Körper sanft umspielte, und dann und wann ein wenig mit den Fingern herumzuplanschen.

Dann endlich griff er - erneut seufzend - nach der Shampooflasche und begann damit, die weiße, zähe Flüssigkeit in seine langen Haare einzuarbeiten.

Er ließ sich sehr viel Zeit damit, sich zu waschen. Unter anderem lag es auch einfach daran, dass das Seifenwasser unangenehm in seinen Wunden juckte. Aber er hatte ja Zeit.

Viel Zeit.

Zeit genug, um über das Ein oder Andere nachzudenken.

<Was ist da gestern bloß mit mir geschehen?>

Er erinnerte sich an den langen, beschwerlichen Schulweg, an den kleinen Disput mit Motoki, an die Vision, die ihm befohlen hatte, den Silberkristall zu finden, an sein ergebnisloses Herumirren in der Schule, daran, dass er zusammengeklappt war, und daran, wie er am Abend mit diesen überirdischen Qualen hatte kämpfen müssen. Stand das alles vielleicht im Zusammenhang zu einander?

<Wieso eigentlich ausgerechnet ich?>

Wahrlich, das Schicksal schien ihn zu hassen und ein diabolisches Spiel mit ihm zu treiben.

Wieso er?

Er war derjenige, dessen Eltern starben, als er noch ein kleiner Junge war.

Er musste den Silberkristall finden, ohne genau zu wissen, was das überhaupt war.

Er musste sich ja unbedingt in die unnahbare Hikari verlieben, die ausgerechnet mit King Kong zusammen war.

Er musste diese grässlichen Schmerzen ertragen, und er wusste noch nicht mal, weswegen!

Es war einfach nicht gerecht!

<Was wäre eigentlich, wenn es mich nicht gäbe?>

Sollte doch ein anderer nach dem Kristall suchen!

Sollte Hikari mit diesem Affen doch glücklich werden!

Sollte sich doch sonst wer den Kopf darüber zerbrechen, was das für ominöse Schmerzen waren!

<Und was hält mich in dieser Welt?>

Nichts, flüsterte ihm eine unendlich leise Stimme in seinem Inneren zu. Du bist in dieser Welt zu nichts zu gebrauchen! Wieso befreist Du diese Welt nicht von Dir? Du bist ihr doch nur eine Last! Geh dort hin, wo Du glücklich sein kannst! Verlasse diese gottverdammte Welt!

Es war nicht die Stimme der Unbekannten, die ihm schon so vertraut war wie seine eigenen Gedanken. Oh, nein, diese Stimme hier war eher eine Art bisher nie laut gewordener Wunsch, ein Verlangen und Trachten, das hinter seiner Stirn geschlafen hatte und nun erwacht war, wie ein blutrünstiges Raubtier, das wusste, dass es längst an der Zeit war, auf die Jagt zu gehen; Beute zu machen! Und es hatte bereits seinen Köder ausgelegt. Einen unwiderstehlichen Köder. Die Beute war schon so gut wie in seiner Gewalt!

Langsam, Zentimeter für Zentimeter, bewegte sich Mamorus Körper im Wasser. Der Winkel in den Knien wurde immer spitzer während der Kopf langsam auf die Wasseroberfläche zuglitt. Schon bald war das Kinn unter Wasser, dann die Lippen, die Nase, und schließlich, in einem abschließenden Rutsch, tauchte der ganze Kopf in die angenehm riechende Flüssigkeit ein. Die Seife nagte entsetzlich in seinen Verletzungen, doch Mamoru biss nur die Zähne auf einander. Er drückte die Hände gegen die Innenwände der Wanne, damit der Auftrieb ihn nicht sofort wieder nach oben drückte. Salzgefüllte Tränen verließen seine Augen und vermischten sich sofort mit dem Wasser. Ein gewaltiger Druck schien auf seinen Lungen zu lasten, obwohl vielleicht nur ein winziger Augenblick vorüber gegangen sein konnte. Er kämpfte mit aller Macht gegen den Impuls an, den Kopf zu erheben und den dringend benötigten, frischen Sauerstoff in seine schmerzende Brust fließen zu lassen. In seinen Ohren erklang bereits ein leises Piepsen, und kleine bunte Pünktchen tanzten vor seinem Gesichtsfeld umher. Das ekelhafte, monotone Geräusch in seinen Ohren verstärkte sich, und dann schien es Mamoru, als höre er, wie aus weiter Entfernung, eine Art Hupen, wie von einem Auto. Bald mischten sich noch andere Geräusche hinzu: das Splittern von Glas, ein grässliches Quietschen, dann der Laut, der entsteht, wenn Metall zu einem unförmigen Klumpen zerquetscht wird.

Die Erinnerungen an den Unfall, als er sechs Jahre alt war?

Mamoru spürte einen immer stärker werdenden Schmerz in der Brust; und dazu kam die brennende, stechende Pein, die sich in den beiden langgezogenen Narben an seinem rechten Unterarm festbiss.

Winzige Luftbläschen stiegen empor, als er reflexartig nur für einen ganz kurzen Moment die Lippen öffnete. Ekelhaftes Seifenwasser drang in seinen Mund und rann in seine Kehle. Es verursachte einen grässlichen Hustenreiz.

Unerträglich groß wurde in ihm das Verlangen nach frischer Luft. Gegen seinen Willen öffnete sich sein Mund und das wertvolle Gas entwich seinen Lungen. Mit einem Ruck stieß er seinen Oberkörper vom Wannenboden ab, durchbrach mit dem Kopf die Wasseroberfläche und sog gierig das unsichtbare Gut in seinen Brustkorb.

Spuckend, keuchend, hustend, zitternd und fast lautlos schluchzend ließ er sich zurücksinken, lehnte den Rücken gegen den Badewannenrand und kämpfte nicht mehr gegen seine Tränen an.

<Was hab ich da getan? Wieso? Ich... verstehe es nicht...>

Er fuhr mit den Händen über sein Gesicht und berührte dabei versehentlich die Platzwunde über dem rechten Auge. Der beißende Schmerz war ihm egal. Er spürte nur noch ein Gefühl der Hilflosigkeit, der Verzweiflung und der unendlichen Leere in seinem Brustkorb.

<Wieso? Wieso das alles?>

Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen und wippte leise wimmernd vor und zurück. Immer wieder vor und zurück. Er wusste beim besten Willen nicht zu sagen, warum, aber es beruhigte ihn ein wenig. Die Kontrolle über seinen Körper zerbröckelte unablässig weiter. Maßlos zitterte er am ganzen Leib.

Sein Zeitgefühl hatte er völlig verloren. Es war ihm unmöglich zu sagen, ob er nur einen Moment so dasaß, oder ob er womöglich Stunde um Stunde so verbrachte. Aber es war ihm auch vollkommen gleichgültig. Er spürte nur noch Verzweiflung und tief in den Knochen verwurzelte Furcht.

Er atmete tief ein und aus. Die frische Luft nahm ihm seine Benommenheit ein wenig. Er brauchte einige Augenblicke, um sich wieder einigermaßen zu fangen.

Mamoru ließ das Wasser ablaufen. Zu sehen, wie es unaufhaltsam in den Abfluss hinabgezogen wurde, weckte in ihm das eigenartige Gefühl, das man hat, wenn man morgens aufwacht und feststellt, dass alles nur ein Albtraum gewesen ist.

Doch das hier war kein Albtraum gewesen.

Es war die Wirklichkeit.

Er hatte tatsächlich versucht, sich das Leben zu nehmen.

Dieser Gedanke ließ ihn schaudern. Er hielt sich am Badewannenrand fest, richtete sich langsam auf, und gab sich die größte Mühe, dabei nicht auszurutschen oder sonst wie neue blaue Flecke in sein so schon beachtliches Repertoire aufzunehmen. Das war nicht ganz leicht, denn sein Körper, der immer noch sehr mitgenommen war, litt weiterhin unter niedrigem Blutdruck. Einen kurzen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, und er kämpfte gegen Übelkeit und Ohnmacht. Aber wirklich nur für einen kurzen Moment.

Mamoru angelte daraufhin nach dem Badetuch, dass er sich bereitgelegt hatte und trocknete sich damit ab.

Als er aus der Wanne kletterte, überkam ihn erneut dieses Schwindelgefühl, doch nun machte er sich erst gar nicht die Mühe dagegen anzukämpfen.

Er kniete sich vor die Kloschüssel und kotzte sich nicht nur all seine Gefühle von der Seele, sondern er wurde auch noch etwa die Hälfte von Kiokus Essen los. Immerhin half ihm das, wieder klarer denken zu können.

Danach spülte er den ekelhaften Gallengeschmack von seiner Zunge, indem er sich einfach unter den Wasserhahn des Waschbeckens hängte und den Strahl ganz aufdrehte.

<Schon wieder Wasser! Bäh!>

Es klopfte an der Tür, und dumpf ertönte Kiokus Stimme: "Kurzer? Was ist mit Dir? Ist Dir wieder schlecht geworden?"

Er drehte das Wasser ab. "Ja. Aber das wird schon wieder." Seine Stimme klang fast unnatürlich hoch und zitterte.

"Kann ich rein kommen?", bat Kioku.

Er zögerte kurz. "Ja, sicher", brummte er dann resigniert. Er fuhr noch mal kurz mit dem Badetuch durch seine Haare, band es sich dann um die Lenden und entriegelte die Tür. Mit besorgtem Gesichtsausdruck trat Kioku ein und besah sich ihren Neffen.

"Himmel, Kleiner! Du siehst so furchtbar blass aus! Okay, Du hättest schon die letzten paar Tage einen Schönheitswettbewerb der Toten gewonnen, aber jetzt ist es irgendwie... noch schlimmer...", erläuterte sie. Ihre Hand fuhr prüfend über seine Stirn.

"Na ja", fuhr sie fort, "Du hast gerade gebadet, da ist völlig klar, dass Du gut warm bist. Wir sollten etwa in einer Stunde oder so Deine Temperatur messen, in Ordnung? Oh, mein Kurzer! Du machst mir nichts als Sorgen!"

<Wenn Du nur wüsstest!>

Er war immer noch zu geschockt. Er konnte schier nicht fassen, was er da gerade eben noch zu tun versucht hatte! Der Gedanke an einen Suizidversuch war ihm mit einem Male unbegreiflich und so unglaublich fremd! So, als sei er nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen, sondern als habe ihm jemand oder etwas diese Flausen in den Kopf gesetzt.

"So, Kurzer, Du setzt Dich erst mal hier hin."

Sie drückte ihn sanft zur Badewanne, half ihm, sich auf den Rand zu setzen und dabei das Gleichgewicht zu halten und wich dann ein paar Schritte zurück.

"Ich denke, ich besorge Dir jetzt erst mal Klamotten. Dieses Badetuch ist zwar chic, und es steht Dir hervorragend, aber es ist doch etwas luftig für den Februar, findest Du nicht?"

Sie verschwand aus dem Bad. Natürlich blieb Mamoru nicht einfach sitzen. Er stand vorsichtig auf und wankte zum Spiegel, um einen Blick hinein zu werfen. Der Dunst, der den Spiegel hatte beschlagen lassen, verschwand langsam, jetzt, wo die Zimmertür sperrangelweit offen stand und kühle Luft hereinwehte. Sein verschwommenes Spiegelbild wurde langsam klarer und die Konturen schärfer. Mamoru fand, er sah grausig aus.

Er hörte nicht, wie Kioku einen Augenblick später wieder in der Tür erschien; mit seinen Kleidern im Arm. Er bemerkte auch nicht, dass sie ihn einige Herzschläge lang musterte. Er erschrak nur leicht, als sie ihn fragte: "Was siehst Du?"

"Einen Spiegel", brummte er.

"Das meine ich nicht", erklärte seine Tante und stellte sich ganz nah zu ihm, um mit ihm in den Spiegel sehen zu können. "Ein Spiegel zeigt Dir manchmal die Wahrheit, und manchmal nur das, was Du sehen willst. Und mich würde interessieren: Was siehst Du?"

Er zuckte mit den Schultern.

"Ich sehe... so was wie Tarzan. Nur mit einem Lendenschurz bekleidet, mit wilden, langen, zerzausten Haaren, und der schon seit einigen Wochen nicht mehr geschlafen hat, weil die Wölfe so laut geheult haben."

"Dann bist Du aber ein Spaghetti-Tarzan", zog ihn Kioku auf und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

"Sehr witzig. So dünn bin ich auch nicht", murrte er vor sich hin. "Und was siehst Du, Du allwissende Hexe?"

Sie legte seine Kleider auf dem Boden ab, umarmte ihn von hinten, blickte an seiner Schulter vorbei auf sein Spiegelbild und antwortete mit einem Lächeln, dem man den Stolz richtiggehend ablesen konnte:

"Ich sehe einen der hübschesten Kerle auf diesem Planeten. Jung und unerfahren, aber mit einem guten Herz. Und er wird lernen, seine Probleme zu meistern. Eines Tages wird er viele Freunde haben und von hübschen Mädchen nur so umringt sein. Und bis es soweit ist, bleibt er einfach mein kleiner Lieblingsneffe."

Mamoru drehte sich zu ihr um und umarmte sie. "Ich liebe Dich."

"Ich Dich doch auch, mein Kurzer. Mehr, als Du Dir vorstellen kannst."

Einige Herzschläge später löste sie sich wieder aus seinem Griff.

"Du siehst schon viel gesünder aus, Kurzer. Und jetzt zieh Dich lieber an, bevor Dein Fieber wieder schlimmer wird."

Sie verließ das Badezimmer und schloss behutsam die Tür hinter sich zu.

<Danke, Tante Kioku. Danke für alles.>

Er war an diesem Tag nicht gestorben. Er lebte.

Und selbst, wenn er nur für seine Tante leben würde, und für niemanden sonst auf diesem Planeten, dann wäre das schon Grund genug, weiter zu leben.

Außerdem hatte er noch so viele andere Gründe, zu leben:

Seinen Onkel Seigi.

Oder Motoki.

...Und vielleicht auch Hikari?...

"Mamoru? Komm, Du Schlafmütze, steh endlich auf", sagte Kioku leise in sein Ohr.

"Nur noch fünf Minuten", tönte es dumpf irgendwo aus den Tiefen zwischen dem Kopfkissen und der Decke.

"Das sagst Du jetzt schon seit einer halben Stunde", seufzte Kioku. Doch so, wie Mamoru seinen Kopf unter der Decke vergrub, konnte er nicht sehen, dass ein verständnisvolles Lächeln die Lippen seiner Tante umspielte. Sie beugte sich herunter und begann, ihn am Ohr zu kribbeln. Quietschend zog er die Decke ganz über den Schädel, bis nur noch einige lange Haarsträhnen hervorlugten.

"Lass das gefälligst!", schimpfte die Decke mit Kioku.

Kichernd und vorsichtig arbeitete sie ihre Finger unter die Decke und tastete nach seinen Rippen. Endlich dort angelangt kitzelte sie ihren Neffen durch und sagte immer wieder: "Hab Dich! Kommst Du jetzt raus? Na? Ergibst Du Dich? Stehst Du jetzt auf?"

Mamoru schrie auf, rollte sich auf dem Bett hin und her, lachte, kicherte, gab glucksende Geräusche von sich und schließlich rief er: "Also gut! Ich gebe auf! Ich gebe auf!"

Endlich schlug er die Bettdecke zurück. Er wollte seiner Tante einen bitterbösen Blick zuwerfen, aber das ging schon bald in einem breiten Grinsen unter. Seine dunkelblauen Augen strahlten vor Freude und Lebenslust. Die Narbe über seinem rechten Auge war in den letzten paar Tagen sehr gut verheilt, das Auge selbst war so weit abgeschwollen, dass er wieder normal schauen konnte, wenn auch noch immer ein dunkler Rand zu sehen war. Außerdem hatte Kioku ihn - man konnte es nicht anders ausdrücken - gemästet wie ein Schwein. Nicht, dass man ihn jetzt hätte als dicklich bezeichnen können - das war er nie gewesen. Doch von seinem kräftezehrenden Kampf gegen das Fieber war nun nichts mehr zu merken. Und Mamoru schaufelte in letzter Zeit wirklich Futter für Zwei in sich hinein.

Er setzte sich im Bett auf, versuchte ein Gähnen zu unterdrücken, was aber nicht recht gelingen wollte und reckte die Glieder. Kioku setzte sich zu ihm und nahm ihn behutsam, fast schon zärtlich in die Arme.

"Huch", heuchelte er Überraschung vor und lächelte dabei amüsiert, "womit habe ich denn das verdient?"

"Ach, nur so", nuschelte Kioku vor sich hin. "Ich bin bloß so froh, dass Du wieder gesund bist."

Beruhigend strich er über ihren Hinterkopf und fuhr mit seinen Fingern durch ihre langen, pechschwarzen Haare. Hinter seinem Rücken spürte er eine Bewegung, als würde sich Kioku hastig über ihre Wangen fahren.

"Ist was?", fragte er unsicher, löste sich behutsam aus ihrer Umarmung und sah sie fragend an. Ihre Augen schimmerten feucht und ihre Wangen glitzerten leicht.

"Ach was", wehrte sie ab. Ihre Stimme klang etwas unsicher und hoch. "Ich hab nur... nur zu viel Parfüm drauf. Das juckt in den Augen, fällt mir grad so auf."

Mamoru nickte schelmisch grinsend. "Ja, sicher doch."

<Typisch Tante Kioku. Stahlharte Schale, watteweicher Kern. Aber, mein liebes Tantchen, Deine unnahbare Fassade bröckelt.>

"Wie dem auch sei", meinte Kioku um dem Thema aus dem Weg zu gehen. "Jedenfalls solltest Du Dich jetzt anziehen. Frühstück steht schon auf dem Tisch."

Mamoru warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Darauf meinte er:

"Frühstück? Es ist zehn Uhr, das läuft dann ja eher unter Spätstück, findest Du nicht?"

"Spaßvogel", lachte Kioku, strubbelte ihm durch die Haare und ging dann in die Küche.

"Und zieh Dich endlich an!", rief sie ihm noch zu.

Genau das tat er dann auch, und einige lange Minuten später saß er in der Küche am Tisch und mampfte fröhlich Brötchen um Brötchen in sich hinein.

"Beeil Dich, Kurzer", meinte Kioku mit einem Blick auf die Armbanduhr an ihrem zierlichen Handgelenk.

"Hmpf?", nuschelte Mamoru mit vollen Backen vor sich hin. Er zerkaute das Gröbste, schluckte es hastig herunter, lagerte einen Großteil in seinen Backen, was ihm irgendwie entfernt das Aussehen eines Hamsters verlieh und brachte endlich unter großen Anstrengungen hervor:

"Beeilen? Wieso denn das? Heute ist es schon viel zu spät am Tag für die Schule. Ich kann ja morgen wieder gehen, hm?"

Während er die Backen wieder etwas leerte, um weiter auf dem Inhalt herum zu kauen, nahm er sich schon das nächste Brötchen und bearbeitete es.

Das letzte Mal war er am Mittwoch vor einer Woche in der Schule gewesen, und das nur eine klägliche Stunde lang. Inzwischen war es Donnerstag.

Damals, an diesem Tag, als seine Krankheit begonnen hatte, war er immer wieder zusammengebrochen und sein mysteriöses Fieber hatte angefangen. Noch immer konnte sich Mamoru nicht wirklich erklären, woher es gekommen war und was es zu bedeuten gehabt hatte. War der Grund etwa der Kampf gegen Chikara und dessen Speichellecker gewesen? Immerhin hatte Mamoru daraufhin lange Zeit im Schnee verbracht, und er war schon immer schwer anfällig gegen die Kälte gewesen. Oder hatte es eher etwas mit diesem geheimnisvollen Silberkristall zu tun gehabt? Die Stimme der Unbekannten hatte etwas vom Erwachen des Herrn der Erde gesagt, und daraufhin hatte Mamoru unerträgliche Schmerzen verspürt, bei jedem schwereren Erdbeben, das diesen Planeten durchgeschüttelt hatte. Das konnte unmöglich ein Zufall gewesen sein. Und doch... war so was überhaupt möglich? Ein Mensch, der das Leid der Erde spürt? Ein Herr der Erde?

Was gab es noch für Geheimnisse, um die Mamoru nichts wusste?

Nur eine Tatsache stand augenblicklich im Raum: Mit den abklingenden Erdbeben hatten auch Mamorus Schmerzen gleichmäßig nachgelassen, und waren - zusammen mit dem Fieber - völlig verschwunden.

Und noch etwas nagte an Mamoru, das er zu verstehen absolut nicht imstande war: Er hatte wahrhaftig versucht, sich das Leben zu nehmen. Er wusste im Nachhinein nicht einmal mehr zu sagen, weshalb! Und noch dazu war nur kurz darauf im Fernsehen von einer Flutkatastrophe berichtet worden, die sich wohl irgendwo in den USA zugetragen hatte...

Was war das? Zufall? Schicksal?

Oder womöglich die Kraft des Heiligen Silberkristalls, von dem Mamoru nicht einmal sagen konnte, ob seine Macht von guter oder von böser Natur war?

Schnell wie ein Blitz und auch ungefähr genau so schmerzhaft zuckten all diese Gedanken durch seinen Kopf und nahmen seine volle Konzentration in Anspruch. Es war fast, als hätte sich eine gewaltige, dämonische Hand um sein Gehirn gelegt und fest zugedrückt, um keinen anderen Gedanken zuzulassen. Aber nur ganz kurz; diese schier gewaltige Flut an Informationen und Fragen hatten nicht mal eine Nanosekunde in Anspruch genommen und waren beinahe ebenso schnell aus seinem Kopf verschwunden, wie sie aufgetaucht waren. Was übrig blieb war nur dieses unangenehme Gefühl, dass da etwas Fremdes und vielleicht sogar Gefährliches war, das sich aber versteckt hielt wie ein wildes Tier. Ein sehr geduldiges, blutrünstiges Tier.

Endlich konnte er sich wieder auf seine Tante konzentrieren, und das gerade rechtzeitig, um ihre Antwort mitzubekommen:

"Ach, Quatsch, Schule! Hast Du schon wieder vergessen, was wir beiden Hübschen heute vorhatten?"

"Ja", antwortete er kauend, "das hab ich ganz offensichtlich vergessen. Also?"

Kioku seufzte. "In Zukunft werde ich Dir immer ein Ohr zuhalten, wenn ich mit Dir rede, damit es nicht zum einen Ohr rein und zum andren wieder raus geht. Ich wollte Dich doch heute zur Friseurin mitnehmen! Das hab ich Dir aber schon ein paar Mal gesagt!"

"Hm...", stellte er kauend fest. "Ja, da war was."

"Meine Nerven!", stöhnte Kioku und massierte mit beiden Händen ihre Schläfen. "Jedenfalls solltest Du in fünf Minuten fertig sein, dann gehen wir los."

Diesmal schluckte Mamoru zuerst, fragte dann "Schon?" und biss erneut in sein Brötchen.

"Ja, schon! Mach hin, Kurzer, na los!"
 

Bewaffnet mit einer handvoll alter Fotos von Mamorus Vater Keibi als Modell für die <neue> Frisur gingen sie endlich los. Und eigentlich hätten sie nur etwa eine Viertelstunde Fußmarsch gehabt, wäre Kioku nicht immer wieder staunend und seufzend vor irgend welchen Schaufenstern stehen geblieben.

"Und mir sagst Du, ich soll mich beeilen", brummte Mamoru.

"Ja", antwortete sie schnippisch, ohne auch nur einen Blick vom Schaufenster des Schuhgeschäfts zu nehmen, "das hab ich gesagt, damit ich Zeit habe für nen Bummel!"

So leise, dass sie es vielleicht gerade noch so hätte hören können murmelte er:

"Weiber!"

Er schlenderte zum benachbarten Geschäft, einem Buchladen, und sah sich desinteressiert die Auslagen an. Kochbücher, Kinderbücher und Wörterbücher. Die wirklich interessanten Stücke wurden hier nicht ausgestellt. Das wusste Mamoru gut, er war oft und gern hier und stöberte herum. Aber im Augenblick war er einfach nur ungeduldig.

Ohne sich zu ihr umzudrehen rief er seiner Tante zu: "Kommst Du endlich?"

"Aber ich bin doch schon da, Süßer", raunte ihm eine tiefe Stimme zu.

Erschrocken drehte er sich um und nur mit Mühe konnte er einen Schrei unterdrücken, als er realisierte, wer da neben ihm stand.

"Chikara! Du hier? Was... Wie... Warum... Was tust Du hier?"

"Sind ziemlich viele Fragen auf einmal, findest Du nicht?", antwortete der Blonde gelassen und kratzte sich am Kinn. Er grinste, aber sein Blick war so kalt, dass Mamoru am liebsten einen ganzen Haufen Salz um sich gestreut hätte, um nicht sofort festzufrieren.

"Was ich hier mache?", griff Chikara das Thema wieder auf, als Mamoru mit keinem Muskelzucken reagierte. "Die Doppelstunde Kunst fällt aus. Aber wenn der Lehrer so todsterbenskrank ist wie Du, dann muss ich mir um ihn ja wohl keine Gedanken machen, was?" Er lachte leise, aber ohne eine Spur von Humor. "Ich wollte mir nur die Zeit ein wenig vertrödeln. Und was tust Du hier? Einkaufsbummel? Ist ja hoch interessant!"

"Ich hab einen Termin", nuschelte Mamoru ausweichend.

"Beim Arzt oder bei einem Totengräber?", fragte Chikara in spöttischem Ton nach.

"Was willst Du?", erkundigte sich Mamoru. Nervosität machte sich in ihm breit. Hektisch fuhr er mit der Zungenspitze über seine Lippen.

Ein kaum merkliches Funkeln ging durch Chikaras silbergraue Augen. Mehr denn je glich er mit seinem selbstsicheren Gesichtsausdruck einem Wolf, der mit tödlicher Sicherheit wusste, dass er seine Beute schwer getroffen hatte und die Jagt nun zu Ende war.

"Ich will meine Schulden begleichen. Du erinnerst Dich sicherlich. Vor etwas mehr als einer Woche hast Du meine Haut beschützt. Und ich stehe nicht gerne in Deiner Schuld. Nun bin ich dran, Dir was Gutes zu tun", entgegnete er geheimnisvoll.

Trotz Aufregung versuchte Mamoru, es locker anzugehen:

"Du überlässt mir Hikari freiwillig?"

Schlagartig verschwand das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht des Blonden und wich einem düsteren, bösartigen Gesichtsausdruck.

"Ich schulde Dir einen Gefallen, und nicht gleich ein ganzes Leben in Sklaverei und Stiefelleckerei, Du Null!", knurrte er, und es erinnerte wirklich stark an einen knurrenden Wolf.

"Was dann?", wollte Mamoru wissen. Er klang dabei nicht halb so abfällig wie es geplant war, aber zumindest konnte er einen Gutteil seiner Aufregung und seines gewaltigen Respekts verbergen.

Chikaras Augen blitzten kurz auf vor Zorn. Er hatte wirklich nicht damit gerechnet, auf so viel Gelassenheit und Widerstand zu stoßen. Aber es konnte ihm egal sein. Für ihn war Mamoru absolut kein Gegner. Er fing sich schnell wieder, und das eiskalte, gefühllose, ja schier unmenschliche Grinsen kam in sein Gesicht zurück.

"Ich drücke es mal so aus." Chikara war sehr bedacht mit seiner Wortwahl. "Ich kann mir gut vorstellen, dass es den einen oder anderen Lehrer gibt, den es brennend interessieren würde, was Du so treibst, wenn Du mal nicht in der Schule bist."

Er kam näher, blieb dicht vor Mamoru stehen und bückte sich herunter, um mit ihm auf etwa der gleichen Höhe zu sein. Dann fuhr er fort:

"Von mir wird natürlich keiner auch nur ein Sterbenswörtchen erfahren. Unter einer Bedingung: Zwischen uns wird alles wieder so wie früher. Ich hab das irgendwie cool gefunden. Du gibst einen prima Sandsack ab. Hat Dir das schon mal jemand gesagt?"

"Zuviel der Ehre", spöttelte Mamoru, doch damit konnte er Chikara nun nicht mehr reizen.

"Also abgemacht?", fragte Chikara und hielt Mamoru die Hand hin.

"Abgemacht", antwortete Mamoru und schüttelte Chikaras riesige Pranke. Grinsend drückte Chikara viel fester zu als nötig gewesen wäre, doch Mamoru versuchte den Schmerz zu ignorieren und verzog keine Miene.

"Das finde ich toll, Chiba. Also, wann darf ich Dich wieder im Unterricht sehen, mein liebster Klassenkamerad?" Chikaras Stimme troff nur so vor Sarkasmus.

"Morgen", antwortete Mamoru kurz.

"Ich freu mich schon drauf. Und wehe, Du kommst nicht! Willst mich ja nicht hängen lassen, was? Würde Dir auch nicht gut bekommen. Mach's gut, Pfeife!"

Chikara winkte zum Abschied und zog lachend von dannen. Endlich konnte Mamoru aufatmen. Ihm zitterten die Knie ein wenig und sein Herz machte riesige Sprünge in seiner Brust, aber im Großen und Ganzen war nichts wirklich Schlimmes passiert. Was Mamoru bloß störte, war die Tatsache, dass sein Bonus jetzt flöten war und er seinen Feind nicht mehr in der Hand hatte. Wie gewonnen, so zerronnen. Aber irgendwie war das klar. Mamoru konnte einfach kein Glück haben.

Er wandte sich seiner Tante zu, die in ein paar Metern Entfernung dastand und ihn fragend ansah. Dann kam sie auf ihn zu.

"Hat Dir der Kerl irgendwas getan?", erkundigte sie sich vorsichtig.

Zaghaft lächelnd schüttelte Mamoru den Kopf. "Mach Dir da mal keine Gedanken. Es ist nichts passiert."

Kioku warf einen boshaften Blick in die Richtung, in der Chikara verschwunden war. "Ich trau diesem Kerl nicht. Er ist so... na, Du weißt schon... Wenn ich ihn sehe, denke ich automatisch an riesige Fangzähne und messerscharfe Krallen."

<Ich auch.>

Mamoru antwortete nicht laut auf ihre Aussage sondern drehte sich nur um und lief weiter. Zwei Sekunden später folgte ihm seine Tante und fragte:

"Was hat er eigentlich von Dir gewollt?"

"Hallo sagen", meinte Mamoru knapp.

"Auf den Arm nehmen kann ich mich selber!", schnappte Kioku.

"Ja? Das Kunststück will ich sehen", brummte ihr Neffe.

"Nicht hier in der Öffentlichkeit. Das kann ich nachher machen, wenn wir zu Hause sind", spottete sie. "Und jetzt sag mir, was das gerade sollte. Was war das für ein Handschlag?"

Genervt blieb Mamoru wieder stehen und Kioku wäre fast in ihn hineingerannt. Er sah ihr tief in die Augen und wollte eigentlich drohend wirken, aber er war einfach noch zu aufgeregt. Kioku starrte einfach nur einige Herzschläge lang zurück, und bald wandte er betreten den Blick wieder ab und seufzte.

"Bitte, lass das meine Sache sein, ja? Ich finde, ich bin alt genug, Dir nicht mehr alles erzählen zu müssen."

Einige Sekunden lang war es still. Sehr still. Schließlich seufzte auch Kioku, setzte ein warmes Lächeln auf und tätschelte die Schulter ihres Neffen. "Schon Okay. Wenn Du nicht willst, dann musst Du nicht. Aber Du kannst immer zu mir kommen, wenn Du es Dir anders überlegst oder wenn Du in Schwierigkeiten gerätst, ja?"

Er nickte ihr zu. "Gehen wir weiter?"

"Ist gut, Kurzer. Wir haben wirklich genug Zeit vertrödelt."

Wenige Minuten später erreichten sie den Friseursalon. Der Laden setzte weniger auf Moderne, dafür umso mehr auf persönliche Nähe. Er war mit gemütlichen Möbeln eingerichtet, an den Wänden hingen wunderschöne Fotos von Blumen oder von Landschaften und es gab auch nicht sehr viele Sitzplätze, nicht mal ein halbes Dutzend. Mamoru war durchaus Größeres gewohnt. Dieser Salon hatte etwas Persönliches, es fühlte sich schon fast wie ein Zuhause an.

Eine Dame mit kurzen, roten Haaren kam heran und begrüßte Kioku und Mamoru höflich lächelnd. Kioku nannte Mamorus Namen und sagte, er habe einen Termin, worauf die Rothaarige Mamoru zu seinem Platz führte. Er bedankte sich, setzte sich dann hin und sah sich staunend um, während Kioku sich auf einer gemütlich anmutenden Sitzecke niederließ und unverzüglich nach einer der vielen Zeitschriften griff, die auf einem kleinen Couchtisch ausgelegt waren.

Außer Mamoru war nur ein weiterer Kunde anwesend: eine ältere, dickere Frau, die unablässig irgendwas erzählte von ihren Enkelchen, ihrem Hund und dem unverschämten Nachbarn, während ihr die Haare geschnitten wurden.

Mamorus Blicke schweiften weiter durch den Raum und blieben an einem außergewöhnlichen Foto haften. Darauf war eine wunderschöne, rote, geschlossene Rosenblüte zu sehen, die über und über von weißen, glitzernden Eiskristallen überzogen war. Mamoru war absolut fasziniert von diesem Bild. Eigentlich hatte er sich nie sehr viel aus Blumen gemacht, aber diese Rose war so atemberaubend schön und sie wirkte irgendwie sanft und beruhigend auf ihn.

"Gefällt Dir dieses Bild?"

Erschrocken wandte er den Kopf und sah eine bildhübsche, junge Frau neben sich stehen, die einen der typischen Kittel des Salons trug. Ihr blondes, leicht gewelltes Haar war außergewöhnlich lang und es schimmerte golden. Ihre großen, hellblauen Augen ruhten auf Mamoru und musterten ihn amüsiert. Sie mochte Mitte Zwanzig sein, die perfekte Mischung zwischen der funkensprühenden Lebensenergie der Jugend und der Weiblichkeit und Reife einer Erwachsenen. Sie war, wie die Rose auf dem Foto, atemberaubend schön und - es gab kein besseres Wort dafür - perfekt!!!

Irgendwann realisierte Mamoru, dass er diese Frau einfach nur sekundenlang wortlos angestarrt hatte - und sofort bekamen seine Wangen einen deutlichen Rotschimmer.

"Äh, ja! Ähm, ich finde das Foto ganz toll. Es ist... wirklich wunderschön", stammelte er los, einfach um irgendwas zu tun.

Die Frau kicherte amüsiert. "Na, dann wollen wir doch als nächstes mal schauen, was wir für Dich tun können... Mamoru, das ist Dein Name, richtig?"

"Äh, ja, richtig", antwortete er eine Spur zu hastig.

Sie schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln und sagte:

"Mein Name ist Tomoko. Freut mich, Dich kennen zu lernen."

"Die Freude ist ganz meinerseits."

Mamoru erwischte sich dabei, wie er schon wieder diese Frau fasziniert anstarrte. Er hoffte nur inständig, dass sie es nicht bemerkte.

"So", machte Tomoko, entfernte vorsichtig das Haargummi, das - wie immer - Mamorus Frisur zusammengehalten hat und fuhr ihm dann vorsichtig durch die langen Haare. Erst nur grob mit den Fingern, dann mit einer weichen Bürste. Für einen kurzen Moment machte Mamoru die Augen zu und genoss die sanften Berührungen.

"Mamoru, Du hast wunderschöne Haare. Und was soll ich jetzt daraus machen?", erkundigte sich Tomoko.

Mamoru zauberte die Fotos seines Vaters hervor und reichte sie Tomoko.

"Diese Frisur hätte ich gerne."

Einen Moment lang betrachtete Tomoko die Bilder.

"Haargenau diese Frisur?", witzelte sie.

Mamoru lachte. "Ja, haargenau diese Frisur. Aber jetzt sollten wir mit dieser Haarspalterei aufhören. Sonst wird das ganze eine zu haarige Angelegenheit. Meinst Du nicht?"

"Hast ganz schön Haare auf den Zähnen", antwortete sie lachend. "Ist das Dein Vater?"

"Was?" Er sah sie entsetzt an. Die heitere Stimmung war im Nu verflogen.

"Na, das auf dem Foto. Ist das Dein Vater? Ich meine ja nur. Der sieht Dir nämlich verdammt ähnlich", erklärte Tomoko.

"Ähm", machte Mamoru, "nein. Äh, doch. Also... er war mein Vater."

"War?", fragte sie nach.

"Bitte vergiss es einfach", wich er aus. Er seufzte schwer.

Tomoko druckste etwas herum. Dann meinte sie:

"Tut mir Leid, wenn ich zu aufdringlich war."

Mamoru nickte stumm. Tomoko setzte wieder ihr Lächeln auf, obwohl es diesmal so antrainiert und kühl wirkte. "So, als erstes werde ich Deine Haare mal waschen. Folge mir bitte."

Vor einem niederen Waschbecken ließ sich Mamoru in einen weichen Ledersessel fallen.

Es tat ihm gut, sich einfach mal zurückzulehnen, das warme Wasser auf seinem Kopf und die sanfte Massage zu spüren, die Tomoko ihm gab während sie seine Haare wusch.

Schon bald war sein Anflug von Traurigkeit verflogen und er konzentrierte sich ganz darauf, die angenehmen Berührungen zu genießen. Überhaupt, was hätte es gebracht, jetzt darüber nachzusinnen, wie einsam sich Mamoru fühlte, seit er seine Eltern und sein Gedächtnis verloren hatte?

Ein angenehmes Gefühl von Wärme breitete sich in seinem Körper aus, und er begann schläfrig zu werden. Seine Glieder wurden so schwer und er musste schon richtiggehend darum kämpfen, nicht einzuschlafen.

"Mamoru?"

Er zuckte zusammen. "Was? Ja?", fragte er.

"Entschuldige, ich wollte Dich nicht erschrecken. Wie ist die Wassertemperatur? Angenehm?"

"Ja, ist gut so", antwortete er. Immerhin war er jetzt wieder wach. Er atmete tief durch.

"Bist Du Dir sicher, dass Du die Haare so extrem kurz haben möchtest?", erkundigte sich Tomoko.

"Klar, wieso nicht?", meinte er.

"Ich meine ja nur. Du hast so lange Haare, bestimmt lässt Du sie schon seit einigen Jahren wachsen, hab ich Recht? Und da ist es eine große Umstellung, auf einmal so kurze Haare zu haben", erklärte sie.

"So kurz kommt mir das alles gar nicht vor", erwiderte er nachdenklich.

"Ich meine, im Vergleich zur jetzigen Länge ist diese Frisur, die Du mir auf dem Foto gezeigt hast, ziemlich kurz", erläuterte sie.

"Trotzdem", meinte er bestimmt, "ich will es genau so. Und keinen Millimeter Abweichung!"

"Okay", antwortete sie darauf, "dann bin ich mal gespannt, wie es hinterher aussieht."

<Ich auch.>

Nach dem Waschen trocknete Tomoko kurz seine Haare an und setzte ihn wieder auf den Stuhl, auf dem er schon zu Anfang gesessen hatte. Sie legte ihm eine Art Kittel um, der seine Kleider vor den abgeschnittenen Haaren schützte.

Und dann nahm sie endlich die Schere zur Hand.

Mamoru fühlte sich so wahnsinnig wohl und behaglich unter ihren Berührungen. Zum einen war er natürlich aufgeregt und neugierig; er wollte unbedingt so schnell wie möglich das Endergebnis sehen. Zum andren aber genoss er die Anwesenheit dieser bezaubernden Frau, die Sanftheit und Ruhe, die von ihr ausgingen und die sanften Bewegungen ihrer Finger, mit denen sie unablässig durch seine Haare fuhr. Immer mal wieder griff sie vorsichtig an sein Kinn, um die Haltung seines Kopfes an ihre Arbeit anzupassen.

Schon bald begann zwischen den Beiden der Smalltalk. Man erzählte sich dies oder jenes. Mit wachsender Begeisterung beobachtete Mamoru die Veränderungen, die ihm sein Spiegelbild zeigte. Doch nicht nur seine Frisur hatte er im Blick, oh nein! Er beobachtete gebannt jede einzelne Bewegung Tomokos. Nicht ein Zucken entging ihm. Sie erledigte ihre Arbeit flink und mit wahnsinnigem Geschick - zugleich war sie vorsichtig und einfach nur ... wie konnte man das beschreiben? ... liebreizend.

Eine angenehme Wärme durchströmte Mamorus Körper. Trotz der fremden Umgebung fühlte er sich außerordentlich wohl und geborgen. Immer öfter wurde seine Fähigkeit, logisch zu denken, ausgeschaltet. Stattdessen fühlte er eine unglaubliche Anziehung zu diesem blonden Busenwunder mit diesen schönen, vollen Lippen. Die langen, tiefschwarzen Wimpern verdeckten fast unablässig den Blick in ihre atemberaubenden, hellblauen Augen, und dennoch glaubte Mamoru, dass sie immer wieder einen verführerischen Blick auf sein Spiegelbild warf.

Er bekam nur noch so halb mit, dass er auf ihre Fragen etwas antwortete, aber er hätte schon längst nicht mehr zu sagen gewusst, was genau er da sagte. Er fühlte sich wie unter einem Zauberbann gefangen - einem sehr angenehmen Zauberbann. Es war ein unglaubliches Gefühl der Nähe und der Zärtlichkeit.

Und sein Körper reagierte darauf.

Heftig.

Seine ausgebeulte Hose wurde nur von dem langen Kittel verdeckt, der bis zu den Knien hinunter reichte und auf dem hier und da ein paar Haarbüschel lagen.

Mamoru focht einen harten Kampf aus zwischen seinem Verstand, der darauf aus war, seine Erregung um jeden Preis geheim zu halten, und seinem Körper, der schier nach diesem Prachtexemplar der Weiblichkeit schrie. Und so langsam sah es nach einer Niederlage für den Verstand aus. Sieg für das zweite Gehirn knapp unter der Gürtellinie durch Knock-out.

Seine Hände hielt er unter dem Kittel. Doch entgegen allem Anschein hatte er sie nicht einfach ruhig daliegen - nein! Sie krallten sich in den Seiten seiner Jeans ein. Er spannte seine sämtlichen Muskeln an, in der Hoffnung, sich auf diese Art und Weise unter Kontrolle halten zu können. Eine zeitlang schien diese Methode sogar vielversprechend.

Doch zu oft trügt der Schein.

Mamoru bemühte sich darum, ruhig zu atmen. Doch wem könnte etwas Derartiges leicht fallen - mit einer wunderschönen Frau in unmittelbarer Nähe, die einem unablässig durch die Haare fährt und dabei eine Frage nach der anderen stellt? Und er konnte weder irgendwas antworten, noch die Fragen unbeantwortet lassen. Ihm fiel es schwer, so unendlich schwer, sich auf die Unterhaltung und auf seine Körperfunktionen gleichzeitig zu konzentrieren. Sein Spiegelbild verriet ihm, dass seine Wangen bereits einen kräftigen, roten Farbton angenommen hatten. Noch dazu begannen seine Muskeln allmählich, leicht zu zittern; teils vor Anstrengung, teils vor Erregung. Und teilweise aufgrund einer gewissen Vorfreude. Die Vorfreude auf Befriedigung und Ekstase. Ein uralter Instinkt, der existiert hatte, lange bevor das moralische Denken da gewesen war. Und der noch heute nichts von seiner Stärke und seiner ungezügelten Macht verloren hatte.

Mit letzter, verbliebener Konzentration zwang sich Mamoru dazu, den Rhythmus seiner Atmung zu kontrollieren. Sein Spiegelbild interessierte ihn schon lange nicht mehr. Er sah nur noch sie; sie, wie sie beim Sprechen und beim Lächeln die Lippen bewegte; sie, wie sie mit den langen, schlanken Fingern durch seine immer kürzer werdende Frisur fuhr; sie, wie sie ein- und ausatmete und dabei das pure Leben und die heiße Lust im Raum verströmte. Er konnte den Blick nicht mehr von ihrem Spiegelbild abwenden. Er war ein Sklave seines Verlangens geworden.

Und dann...

Wie aus unendlich weiter Ferne drang die Stimme der anderen Friseurin an sein Ohr:

"Tomoko? Ich kann hier beim besten Willen nicht weg. Kannst Du grad ans Telefon gehen, bitte?"

Und durch das wilde, laute Rauschen in seinen Ohren hörte er Tomoko, die ihre Lippen nah an sein Ohr gebracht hatte:

"Macht es Dir was aus, kurz zu warten?"

Unter großer Kraftanstrengung brachte er zuerst ein Lächeln, dann ein Nicken zustande und antwortete:

"Geh ruhig. Ich werde Dir nicht weglaufen."

Sie nickte ihm zu und verschwand darauf in einem Nebenzimmer, woraufhin das Klingeln des Telefons verstummte.

<Oh, nein. Dir werde ich ganz bestimmt nicht weglaufen.>

Er warf einen kurzen, prüfenden Blick zu seiner Tante, die den Eindruck machte, als sei ihre Nase in dieser einen Zeitschrift festgeklebt. Nicht ein einziges Mal hob sie ihren Blick aus dem Heft. Doch daran störte sich Mamoru nicht.

Er lehnte sich in den gemütlichen Stuhl zurück und biss sich auf die Unterlippe, immer noch in den Kampf gegen sich selbst vertieft. Sein Atem ging ungleichmäßig und stockend. Er zwang sich dazu, durch die Nase zu atmen, um erst gar nicht in die Verlegenheit zu kommen, in lustvolles Stöhnen zu verfallen. Sein Herz jagte wild in seiner Brust und in seinem Geiste war er längst an einem ganz anderen Ort. Bei ihr. Bei dieser einzigartigen Frau.

Er krallte seine Finger in der Jeans fest, bis die Fingerspitzen weiß wurden und zu schmerzen begannen. Ein angenehmes, leichtes Pulsieren im Takt seines Herzschlages durchfuhr seinen Körper. Eine wohlige Wärme vernebelte all seine Sinne.

Und dann wurde Mamorus Gefühlswelt nur noch von einer Emotion beherrscht:

der Empfindung des höchsten Glücks.

Er schaffte es doch tatsächlich, irgendwie das übermächtige Verlangen seines Körpers zu stillen, ohne dabei verräterische Laute von sich gegeben oder sonst wie Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben. Es war so was wie ein kleines Wunder, fand zumindest Mamoru, als er sich wieder einigermaßen im Griff hatte. Allmählich beruhigte er sich wieder.

Als Tomoko zurückkam, hatte sich seine Atmung weitestgehend wieder normalisiert; nur seine Wangen hatten immer noch einen rosa Touch. Doch davon schien sie nicht im Geringsten etwas mitbekommen zu haben. Sie entschuldigte sich, dass es so lange gedauert hatte, griff dann wieder zu ihrem Schneidewerkzeug und strebte der raschen Vollendung ihrer Arbeit entgegen.

Schon bald darauf warf Tomoko einen kritischen Blick auf ihr Werk. Sie betrachtete abwechselnd ihren Kunden und das Foto, das als Modell gedient hatte. Schließlich nickte sie zufrieden, reichte Mamoru das Bild und fragte:

"Was sagst Du? Ist das so in Ordnung?"

Mamoru glich das Foto mit seinem Spiegelbild ab - und nickte begeistert. "Das hast Du wirklich klasse hinbekommen. Absolute Spitze!"

"Freut mich, dass es Dir gefällt", meinte Tomoko und strahlte glückselig.

<Und wie es mir hier gefällt! Diesen Service werde ich noch öfter in Anspruch nehmen!>

Tomoko befreite ihn vom Kittel und begann damit, das riesige Büschel Haare aufzuräumen, das nun auf dem Boden lag.

"Na, wie fühlst Du Dich?", erkundigte sie sich währenddessen, "Ist schon ganz anders, stimmt's?"

Er nickte bestätigend und fuhr sich durch die kurzen Haare - immer und immer wieder. Es war ein eigenartiges Empfinden, wenn auch nicht unangenehm. Grinsend schlenderte er zu seiner Tante, baute sich vor ihr auf und tippte gegen die Zeitschrift. "Jemand zu Hause?"

"Siehst Du nicht, dass ich grade weg bin?", witzelte Kioku, senkte endlich das Magazin, sah lächelnd zu Mamoru hoch - und erstarrte. Langsam, richtiggehend zögerlich stand sie auf und begann, Mamoru von allen Seiten zu mustern. Es war Mamoru in diesem Moment völlig unmöglich, die Gefühle in ihrem Blick zu lesen. Ihre Augen waren von scheinbar vielen verschiedenen Gefühlen gleichzeitig erfüllt: Erstaunen, Bewunderung, Gefallen; doch zur gleichen Zeit Trauer und aus der Tiefe der Seele stammender Schmerz.

"Weißt Du was?", flüsterte sie, "Du bist Keibi wie aus dem Gesicht geschnitten. Ein perfektes Ebenbild! Es fehlt nicht mehr viel - Du müsstest noch etwas wachsen und einfach nur etwas älter werden. Aber sonst ... Du sieht ganz genau so aus, wie Dein Vater! Oh, Mamoru! ... Mamoru..."

Vorsichtig, fast andächtig strich sie über sein Gesicht und für einen Moment glaubte Mamoru, Tränen in ihren Augenwinkeln zu sehen. Doch urplötzlich lächelte sie. "Du siehst ganz toll aus, mein Junge. Wirklich ganz toll. Mir fehlen die Worte."

"Wow. Wenn Dir mal die Worte fehlen, dann heißt das was!", antwortete Mamoru erstaunt. Dann lächelte er unendlich glücklich und streichelte seine Tante leicht über die Wange.

Kioku wandte sich daraufhin Tomoko zu und bedankte sich für die großartige Leistung, die diese vollbracht hatte. Sie bezahlte, dann hakte sie sich bei Mamoru unter und beide gingen.

"Na, mein Kurzer, hat's Dir gefallen?"

Mamoru nickte begeistert. "Jetzt noch Sauna, Whirlpool und Massage und ich bin zufrieden", witzelte er.

Kioku lachte leise und fuhr ihm durch die Haare. "Du siehst großartig aus, Kleiner!"

"Tante Kioku? Hier gehen wir von nun an öfter hin, nicht wahr?", seufzte Mamoru und warf einen fast sehnsüchtigen Blick über die Schulter.

"Nun mach mal langsam", mahnte sie. "Ich hab gerade gutes Geld für Dich hingelegt, und Deine Haare sind jetzt wirklich kurz genug."

"Ich meine ja nur", antwortete er grinsend.

Er lief zum nächstbesten Schaufenster und blickte hinein. Verwundert blieb Kioku stehen und sah sich den Laden an. "Was willst Du denn in einem Feinkostgeschäft?"

"Nichts", antwortete er, "ich bewundere nur gerade mein Spiegelbild im Schaufenster."

Seufzend schüttelte Kioku den Kopf.

Die Prozedur wiederholte er an jedem Schaufenster, das einigermaßen spiegelte. Wie auf einer Modenschau drehte und wendete er sich und lächelte dabei vergnügt.

Bald wurde es Kioku zu bunt. So laut, dass er es auf jeden Fall hat hören müssen schimpfte sie: "Männer!"

Doch er antwortete darauf nur mit einem Grinsen. Sie packte ihn am Arm und zog ihn weiter.

"Hey, was soll das?"

"Ich will hier keine Wurzeln schlagen", erklärte sie.

"Man schlägt aber auch keine Wurzeln", belehrte Mamoru, "das sind Lebewesen wie Du und ich! Die haben auch Gefühle!"

"Scherzkeks!"

Bald schon kamen sie an dem Buchladen vorbei, wo Mamoru auf Chikara getroffen war. Schlagartig verging Mamoru die gute Laune.

<Was hat Chikara bloß mit mir vor? Wenn der mich tatsächlich morgen als Sandsack benutzen will, bin ich geliefert. Ich kann mich einsargen lassen. Was für eine Chance hab ich denn groß gegen ihn?>

Grübelnd lief er einfach weiter neben Kioku her und tat so, als würde er konzentriert zuhören, was sie schon wieder zu tratschen hatte.

<Ich kann aber unmöglich irgendwem von seiner Drohung erzählen. Noch hat er ja nichts angestellt. Und wenn es vorbei ist, dann bin ich schon tot.>

Er warf einen kurzen Blick auf Kioku. Was würde sie wohl tun, wenn ihm tatsächlich ernstlich was passieren würde?

<Vielleicht... vielleicht wäre es besser, ich würde mir einfach kein Kopfzerbrechen darüber machen. Ich sollte einfach leben, solange ich es noch kann. Ja!>

Er lächelte. Irgendwie würde schon alles gut gehen.

"Hörst Du mir überhaupt zu?", fragte Kioku gerade.

"Natürlich tu ich das", behauptete er dreist.

"Und was habe ich gerade gesagt?"

"Du hast gefragt, ob ich Dir zuhören würde."

"Drecksack!"

Mamoru lachte. Er wusste ja, wie es gemeint war. Er drückte ihr ein Küsschen auf die Wange und grinste sie herausfordernd an. Sie grinste schnippisch zurück. So war das zwischen den beiden. Und das war gut so.
 

Des Abends saß Mamoru gemütlich mit Kioku im Wohnzimmer und unterhielt sich mit ihr, eine dampfende Tasse heißen Tees in der Hand haltend. Das Radio lief ruhig im Hintergrund, und die Atmosphäre war sehr entspannt. Und dann hörte Mamoru zuerst ein kratzendes Geräusch, dann ein metallisches Klicken, und dann das Geräusch, das entsteht, wenn jemand leise die Haustür schließt. Onkel Seigi kam nach Hause.

"Na los, geh schon und präsentier Dich ihm", schlug Kioku vor.

"Nöh", meinte Mamoru, "bin zu faul. Soll er doch herkommen."

Er stellte seine Tasse ab und wartete ungeduldig darauf, dass Seigi endlich im Wohnzimmer erschien. Er hörte schon die Stimme seines Onkels, als dieser noch im Flur war:

"Bin wieder zu Hause! Wo seid ihr denn alle?"

Er kam lächelnd durch die Tür ins Zimmer getreten. "Ah, da seid..."

Seigi stockte und sah Mamoru an, der sich grinsend aus seinem Sessel erhoben hatte. Er starrte seinen Neffen an und wurde dabei weiß wie die Wand. Achtlos ließ er seine Aktenmappe einfach auf den Boden fallen und schlug sich die Hände vor den Mund. Tränen verschleierten seinen Blick.

"Keibi", flüsterte er tonlos, "das kann nicht sein!"

Er schüttelte ungläubig den Kopf und lief langsam rückwärts bis die Wand ihm ein jähes Ende setzte. "Keibi!", wisperte er immer wieder heiser.

Mit besorgtem Blick kam Mamoru langsam immer näher. "Onkel Seigi? Ich bin es, Mamoru! Erkennst Du mich denn nicht? Onkel Seigi! Beruhig Dich!"

"Du...", stotterte er, "Du... Du... Mamoru?"

Seigi rutschte mit dem Rücken an der Wand entlang, setzte sich kraftlos auf den Boden und begann leise zu schluchzen.

Mamoru ging zu ihm und nahm ihn in den Arm. Auch Kioku kam nun angelaufen und legte tröstend die Hand auf die Schulter ihres Mannes.

"Ich... ich dachte...", stotterte er, "ich dachte, ich... hätte... Dich wieder, Keibi! Oh, Keibi! Ich vermisse... Dich so!"

Dann wischte er sich über die Augen und die Wangen und versuchte, Mamoru ein Lächeln zu schenken, aber es endete eher kläglich.

"Mamoru, Du siehst genauso aus, wie mein großer Bruder."

Mamoru nickte. "Ja, ganz offensichtlich. Tut mir Leid, ich wollte Dich nicht erschrecken. Ich wollte Dich überraschen. Ich hätte..." Er zögerte kurz, um nach den richtigen Worten zu suchen. "Ich hätte niemals gedacht, dass Du so reagieren würdest. Aber ich hätte es mir eigentlich denken können. Bitte verzeih mir!"

Noch einmal wischte sich Seigi über die Wangen und dann lag diesmal wirklich eine freundliche Wärme in seinem Lächeln. Stolz erfüllte seinen Blick. Er stand endlich vom Boden auf und umarmte seinen Neffen.

"Du brauchst Dich nicht zu entschuldigen", entgegnete Seigi. "Ich war dumm. Wie hätte ich glauben können, dass er wirklich wieder hier sein könnte?"

"Das war nicht dumm", erwiderte Mamoru bestimmt und fuhr seinem Onkel tröstend über den Rücken. "Es war nur menschlich. Aber..."

Auch Mamoru stiegen jetzt langsam Tränen in die Augen. "Papa ist ... nicht wirklich ... weg. Er lebt weiter. In Dir. Und in mir. Ich bin für Dich da. Ich lass Dich nicht allein, Onkel Seigi."

Seigi löste die Umarmung. Voller Liebe, neu geschöpfter Hoffnung und Dankbarkeit blickte er seinen Neffen an. Dann nickte er.

"Ich weiß."

Ein wenig verloren stand Mamoru auf dem Campus der Moto-Azabu-Oberschule. Andere Schüler gingen an ihm vorbei, lachend, redend, sich streitend. Er ignorierte sie. Ihn quälte momentan nur ein Gedanke:

<Was erwartet mich heute?>

Er hatte nicht vergessen, was Chikara ihm gestern gesagt hatte. Er würde jetzt wahrscheinlich sehnsüchtig auf Mamoru warten. Vermutlich würde seine Rache furchtbar sein, nachdem Mamoru ihn immerhin erpresst hatte.

Nach einem schweren Seufzer fuhr sich Mamoru durch die schwarzen, kurzen Haare, an die er sich noch immer nicht recht gewöhnt hatte. Er warf, wie schon so oft in den letzten Augenblicken, erneut einen Blick auf die riesige Uhr, die hoch oben am Hauptgebäude befestigt war. Ihm blieben noch einige Minuten, und er müsste sich nicht mal beeilen, aber er bewegte sich dennoch keinen Millimeter.

Er steckte die Hände in die Taschen seines Jacketts und zog den Kopf ein, als ein eisiger Wind um seine Ohren pfiff. Inzwischen war es Freitag der 1. März, aber saukalt war es nichtsdestotrotz. Er wäre zwar lieber hier draußen stehen geblieben und erfroren, als das Gebäude zu betreten und Chikara in die Arme zu laufen, aber was hatte er denn groß für eine Wahl?

Er wusste genau, dass er sich langsam mal in Bewegung setzen sollte - oh, ja! - er wusste es. Aber sein Unterbewusstsein fand hunderttausend plausible Gründe, es nicht zu tun. Und einer dieser plausiblen Gründe war dieser kleine, eigentlich bedeutungslose, uralte Einkaufszettel, den er in der Tasche seines Jacketts fand, und den er unbedingt noch in den Mülleimer werfen musste, bevor er das Schulgebäude würde betreten können. Das war lebensnotwendig! Zumindest gaukelte ihm das sein Unterbewusstsein vor...

Also ließ er seine Blicke über den Schulhof wandern. Er war von Mülleimern nur so umringt - aber natürlich wählte er den aus, der am weitesten von ihm entfernt lag. So schlenderte er also endlich gemächlich los. Bei dieser Gelegenheit wurde er gleich noch ein paar Fusselchen und Stäubchen los, die er umständlich von seiner Uniform entfernte. Besser so.

Er seufzte mal wieder und fuhr sich zum hundertsten Mal durch die Haare, die einfach nicht richtig liegen bleiben wollten. Besonders eine Strähne ging ihm auf den Keks, die außerordentlich störrisch gen Himmel ragte, statt wie der Rest vom Pony einfach an der Stirn herab zu hängen. Doch er glaubte sich schwach daran erinnern zu können, dass eine ebensolche Strähne auch auf sämtlichen Fotos seines Vaters zu sehen war und dessen Gesicht eine gewisse Einzigartigkeit verliehen hatte. Anscheinend hatte Mamoru selbst das geerbt.

Missmutig wandte er sich zum Gehen um. Länger konnte er unmöglich aufschieben, was kommen musste: die Schulstunde und somit das Treffen mit Chikara. Er lief einige Schritte und hörte dann dieses klatschende Geräusch.

<Hmmm, ein weiterer guter Grund, um die Zeit hier draußen etwas in die Länge zu ziehen?>

Neugierig drehte er den Kopf in die Richtung, in der er das Geräusch vermutete, und tatsächlich! Da stand ein Kerl, vielleicht nur etwas jünger als Mamoru, der sich die Wange hielt und den Blick auf ein Mädchen verdeckte, die schräg hinter ihm stand und deren Hand vom Schwung immer noch durch die Luft segelte.

Mamoru grinste schadenfreudig. <Hat der Kleine Ärger mit seiner Freundin?>

Der Kerl fing an, wie ein Rohrspatz zu schimpfen. Irgendwas von wegen "bist Du übergeschnappt?" und "Du hast sie wohl nicht mehr alle!?"

Dann trat er einen großen Schritt zur Seite und gab endlich den Blick auf seine vermeintliche Freundin frei - und Mamoru lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Da stand Hikari und wehrte sich nach Kräften gegen diesen Typen, der sie trotz der Ohrfeige einfach nicht in Ruhe lassen konnte. Im Gegenteil - sie schien ihn dadurch nur noch mehr aufgestachelt zu haben. Wusste dieser lebensmüde Kerl denn nicht, mit wem sie ging? Und überhaupt! Wo ist Chikara, wenn man ihn mal ausnahmsweise brauchen kann?

Da half nichts, Mamoru musste selber ran und seiner Angebeteten helfen. Dieser Halbstarke da vorne war ihm so oder so kein Problem, den konnte Mamoru noch mit geschlossenen Augen erledigen. Niemand durfte sich ihr nähern, geschweige denn, sie auch nur berühren! So wahr Mamoru ... einfach nur dastand und lächelnd ihre Schönheit bewunderte. Selbst wenn sie so wütend war, wirkte Hikari immer noch so unendlich süß und zart...

Mamoru schüttelte kräftig den Kopf und versuchte, seine Gedanken zu vertreiben. Hikari brauchte seine Hilfe! Achtlos ließ er den Schulranzen fallen und zog sein Jackett aus, rannte dann auf diesen Wichtigtuer zu, der es schon wieder wagte, Hikari zu nahe zu treten, machte einen gewaltigen Hechtsprung auf diesen dreisten Typ und riss ihn meterweit mit sich. Der Kerl wusste noch gar nicht, wie ihm geschah, da wurde er schon an den Jackenaufschlägen gepackt, mit Wucht gegen den nächstbesten Baum gedrückt und von einem finster dreinblickenden Mamoru angestarrt.

"Was zum Teufel willst Du hier?", knurrte er böse.

Der Andere wurde bleich im Gesicht, sah abwechselnd Mamoru und Hikari an und schluckte heftig.

"Rede endlich, Du Mikrobenhirn! Ich hab nicht alle Zeit der Welt!", schnauzte Mamoru den immer blasser werdenden Jungen an, der vor Schreck völlig vergessen hatte, sich zu wehren.

"N- ... n- ... nichts ... e- echt ... gar nichts...", stotterte der Kerl hilflos. "I- ... ich w- ... wusst nich, dass D- ... Du schon i- ... ihr Fr- ... Freund bi- ... bi- ... bist..."

"Ach, verschwinde, Du Stück Dreck!"

Mamoru versetzte dem zitternden Häuflein Elend einen heftigen Stoß, und als der Typ sein Gleichgewicht wieder gefunden hatte, rannte er los, als sei der Leibhaftige hinter ihm her.

Tief durchatmend versuchte Mamoru, sich wieder zu sammeln. Sofort meldete sich sein Gewissen und tat empört kund, dass er sich total daneben benommen hatte. Doch schon zwei Sekunden später obsiegte der Gedanke:

<Wau! Dem Kerl hab ich's aber gegeben! Der macht sich so schnell nicht mehr an sie ran!>

Ach ja, da war doch was...

Mamoru drehte sich herum, hob Hikaris Tasche auf, reichte sie ihr und fragte:

"Hat der Dir irgendwas getan?"

Sie nahm die Tasche entgegen und antwortete:

"Nöh, Du bist gerade noch rechtzeitig gekommen. Danke, Mann. Der Typ is mir vielleicht auf die Nerven..."

Weiter sprach sie nicht. Denn in genau diesem Moment realisierte sie erst, wen sie da vor sich hatte.

"Mamoru? Bist Du das?"

Er grinste.

"Der und kein andrer. Zu Diensten."

Hikari musterte ihn von oben bis unten, blieb dann mit den Augen an seinem Kopf haften, lief einmal um ihn herum, starrte ihn noch einige Sekunden grübelnd an und lächelte schließlich.

"Wow, Du siehst toll aus! Kommst mir gleich viel erwachsener vor, weißt Du das?"

"Was? Wirklich?"

Hikari nickte bestätigend. Dabei fielen ihr einige Strähnen in ihr wunderschönes Gesicht, die sie sich mit den zierlichen, langen, schlanken Fingern wieder zur Seite strich.

Fast schon gierig beobachtete Mamoru jede einzelne ihrer Bewegungen und freute sich dabei wie ein Schneekönig. Er konnte es absolut nicht fassen, er wirkte erwachsener!!! Und er sah toll aus!!! Der pure Wahnsinn!

Mit stolzgeschwelgter Brust stand er da und strahlte. Ganz kurz, nur für einen klitzekleinen Augenblick, wurde er sich bewusst, dass er sich jetzt gerade genau so benahm, wie es Chikara sonst immer tat. Und er bemerkte, dass ihm dieser Gedanke so ganz und gar nicht gefiel. Aber nur ganz kurz. Dann war sein Gehirn wieder ganz woanders.

Bei ihr.

Wo sonst?

Er ging, um sein Jackett und seinen Schulranzen wieder zu holen. Hikari begleitete ihn.

"Warte", sagte sie, "Du hast da was."

Gehorsam blieb er stehen und Hikari fuhr ihm immer wieder über den Rücken, wo etwas Schmutz klebte. Mamoru war bei der kleinen <Meinungsverschiedenheit> von vorhin zusammen mit seinem Gegner über den Boden gerollt und hatte sich dabei natürlich etwas Dreck eingefangen. Eine schier unnatürliche Hitze schien von ihren Fingern auszugehen und sich durch seinen Rücken hindurch im ganzen Körper auszubreiten. So was nannte der Poet wahrscheinlich <ungezügelte Flammen der Leidenschaft> oder so ähnlich. Jedenfalls genoss Mamoru jede einzelne Berührung ihrerseits.

Er konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen. Er wandte seinen Kopf zu ihrem um und blickte in die scheinbar unendlichen Tiefen ihrer intensiv smaragdfarbenen Augen. Ihre Augen richteten sich auf seine und blieben an ihnen haften. Es war unmöglich für Mamoru, in ihrem Blick zu lesen. Vielleicht zeigten sie Interesse, vielleicht Verwirrung, vielleicht wollte sie ihn aber nur wieder um den Finger wickeln, wie sie es schon so oft geschafft hatte. Mamoru spürte eine gewisse Spannung zwischen sich und Hikari. Es war fast, als könne sie bis in die tiefsten Geheimnisse seiner Seele sehen, nur indem sie durch seine lapislazulifarbenen Augen blickte wie durch perfekt geschliffene, dunkelblau schimmernde Kristalle.

Mamoru fühlte sich von diesem Blick wie magisch angezogen und Ewigkeiten schienen in Sekunden zu vergehen.

"Hikari...", flüsterte er tonlos.

"Ja?", wisperte sie zurück.

"Ich... ich denke...", stotterte er.

"Scht ... ich weiß, was Du denkst. Ich denke das Gleiche."

"Wirklich?", fragte er ungläubig nach.

Sie nickte.

"Ja", sagte sie, "ich denke auch ... dass wir uns langsam mal beeilen sollten. Sonst fängt der Unterricht noch ohne uns an."

"Hä? Was?" Mamoru musste erst aus seiner kleinen Traumwelt aufwachen, um realisieren zu können, was sie überhaupt gerade gesagt hatte. Sein Blick wanderte hinauf zur großen Uhr, die seelenruhig vor sich hin tickte und gnadenlos die kostbare Zeit der Zweisamkeit verstreichen ließ.

"Oh, ver..." Er ließ den Fluch allerdings unvollendet. Stattdessen sammelte er endlich Ranzen und Jacke auf, klopfte beides vom Staub frei, wandte sich dann zu Hikari um und bot an, ihr die Tasche zu tragen. Sie nahm sein Angebot an, indem sie sich mit einem zauberhaften Lächeln bedankte.

Endlich gingen sie los. Und das gerade pünktlich. Denn auf die Sekunde genau zum Klingeln der Schulglocke schritten die beiden ins Klassenzimmer. Oder vielmehr: Mamoru machte einen höflichen Knicks und ließ die Dame zuerst eintreten. Und nur Sekundenbruchteile später wurde er von einem mürrisch dreinblickenden Chikara begrüßt.

"Was soll das denn werden, wenn's fertig ist, Saftsack?"

Darauf grinste Mamoru nur herausfordernd und antwortete:

"Der Saftsack hat nur gerade Deiner kleinen Schnecke den Arsch gerettet, weiter nichts. Die Einzelheiten wird sie Dir bestimmt mit Freuden verklickern."

Darauf drückte Mamoru seinem perplex keuchenden Gegenüber Hikaris Tasche in den Bauch - natürlich mit viel mehr Wucht, als nötig gewesen wäre - ließ ihn dann eiskalt stehen, ging nach hinten zu seinem Platz und setzte sich neben Motoki, der ihn nur aus unnatürlich geweiteten Augen anstarrte.

"Wer bist Du?", fragte sein blonder Freund ungläubig, "Und was hast Du mit Mamoru gemacht? Raus damit, von welchem Planeten kommst Du?"

Darauf grinste ihn Mamoru frech an. "Vom Planeten der selbstherrlichen, gutaussehenden Machos. Und Du?"

"Ich - kann - das - nicht - glauben!", keuchte Motoki atemlos, "Das ist unfassbar! Mamoru? Bist Du das wirklich? Himmel! Welche gute Fee ist Dir im Schlaf begegnet? Die will ich auch haben!"

Abschätzend musterte Mamoru seinen Freund.

"Ja", meinte er schließlich, "Du hättest es echt nötig."

"Und Dein Sarkasmustank ist auch aufgefüllt, wie ich sehe", brummte Motoki, aber sofort darauf grinste er wieder von einem Ohr zum andren. "Mamoru, was ist bloß mit Dir passiert? Ich muss alles wissen! Alles! Aber..." Er blickte sich um wie ein Spion, der sichergehen wollte, nicht von den Feinden belauscht zu werden. Dann lehnte er sich zu Mamoru rüber und flüsterte:

"...aber nicht hier, und nicht jetzt. Ein paar Kumpels und ich, wir wollen uns heute Abend treffen und zusammen ins <Jugend Rockt> gehen, um mal ein wenig abzuspannen. Morgen ist ja eh Samstag. Also, kommst Du mit?"

Erwartungsvoll sah er in Mamorus dunkelblaue Augen. Dieser nickte begeistert.

"Und wann?"

<Meine Fresse, wie kann es Anfang März nur immer noch so arschkalt sein?>, fragte sich Mamoru. Er fluchte leise vor sich hin und vergrub seine Fäuste noch etwas tiefer in den Jackentaschen. Er fror erbärmlich. Noch dazu war die Sonne erst vor kurzem untergegangen und schon sehr bald würde die Temperatur weiter fallen. Schon jetzt glaubte Mamoru, die Kälte sei wie eine Armee von Mehlwürmern durch sein Fleisch hindurch bis in seine Knochen gekrochen. Aber bis ins Café <Jugend Rockt> war es nicht mehr weit, vielleicht nur noch ein Fußmarsch von wenigen Minuten.

Der Wind spielte mit einem einzelnen Stückchen Papier herum, riss es in die Luft, ließ es wieder sinken und schleuderte es erneut gen Himmel, gerade noch bevor es den Boden hätte berühren können.

<So fühle ich mich auch>, stellte Mamoru fest. <So hin und her gerissen. Mal geht es auf, mal geht es ab, und dazwischen liegt nur das reinste Chaos. Ein Gefühlschaos. Ich weiß bald nicht mehr, wo mir der Kopf steht.>

Hikari war süß, so unendlich süß. So attraktiv. So wunderschön. Und vor allem so begehrt. Dieser komische Typ von heute Morgen...

Mamoru schüttelte den Kopf. Irgendwie verstand er sich selbst nicht mehr. Er konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man Schwächeren gegenüber grundlos brutal wurde. Und nun war er seinem eigenen Prinzip nicht mehr treu. Kämpfen hatte er nur zur Selbstverteidigung gelernt, und nicht zum Angriff. Das war eine der ersten Regeln gewesen, die er als Karatekämpfer hatte lernen müssen, und er hatte diese Regel mehr als alles andere im Herzen getragen.

Kampfkunst. Das Wort sagte es ja schon. Kämpfen war eine Kunst, und mehr als bloß sinnloses Gemetzel.

Vielleicht sah er das alles aber auch etwas zu hart? Es war im Grunde gar kein richtiger Kampf gewesen. Der Kerl hatte ja nicht mal einen Kratzer davongetragen.

Oder doch?

Selbst wenn! Was machte denn ein Kratzer?

Trotzdem war es nicht richtig...

Wieso war Mamoru überhaupt so aus der Haut gefahren? Hikari scherte sich nicht mal die Bohne um ihn! Was kümmerte es ihn also, wenn sie in der Klemme steckte?

...Aber sie hatte ihn so unendlich süß angelächelt, weil er ihr doch geholfen hatte...

Na und? Was bedeutete schon ein Lächeln?

...Selbst, wenn es ein so unendlich süßes Lächeln gewesen war...

Für einen kurzen Moment schloss Mamoru die Augen und träumte vor sich hin. Er erinnerte sich noch ganz genau an ihr vor Dankbarkeit blühendes Lächeln. An die tiefgrünen Augen, die ihn angefunkelt hatten, als strahlten sie durch ein zauberhaftes Licht von innen heraus. An die nachtschwarze Haarsträhne, die sie mit unbeschreiblichem Liebreiz aus dem perfekten Gesicht gestrichen hatte...

Völlig in Gedanken versunken lief er weiter. Bis seine Wanderung ins Reich der Träume ein jähes Ende fand. An einer Straßenlaterne.

"AU!!!"

Mamoru rieb sich knurrend die Stirn und schwor sich, in Zukunft nur noch mit offenen Augen zu träumen.

Liebe macht blind.

Quod erat demonstrandum.

Doch schon bald vergaß er den Schmerz in seiner Stirn und versank wieder in seinen Grübeleien. Denn entgegen aller Erwartungen hatte Chikara ihn an diesem Tage nicht umgebracht. Mamoru fühlte sich sogar ausgesprochen lebendig und gut gelaunt. Chikara war heute irgendwie ... seltsam gewesen. Anstatt Mamoru mit Beleidigungen und tausend Gemeinheiten zu überschütten, hatte er ihn völlig ignoriert. Dieses Ignorieren war nicht nur ein Akt des in-Ruhe-lassens gewesen, sondern mehr noch: Er hatte so getan, als sei Mamoru Luft, oder sogar noch weniger.

Mamoru konnte mit dieser Reaktion so ziemlich gar nichts anfangen. Vielleicht war es ja genau dieses Nichtstun, das so wahnsinnig bedrohlich wirkte, wie es wahrscheinlich keine andere Handlung getan hätte. Wenn der Blonde zumindest geknurrt oder irgendeine Drohung ausgesprochen hätte, wie er es sonst immer tat; dann wüsste Mamoru jetzt zumindest, wo er gerade dran war. Aber so...

Was mochte Chikara vorhaben?

Oder sinnte er gar nicht auf Rache? War er dankbar, dass Mamoru Hikari geholfen hatte? War er womöglich zu dem Gedanken gekommen, dass es sich nicht lohne, sich mit ihm anzulegen?

Oder hatte Hikari ihn vielleicht veranlasst, Mamoru nichts zu tun?

Fragen über Fragen...

Einige Minuten später erreichte er endlich das <Jugend Rockt>. Dumpf drang Musik durch die Luft, hier und da lagen einige Zigarettenstummel, der Parkplatz war rappelvoll mit Autos und der Wind war wieder um einige Grade kälter geworden. Etwas Abseits, verborgen im Halbdunkel, bewegten sich Schatten. Neugierig trat Mamoru ein Stück näher. Und schon bald konnte er nähere Details erkennen: Motoki stand da in der Düsternis, bei ihm eine etwas kleinere Person, wahrscheinlich ein Mädchen, beide eng aneinander geschmiegt und tuschelnd.

Mamoru schüttelte nur den Kopf. Motoki musste sich auch unbedingt an alles ranschmeißen, was nicht bei zweieinhalb auf den Bäumen saß. Umständlich räusperte sich Mamoru, und als keine Reaktion kam gab er lautere Pfeiftöne von sich. Ihm war kalt, und er wollte seinen Kumpel endlich dazu bringen, mit ihm ins Warme zu gehen. Mädchen hin oder her.

Ein resigniertes Seufzen ertönte. Noch mal kurzes Geflüster. Dann trat Motoki endlich aus der Dunkelheit heraus. Und hinter ihm erschien...

"Reika? Du hier?", machte Mamoru erstaunt.

Ihm blieb der Mund offen stehen, als er sie eingehend im schummrigen Licht der entfernten Straßenlaternen betrachtete.

Die langen, leicht gewellten Haare wurden von einem grünen Haarband zusammengehalten und flossen wie ein Wasserfall über ihre linke Schulter. Tropisch anmutende Plastikblumen in allen möglichen Farben waren hineingearbeitet. Als Oberteil trug sie ... nun ja, ziemlich wenig; man konnte es fast schon als einen Hauch von Nichts beschreiben. Vielleicht war es ursprünglich als ein Bikinioberteil gedacht gewesen. Zusammengehalten wurden die paar in Blau und Grün gehaltenen Stofffetzen nur von einigen Spaghettiträgern. Um die Hüfte hatte Reika einen Minirock gewickelt. Oder fiel das jetzt schon unter die Bezeichnung "Mikrorock"? Oder vielleicht einfach nur "breiter Gürtel"? Jedenfalls war er sehr knapp bemessen. Drum herum war eine Art Tuch gebunden, das nur aus aneinander gestickten Perlen und Pailletten bestand, sehr durchsichtig also.

Alles in allem ein sehr gewagtes Outfit.

Alles, was sie vorm Erfrieren schützte, waren Motokis Hände, die vor Mamorus Erscheinen unablässig über ihren schlanken Körper gefahren waren, und ein sehr langer, dicker, roter Mantel.

Aufgrund der eisigen Kälte vermutete Mamoru, dass der Mantel vor Motokis Auftauchen wahrscheinlich noch zu gewesen war...

Motoki musste ihm den vor Staunen offen stehenden Mund schließen. Dann lächelte er stolz und gab Reika einen liebevollen Kuss.

Mamoru fühlte sich wie vom Zug gerammt. Es war einfach nicht fair. Sein bester Freund schleppte eine Schönheit nach der anderen ab, während er selber schon sein Leben lang leer ausging. Und Reika war an diesem Abend irgendwie ganz besonders attraktiv; viel mehr noch, als beim letzten Mal, als Mamoru auf sie getroffen war. Sie wirkte ... interessant und auf unbeschreibliche Weise wahnsinnig anziehend.

"Nun hör doch endlich auf, so zu glotzen", lachte Motoki und unterbrach damit Mamorus Erkundungstour.

"Reika", stammelte Mamoru verlegen, "ist Dir nicht ... wahnsinnig kalt?"

Reika kicherte leise. "Du hast anscheinend keine Ahnung, was heute für ein Tag ist, oder?"

Mamoru schüttelte den Kopf.

"Heute Nacht steigt hier im <Jugend Rockt> eine große Party. Die Leute wollen den Sommer praktisch herbeitanzen. Es gibt Fruchtcocktails, die so ein Hawaii-Feeling herbeirufen, die Musik ist auch sehr tropisch gehalten, die ganze Dekoration ist auf den Sommer eingerichtet. Und wer in Sommersachen herkommt, der zahlt nur die Hälfte für seine Getränke."

Mamoru nickte verstehend. Er war so sehr mit Staunen beschäftigt, dass ihm das verbale Artikulieren sehr schwer fiel.

Reika stupste Motoki in die Seite und nörgelte:

"Das hab ich Dir aber gesagt, Motoki!"

Er hob die Hände als wolle er sich ergeben. "Ja, hast Du. Und ich hab es vergessen. Sonst hätte ich Mamoru auch in Kenntnis gesetzt. Macht mir furchterbar Leid tu. Können wir jetzt reingehen? Du frierst Dir ja sonst noch nen Wolf."

Mamoru staunte nicht schlecht, als er hinter Motoki und Reika in das Café trat. Von den Wänden hingen Lianen mit riesigen Blumen aller Farben. Die Bühne war mit viel Grünzeug geschmückt worden und im Hintergrund prangte eine Leinwand, die einen wunderschönen Palmstrand zeigte. Einige junge Männer in schreiend bunten Hemden saßen dort und spielten Trommeln, Okarina und gitarrenartige Instrumente. Mit viel Bambus und Stroh verwandelte man die Bar in eine Hütte. Vielleicht die Hälfte der Anwesenden war ähnlich wie Reika gekleidet: mit kurzen und dünnen Sachen. Und wiederum davon die Hälfte, so rechnete Mamoru, würde im Laufe der nächsten Woche bestimmt einen Infekt an der Blase, eine heftige Grippe oder eine Nierenbeckenentzündung davontragen, so kalt wie es draußen war.

Die Drei fanden schon bald den Tisch, wo ihre Freunde schon saßen und eifrig miteinander redeten. Shôgai, Suiren und Odayaka waren da, aber auch noch einige andere aus der Klasse.

"Was ist denn das für ein Zeug?", fragte Motoki und warf einen neugierigen Blick in Shôgais Glas.

Dieser grinste breit. "Das weiß ich auch nich so genau. Schmeckt aber total klasse. Probier mal!"

Er stupste das Glas etwas an. Nach einem winzigen Schluck knallte Motoki es wieder auf den Tisch und hustete umständlich. Er gab seltsame, schmatzende Laute von sich. "Is das Alkohol?", fragte er entsetzt.

Shôgai grinste noch etwas breiter. Er drehte sich halb um und wies auf einen jungen Erwachsenen, der einige Meter entfernt stand. "Siehste den da? Das is mein Vetter. Er is einundzwanzig oder so, und es machtem nix aus, wenner uns n bisschen Zeuch besorgt. Fragt en nur, der holt, was ihr ham wollt."

"Nimm's mir nicht krumm, Shôgai", mischte sich Mamoru mit skeptischem Blick ein, "aber ich glaub, Du hast schon schwer einen sitzen. Das ist echt nichts Gutes, besonders in Deinem Alter!"

"Mann, reg Dich ab", lallte Shôgai, "klingst ja schon wie meine Mami. Wen juckt's? Is ja eh nu Wochenende... Da hat doch keener wat gegn, wenn ich mal n bisschen einen becher, nich wahr?"

Er lachte kurz auf. Dann sah er Mamoru genauer an. "Machsu Dir etwa echt Sorgen um mich? Sach bloß, ich hab jetz Deine heile, kindliche Welt torpediert? Hälsu mich echt für so'n braves Bürschchen, dass Du mir keen so'n Spaß zutraust?"

"Das soll spaßig sein?", meinte Mamoru ungläubig. "Da hab ich so meine Zweifel."

"Probier's mal!", schlug darauf Odayaka vor. Zustimmendes Gejohle antwortete darauf.

"Nicht wirklich", brummelte Mamoru.

Shôgai griff erneut nach seinem Glas, setzte sich in Denkerpose und überlegte laut:

"Wie viele Gehirnzellen werden von einem Schluck von diesem Teufelszeug absterben?"

"Mehr, als Du Dir leisten kannst", antwortete Mamoru. Von lautem Applaus begleitet wandte er sich zu seinem Kumpel um. "Ich geh mir jetzt was bestellen. Motoki, was willst..."

Motoki war anderweitig beschäftigt. Mit Reika. Nähere Beschreibungen der Situation sind wohl überflüssig. Anscheinend hatte er auch vergessen, dass er eigentlich mit Mamoru etwas hatte besprechen wollen, doch das lag wohl schon zu weit in der Vergangenheit. Kopfschüttelnd verschwand Mamoru und besorgte sich seine Cola...
 

Der Abend verlief weiterhin sehr lustig. Für alle anderen. Zwar warf Mamoru auch dann und wann den einen oder anderen Kommentar in die Runde, aber irgendwie war es trotzdem nicht das gleiche wie sonst.

<Eigentlich sollte man um diesen Tisch einen Zaun errichten und vorne ein riesiges Schild aufhängen mit der Aufschrift "Geschlossene Gesellschaft der anonymen, jugendlichen Alkoholiker, die sich wahnsinnig toll vorkommen, obwohl sie es beim besten Willen nicht sind">, so fand zumindest Mamoru. Er nippte an seiner inzwischen dritten Cola und langweilte sich wie nie zuvor in seinem Leben. Wahrscheinlich hätte er aufstehen und gehen können, und niemand hätte es gemerkt. Niemand, außer mit großer Wahrscheinlichkeit die Leute, die zum Café gehörten, und denen Mamoru seine Colas noch nicht bezahlt hatte. Natürlich.

Zuerst hatte sich Mamoru zumindest noch wunderbar mit Suiren unterhalten können. Sie war eine wirklich liebe Person, dazu noch von hoher Intelligenz, und mit ihr konnte man über die außergewöhnlichsten Themen Gespräche führen. Von astrophysikalischer Theorie, über Thermodynamik und Philosophie, bis hin zu Parapsychologie. Aber seit sie mit den Worten "Gott, sieht der da gut aus!" in der Menge verschwunden war, kämpfte Mamoru wirklich damit, nicht einfach nur einzuschlafen.

Nun beschäftigte er sich damit, seine Kameraden mit wissenschaftlichem Interesse zu beobachten. Es war unvorstellbar, über welch hirnlose Sachen man doch lachen konnte, wenn der Alkoholspiegel im Blut nur hoch genug war. Aber zum andren war es furchtbar langweilig, nicht mitlachen zu können.

Irgendwann, scheinbar nach einer Ewigkeit, setzte sich Reika neben ihn. "Na, wie gefällt's Dir so?"

Er sah kurz an ihrer wunderschönen Erscheinung herunter, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und antwortete leise: "Immer besser."

"Wie bitte?" Reika lehnte sich ihm etwas entgegen. Die Musik, die Gespräche und das zwischenzeitliche, laute Gegröle machten es unmöglich, ein Gespräch in normaler Lautstärke zu führen.

"Ganz gut gefällt's mir", log er dreist. "Wieso ist Mister Universum nicht bei Dir?"

"Motoki?", vergewisserte sich Reika. Sie wies mit ausgestrecktem Arm auf ihren Freund. Mamorus Blick folgte der Bewegung und er erkannte Motoki, wie er sich ausgelassen mit den anderen unterhielt. Dann fühlte er eine Berührung am Arm. Er blickte an sich herab und bemerkte, wie Reika ihm ein Glas gegen den Ellenbogen geschoben hatte, den er auf dem Tisch aufgestützt hatte. Besagtes Glas enthielt eine Flüssigkeit, die von unten nach oben alle Farben von Gelb bis Rot aufwies. Das Glas selbst war wirklich mit viel Liebe hergerichtet worden; mit einem Schirmchen und einigen Früchten, die am Rand befestigt waren.

Fragend blickte Mamoru Reika an. Sie lächelte zurück. Ihre Wangen hatten schon ein kräftiges Rot angenommen, wenn ihr Blick auch nicht annährend so verschleiert und trüb wirkte, wie bei den Kerlen. Trotzdem war ihr anzumerken, dass sie schon etwas mehr geschluckt hatte, als sie wirklich vertrug.

"Ist für Dich. Ist auch nicht zu hochprozentig. Nur ganz kleines bisschen. Komm, trink schon!", ermutigte sie ihn.

Er seufzte. So langsam hatte Mamoru es satt. Den ganzen Abend hatte er schon erklärt, dass er nicht einen einzigen Schluck haben wollte. All seine Klassenkameraden hatten ihre Gehirne allerdings auf <Kurzzeitgedächtnis> gestellt und ihn immer wieder zum Mitmachen aufgefordert. Allmählich reichte es ihm.

"Reika", stöhnte Mamoru resigniert. "Es hat doch keinen Sinn. Kannst Du denn nicht einsehen, dass ich einfach nicht will? Ich hab absolut keinen Bock darauf, mich total zuzuknallen, mich mit den anderen zum Affen zu machen und morgen mit nem riesen Kater aufzuwachen. Noch dazu wage ich stark zu bezweifeln, dass mir das Teufelszeug überhaupt schmeckt."

Reika dachte kurz nach. Dann strahlte sie über das ganze Gesicht. "Und wenn ich es Dir schmackhaft machen würde?"

"Was?", fragte Mamoru irritiert nach, "Wie bitte? Wie meinst Du das? Wie willst Du das denn schaffen?"

Als Antwort grinste ihn Reika neckisch an. Sie lutschte die Spitze ihres rechten Zeigefingers ab, stippte damit kurz in das Getränk und hielt ihm ihren Finger dann entgegen. "Komm, versuch mal", versuchte sie es erneut.

Er druckste etwas herum und warf einen prüfenden Blick auf Motoki. Dieser war viel zu sehr mit Reden beschäftigt.

"Ach, vergiss den doch mal; nur für einen Moment", meinte Reika. Ein Tropfen der Flüssigkeit rann langsam an ihrem Finger herunter. Ihrem schlanken, schönen Finger...

Mamoru schüttelte unmerklich den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben.

"Er ist mein bester Freund", erklärte er abwehrend. "Und er ist Dein Freund. Du weißt schon, wie ich das meine. Dein fester Freund. Das kannst Du ihm nicht antun! Und ich kann das genauso wenig."

"Was denn antun?", fragte Reika. Das sanfte Lächeln wich nicht von ihren Lippen. "Ist ja nicht so, als würde ich Dir vor versammelter Mannschaft die Hosen runterziehen, oder? Es ist nur ... nennen wir es ein Spiel!"

"Und wie heißt dieses Spiel? <Verführen wir Mamoru zum Alkohol>? Nein, danke." Beleidigt nahm er einen riesigen Schluck seiner Cola.

Noch immer lächelte Reika. Konnte man es vielleicht sogar als ein siegessicheres Lächeln betrachten? Sie stippte erneut den Finger in das Glas, führte ihn sich an den Mund und saugte lustvoll daran.

"Hmmm, schmeckt wirklich klasse!", schwärmte sie ihm vor. Er konnte nicht wiederstehen, ihr bei ihrem Tun zuzuschauen. Seine Wangen färbten sich leicht rosa und er musste heftig schlucken. Die Art und Weise, in der Reika sprach und sich bewegte war nur mit einem Wort zu beschreiben: atemberaubend!

Sie wirkte in dieser einen Sekunde ganz besonders begehrenswert und schön.

"Weißt Du", gestand sie ihm gerade und tauchte dabei die Fingerkuppe wieder in die Flüssigkeit ein, "dass ich Dich schon von Anfang an echt super gefunden hab?"

"Was? Wirklich?", fragte Mamoru erstaunt nach während er fasziniert auf ihren Finger starrte, der kreisende Bewegungen im Glas vollführte.

"Aber natürlich!", bestätigte sie. "Und mit Deiner neuen Frisur siehst Du sogar noch toller aus! So erwachsen und so ... so sexy..."

Sie nahm den Finger aus dem Glas und strich das Getränk vorsichtig auf Mamorus Lippen. Er erzitterte leicht unter dieser unendlich sanften Berührung. Genießerisch schloss er die Augen. Tastend fuhr seine Zungenspitze zuerst über seine angefeuchteten Lippen und dann über ihre Fingerkuppe, die immer noch leicht und sanft auf seinem Mund ruhte.

Reika kicherte vergnügt. "Na, schmeckt es Dir?"

"Unbeschreiblich", nuschelte Mamoru vor sich hin. Wie in einer Art Trance griff er behutsam nach ihrer Hand und hielt sie fest, um ihre Finger mit seinen Lippen zu erkunden. Es war ein eigenartiges, fremdes Gefühl; wenn auch alles andere als unangenehm.

"Und Du ... Du stehst wirklich auf mich?", fragte er, wobei er ihre Hand allerdings nicht losließ, sondern immer weiter mit seinen Lippen berührte. "Oder sagst Du das nur so, um mich dazu zu bringen, dieses Zeug zu schlucken?"

"Natürlich!", versicherte sie ihm. Mit der andren Hand fuhr sie vorsichtig an seiner Wange entlang nach oben, an seiner Schläfe vorbei, bis sie ihm durch das dichte, schwarze Haar strich. "Du bist so wahnsinnig cool und gutaussehend. Das sage ich wirklich nicht jedem!"

Immer mehr glitt sein Geist ab in eine wunderschöne Traumwelt, in der einfach nur alles in Ordnung war. Nur ein winziger Funke blieb in der kalten, harten Realität zurück. "Und was ist mit Motoki?"

"Hör auf, Dich immer nur um die Anderen zu kümmern! Lebe doch ein einziges Mal Dein eigenes Leben!", flüsterte Reika ihm zu. Sie nahm ihre Hand wieder aus seinen Haaren, griff zum Glas und reichte es ihm.

Er zögerte. Aber nur kurz. Als hätte Reika bloß mit ihren Augen einen Zauberbann um ihn gelegt, fiel alle Scheu gegenüber der unbekannten Flüssigkeit von ihm ab, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Er schnappte sich das Glas und nahm einen winzigen Schluck.

Er wusste selbst nicht genau, was er denn erwartet hatte. Aber als der Cocktail sanft seine Zunge umspielte, war er positiv überrascht. Es schmeckte fruchtig und süß; mehr so, als ob man verschiedene Säfte zusammengekippt hätte. Der scharfe Geschmack, den man dem Alkohol immer nachsagte, blieb aus.

"Wow", machte Mamoru überrascht und schaute Reika an, "das schmeckt klasse! Wirklich gut!"

Diesmal nahm er einen kräftigeren Schluck. Amüsiert beobachtete Reika ihn. "Siehst Du? War doch gar nicht so schlimm, oder? Die Leute, die hier arbeiten, sind fantastische Cocktailmischer. Die bekommen es so hin, dass man den Alkohol überhaupt nicht rausschmeckt. Wahre Meister ihres Faches!"

Mamoru nickte ihr bestätigend zu.

Schon bald setzte die Wirkung des Alkohols ein. Reika unterstützte den Prozess noch, indem sie immer mal wieder verschwand, um einen neuen Cocktail zu besorgen. So langsam wunderte sich Mamoru nicht mehr darüber, woher sie ihn denn besorgte. Vermutlich war Shôgais Vetter nicht ganz unschuldig daran. Aber wen stört's? Mamoru jedenfalls hatte schon bald knallrote Wangen und einen leicht verklärten Blick. Er, der an den Alkohol nicht gewöhnt war, spürte schon nach kürzester Zeit, wie sich eine angenehme Hitze in seinem Körper ausbreitete, wie die Welt in seinen Augenwinkeln verschwamm, wie eine ungewöhnliche Heiterkeit ihn packte. Und wie seine Hemmungen ihn allmählich verließen.

Außerdem bemerkte er, dass das Gleiche für Reika galt.

Sie hatte sich inzwischen längst auf seinen Schoß gesetzt, sodass ihr Rücken gegen seine Brust lehnte, weil es sich bei diesen lauten Hintergrundgeräuschen doch gleich viel besser reden ließ, wenn man nah bei einander war. Sie sprachen über dies und jenes.

Und schließlich über Hikari.

"Und Du liebst sie?", fragte Reika geradeheraus.

Mamoru grinste angeheitert. "Ja, schon."

"Und hast Du ihr das schon mal verklickert?"

Er dachte kurz nach, zuckte dann mit den Schultern und meinte:

"Nöh, ich glaube nicht."

"Und warum tust Du's nicht einfach?"

"Einfach?", grölte Mamoru belustigt, "was soll daran einfach sein? Die is ne Nummer zu groß für mich. Ich pack das doch nie! Ich hab ja auch keine Erfahrung mit Weibern."

Einige Sekunden starrte sie ihn an. Dann schien es bei ihr <klick> zu machen. "Du hattest noch keine Freundin?"

Mamoru schüttelte den Kopf. "Nöh."

"Und Du hast auch noch kein Mädchen geküsst?"

"Nöh. Warum?"

"Willst Du's mal versuchen?"

Er grübelte kurz. Dann zuckte er wieder gleichgültig mit den Schultern. "Schon. Aber bei wem?"

"Bei mir?", schlug Reika hilfsbereit und aufopferungsvoll vor.

"Von mir aus", grinste er sie an.

"Okay", meinte sie, stand auf und setzte sich so auf ihn, dass ihr Gesicht dem seinen zugewandt war; ihre Arme schlang sie um seinen Hals und ihre Beine legte sie fest um seine Hüfte an. Der Barhocker wackelte ein wenig unter der Gewichtverlagerung.

Mamoru spürte ihr Gewicht auf seinen Beinen überdeutlich; spürte, wie ihre Oberschenkel sanft außen an seinen Hüften entlang strichen; spürte, wie sich ihre Brust langsam, aber stetig immer fester gegen die seine drückte; spürte den heißen Lufthauch, der ihre Lippen verließ, als sie ausatmete. Sein Herz jagte wie nach einem zehn Kilometer Marathon und sein Atem ging merklich schneller, je mehr Reika sich ihm näherte. Eine schier unnatürliche Nüchternheit überkam ihn in diesem Augenblick, und mit scheinbar übermäßig geschärften Sinnen bekam er jede einzelne Bewegung seines Umfeldes, jedes einzelne Muskelzucken, jede noch so kleine Vibration mit. Als sich endlich ihre Lippen auf die seinen legten, spürte er jeden einzelnen ihrer schnellen Pulsschläge als sanftes Zittern auf seinem Mund.

Zunächst blieb er noch passiv; ließ sich küssen; wartete ungeduldig auf mehr. Dann, ganz langsam, wagte er es, den Kuss zu erwidern. Ganz sanft fühlte er Reikas Zunge über seine geschlossenen Lippen streicheln und den Druck stetig leicht steigern. Schließlich traute er sich endlich, ihr seine Lippen zu öffnen. Neugierig und wie ein blinder Wurm tastete sich Reikas Zunge durch das fremde Gebiet und erkundete es. Unendlich sanft fuhr Mamoru mit der Zunge über ihre, um sie kennen zu lernen, sie zu schmecken, sie zu spüren. Immer wieder zog er sich zurück und verharrte kurz in seinem Tun, um sich dann erneut vorsichtig vorzutasten. Reika lockte seine Zunge langsam weiter vor und gab ihm schließlich eine lautlose Einladung, ihr zu folgen. Gerne ließ er es geschehen und tastete nun seinerseits nach ihrer Mundhöhle. Ein seltsamer Geschmack wurde über die Nervenbahnen bis in sein Gehirn versendet. Er war irgendwie fremd und unbeschreiblich, aber alles andere als unangenehm.

Vorsichtig ließ er seine Zunge immer weiter wandern, tastete mit der Spitze hierhin und dorthin, und wurde selbst von diesem feuchten, fremden Körper untersucht und willkommen geheißen.

Irgendwann, scheinbar nach Ewigkeiten, zog sich Mamoru vorsichtig wieder zurück und löste seine leicht angeschwollenen Lippen von ihren. Er keuchte auf und rang schwer atmend nach Luft.

Alle beide brauchten einige Atemzüge, um sich wieder einigermaßen zu beruhigen. Die Nüchternheit, die sich in der letzten halben Minute über Mamorus Gehirn ausgebreitet hatte, zog sich nun langsam wieder zurück und ließ zu, dass die Klarheit wieder aus seinem Denken und seiner Wahrnehmung verschwand. Überglücklich grinste er Reika an. Und ebenso gut gelaunt strahlte sie zurück.

Sie beugte sich ihm wieder entgegen und flüsterte leise in sein Ohr:

"Gar nicht mal schlecht für den Anfang. Du bist richtig gut! Hast Du wirklich nicht heimlich geübt?"

Sie lehnte sich zurück und lächelte ihn verführerisch an.

"Nur mit meinem Kopfkissen", gestand er im Spaß. Sie kicherte belustigt.

Dann wurde sie schlagartig blass. Mit schreckgeweiteten Augen wich sie zurück, legte die Hände über ihren Mund und flüsterte:

"Motoki..."

Mamoru verstand in seinem angetrunkenen Zustand nicht sofort. Er wandte sich auf seinem Hocker um.

Alles, was er noch sah, war eine schnelle Bewegung...

Alles ging so schnell, dass man kaum mehr als ein plötzliches Zucken sah. Motoki griff mit einer - für seinen recht beschwipsten Zustand - erstaunlich schnellen Bewegung nach Mamorus Kragen und zerrte ihn damit ruckartig nach oben. Zwei Herzschläge lang verharrte er in dieser Pose, fuhr dann herum und zog Mamoru hinter sich her. Der wiederum war so dermaßen überrascht, dass er gar keine Zeit hatte, an Gegenwehr zu denken. Er ließ alles recht willig mit sich geschehen, was unter anderem daran lag, dass sein leicht alkoholisiertes Gehirn weitaus langsamer arbeitete, als normal gewesen wäre.

"Komm mal mit nach draußen", knurrte Motoki, "ich hab da ein Hühnchen mit Dir zu rupfen."

"Nach draußen?" Mamoru brauchte einige Sekunden. Ganz langsam, richtiggehend behutsam, holte ihn die Wirkung der Cocktails ein, die er schon intus hatte. Minute für Minute wurde sein Denkvermögen immer weiter lahm gelegt. "Sollt ich nicht erst mein Zeuch bezahlen?"

"Keine Bange. Das hab ich schon erledigt, als Du noch dabei warst, meine Freundin abzulecken." Immer weiter schleppte Motoki ihn quer durch das Café auf den Ausgang zu. "Immerhin will ich nicht durch solche Nichtigkeiten gestört werden, solang ich Dir zeige, wo der Hammer hängt."

Es dauerte etwas, bis sich Motoki, mit Mamoru im Schlepptau, durch die dicht gedrängte Menschenmenge des <Jugend Rockt> gekämpft hatte. Schließlich draußen angekommen versetzte er Mamoru einen derben Stoß, der diesen einige Schritte nach vorne taumeln ließ. Noch bevor er sein Gleichgewicht wirklich wiedergefunden hatte war Motoki schon heran, packte ihn im Nacken, wirbelte ihn herum und stieß ihn rückwärts gegen die Hauswand des Cafés.

"Willst Du mir vielleicht irgendwas sagen?", grummelte Motoki. Sein Gesicht war knallrot. Wahrscheinlich teilweise des Alkohols wegen, vielleicht auch der wahnsinnigen Kälte halber, die hier draußen herrschte, aber höchstwahrscheinlich in erster Linie aufgrund seines unbändigen Zornes.

Mamoru blinzelte die nebligen Schleier fort, die vor seinen Augen umherwaberten, starrte seinen Kumpel einige Herzschläge lang stumm an und nickte schließlich grinsend.

"Ja", antwortete er endlich, "ich bin vielleicht besoffen, aber Du bist immer noch hässlich."

Darauf kicherte und gluckste er vergnügt los. Was Motoki so gar nicht lustig fand. Er stürmte auf Mamoru los und blieb so dicht vor ihm stehen, dass Mamoru die Alkoholfahne einatmen konnte.

"Ich meine es ernst!", donnerte der Blonde. "Du ziehst hier so ne Show mit Reika ab, obwohl Du ganz genau weißt, dass sie mit mir zusammen ist; und setzt damit unsere langjährige Freundschaft aufs Spiel! Ich geb Dir nur noch eine Chance; nur noch eine! Ich rate Dir, mein Freund, nutze sie gut!"

Die Art und Weise, in der er das Wort <Freund> ausgesprochen hatte, war mit einem sehr zynischen Unterton belegt. Doch davon ließ sich Mamoru nur mäßig beeindrucken. Lächelnd legte er den Kopf schief und antwortete: "So gut, wie ich Deine Freundin genutzt hab?", wobei er provokativ mit der Zungenspitze über seine Lippen leckte.

Das war der Tropfen ins überfüllte Fass.

Lange noch bevor die immer langsamer arbeitenden Nervenbahnen das Bild der Bewegung in sein vernebeltes Gehirn transportiert hatten, spürte Mamoru schon zwei heftige Erschütterungen. Die erste, als Motokis Faust in sein Gesicht krachte, und die zweite, als Mamoru daraufhin mit voller Wucht mit dem Hinterkopf gegen die harte Hauswand des <Jugend Rockt> prallte. Der Schmerz pochte gnadenlos in seinem Schädel, als er benommen zusammensackte. Einige sehr lange Sekunden kämpfte er gegen die Bewusstlosigkeit und gegen die immer dichter werdenden Nebel vor seinen Augen an. Mit aller Macht bezwang er schließlich die Schleier, die sich um seinen Verstand hüllten wollten.

Er hörte Schreie; hohe, spitze Schreie, fast wie das Kreischen einer Kreissäge oder wie der unangenehme Signalton einer Sirene, nur unregelmäßiger und nicht ganz so laut. Überhaupt; in seiner Umgebung schien alles außergewöhnlich leise zu sein. Was da lauter war als alles andere, das war das wilde Rauschen seines Blutes in seinen Ohren. Ein eigenartiger, metallener Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus. Vom fast schon unerträglichen Gefühl des Schwindels und der Übelkeit begleitet, stemmte Mamoru sich wieder hoch. Mit beiden Händen musste er sich an der Hauswand abstützen, sonst hätte er erneut den Halt verloren. Ohne Unterlass waberten rote und weiße Nebel vor seinen Augen hin und her und verzerrten die Umgebung. Etwas orientierungslos blickte sich Mamoru um. Das erste, worauf er sein Augenmerk richtete, war Reika, die sich inzwischen auch draußen eingefunden hatte und Motoki unverständliche Worte entgegenschrie. Sie schien völlig aus der Fassung zu sein, weiß der Geier warum! Wild gestikulierte sie immer wieder herum und wies auf Mamoru, ohne dass er wirklich verstand, was sie damit wohl ausdrücken wollte. Dann schwenkte er den Blick langsam zu Motoki. Der Blonde stand in geringem Abstand einfach nur da und starrte ihn an. Dabei erschien er allerdings auf groteske Art und Weise verwaschen und unscharf.

Mamoru schüttelte leicht den pochenden und schmerzenden Kopf, um die verworrenen Nebel endlich aus seinem Blick zu verbannen. Er fuhr sich über die Augen, dann über das ganze Gesicht. Dabei fühlte er irgendwas Warmes, Klebriges. Er nahm seine Hand vor die Augen und völlig verblüfft starrte er eine rote, schmierige, nur relativ dünnflüssige Substanz an.

Blut.

Sein Blut.

Im ersten Moment verstand er nicht so recht, was das zu bedeuten hatte. Möglicherweise hatte er einen leichten Schock erlitten, oder vielleicht war der Alkohol nicht ganz unschuldig daran, jedenfalls dauerte es eine kurze Weile, bis er den tieferen Sinn erkannte.

Er hob den Blick und sah Motoki verwirrt an. Er hatte ihn angegriffen? ER? Ausgerechnet DER DA??? Sein bester Freund und Kumpel? Das war doch ... Das konnte doch nicht ... So eine Frechheit!

Seit dem Schlag waren bisher vielleicht nur wenige Sekunden vergangen. Sekunden, die so langsam, so unendlich schleppend von Mamorus Gehirn bearbeitet wurden, dass man dabei hätte zusehen und einschlafen können. Der Vorgang war vergleichbar mit einer Diashow, bei der jedes Bild vorher einzeln noch abgestaubt und einsortiert werden musste. Und nun, ganz langsam, ganz allmählich, Stückchen für Stückchen, wurde Mamoru sauer. Oder eher: richtig fuchsteufelswild.

Ein Gorilla, dem man die Bananen geklaut hatte, hätte kein gewaltigeres Wutgebrüll ausstoßen können. Mamoru hechtete mit einem gewaltigen Sprung auf Motoki zu - oder viel mehr: er torkelte ein paar Schritte und fiel schließlich auf ihn; aber das Ergebnis war immerhin das Selbe - und riss ihn mit sich zu Boden. Dort angekommen malträtierte er zunächst einmal aufs Heftigste Motokis Kinn und kassierte dabei einige Treffer in die Magengegend, die er aber getrost ignorieren konnte, da sein zentrales Nervensystem inzwischen so gut wie lahmgelegt war. Daraufhin versetzte er seinem - ehemaligen - Freund einen gezielten Schlag auf die Nase, die mit heftigem Bluten protestierte. Motoki drückte sich die Hände vors Gesicht und wälzte sich vor Schmerzen wimmernd auf dem Boden hin und her, während Mamoru keuchend nach Luft schnappte und sich langsam wieder in die Senkrechte erhob. Er lehnte sich gegen die Hauswand des Cafés und spuckte ein wenig Blut aus, wobei er Motoki selbstgefällig angrinste.

"Reicht Dir das?", fragte er nach und spie noch eine Ladung des roten Lebenssaftes aus. Zunächst unsicher wankend machte er ein paar Schritte und schon bald konnte er überraschend gut sein Gleichgewicht halten.

"Du mieses, verdammtes, dreckiges Arschloch", schnaubte Motoki und erhob sich langsam. "Dir wird ich's zeigen!"

Er rannte auf seinen Kontrahenten zu, holte aus und schoss die geballte Faust wie von der Sehne geschnellt nach Mamoru ab. Dieser hatte mit einem derartigen Angriff allerdings schon gerechnet und fing den Schlag spielerisch mit dem einen Arm ab, während er fast gleichzeitig zum Gegenschlag ausholte.

Solange Mamoru und Motoki noch damit beschäftigt waren, sich gegenseitig um etliche Blutspritzer ärmer zu machen, steigerte sich Reika in immer schrilleres und fassungsloseres Gekreische. Wie konnte eine menschliche Stimme nur solche grässlichen Töne produzieren?

Erneut stürmte Motoki auf sein Gegenüber zu und holte weit aus. Doch seine Zielgenauigkeit hatte mit der Zeit schwer nachgelassen. Der Angriff ging ins Leere, als sein Gegner sich geschickt duckte. Mamorus Kämpferinstinkt war erwacht. Er nutze den Schwung aus, den Motoki in seinen Schlag legte, packte ihn am Unterarm, drehte sich unter ihm um, benutzte den Arm des Blonden als Hebel, krümmte seinen Rücken und ließ ihn meterweit darüber hinweg fliegen. Keuchend und sich überschlagend rutschte und rollte Motoki über den harten Asphalt und zerriss sich dabei die Jeans samt dem rechten Knie darunter.

"Erbärmlich", murmelte Mamoru und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. "Wird wohl Zeit, dass ich der Sache ein Ende setze, was?"

Schwankend kam er Motoki immer näher. Nur noch wenige Meter trennten ihn von diesem armen Irren, der es doch tatsächlich gewagt hatte, sich mit ihm anzulegen, und der nun keuchend und blutend dalag und vor Schmerzen stöhnte.

<Man sollte mir eben nicht in die Quere kommen>, stellte Mamoru stumm fest. <Nun zeige ich Dir, was mit denen geschieht, die es doch tun...>

Sein Herz klopfte wild, das Blut sickerte an seinem ganzen Körper herunter und das Adrenalin in seinen Venen vernebelte ihm die Sinne. Es war fast, als hätte ein unsichtbarer Dämon einen Knopf gedrückt und damit seine Fähigkeit, vernünftig zu denken, vollkommen ausgeschaltet.

Motoki war noch sechs Schritte entfernt.

Nur noch sechs Schritte!

Das wilde Rauschen in seinen Ohren steigerte sich immer weiter. Bald war Reikas wahnsinniges Geschrei nur noch dumpf und leise zu hören.

Nur noch fünf Schritte.

Sein Körper erzitterte unter der gewaltigen Anstrengung. Jede Bewegung war eine Tortur; ein Wirbelsturm aus Schmerzen und stechender Pein.

Nur noch vier Schritte.

Die Welt verschwamm in unregelmäßigen Abständen vor seinen Augen. Es war ein ständiger Wechsel von scharf zu unscharf; von hell zu dunkel; von Verwirrung zu zielgerichtetem Handeln.

Nur noch drei Schritte.

Wieso tat er das alles eigentlich? Was hatte er mit Motoki vor? Wozu überhaupt der Kampf, der Streit? Weswegen war das alles nur passiert?

Nur noch zwei Schritte.

Egal. Alles, was jetzt noch zählte, war Rache. Rache wofür? Egal. Einfach nur mal alles rauslassen. Allen Frust. Allen Ärger. Immer nur raus damit. Wieso sollte Mamoru denn der Einzige sein, der sich nicht an Schwächeren abreagierte?

Nur noch ein Schritt...

Mamoru fühlte sich an den Schultern gepackt und zurückgerissen. Der Abstand zu Motoki wurde rasendschnell wieder größer. Die Kraft, die das bewirkte, war übermächtig. Mamoru fand nicht die geringste Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Er wurde brutal herumgedreht und starrte in das vor Wut knallrot gefärbte Gesicht eines breitschultrigen Mannes.

"Habt ihr den Verstand verloren, ihr Zwei?", donnerte der Fremde.

Mamorus Verwirrung wuchs ins Unermessliche. Wer zum Geier war dieser Typ? Und was mischte der sich überhaupt ein? Doch die Tatsache, dass dieser Jemand gute zwei Köpfe größer und noch dazu etwa doppelt so breit war wie Mamoru, ließ ihn stumm bleiben. Weitere solcher Männer erschienen. Einer versuchte verzweifelt, Reika zu beruhigen, zwei weitere kümmerten sich um Motoki. Irgendwas war eigenartig an diesen Leuten, aber im ersten Moment wusste Mamoru beim besten Willen nicht, was es war. Bis ihm ein Licht aufging. Diese Männer trugen alle so mehr oder weniger das gleiche Outfit: die schreiend bunten, kurzen Sommerklamotten, die viele der Gäste und alle Mitarbeiter des <Jugend Rockt> trugen. Das hier waren mit hoher Wahrscheinlichkeit die Rausschmeißer.

"Ich rede mit Dir, Würstchen!", meinte dieser große Kerl wieder, diesmal sogar noch eine Spur lauter. Mamoru wandte sich ihm wieder zu und starrte ihn aus großen Augen an. Die Wirkung des Adrenalins in seinem Körper ließ langsam nach und mit ihr auch seine Angriffslustigkeit. Stattdessen breitete sich ein fast angenehmes Gefühl von wohliger Wärme in ihm aus, begleitet von allgegenwärtigem, regelmäßigem, stechendem Pochen, das den Rhythmus seines Herzschlages hatte. Erst jetzt wurde ihm wirklich bewusst, wo überall er sich verletzt hatte. Gleichzeitig jedoch betäubte der Alkohol jedwedes Schmerzempfinden und linderte die größte Pein. Seine Antwort für den muskulösen Fremden bestand nur aus einem glücklichen und zufriedenen Lächeln. Darauf rollte der Rausschmeißer nur mit den Augen.

"Och nö, muss der hier dicht sein. Scheiße, verdammt, woher hat das Würstchen bloß den Stoff?" Zu seinen Kollegen gewandt brüllte er: "Welcher Idiot gibt dem kleinen Hosenscheißer hier einen aus?"

Allgemeines Schulterzucken antwortete.

"Na warte", knurrte der Große, "den find ich schon. Und dann kann der was erleben."

Einer von den Anderen rief quer über den Platz: "Und was machen wir jetzt mit den Kleinen?"

Ratlose Stille.

Der Große zeigte auf Motoki. "Hat der sich was Schlimmes getan?"

"Nöh, ich denk, das sieht schlimmer aus, als es is."

"Na dann..." Der Große dachte nach und kratzte sich an seinem sauber rasierten Drei-Tage-Bart. "Dann würde ich vorschlagen, wir rufen ihre Eltern an. Sollen die sich doch um ihre Bälger kümmern."

Schlagartig verging Mamoru das Grinsen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie seine Tante Kioku ihn durch den Fleischwolf drehen würde.

<Au, Backe! Das kann ja nur schief gehen!>

Und was lernen wir daraus? Finger weg vom Alkohol! ...Und von der Schnecke des besten ... nein ... ehemals besten Freundes...

Mamoru war ja eigentlich der Ansicht, die Tatsache, dass er seinen besten Freund verloren und dafür einen überdimensionalen Muskelkater mitsamt tierischen Kopfschmerzen bekommen hatte, sei Strafe genug. Seine Tante Kioku sah das allerdings anders.

Ganz anders.

Zunächst hielt sie ihm stundenlang eine Strafpredigt. Darin kamen Sätze vor wie:

"So etwas hätte ich ja nie von Dir gedacht!"

"Das war unverantwortlich!"

"Was denkst Du Dir eigentlich dabei?"

und

"Ich hätte größte Lust, die alte Sitte wieder einzuführen, nach der man den Kindern noch den Hosenboden versohlen durfte!"

Und so weiter.

Als das alles also endlich überstanden war, brummte sie ihm noch einige saftige Strafen auf. Doch die alle hier und jetzt aufzuzählen würde die Grenzen von Raum und Zeit um ein Vielfaches sprengen.

Das einzig Gute war, dass Seigi nicht auch noch auf Mamoru herumtrampelte. Er hielt Kiokus Maßnahmen bei Weitem für ausreichend. Mamoru war ihm auch auf Ewig dankbar für seinen ruhigen Charakter und sein Verständnis.

"Wir sind ja alle Mal jung gewesen", hatte Seigi zwinkernd geflüstert, als Kioku immer noch vor sich hin schimpfend in der Küche verschwunden war.

Dieses Trauerspiel also hatte vor etwa einer halben Stunde sein Ende genommen. Seitdem stand Mamoru immer wieder seufzend in der Küche vor der Spüle, machte den Abwasch und wurde dabei von Kioku im Auge behalten wie ein Schwerverbrecher, damit er nur ja nicht auch nur auf die Idee kommen konnte, eine Pause zu machen oder ähnlich absurden Blödsinn zu veranstalten. Ganz so, als könne man ihm mit einem Male alles zutrauen!

"Meinst Du nicht auch, es reicht langsam?", quengelte Mamoru. Sein Kopf dröhnte wie unter unaufhörlichen Paukenschlägen und der Muskelkater fraß sich schmerzhaft über den Rücken, sämtliche Glieder entlang bis in die hintersten Ecken seines Körpers.

"Nein!", antwortete ihm seine Tante in herrischem Ton.

"Aber ich bin müde, und mir tut alles weh!", jammerte er vor sich hin.

"Soll das ein Scherz sein?", donnerte Kioku. "Du hast kaum angefangen! Wenn Du hier fertig bist, wirst Du die Fenster putzen, Dich um die Wäsche kümmern, Dein Zimmer aufräumen und den Balkon fegen! Und für heute Nachmittag hab ich mir was ganz Besonderes für Dich überlegt. Eine kleine Überraschung, sozusagen."

"Ich hasse Überraschungen", grummelte er.

"Diese wirst Du ganz besonders hassen, mein Lieber. Ich habe mit einem alten Bekannten gesprochen. Du kannst in seinem Restaurant arbeiten, heute geht's schon los. Du solltest also nachher noch duschen."

"WIE BITTE???", rief er entsetzt aus. "Ich soll was tun?"

"Du hast schon richtig gehört", meinte Kioku spitz. "Und von dem bisschen Geld, das Du da verdienst, kannst Du für Motoki ein kleines Geschenk als Entschuldigung besorgen. Und nicht zu klein, verstanden? Ich weiß genau, was Du verdienen wirst, also versuch nicht, mich zu verarschen."

"Wär es nicht einfacher", wiedersprach Mamoru kleinlaut, "wenn ich einfach mein Taschengeld wiederbekäme und ihm davon was kaufen würde?"

Das boshafte Funkeln in Kiokus Augen war Antwort genug.

"Na gut, na gut", willigte er ein. "Aber verrat mir mal, wann ich meine Hausaufgaben erledigen soll!"

"Morgen", antwortete Kioku kurz angebunden. "Dann ist Sonntag. Wenn Du dann das Badezimmer geputzt, das Auto gewaschen, die Wäsche gebügelt und hier überall aufgeräumt hast, dann darfst Du Deine Schulaufgaben erledigen."

"Das ist Tyrannei", stellte er übellaunig fest.

"Maul nicht! Du wirst sogar Deine Socken alphabetisch ordnen, wenn ich es Dir sage!"

"Deine Foltermethoden sind nicht von schlechten Eltern", murrte er.

"Das will ich meinen", sagte Kioku zufrieden. "Und jetzt arbeite gefälligst weiter!"

Genau das tat er dann auch tatsächlich - allerdings nicht ohne mit dem Nörgeln aufzuhören.

"Findest Du das alles hier gerechtfertigt? Ich meine, was um Himmels Willen hab ich Schreckliches verbrochen, dass ich nun durch diese Hölle gehen muss?"

"Das will ich Dir gerne sagen, Freundchen", belehrte ihn seine Tante. "Erstens: Du darfst in Deinem Alter noch keinen Alkohol trinken. Ich hab die Aufsichtspflicht über Dich und ich kann den netten Herren dieses Ladens nur dankbar sein, dass sie nicht die Polizei eingeschaltet haben. Zweitens: Du machst Dich einfach an dieses Mädchen ran, obwohl Du ganz genau weißt, dass sie mit Deinem besten Freund zusammen ist! Das ist nicht sehr gentleman-like!..."

"Ich persönlich find ja, das geht Dich gar nichts an", unterbrach Mamoru sie.

"Es geht hier ums Prinzip", erklärte Kioku. "Du solltest Respekt, Selbstbeherrschung, Mitgefühl, Ehre und Loyalität lernen. Motoki und Du, ihr habt schon als kleine Steppkes miteinander gespielt; und da solltest Du ihm nicht wegen jedem dahergelaufenen Weibsbild in den Rücken fallen. Und als ob das nicht schon genügen würde, hast Du Dir auch noch eine Schlägerei mit Motoki geliefert! Ich bin somit übrigens am dritten Punkt angelangt. Hast Du dir eigentlich mal angesehen, was Du mit dem armen Jungen gemacht hast? Der hat so dermaßen übelst gesaftet, dass keine noch so kleine Stechmücke mehr irgendwas hätte aus ihm raussaugen können! Total ausgepumpt!"

"Du übertreibst", redete er erneut dazwischen. "Er lebt noch. Außerdem haben wir uns doch schon oft in der Wolle gehabt. So machen wir das nun mal unter uns aus!"

Kioku seufzte übertrieben. "Es ist ein Unterschied", so erläuterte sie, "ob ihr ne kleine, harmlose Keilerei habt, wo der eine nen Kratzer hat und der andere ein blaues Auge, oder ob ihr euch gegenseitig die Schädel einschlagt! Ich hab mich zu Tode erschrocken, als ich Dich gesehen hab; so blutüberströmt!"

"Ja, ganz genau", brauste Mamoru auf. Er hatte es so langsam satt, nur niedergemetzelt zu werden. "Ich hab auch ganz schön was abbekommen. Motoki hat nämlich auch keine Zurückhaltung mehr gekannt!"

"Und ich kann's ihm nicht mal verdenken!", schnauzte Kioku.

"Ach, lass mich doch in Ruhe!", herrschte Mamoru sie an. Er war dabei eine Spur lauter als er eigentlich beabsichtigt hatte.

Kioku stand nur stumm neben ihm und funkelte ihn böse an. Entnervt griff er nach dem Abtrockentuch, wischte sich daran seine Hände ab und fuhr sich dann durchs Gesicht. Es war heiß und dunkelrot vor Zorn. Sein Herz jagte in seiner Brust so schnell, dass es wehtat. Aber da war noch etwas anderes Schmerzhaftes, irgendwo in ihm, tief in seiner Seele. Er fühlte sich hilflos, so verlassen und unverstanden. Es war nun mal passiert, na und? Man kann die Vergangenheit nicht ändern. Und diesem Wichtigtuer Motoki musste eh mal jemand die Meinung sagen! Der hatte es dringend nötig gehabt, dass ihm mal jemand die Grenzen aufgezeigt hat.

...Und wer zeigte jetzt Mamoru die Grenzen?

Er warf seiner Tante einen traurigen Blick zu. Die Situation war die gleiche wie am Abend zuvor. Aber die Mittel, mit denen gekämpft wurde, waren anders. Körperlich weniger schmerzhaft, dafür aber mental sehr viel tiefgehender und eindringlicher. Kampf der Worte, Kampf der Gefühle.

Ein Kampf, den Mamoru nicht gewinnen konnte, solange er nicht einsah, dass er einen fatalen Fehler begangen hatte.

Er schluckte heftig.

"Tante Kioku?" Seine Stimme war ganz leise geworden; irgendwie zart und vorsichtig. "Es tut mir Leid. Ich wollte Dich nicht so anbrüllen. Wirklich! Bitte verzeih mir."

Er sah betreten zu Boden. Nichts rührte sich, und eine schier greifbare Stille breitete sich im Raum aus. Und dann nahm Kioku ihren Neffen endlich liebevoll in den Arm.

"Das weiß ich doch, mein Kurzer."

Kurzer. Endlich nannte sie ihn wieder bei seinem Kosenamen. Dankbar lächelnd erwiderte er die Umarmung.

"Ich hab Scheiße gebaut", stellte er flüsternd fest.

Kioku nickte. "Ja, das hast Du."

"Eigentlich hat Motoki mir doch gar nichts Böses getan!"

"So ist es."

"Ich hab ihm Unrecht getan. Und dann verrate ich ihn auch noch auf so derbe Weise."

"Endlich hast Du es begriffen!", freute sich Kioku.

"Ja, das habe ich!", antwortete er mit einem Nicken. "Tante Kioku?"

"Ja?"

"Sag mal..."

"Was ist denn?"

"Jetzt, wo ich ja Einsicht gezeigt habe, ... könntest Du ... das Strafmaß ... nicht ein wenig mildern? Sagen wir ... so ... um hundert Prozent?"

Missbilligend hob Kioku die rechte Augenbraue etwas an. "Ganz gewiss nicht", bestimmte sie. "Das alles hier soll ja einen Lerneffekt haben. Ich gebe Dir mein Wort: Du wirst das alles hier niemals wieder vergessen, auch in fernster Zukunft nicht!"

"Sowieso nicht", brummte Mamoru. "Aber mir deswegen gleich solche grässlichen Qualen aufzubrummen..."

"Grässliche Qualen?" Kioku lachte ironisch auf. "Redest Du vom Haushalt? Diese Qualen mach ich seit Jahren tagtäglich durch!"

"Is ja gut, sehe ich ja ein", murmelte er und verschränkte die Arme vor der Brust. "Aber dann auch noch im Restaurant arbeiten gehen ... find ich etwas übertrieben."

Aufmunternd klopfte sie ihm auf die Schulter. "Was uns nicht umbringt, macht uns nur härter! Ich denke, es kann Dir so oder so nicht schaden, wenn Du das Berufsleben mal kennen lernst und feststellst, was es bedeutet, sich sein Geld hart zu verdienen."

Darauf brummelte er:

"Ich mag das Wort <hart> nicht in diesem Zusammenhang. Das jagt mir eiskalte Schauer den Rücken runter." Dann wandte er sich dem Spülbecken wieder zu.
 

Sanft strich der Wind durch die Bäume und ließ ihre Blätter rascheln. Papierchen flogen durch die Luft und wurden in ungewisse Ferne geweht. Einige Autos fuhren noch durch die nächtlichen Straßen der Stadt Tokyo. Ein wirklich friedliches Bild.

Seufzend schloss Mamoru das Fenster. Er war todmüde. Stunde um Stunde - er wusste nicht mehr zu sagen, wie viele es genau gewesen waren - hatte er geschuftet wie ein Irrer. Ihm als ungelernte Arbeitskraft konnte man natürlich nicht das ganze Spektrum des Berufes auferlegen, aber dennoch hatte es mehr als genug zu tun gegeben. Geschirr abräumen und spülen, hier und da die Tische abwaschen, dann und wann kleinere Bestellungen liefern und einen guten Appetit wünschen, und so weiter. Und das klingt sehr viel harmloser, als es ist!

Mamoru zog seinen blauen Schlafanzug an und ließ sich auf sein Bett fallen. Er hatte kaum die Kraft, sich die Bettdecke überzuziehen. Und binnen kürzester Zeit war er eingeschlafen.

Was er dort in seinem Traum sah, glich wahrlich den kühnsten Vorstellungen vom Paradies! Große, majestätische Vögel mit schillerndem, buntem Gefieder zogen am Himmel entlang, einige stattliche Pferde mit glänzendem Fell grasten friedlich auf einer Weide und Wolfswelpen spielten ganz in der Nähe miteinander.

Staunend drehte sich Mamoru ein paar Mal um die eigene Achse, um auch wirklich alles genau beobachten zu können. Die Weide war gigantisch groß und in weiter Ferne sah man den Waldesrand in jeder Himmelsrichtung. Noch viel weiter weg hoben sich mächtige Berge vom Horizont ab. Alles wirkte so unendlich unermesslich, dass man meinen könnte, die Erde habe mit einem Mal einen viel größeren Radius. Oder diese Welt sei gar nicht die Erde.

Mamoru fühlte ein leichtes Stupsen an seiner Schulter und drehte sich um, zu dem wohl schönsten Pferd, das er in seinem ganzen Leben jemals gesehen hatte. Die orangefarbenen Augen blickten ihn freundlich an und eine gewisse Intelligenz lag in diesem Blick; gerade so, als wolle dieses weiße Pferd mitten in Mamorus Seele sehen. Es schnaubte freudig, kam noch einen Schritt näher und rieb seine warme Schnauze an Mamorus Brust. Kichernd legte dieser seine Hand auf das Maul des Pferdes und streichelte ihm sanft über die weiche Nase, dann hoch bis zur Stirn und dann durch die feinen Haare der eisblauen Mähne. Das Pferd trat einen Schritt zurück und sah Mamoru einige Herzschläge lang an. Dann wieherte es und machte eine Kopfbewegung, die sehr stark an das menschliche Nicken erinnerte. Es wandte den Kopf nach hinten und nickte auf seinen Rücken, dann sah es Mamoru erwartungsvoll an.

"Besser nicht", meinte Mamoru verlegen. "Ich kann nicht reiten, weißt Du? Ich will Dir nicht wehtun."

Das Pferd machte so was wie ein Kopfschütteln, wies erneut mit seiner Nase auf seinen Rücken und schnaubte leise.

"Du willst es ja nicht anders", murmelte Mamoru, trat neben das Pferd, hielt sich am untersten Büschel der langen, leicht gewellten Mähne fest, nahm Schwung und segelte regelrecht auf den Rücken dieses wunderbaren Geschöpfs.

Nach einem erneuten Schnauben setzte sich der Hengst in Bewegung. Er verfiel schon bald in einen schnellen Galopp, der Wind peitschte nur so am Tier und seinem Reiter vorbei. Die Hufe trommelten laut auf dem Boden, Staub schoss hinter den beiden empor. Für Mamoru war es ein wahnsinniges Gefühl der Freiheit und der Freude. Er genoss es, die gewaltigen Muskeln des schneeweißen Pferdes unter sich zu spüren und seine Wildheit zu erleben.

So schnell dieses Pferd auch rannte und so laut seine Hufe auch über den Boden donnerten, den Waldrand schienen die beiden einfach nicht zu erreichen. Fast, als wichen die Bäume im gleichen Tempo zurück. Als Mamoru genau das klar wurde, sah er ein kurzes Aufblitzen. Dann einen hellen, goldenen Lichtstrahl. Und dann erschien ein wunderschönes, langes, goldenes Horn auf der Stirn des Tieres. Dieses Horn schillerte und strahlte wie wohl kein andres Licht auf der Welt. Und als ob das noch nicht genug wäre wuchsen dem Pferd in sekundenschnelle zwei riesige Schwanenflügel aus den Schultern!

Der weiße Hengst erhob sich mit einigen kräftigen Flügelschlägen in die Luft und der Bann, der den Wald immer weiter zurückweichen lassen hatte, schien mit einem Male gebrochen zu sein. Nur Sekunden nach dieser atemberaubenden Verwandlung schwebte Mamoru auf dem Rücken des zauberhaften Wesens über Bäume und Lichtungen, immer weiter, einen sanft ansteigenden Hügel hinauf.

Bis der Wald abrupt an einer Steilwand aufhörte, ganz so, als sei die Welt zu Ende und eine neue würde hier beginnen. Die Aussicht war atemberaubend! Die Steilwand selbst schien etliche hundert Meter lotrecht in die Tiefe zu gehen. Von ihrem Fußende an erstreckte sich eine gewaltige Wiese über einen einzigen, gigantischen Hügel, bis hin zu den kolossalen Bergen, die den Horizont bildeten. Doch diese Wiese war bei weitem nicht leer. Genau in der Mitte erstreckte sich eine gewaltige Palastanlage, überragt von einem hohen Turm, auf dessen Kuppel ein riesiger Sichelmond angebracht war, dessen Spitzen sich nach oben wölbten. Der Palast war wunderschön. Er bestand aus sanft schimmerndem Marmor, überall waren wunderschöne Verzierungen, Symbole, Monde und vor allem Sträucher mit roten Rosen. Zwar gab es auch andere Blumenbeete mit vielen verschiedenen Blumenarten, aber die Rose war bei weitem die häufigste Pflanze. Sie rankte sich um Pfosten und Pfeiler, an Säulen entlang und die Häuserwände des Palastes hoch.

Je näher das weiße Pferd an die Bauten heranflog, umso mehr Details konnte Mamoru erkennen. Die Pracht dieses Schlosses war einfach unbeschreiblich. Alles war in gold, weiß und blassrosa gehalten. Springbrunnen und niedrige Wasserbecken perfektionierten das Bild des Wohlstandes und des Glücks.

Doch irgendwas fehlte hier.

Weit und breit war nicht eine Menschenseele zu sehen. Die Palastanlage wirkte leer und irgendwie ... tot. Als würden alle tief und fest schlafen. Nicht einmal Tiere waren hier. Erst jetzt fiel Mamoru auch die beinahe schon greifbare Stille auf, die sich über die Gebäude gelegt hatte. Es war fast, als würden alle Geräusche aufgesogen. Und die Rosenbüsche, die überall rankten und gediehen erinnerten umso mehr an das Märchen von Dornröschen, die zusammen mit allen Bewohnern ihres Schlosses hundert Jahre lang geschlafen hatte.

Das weiße Pferd landete auf einer breiten, weißen Straße, die von Säulen gesäumt und von Wasserbecken flankiert wurde und genau auf den großen Hauptturm mit dem Sichelmond auf der Kuppel zulief. Es schritt noch einige Meter auf den Turm zu und gebot Mamoru dann mit einem Kopfnicken, von seinem Rücken zu steigen. Er kam der stummen Bitte nach und sah sich staunend um. Irgendetwas schien ihn wie magisch die Straße weiter entlang genau auf den Turm hin zu ziehen. Fast schon willenlos setzte er einen Fuß vor den andren. Als er sich einmal umsah, war das Pferd verschwunden. In Luft aufgelöst. Wie die anderen Bewohner des Palastes.

Mamoru schritt weiter. Wie magisch öffneten sich ihm die gigantischen Tore des Turmes und schwangen absolut lautlos auf. Mamoru betrat den Turm und fand sich in einem düsteren Raum wieder. Schon von dem Augenblick an, in dem er den Palast von weit oben gesehen hatte, war ihm das alles hier so eigenartig vertraut vorgekommen. Doch dieser Eindruck steigerte sich nun ins Unermessliche. Es war, als kehre man nach langen Jahren der Einsamkeit wieder zurück nach Hause.

Mamoru ging mutig immer weiter in die Dunkelheit hinein. Obwohl er die Ausmaße nicht erkennen, nicht einmal erahnen konnte, war ihm, als sei allein dieser Raum viel, viel größer als die ganze Welt da draußen. Irgendwie war das purer Unsinn. Und doch war es hier irgendwie möglich.

Er fuhr herum, als er hinter sich eine sanfte, weibliche Stimme hörte. "Ich habe schon auf Dich gewartet."

Mamoru lächelte. Das Licht, das durch das große Tor hereinflutete, ließ die Frau nur wie ein nachtschwarzer Schemen aussehen. Dennoch erkannte er sie.

"Und ich habe irgendwie gewusst, Dich hier vorzufinden", gestand er. "Ich soll den Silberkristall finden, nicht wahr?"

Die schemenhafte Gestalt nickte. "Ja. Aber das ist bei weitem nicht Deine einzige Aufgabe. Du musst wieder erwachen und Deine ganze Macht entfalten."

Mamoru kicherte. Er wusste selbst nicht, warum er ausgerechnet jetzt kichern musste; wahrscheinlich, weil dieses Erlebnis hier absolut absurd war, ebenso wie die Forderungen dieser Fremden. "Verrätst Du mir auch, wie ich das anstellen soll?", fragte er. "Seit Jahren ... seit Jahren sagst Du mir Nacht für Nacht nichts anderes. Finde den Heiligen Silberkristall. Mach einfach mal, wird schon schief gehen, gell? Ich bin am Ende meiner Kräfte. Ich habe alles versucht! Zum Teufel, es gibt doch absolut nichts, was ich unversucht gelassen hätte! Und von Dir höre ich auch nur die alte Leier, anstatt dass Du mir mal in irgend einer Form helfen würdest! Wie wär's, mach Deinen Dreck doch mal selber, statt nur Forderungen zu stellen!" Er war immer lauter geworden und hatte zum Schluss schon fast geschrieen. Und jetzt, wo er sich so sehr in Rage geredet hatte, keuchte er nach Luft und steigerte seinen Zorn umso mehr, als er bemerkte, wie ruhig sein Gegenüber bei seinen Worten blieb.

"Ich verstehe Deine Erregung", antwortete sie, im selben sanften Ton, in dem sie immer sprach. "Aber ich hoffe Du weißt, wie wichtig Deine Mission ist!"

Mamoru schnaubte verächtlich, hörte aber dennoch still zu, was sie ihm noch zu sagen hatte:

"Und Du hast mein Wort drauf: Du wirst für Deine Mühen reich belohnt werden. Aber Du musst Dich noch ein wenig gedulden. Sieh hinauf."

Mamoru gehorchte - und erstarrte. Er wollte irgendwas sagen, ganz gleich was, aber er brachte vor Staunen keinen Ton raus, als er dorthin sah, wo eigentlich die Decke des Raumes sein sollte. Hell und sanft strahlten dort die Sterne des Universums, die Milchstraße zog sich als ein sanft schimmerndes Band am Himmel entlang, die Planeten des Sonnensystems schienen heller und näher zu sein als sonst, und dort, wo man das silberne Rund des Mondes erwarten würde, strahlte die Erde in ihrem ganzen Glanz. Der Anblick dieser lebenden, leuchtenden Kugel mit dem Blau der Ozeane, dem Grün der Wälder, dem Orange der Wüsten und dem Weiß der Wolken und des Eises war absolut atemberaubend.

"Die Sterne stehen günstig", stellte die schattenhafte Person fest. Mamoru hatte sie vor lauter Staunen völlig vergessen.

"Was meinst Du damit?", erkundigte er sich flüsternd, während er ungläubig nach oben starrte, bis ihm der Nacken wehtat.

"Der Zeitpunkt Deines Erwachens rückt immer näher", erklärte sie. "Und alles, was Du da oben siehst, wird schon bald Dir gehören."

"Guter Witz. Find ich echt klasse."

"Du kannst Dich Deinem Schicksal nicht entziehen, Herr der Erde."

Schon wieder dieser Titel. Was sollte das alles?

"Und wenn ich's doch tu?"

Doch da war der Turm um ihn herum schon verschwunden, ebenso wie die schwarze Gestalt. Er war wieder in seinem Zimmer, lag in seinem Bett und schaute sich verwirrt um. Sein Kopf hing zur Bettkante runter. Kein Wunder tat ihm der Nacken so weh. Seufzend und keuchend arbeitete er sich wieder in sein Bett hinein.

Er gähnte lange, streckte sich und warf dann einen Blick auf seine Armbanduhr. Er könnte mal langsam aufstehen.

Noch während er sich anzog dachte er über diese letzte Nacht nach. Im Nachhinein betrachtet war das doch wirklich ein sehr angenehmer Traum gewesen. Aber was für einer!...

Ein weißes Pferd mit einem Horn und Flügeln! Mamoru lächelte amüsiert in sich hinein. Was für absurde Sachen man doch manchmal träumte! Doch ihm verging das Lachen schnell, als er daran dachte, was für Teufeleien Kioku wohl heute für ihn parat hatte.

"<Angle of Death>", murmelte Mamoru vor sich hin und drehte das Kassetten-Album selbigen Namens zwischen seinen Fingern hin und her. Das Cover zeigte eine ziemlich irrsinnig aussehende Band, die, teils an der Gitarre, teils am Schlagzeug, anscheinend gerade damit beschäftigt war, Musik oder zumindest etwas Derartiges zu produzieren, wobei das Bild durch Totenköpfe und diverse diabolische Symbole "verschönert" worden war. Diese Gruppe trug den kurzen aber prägnanten Namen <Prophecy>.

Zum siebenhundertzweiundachtzigsten Mal besah sich Mamoru die Kassette und wurde dabei immer nervöser. Zum einen mag das an den chaotischen Gesichtsmalereien gelegen haben, die diese Musikanten trugen. Zum anderen waren es aber auch die Zweifel, die Mamoru plagten. Er versuchte sich krampfhaft zu erinnern. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ihm Motoki von dieser Band <Prophecy> vorgeschwärmt. Mamoru glaubte - nein - hoffte inständig, dass es diese Gruppe gewesen war. Er hatte, wenn er im Nachhinein ehrlich war, kaum mit einem Viertel seiner Aufmerksamkeit zugehört. Der Musikstil entsprach nicht wirklich seinem Geschmack. Aber Motoki war davon begeistert. Er hatte damals irgendwas vom neuesten Album gefaselt, für das er leider kein Geld hatte, das er sich aber mehr als alles auf der Welt wünschte.

Nun, er soll es bekommen.

Mamoru stand auf dem Campus der Moto-Azabu-Oberschule und warf den nächsten zweifelnden Blick auf die Kassette. Es würde nicht mehr allzu lange dauern, dann würde der Unterricht anfangen. Ein schwerer Seufzer kam über Mamorus Lippen. Die Schlägerei, die er sich mit Motoki geliefert hatte, tat ihm furchtbar Leid. Er konnte sich nicht mal wirklich klar daran erinnern, was genau geschehen war. Er selbst hatte sich von diesem Kampf diverse blaue Flecken und einige Kratzer hier und da eingefangen, aber soweit ihn sein Erinnerungsvermögen nicht im Stich ließ, hatte Motoki schwer was abbekommen. Mamoru hatte das vage Bild des blutigen rechten Knies vor sich, das Motoki sich zugezogen hatte, als er nach einem gekonnten Schulterwurf meterweit über den Asphalt geschliddert war.

Mamoru hatte schon relativ genau geplant, wie das Treffen mit Motoki verlaufen könnte ... oder besser: sollte. Dementsprechend hatte er sich schon ein paar nette Worte zurechtgelegt. In seiner Vorstellung betrat Motoki den Schulhof - doch wohl hoffentlich nicht auf Krücken?! - und Mamoru würde ... ja, eigentlich nur zu ihm gehen, sich entschuldigen, ihm die Kassette schenken, ihm in den Arsch kriechen und mit ihm wieder gut Freund sein. So viel zur Theorie. Mamoru versuchte allerdings gleichzeitig, sich nicht zu viele Hoffnungen zu machen. Denn erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.

Er stand einfach nur da, etwas am Rand des großen Vorhofs zum Hauptgebäude seiner Schule, drehte wiedereinmal die Kassette hin und her, als sei sie eine Schatzkarte, die er nicht lesen konnte, und murmelte immer mal wieder "<Angle of Death>."

"Das Album soll ja ganz toll sein", ertönte hinter ihm eine Stimme. Mamoru machte einen erschrockenen Satz nach vorne, vollführte eine hundertachtzig Grad Drehung und starrte in das lieblichste Gesicht dieser Erde: in das von Hikari. Er presste theatralisch die Hand auf sein Herz.

"Du hast mich zu Tode erschreckt!", beschwerte er sich keuchend. "Mach das nie wieder!"

"Tut mir Leid", meinte Hikari lächelnd. Dann sah sie wieder auf die Kassette in seiner Hand. "Ich wusste nicht, dass Du so was hörst?"

"Tu ich nicht", murmelte er, ebenfalls auf den Datenträger schauend. "Die hab ich für Motoki besorgt."

Hikari sah ihn überrascht an. Dabei sah es so wahnsinnig schön aus, wie sich ihre tiefgrünen Augen auf ihn richteten. Sie schienen so sanft, so wunderschön, so einzigartig...

"Für Motoki?", fragte sie nach. "Hat er Geburtstag, oder so was?"

"Nöh, das dauert noch", antwortete er und schenkte Hikari ein kleines Lächeln. Sie war zu ihm gekommen, um mit ihm zu reden! Wahrhaftig! Nicht so wie sonst! Diesmal war es umgekehrt! Mochte es sein, dass ihr Interesse für ihn doch noch erwacht war? Hatte diese schier göttliche Schönheit schlussendlich doch eingesehen, dass dieser blonde Pseudosoldat nicht zu ihr passte?

<Du bist gerade wieder drauf und dran, Dich selber zu verarschen>, meldete sich eine kleine Stimme in seinem Inneren. <Wieso sollte sie ihre Meinung so plötzlich geändert haben?>

Eine halbe Sekunde dachte er darüber nach.

<Halt die Klappe>, meinte er dann zu sich selbst.

"Na ja", meinte da die göttliche Schönheit, "es geht mich ja eigentlich auch nicht wirklich was an. Ich wollte nur mal schauen, was Du hier so treibst."

<Mit Dir würde ich's gern mal treiben. Egal wo.>

Er gab sich alle Mühe ein Grinsen zu unterdrücken und beschäftigte sich lieber damit, einen 0,25 Nanosekunden-Blick auf ihre wunderschönen, prallen Brüste zu werfen.

<Oh, wie gerne ich sie küsste, diese schönen, prallen Brüste...>

Er atmete tief durch, um seine Gedanken wieder unter Kontrolle zu bekommen.

"Und, was hast Du so als nächstes vor?", erkundigte er sich; einfach nur, um irgendwas zu tun.

Sie zuckte mit den lieblichen Schultern. "Ich denke, ich setze mich einfach hier irgendwo hin und warte auf Chikara. Kann aber, glaub ich, noch etwas dauern. Und Du?"

<Bäh. Dieser Widerling. Was willst Du mit dem, Du hast doch mich!>

Er warf einen kurzen Blick auf das weite Eingangstor.

"Ich warte noch auf Motoki. Ich hoffe mal, dass das nicht allzu lange dauern wird, bis er kommt."

"Na dann, viel Vergnügen!", wünschte sie ihm.

<Wie gern würde ich mich mit Dir vergnügen!>

Sie winkte ihm zu und schritt anmutig von dannen. "Wir sehen uns dann nachher drinnen", rief sie ihm noch nach.

"Wohin ich auch schaue, ich sehe sowieso immer nur Dich", flüsterte er lächelnd. Dabei färbten sich seine Wangen leicht rosa und sein Blick blieb an ihrem Hintern haften. Beinahe hätte er vor lauter Geistesabwesenheit die Kassette fallen gelassen.

Er atmete tief durch, wandte sich wieder dem Eingang zu, ließ seinen Blick über die anderen Schüler wandern und stockte, als ihm ein blonder Schopf verdächtig bekannt vorkam. Motoki schien Mamoru bemerkt zu haben. Denn der Weg, den er gerade entlangging, war nicht der direkte, geradlinige Weg vom Eingangstor zur Tür des Hauptgebäudes, sondern eine deutliche Kurve zeichnete sich darin ab, so als sei Motoki einige Meter auf Mamoru zugekommen, hätte es sich dann anders überlegt und hätte wieder die Richtung auf die Tür des Hauses eingeschlagen. Er war nicht mehr weit entfernt vom Hauseingang.

<Ist er vielleicht nur wegen Hikari nicht zu mir gekommen?>, überlegte Mamoru. <Immerhin scheint er sie nicht besonders leiden zu können. Aber wie kann man ein so liebliches Geschöpf nur so verachten? ...Wie auch immer. Jetzt geht es um Wichtigeres. ...Wichtiger als Hikari? ...Oh, halt die Klappe!>

Motoki humpelte tatsächlich ein wenig, wie Mamoru auffiel, aber er hatte wohl dennoch keine Krücken nötig.

Mamoru wuchtete sich seine Schultasche auf den Rücken und rannte auf Motoki los.

"Hey, warte doch mal! Motoki! Bleib stehen!", rief er ihm zu. Motoki blieb tatsächlich stehen, wandte sich Mamoru allerdings nicht zu sondern starrte weiterhin geradeaus.

"Wozu?", fragte er. "Damit Du mir das andere Knie auch noch zertrümmern kannst? Oder hast Du vielleicht vor, meine Nase diesmal wirklich zu brechen? Ehrlich gesagt wundert es mich, dass Du mich überhaupt bemerkt hast. Hast Du nicht vielleicht was Wichtigeres zu tun? Frauen verführen, oder so was?"

Mamoru blieb wie angewurzelt stehen und starrte Motoki geschockt an. Er hatte zwar erwartet, dass Motoki ihm nicht unbedingt überschwänglich um den Hals fallen würde, aber mit einer derartigen Giftigkeit und Feindschaft hatte er dennoch nicht gerechnet.

"Ähm", machte er, "wie geht es Deinem Knie? Sehr schlimm? Ich mein ... das wird doch wieder, oder?"

"Oh, ja, ganz toll", zischte Motoki in sarkastischem Ton. "Ich bin Dir wirklich dankbar, dass Du mich auf diese Art und Weise vom Sportunterricht entschuldigst. Genau was ich mir immer gewünscht habe."

Er schnaubte verächtlich. Noch immer konnte er Mamoru nicht in die Augen sehen. Er atmete einige Male tief durch und beruhigte sich langsam wieder.

"Ja, es wird schon wieder", antwortete er endlich. "Hat geblutet wie blöd, und es wird wohl ne Weile dauern, bis alles wieder ganz in Ordnung ist, aber es ist zum Glück nichts ernsthaft verletzt."

"Da bin ich wirklich froh", meinte Mamoru erleichtert. "Ich ... ich hab ... ich wollte das nicht. Ehrlich! Ich weiß selber nicht, was in mich gefahren ist. Ich ... es tut mir wahnsinnig Leid. Was meinst Du, kannst Du mir verzeihen?"

Motoki seufzte und sah betreten zu Boden. Er schien erst ernsthaft darüber nachdenken zu müssen. Schließlich zuckte er mit den Schultern.

"Ich weiß nicht", meinte er zögerlich. "Immerhin ... die ganze Sache ist kein Pappenstiel. Du hast mir wirklich sehr wehgetan, und das nicht nur körperlich. Kannst Du Dir vorstellen, wie es für mich war, Dich mit meiner Freundin rumknutschen zu sehen?"

Mamoru musste darüber einen Moment lang stumm nachdenken. So irgendwie konnte er es ja schon ein Stück weit verstehen. Er selbst wurde jedes Mal halb wahnsinnig, wenn Hikari und Chikara auch nur ein paar Worte miteinander wechselten. Und Chikara war alles andere als Mamorus bester Freund. Aber andererseits war er ja nicht wirklich mit Hikari zusammen. Er war nie mit jemandem richtig zusammen gewesen. Er wusste beim besten Willen nicht zu sagen, ob die Gefühle dann nicht vielleicht eine noch viel höhere Intensität hatten.

Mamoru schüttelte sachte den Kopf. "Ich glaube nicht. Es muss unvorstellbar hart sein. Ich werde das wohl nie wieder richtig gut machen können, was?"

"Was heißt hier nie wieder?", murmelte Motoki und zuckte dabei hilflos mit den Schultern. "Ich denke schon, dass ... nun ja ... dass nicht alles völlig verloren ist. Ich brauche vielleicht nur etwas Zeit, um das alles zu verdauen. Oder so. Ach, keine Ahnung."

Mamoru nickte. Er ließ kurz seinen Blick über die Umgebung schweifen. Der Strom derjenigen Schüler, die das Gebäude betraten , wurde immer dichter, und er und Motoki standen so ein wenig im Weg.

"Komm mit", schlug er vor, "wir machen mal ein bisschen Platz hier. Ich hab's lieber, ungestört reden zu können. Ich trag Dir Deine Tasche."

Motoki wollte zuerst widersprechen, aber dann sah er ein, dass es doch eine große Entlastung für sein Knie war, wenn er Mamoru die schwere Tasche tragen ließ. Es war immerhin so was wie der erste Schritt zur Versöhnung oder so.

Mamoru führte Motoki zu einer der Bänke, die auf dem Schulhof standen. Sie waren somit sehr nah am Rand des Campus; zwischen ihnen und der hohen Steinmauer, die das Hochschulgelände umschloss, gab es nur noch eine Reihe karger Hecken.

Mamoru half Motoki, sich zu setzen. Dieser starrte auch weiterhin unablässig den Boden an. Er schien einen innerlichen Kampf auszufechten.

<Nun>, so entschied Mamoru, <werde ich Dir die Entscheidung etwas leichter machen.>

Er umklammerte die Kassette etwas fester mit den Fingern.

<Ich hoffe bloß, dass diese Entscheidung für mich ausfallen wird... Aber wie fang ich an, um Himmels Willen?>

"Ähm, Motoki? Ich hab ... ähm ... ich...", stammelte er.

"Nur raus damit", ermutigte ihn Motoki, der den Campus beobachtete, während er noch immer mit Grübeln beschäftigt war.

"Weißt Du, es ... es tut mir wirklich, wirklich wahnsinnig Leid. Ich hab echt totale Scheiße gebaut. Und ich möchte mich von ganzem Herzen entschuldigen. Ich meine ... ich ... ich brauche Dich doch."

Er glaubte, ganz kurz ein leichtes Lächeln in Motokis Mundwinkeln gesehen zu haben. Das ermutigte ihn, weiter zu reden. Er schluckte heftig, atmete tief ein und fuhr fort, seine kleine Rede zu halten.

"Du und ich ... wir sind doch schon seit so langer Zeit befreundet. Soweit ich zurückdenken kann, bist Du immer da gewesen. Und ich will unsere alte Freundschaft wirklich nicht so ohne weiteres aufgeben. Das Ganze tut mir wirklich wahnsinnig Leid. Und ich ... ich möchte es wieder gutmachen. Na ja ... also ... was ich sagen will ... hier. Nimm das."

Behutsam reichte er Motoki die Kassette. Überall klebten schweißnasse Fingerabdrücke, obwohl die Luft hier draußen immer noch saukalt war.

Motoki hob die Augenbrauen an, nahm dann die Kassette und drehte sie einige Male in seinen Fingern hin und her. Mamoru konnte absolut nichts im Gesicht seines Gegenübers lesen, es war völlig ausdruckslos. Das konnte einfach alles bedeuten.

"Was ist das?", wollte er wissen.

"Na ja ... Du hast mir doch von dieser Band vorgeschwärmt", erzählte Mamoru verunsichert. "Hast mir von diesem Album berichtet. Dass Du kein Geld dafür hättest und so. Darum hab ich's Dir gekauft. Warum fragst Du?"

Motoki atmete tief ein und aus.

"Mamoru", begann er schließlich zögerlich, "sag mir, was genau bedeutet für Dich Freundschaft?"

"Hä?" Mamoru war etwas verwirrt über diese Frage. Er zuckte kurz mit den Schultern, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. "Ich weiß nicht. Vielleicht für einander da sein?"

"Und was noch?", hakte Motoki nach.

"Nun ja ... sich gegenseitig gut kennen, hilfsbereit sein, zusammen Spaß haben, solche Dinge eben. Wieso?"

"Was noch alles?", beharrte Motoki.

"Was noch? Also..." Mamoru wurde immer nervöser. Was wollte Motoki damit nur ausdrücken? Worauf zum Teufel wollte er hinaus?

"Also ... ähm ... Rücksicht nehmen, trösten, verzeihen ... ähm ... sich gegenseitig Sachen ausleihen, vertrauen ... na ja ... einander zuhören..."

"Einander zuhören?", fragte Motoki nach. Noch immer wanderte sein Blick über den Schulhof. Noch immer blieb sein Gesicht ausdruckslos. Noch immer konnte man nichts Außergewöhnliches aus seiner Stimme heraushören. Und genau das beunruhigte Mamoru mehr als alles andere.

"Ja. Einander zuhören. Warum?"

Motoki schloss die Augen, als würde er konzentriert nachdenken. Er ließ sich gegen die Rücklehne der Bank sinken und atmete einige Male ruhig ein und aus.

"Und warum hast Du mir dann nicht zugehört?", wollte er endlich wissen.

"Was?", flüsterte Mamoru tonlos. Das blanke Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.

"Ganz recht", antwortete Motoki. Er öffnete die Augen nun wieder. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass er Mamoru direkt ansah. Und der reine Zorn sprühte aus seinem Blick. "Du hast mir nicht zugehört. Und zwar überhaupt nicht. Ich hab Dir zwar von Diesem Album erzählt. Ja. Aber nicht, weil ich es haben wollte, sondern weil ich es mir gerade gekauft hatte! Es war genau die Kassette, die ich Dir am fraglichen Tag vorgespielt habe! Ich sagte nicht, ich habe kein Geld dafür, sondern ich sagte, ich musste das Geld lange dafür ansparen und jetzt hab ich sie endlich gekauft! Tja, mein Lieber, soviel zu Deinen Vorstellungen von Freundschaft!"

"A ... aber ... aber...", stotterte Mamoru sprachlos vor sich hin. Na wunderbar! Das hatte er ja sauber vermasselt.

"E ... es ... es tut..."

"Komm mir jetzt bloß nicht mit <es tut mir Leid>! Vergiss es! Komm Du mir nicht mehr unter die Augen, verstanden?"

Wütend arbeitete sich Motoki von der Bank hoch, packte sich seinen Schulranzen, warf Mamoru die Kassette wutentbrannt vor die Füße und stürmte, halb humpelnd, halb auf einem Bein hopsend, davon. Das hätte ja ein lustiges Bild abgegeben, wäre Mamoru nicht so niedergeschmettert gewesen. Ganz langsam hob er die Kassette vom Boden auf und wischte fast schon liebevoll mit den Fingern den Staub ab. Ein winziger Sprung war in einer Ecke der Plastikhülle entstanden. Das perfekte Symbol für eine kaputte Freundschaft. Er seufzte verzweifelt auf.

"Was soll ich denn jetzt bloß tun?", flüsterte er leise vor sich hin. Ihm war sterbenselend. Er bereute sein Tun wirklich. Noch immer schmerzten die Verletzungen und die blauen Flecke an seinem Körper, die er sich bei diesem absolut sinnlosen Kampf zugezogen hatte. Noch dazu hatte er richtig hart arbeiten müssen um sich das Geld zu verdienen, mit dem er dieses Album gekauft hatte. Und es war wirklich alles andere als preiswert gewesen!

Nun war es wertlos. Nichts weiter als ein Stück Plastik mit einem Sprung an einer Ecke. Es war zum Ausrasten!

Mamoru machte sich wahnsinnige Vorwürfe. Er hatte doch gewusst, dass er sich nicht ganz sicher war! Er hätte ja mal ganz nebenbei nachfragen können. Oder er hätte sich eben etwas anderes einfallen lassen sollen.

Und jetzt war es zu spät.

Mamoru schulterte seinen Schulranzen. Zu Tode betrübt lief er ziellos hin und her, während er sich in Gedanken ausschimpfte. Er nahm seine Umgebung kaum noch wahr.

Was er allerdings noch wahrnahm, war Hikari, die in einigen Metern Entfernung auf Chikara zurannte und ihn stürmisch begrüßte. Mamoru wäre am liebsten tot umgefallen. Wie kann ein einziger Mensch nur so viel Pech haben?

Er ging langsam auf die beiden zu. Die Kassette in seiner Hand schien schwerer und immer schwerer zu werden. Er musste diese Last loswerden. Und wenn Hikari dieses verfluchte Ding nicht haben wollte, dann würde es eben im Müll landen. Was soll's? Mit diesem hässlichen Sprung würde auch kein Laden der Welt den Datenträger wieder zurücknehmen.

Und so hatte Mamoru endlich die einzigartige Chance, von Chikara umgebracht zu werden. Es würde wohl lang und grausam werden, aber Mamoru verdiente es auch nicht anders. So zumindest seine Sicht in seiner todunglücklichen Situation.

"Hikari?"

Sie wandte sich ihm zu. Ein bezauberndes Lächeln lag auf ihren Lippen. Ihre smaragdfarbenen Augen sprühten schier vor Lebensfreude. Sie kicherte vergnügt, während sie sich an Chikaras Arm festklammerte. Sie war ja so wunderschön...

"Ja? Was gibt's?", fragte sie.

"Genau, was gibt's, Würstchen?", knurrte Chikara dazwischen. "Wenn Du den Kindergarten suchst, der ist ein paar Blocks weiter. Oder darfst Du noch nicht alleine über die Straße gehen?"

Mamoru überging diese Beleidigung geflissentlich. "Ich wollte Dich fragen, ob Du nicht vielleicht Interesse an der Kassette hättest?"

Hikari nahm das verfluchte Ding mit sichtlicher Verwirrung entgegen.

"Aber...", machte sie und richtete den Blick ihrer herrlichen Augen direkt in seine. "Aber ich dachte, die wäre..."

Mamoru winkte ab. "Planänderung", erklärte er. Er zwang sich zu einem kleinen Lächeln, obwohl ihm überhaupt nicht danach zumute war. "Sagen wir einfach, die Idee war ein Schuss in den Ofen. So was kommt vor."

Hikari schenkte ihm dafür ein strahlendes Lächeln. Wie konnte ein einziger Mensch nur so perfekt sein? Sie ließ Chikaras Arm los, drückte dafür die Kassette an ihr Herz - wobei Mamoru in diesem Moment sehr gerne mit dem hässlichen Plastikding getauscht hätte - und bedankte sich überschwänglich.

"Kein Problem", antwortete Mamoru.

"Sei Dir da mal nicht so sicher", knurrte Chikara dazwischen. Die Eifersucht schien ihm direkt aus den Gesicht zu springen. Er spannte seine gewaltigen Muskeln an. Natürlich war das nur ein Akt der Angeberei. So mutig Chikara auch war, er suchte sich weit weniger besuchte Orte, um seinem Gegenüber zu zeigen, wer der Boss war. Dennoch verfehlte diese Geste ihre Wirkung nicht. Mamoru wich einen großen Schritt zurück. Er war sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob er wirklich schon sterben wollte.

"Ach, Kara, halt doch die Klappe!", fuhr Hikari ihn an, wobei sie ihren Blick nicht von der Kassette nahm.

"Was?", fragte Mamoru nach. "Kara?"

"Ja", erklärte Hikari kurz, "sein Spitzname."

Jetzt konnte sich Mamoru das Grinsen nicht verkneifen. "Ich dachte, das ist ein schottischer Mädchenname..."

"Nimm Dir nicht zu viel auf einmal raus, Waschlappen!", donnerte Kara.

"Lass doch mal!", mahnte ihn Hikari. "Würdest Du uns einen Augenblick alleine lassen? Bitte?"

Darauf verzog Chikara eine Miene. "Aber... Du willst doch nicht... dieses Würstchen..."

Sie warf ihm einen bitterbösen Blick zu, der seinen Widerstand in Nullkommanix zertrümmerte.

"Na gut", seufzte er resignierend. Zu Mamoru gewandt grummelte er:

"Wehe, Du gehst zu weit!"

Er rempelte Mamoru grob an und stapfte wie ein tobsüchtiges Nashorn auf das Schulgebäude zu. Hikari schüttelte seufzend den Kopf.

"Manchmal ist er so ... so besitzergreifend", entschuldigte sie sich.

Mamoru nickte. "Kein Thema."

"Sag mal..." Hikari trat einen Schritt näher an Mamoru heran. Er glaubte sogar ganz leicht den süßlichen Duft ihres Parfüms zu riechen. "Warum schenkst Du mir das? Du hast doch gesagt, die Kassette ist für Motoki? Und überhaupt; ich weiß, wie teuer dieses Album ist. Also?"

Mamoru zuckte mit den Schultern und seufzte dabei.

"Motoki..." Er suchte nach den richtigen Worten. "Sagen wir einfach, er hat sich nicht so drüber gefreut, wie ich das geplant hatte. Shit happens."

"Ah, ja", machte Hikari.

Mamoru fuhr fort:

"Tja, und da habe ich gedacht, Du könntest vielleicht mehr damit anfangen."

Hikari nickte. Dann entstand eine schon fast peinliche Stille. Mamoru starrte auf seine Füße, als wolle er mit bloßem Blick die Schnürsenkel aufmachen. Hikari sah auf die Uhr. "Vielleicht sollten wir so langsam mal..."

"Ich kann es mir nicht vorstellen", wurde sie von Mamoru unterbrochen.

"Hä? Wie bitte?", fragte sie verwirrt nach.

"Ich meine, ich kann mir nicht vorstellen, dass Du mit Chikara wirklich so glücklich bist. Obwohl Du mir alles erklärt hast - dass er Dich liebt und sich um Dich kümmert, und so weiter - nun, ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, dass ... er Dich so sehr liebt ... wie ich es tue."

Hikari hob ungläubig die Augenbrauen. "Das tust Du? Immer noch?"

Mamoru nickte. Er nahm endlich seinen Blick vom Boden und sah Hikari an. Er sah irgendwie traurig aus. Man spürte einfach, dass er es wahnsinnig ernst meinte.

Hikari runzelte die Stirn. "Also, Du bist entweder ziemlich stur, oder ziemlich dumm."

Erneut zuckte er mit den Schultern und antwortete:

"Wahrscheinlich beides."

Sie stand da und starrte ihn an, während sie über seine Worte nachdachte. Doch er ließ ihr nicht wirklich genug Zeit für eine Antwort.

"Gehen wir", schlug er vor, nahm ihre Tasche, ging zur Tür, hielt sie seiner Angebeteten auf und blickte sie erwartungsvoll an.

Nur einen Moment später, nachdem sie schweigend neben einander durch das Schulhaus gegangen waren, erreichten sie das Klassenzimmer. Zuerst stellte Mamoru Hikaris Tasche an ihren Platz, dann setzte er sich auf den seinen. Dabei fiel ihm allerdings die Leere auf, die sich schier greifbar breitgemacht hatte. Verwirrt sah er sich um und fand endlich Motoki. Er hatte sich einige Reihen weiter nach vorne neben Shôgai gesetzt.

Mamoru war in diesem Augenblick der einsamste Mensch im weiten Umkreis.

Beverly Sills hat einmal gesagt: "Du bist vielleicht enttäuscht, wenn Du scheiterst, aber Du bist verloren, wenn Du es nicht versuchst."

Mamoru war am Rande der Verzweiflung. Seine Sehnsucht nach Hikari war ins Unermessliche gewachsen. Andauernd kam er mit ihr auf die eine oder andere Weise in Kontakt, doch zugleich war sie ihm so fern, als sei sie auf einem fremden Planeten. Und der Weg zum Raumschiff war durch Chikara versperrt. Regelrecht zugenagelt. Dann musste Mamoru wohl oder übel in der nächsten Zeit immer noch die hunderttausend Strafen über sich ergehen lassen, die seine Tante Kioku über ihn verhängt hatte. Noch dazu verwirrte ihn die unbekannte Frau zunehmend, die ihm Nacht für Nacht erschien und jedes Mal etwas von einem Silberkristall faselte. Und als sei das noch nicht genug, war er einfach in der letzten Zeit ein paar Mal zu oft ins Fettnäpfchen getreten und hatte dadurch seinen besten Freund auf der ganzen Welt vergrault. Nichtsdestotrotz war er wild entschlossen, an all diesen Schwierigkeiten zu arbeiten.

Denn Du bist verloren, wenn Du es nicht versuchst.

Die Frage, die sich ihm nun stellte, war nur: Wie zum Teufel sollte er das anstellen??? Das hatte ihm diese Beverly Sills, wer oder was sie auch immer sein oder gewesen sein mag, nämlich nicht verklickert.

Todunglücklich hockte Mamoru im Unterricht und brütete über seine derzeitige Lage. Zum Nachdenken hatte er viel Zeit - und besonders viel Platz, jetzt da Motoki sich woanders hingesetzt hatte - und beides nutzte er gut; wenn auch nicht, um dadurch seine Ausbildung zu fördern. Er machte sich an seinem Tisch breit, stützte den Kopf auf seinen Armen auf und schaute hilflos auf Motokis Nacken. Mehr sah er von ihm nicht, denn Motoki wandte sich nicht ein einziges Mal zu Mamoru um. Und wenn er mal nicht damit beschäftigt war, sich Versöhnungsmöglichkeiten zu überlegen, schweifte sein Blick zu Hikari rüber. Auch sie beteiligte sich nicht aktiv am Unterricht sondern war in Gedanken bei dem Datenträger, den sie in ihrer Hand hielt. Seit Mamoru ihr die Kassette geschenkt hatte, war Hikari anscheinend nicht mehr dazu fähig, sie aus der Hand zu legen. Zumindest etwas, worüber er sich freuen konnte.

Ein leicht schmerzhaftes Stechen durchzuckte seinen Körper. Und das nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Reagierte sein Körper auf diesen immensen Stress mit einer Magenverstimmung? Oder war womöglich irgendwo auf der Erde wieder ein Vulkan ausgebrochen, und auf unerklärliche Weise fühlte er das Leiden seines Planeten?

Seines Planeten? Mamoru begann an seinem Verstand zu zweifeln. Ein Schatten aus einem jahrelangen Traum hatte ihm irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt, und nun fing er damit an, tatsächlich daran zu glauben, er sei der Herr der Erde? So ein Blödsinn!

Dennoch würde diese Theorie vieles erklären. Aber das alles war doch unmöglich!

"Der Zeitpunkt Deines Erwachens rückt immer näher", so hallte die Stimme der Unbekannten in seinem Gedächtnis nach, "und alles, was Du da oben siehst, wird schon bald Dir gehören."

Wieder fühlte er die bohrenden Schmerzen in seiner Magengegend, diesmal noch etwas deutlicher. Noch nicht so stark, dass er sie nicht ertragen hätte, aber sie waren immerhin mächtig genug, ihn das Gesicht verziehen zu lassen. Wenn er wirklich mit dieser Welt verbunden war, dann war sie aber ziemlich ungerecht zu ihm.

Allmählich klangen die Schmerzen wieder ab. Mamoru wusste, es würde nicht lange dauern, bis sie zurückkehrten. Aber im Augenblick gab es einfach Wichtigeres, als das eigene Wohl: Motoki. Die Schulglocke klingelte und kündigte den Anfang der Pause an. Einige der Schüler stürmten johlend nach draußen, einige sammelten sich um sich über dies und jenes zu unterhalten und andere holten Bücher oder Zeitschriften hervor und begannen zu lesen. Mamoru kämpfte sich durch den allgemeinen Trubel durch bis zu Motoki.

"Kumpel, rede mit mir; bitte!", bettelte er.

"Ich bin nicht Dein Kumpel", fauchte Motoki und verschränkte beleidigt die Arme. Er starrte mit vor Zorn gerötetem Gesicht auf einen Punkt irgendwo auf der Tischplatte vor ihm. Sein verletztes Knie sorgte dafür, dass er sich zumindest nicht ohne weiteres aus dem Staub machen konnte, wie er es vielleicht ganz gerne getan hätte. Mamoru wusste das. Ihm war klar, dass es eigentlich ein ziemlich dreckiger Gedanke war, für diese Verletzung dankbar zu sein. Dazu kam ja noch, dass dieser Streit ohne diese Wunde wahrscheinlich nicht in Gang gekommen wäre. Dennoch war diese Schramme im Augenblick sein einziger Pluspunkt. Er versuchte weiter, auf Motoki einzureden:

"Motoki, ich bitte Dich. Ich flehe Dich an! Ich kriech sogar auf Knien vor Dir herum, wenn Dir das Spaß macht! Aber rede mit mir!"

"Tja, Du kannst zumindest noch auf Deinen Knien kriechen!", beschwerte sich Motoki.

"Ich weiß", rief Mamoru hilflos aus, "ich weiß! Und es tut mir Leid! Es tut mir wirklich wahnsinnig Leid!"

Er spürte wieder das Aufkeimen der Schmerzen in seinem Bauch. Für ihn war es ein Gefühl, als würden das Ziehen und das Stechen immer weiter nach oben wandern und größere Gebiete einnehmen. Es war, als würde ein wahnsinnig schweres Gewicht an den Lungen und den Rippen hängen. Und es war alles andere als angenehm. Schon jetzt bildeten sich winzige Schweißperlen auf seiner Stirn.

"Weißt Du was?", grollte Motoki gerade. "Rede mit der Tafel. Vielleicht hört die Dir ja zu. Ich tu's jedenfalls nicht."

"Aber Motoki!", begehrte Mamoru auf. "Das kannst Du mir doch nicht antun!"

Oh, doch; und wie er das konnte! Er drehte in einer schon fast gelangweilt anmutenden Bewegung seinen Kopf von Mamoru weg und starrte auf die Wand.

"Motoki?"

Keine Reaktion.

"Motoki, bitte!"

Nichts.

"Motoki..."

Null. Nada. Niente.

"Motoki", seufzte er ein allerletztes Mal, doch vergeblich. Motoki hatte seine Ohren auf Durchzug geschaltet.

"Überleg's Dir noch mal", schlug Mamoru flüsternd vor, wandte sich mit hängendem Kopf um und verließ den Raum. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wohin er gehen oder was er machen sollte. Er wollte bloß weg. Abstand gewinnen. Motoki etwas Zeit lassen. Selber ein wenig nachdenken. Und sein Magen fühlte sich noch immer an wie auf die Folterbank gespannt.

Er strich sich mit dem Handrücken über die Stirn, um die gröbsten Schweißperlen abzuwischen und fuhr sich dann durch die kurzen, blauschwarzen Haare. Ziellos lief er den langen Gang entlang, einfach nur irgendwo hin. Grübelnd starrte er dabei auf den Boden.

<Muss ich vielleicht erst als Herr der Erde erwachen, ehe Motoki sich wieder mit mir versöhnen will? Vielleicht bin ich dann reich und mächtig, und dann kann er voller Stolz sagen, dass ich sein Freund bin... Andererseits soll man Freundschaft nicht erkaufen. Wenn das mit dem "Herrn der Erde" nicht bloß ein einziger Scheißdreck ist.>

Viel zu spät erkannte er den Schatten vor sich und rannte hilflos hinein.

"Hey, pass doch auf!", dröhnte es ihm entgegen.

"Tschuldigung", murmelte er automatisch zurück, richtete dann den Blick auf sein Gegenüber und konnte erst jetzt wirklich erkennen, wen er angerempelt hatte. Chikara stand vor ihm und machte ein ganz und gar nicht erfreutes Gesicht.

"Du schon wieder?", grummelte der. "Du hast wirklich ein sagenhaftes Talent, mich zu reizen."

"Das wollt ich echt nicht. War ein Versehen", nuschelte Mamoru. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

<Wenn ich wirklich als mächtiger, starker, strahlender Märchenprinz und Herr der Erde erwachen soll, dann wäre das hier genau der richtige Zeitpunkt...>

"Ein Versehen?", echote Chikara. "Wie, bitteschön, kann man mich übersehen?!"

Irgendwie hatte er da schon recht. Bei dieser Größe und Breite war ein Mensch alles andere als unsichtbar. "Ich könnt Dir mal aus Versehen den Schädel spalten, was hältst Du davon?"

"Nicht viel", antwortete Mamoru wahrheitsgetreu.

Chikaras Blick verfinsterte sich im gleichen Maße, wie seine Muskeln immer weiter wuchsen und sich anspannten. Ein deutliches Zeichen dafür, dass Mamoru es mal wieder geschafft hatte, sich einen Riesenärger einzuhandeln. Wie schaffte er das bloß andauernd?

"Och, Chikara, jetzt lass das doch mal!", stellte sich Hikari dazwischen. Mamoru bemerkte mit Freuden und mit Erstaunen, dass sie noch immer die Kassette - seine Kassette! - in der Hand hielt. Anscheinend bedeutete ihr dieser Datenträger eine ganze Menge.

"Und wenn ich's nicht lassen will?", fauchte der Angesprochene nun beleidigt. "Ich kann's nich ab, dass dieses Würstchen hier einen auf großen Macker macht. Wenn Dir jemand was schenken darf, dann bin ich das!"

"Ich weiß gar nicht, was Du hast!", antwortete Hikari mit einem wütenden Funkeln in den Augen. "Das war doch nichts weiter als eine höfliche Geste! Und überhaupt! Freu Dich doch für mich, dass ich einfach mal so was bekommen hab, was ich schon so lang haben wollt!"

Mamoru war die Sache wahnsinnig unangenehm. Er konnte es nicht leiden, wenn man über ihn sprach, als sei er nicht anwesend. Zum anderen allerdings konnte er sein Glück kaum fassen - Hikari verteidigte ihn! Dennoch konnte er sich weit Schöneres vorstellen, als weiterhin diesem Streit beizuwohnen.

"Ich geh dann mal", murmelte er und machte sich aus dem Staub.

"Nix da!", meinte Hikari, packte ihn an der Hand und zog ihn wieder zurück. Sofort bekam er knallrote Wangen. Sie hielt ihn tatsächlich an der Hand! Ihre Finger waren so schlank, so zart, und ein wenig kühl - nicht so wie seine heißen, verschwitzen Finger. Es fühlte sich an, als würden elektrische Funken hin und her zucken. Ein herrliches Gefühl der Nähe!...

Und zwischendrin machte sich immer mal wieder sein Bauch bemerkbar. Was war denn bloß los mit ihm?

"Lass ihn los", flüsterte Chikara drohend.

"Und wenn nicht?" Hikari setzte ein herausforderndes Lächeln auf, doch ihr Blick schien eiskalt zu sein. Sie ließ dann Mamorus Hand tatsächlich los - aber nur, um ihre Arme um seinen Körper zu schlingen und sich fest an ihn zu drücken. "Ich mache, was ich will!", fügte sie hinzu. Währenddessen schlich sich die Röte immer weiter in Mamorus Gesicht und er fühlte sich, als würde er im Schnellkochtopf sitzen. Ihm war so heiß, dass er fast schon glaubte, Dampfwolken aus seinen Ohren kommen zu sehen. Er blieb allerdings passiv, anstatt die Arme auch um sie herum zu schlingen. Das traute er sich angesichts der Situation dann doch nicht.

War vielleicht auch ganz gut so. Chikara verfiel nämlich in genau diesem Moment in Raserei. Von Eifersucht und Wut getrieben stürzte er sich auf die Beiden, packte Hikari grob an der Schulter, riss sie von Mamoru fort, versetzte ihr einen noch relativ leichten Stoß, der sie zurücktaumeln ließ, und wandte sich dann Mamoru zu. Er packte ihn am Kragen, riss ihn herum, drückte ihn mit dem Gesicht gegen die Wand und verdrehte gekonnt Mamorus Arm auf seinem Rücken. Mamoru keuchte vor Überraschung und Schmerz auf. Er presste Zähne und Augen aufeinander und schnappte nach Luft.

"Chikara! Lass das!", kreischte Hikari entsetzt. Doch stattdessen bereitete es Chikara die größte Freude, Mamorus Arm immer weiter zu drehen. Dieser stöhnte bereits leise auf. Es war ihm, als würde sein Arm bald aus dem Gelenk gerissen.

"Lass ihn los!", brüllte da die Stimme eines jungen Mannes ganz in der Nähe der Beiden. Vor Verblüffung lockerte Chikara den Griff ein wenig, wenn er ihn auch nicht ganz losließ, und Mamoru lechzte angestrengt nach Luft. Er öffnete die Augen wieder und glaubte kaum, wen er da sah.

"Motoki!"

Motoki hatte sich breitbeinig neben Chikara aufgebaut und hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Blick drückte puren Zorn aus.

"Ich habe gesagt, Du sollst ihn loslassen. Na wird's bald!", forderte er lautstark.

Chikara keuchte überrascht. Mit so viel Unverfrorenheit hatte er niemals gerechnet, besonders nicht von so einem!

"Was zum Teufel willst Du schon großartig tun?", rief er Motoki entgegen. "Mich zu Tode spucken?"

"Sei nicht dumm!", antwortete Motoki darauf. "Willst Du Dich wirklich mit uns beiden anlegen? Mit Mamoru und mit mir? Ich hätte Dich wirklich für klüger gehalten. Du kommst niemals gegen uns beide an, absolut unmöglich! Da kannst Du noch so stark sein. Und überhaupt, wenn Du schon Ärger machen willst, dann solltest Du's zumindest dort tun, wo es keinen interessiert. In der Schule ne Schlägerei anzuzetteln finde ich da ziemlich gewagt, nicht wahr? Also lass es."

"Hör auf ihn!", schlug Mamoru nuschelnd vor. Es war nicht einfach, zu reden, wenn einem das Gesicht gegen eine Wand gepresst wurde.

Chikara dachte einen Augenblick lang nach. Dann schnaubte er verächtlich, ließ Mamoru aber doch los. Während sich dieser die Schulter massierte, beugte sich Chikara bedrohlich zu ihm vor und flüsterte ihm zu:

"Wir tragen das untereinander aus. Mann gegen ... Würstchen. Nur Du und ich. Heute Abend. 18 Uhr. Auf dem Sportplatz hier auf der Schule. Du kommst, und zwar pünktlich und allein."

"Wieso sollte ich?", wehrte sich Mamoru. "Da hab ich dummerweise keine Zeit. Ich muss zum Ballett, danach hab ich Reiten und dann geh ich auf ein Kaffeekränzchen."

"Witzbold", wisperte Chikara humorlos. "Du kommst, und damit basta, Würstchen."

Er wandte sich zum Gehen um, als ihm Mamoru neugierig hinterher rief:

"Magst Du Würstchen? Immerhin, wenn Du mich schon so oft so nennst..."

Chikara drehte sich in einer bewusst langsamen Bewegung herum, starrte Mamoru an und antwortete:

"Nein, Ich bin Vegetarier."

Damit trabte er davon.

"Das erklärt einiges", murmelte Mamoru und wandte sich Hikari und Motoki zu, die wortlos einige Meter entfernt dastanden. Er selber brachte auch keinen Laut über die Lippen. Zu sehr saß der Schock noch in seinen Knochen.

"Was hat er gesagt?", wollte Motoki wissen.

"Er sagte..." Mamoru suchte fieberhaft nach einer faustdicken Lüge. Motoki durfte von diesem Treffen nicht ein Wort erfahren. Sonst wäre sein ganzer Einsatz gerade eben völlig wertlos geworden. Und er würde - vielleicht - Mamoru daran hindern wollen. Nein, Mamoru durfte noch nichts sagen. Nicht, solange er sich noch nicht entschieden hatte, ob er dieser <höflichen Einladung> tatsächlich Folge leisten sollte.

"... er sagte, ich soll mich in Zukunft zurückhalten, sonst könne ich was erleben. So ein Bastard! ...Ähm, entschuldige, Hikari."

Sie winkte ab. "Schon gut, schon gut. Du hast ja recht."

"Was? Wirklich?", fragte Mamoru verblüfft nach. Währenddessen drehte sich Motoki seufzend um und humpelte wieder zurück in Richtung Klassenzimmer.

Hikari nickte. "Manchmal kann er sich ja so daneben benehmen..." Sie massierte ihre Schulter. Erst jetzt erinnerte sich Mamoru daran, dass ihr Chikara vorhin diesen derben Stoß verpasst hatte.

"Hat er Dir wehgetan?", fragte er besorgt nach, während er Motoki dabei zusah, wie der immer weiter den Gang entlang ging.

Hikari zuckte mit den Schultern. "Ach, war nicht so schlimm." Sie hob die Kassette an, die sie immer noch in der Hand hielt. "Nochmals danke dafür. Ich denke, ich werde sie vorläufig in mein Schließfach sperren; nicht, dass Chikara noch auf dumme Gedanken kommt, wenn er sie weiterhin ansehen muss." Sie kicherte. "Wir sehen uns nachher!", rief sie Mamoru zu, winkte ihm und rannte dann los.

"Bis dann", murmelte er und starrte ihr noch einige Sekunden lang wie verzaubert hinterher. Sie war ja so wunderschön, und sie hatte ihn tatsächlich umarmt! Der pure Wahnsinn!

Aber jetzt gab es erst mal Wichtigeres zu tun. Als Mamoru Motoki hinterher joggte, spürte er wieder dieses unangenehme Stechen in der Magengegend. Was zum Teufel konnte das bloß sein?

"Motoki, warte doch mal!"

Er wartete nicht. Er humpelte einfach weiter. Aber er bewegte sich dabei sehr langsam, und Mamoru hatte ihn schnell eingeholt.

"Motoki... Danke. Vielen Dank, dass Du mich beschützt hast."

"Hmpf!", antwortete er nur.

"Das war richtig mutig von Dir! Hätte ich gar nicht erwartet!", meinte Mamoru begeistert.

"Hmpf!", machte er wieder.

"Ach, Motoki!" Mamoru stellte sich vor ihn und versperrte ihm so den Weg. Er fasste seinem Gegenüber an die Schultern uns sah ihn eindringlich an. "Bist Du immer noch beleidigt? Es tut mir doch so Leid!"

"Hmmm." Motoki schüttelte langsam den Kopf. "Damit ist es nicht getan. Weißt Du, Du hast bei Deiner Aktion mit der Kassette ganz schön meine Gefühle verletzt, indem Du mir so deutlich gezeigt hast, dass Du mir nicht zugehört hast, und dass das, was ich sage, Dir völlig gleichgültig zu sein scheint. Ich kann das nicht einfach unter den Teppich kehren."

"Aber das verlange ich doch gar nicht!", erklärte Mamoru. "Alles, was ich will, ist noch eine Chance! Bitte! Ich weiß, ich hab Scheiße gebaut, aber ... ich meine, ist das wirklich so ein Weltuntergang?"

Erneut krampfte sich sein Bauch schmerzhaft zusammen, aber er überstand den Anfall tapfer und ohne mit der Wimper zu zucken.

"Ich mach's auch wieder gut", versprach er. "Sag mir, was ich tun soll. Bitte."

Er warf Motoki seinen süßesten Hundeblick zu - das konnte er besonders gut - und Motoki wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Schließlich seufzte er schwer.

"Gib mir etwas Zeit", verlangte er. "Ich muss erst noch darüber nachdenken. Ich meine, diese Kassette war ja nur das letzte Glied einer langen Kette von Fettnäpfchen, in die Du reingetreten bist. Erinnere Dich daran, was Du mit meinem Knie gemacht hast. Und mit meiner Freundin. Übrigens, nur dass Du's weißt: Ich hab jetzt grad üblen Stress mit Reika. Sie schmeißt mir an den Kopf, ich hätte überreagiert. Dabei denkt sie ja im Traum nicht dran, dass sie ja immerhin angefangen hat. ...Ich meine, sie war es ja immerhin auch, die Dich abgefüllt hat, stimmt's? Darauf wärst Du von selber ja gar nicht gekommen."

Mamoru nickte bestätigend und lächelte Motoki an. "So ist es. ...Gut, wenn Du noch etwas Zeit brauchst, ist das in Ordnung. Ich will Dich beim besten Willen nicht bedrängen."

Motoki stupste ihn an die Schulter. "Du bist Dir wohl ziemlich sicher, dass ich mich für Dich entscheide, was?"

Mamoru nickte. Sie gingen wieder ins Klassenzimmer. Immerhin war die Pause schon so gut wie zu Ende.

Trotz dieses außergewöhnlichen Erlebnisses, von dem man hätte meinen können, dass es die beiden alten Freunde wieder zusammenschweißt, verbrachte Mamoru auch den restlichen Schultag allein an seinem Tisch. Die Schmerzen in seiner Magengegend waren abgeklungen, aber nicht vollständig verschwunden.
 


 

[Anmerkung des Autors:
 

Ich hab schon über die Hälfte der Geschichte geschafft, soweit zumindest meine Schätzung. Wenn ich falsch liege - umso besser! Dann wird das hier nämlich ne längere Sache. Ich liebe das Schreiben. Es ist so herrlich!
 

Dennoch bereitet es dann und wann auch die einen oder anderen Probleme. Manchmal ist man als Autor unmotiviert oder hat nicht die geringste Ahnung, wie man dies schreibt und jenes ausdrückt; oder man hat keine konkrete Vorstellung davon, wie man einen Übergang zur nächsten Szene bauen soll!
 

Nichtsdestotrotz habe ich nicht aufgegeben (noch nicht *g*) und das verdanke ich meinen treuen Fans. Sie haben mir Mut gemacht und mich dazu gebracht, weiter zu arbeiten. Und ich finde, diese Arbeit hat sich wirklich gelohnt.
 

Deshalb möchte ich mich bei allen Kommischreibern bedanken. Ihr unterstützt mich sehr! Und mein ganz besonderer Dank geht an steffinator und an RallyVincento! Ich danke euch für alles!
 

Draco]

"Ich geh einkaufen!", rief Mamoru und schlüpfte in seine Jacke.

"Ach ja?" Kioku kam zu ihm, als er gerade dabei war, sich einen Schuh anzuziehen. "Und was?"

"Och, pffft, so dies und jenes", wich er aus.

"Geht's auch präziser?", hakte Kioku nach. Irgendwas an ihrer Stimme ließ Mamoru aufhorchen.

"Na ja", antwortete er, noch mit seinem Schnürsenkel beschäftigt, "ne Zeitschrift."

"Welche?"

Mamoru dachte fieberhaft nach. "Über Motorsport. Du weißt schon... da kommen so... Motoren drin vor... und ne Menge Sport..."

"Seit wann interessierst Du Dich für so was?", erkundigte sich Kioku. Ihr Interesse klang irgendwie geheuchelt.

"Nur so. Warum nicht?"

"Und wie heißt die Zeitschrift?"

"Öh", machte Mamoru, während er in den zweiten Schuh schlüpfte, "die hat keinen Namen. Ich mein... die hat schon nen Namen, aber der is egal. Also, ... is für Kunst. Für ne Collage. Ich soll da so Autos zusammenkleben."

"Ich kann Dir Zeitschriften mitbringen", schlug Kioku vor. "Immerhin geh ich gleich eh zum Einkaufen."

"Pffft, nicht nötig. Mach ich schon selber, danke."

"Und wie willst Du das anstellen?", fragte Kioku. Erst jetzt blickte Mamoru von seinen Schuhen auf. Seine Tante hatte sich während des Gesprächs demonstrativ gegen die Haustür gelehnt.

"Was meinst denn Du damit?", meinte Mamoru in unschuldigem Ton.

"Nun ja", antwortete sie mit einer wohlberechneten rhetorischen Pause. "Wird schwierig, einkaufen zu gehen, wenn man Hausarrest hat."

"Wie jetzt, ich hab Hausarrest?", fragte er wie beiläufig. Natürlich kannte er die Antwort schon längst. Sie bestand darin, dass Kioku eine Augenbraue hochzog und ihm einen treib's-nicht-zu-weit-Blick zuwarf.

Er seufzte schwer und zog sich Jacke und Schuhe wieder aus.

"Braves Kind", lobte Kioku mit unverhohlenem Sarkasmus. "Na ja, war ein netter Versuch. Und jetzt geh und vergeude Deine Zeit lieber damit, die Vitrine im Wohnzimmer zu putzen. Und danach kannst Du Dich um den Abwasch kümmern."

Mit hängenden Schultern schlurfte Mamoru ins Wohnzimmer, wo seine Tante ihm vorsorglich schon einen Putzeimer bereitgestellt hatte. Dort machte er sich an die Arbeit und schmollte dabei. Sein Plan war nicht aufgegangen. Aber irgendwie hätte er sich das ja auch denken können. Er brauchte eine bessere Ausrede. Aber was?

Glücklicherweise hatte er sich etwas Zeitpuffer herausgeholt. Ihm war klar gewesen, dass Plan A fehlschlagen musste. Deshalb hatte er seine Flucht um Einiges zu früh angesetzt. Bis zu seinem Treffen mit Chikara würde es noch ein gutes Stück dauern. Aber er hatte nicht ewig Zeit. Er zermarterte sich das Gehirn, während er damit beschäftigt war, teures Geschirr, kleine Porzellanfiguren und diverse Erinnerungsstücke aus der Vitrine zu räumen möglichst ohne dabei zu viel Staub in die Nase zu bekommen. Ihm war klar, ein kleiner Nieser würde genügen, und eine dieser Kostbarkeiten könnte am Boden zerschellen. Er wäre tot, würde eines dieser wertvollen Stücke ein so plötzliches und unnötiges Ende finden.

<Lieber tot hier als noch toter nachher bei diesem Treffen>, schoss es Mamoru durch den Kopf. Er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wieso er so scharf darauf war, von diesem Wichtigtuer Prügel zu beziehen. Vor allem bereitete ihm sein Bauch immer noch Probleme. Es kam, es ging. Noch hatte er seiner Tante nichts davon erzählt. Er dachte sich, sie könnte ihn vor Sorge zu irgend einem Doktor schleifen. Und das war das Letzte, was er brauchen konnte. Erstens hasste er alles, was ihn an Krankenhäuser erinnerte, und zweitens befürchtete er, dadurch massig viel Zeit zu verlieren. Und er wollte pünktlich erscheinen, um sich eine blutige Nase zu holen. Herrje, wieso hatte er sich zu so was im wahrsten Sinne des Wortes breitschlagen lassen?

Er verstand selber nicht, wie ein Mensch freiwillig in sein so offensichtliches Verderben rennen konnte. Aber dann kam ihm nur ins Gedächtnis, wie Hikari ihn heute Morgen vor Chikara beschützt hatte, und alle Sorgen waren wie fortgeweht. Vielleicht war das der Grund. Vielleicht ging er wirklich nur für sie dieses Risiko ein. Zwei Ritter, die im Kampf auf Leben und Tod um das Herz des unberührten Burgfräuleins fochten. Obwohl Mamoru irgendwie daran zweifelte, dass Hikari noch Jungfrau war. Ein schmerzhafter Stich ging durch sein Herz bei dem Gedanken, dass sie mit Chikara... Bäh! Oder hatte sie vor Chikara schon einen andren Freund gehabt? Oder sogar mehrere?

"Mamoru! Hallo! Noch im Reich der Lebenden?"

"Hä? Was?"

Erst jetzt fiel ihm auf, wie seine Tante vor seinem Gesicht herumfuchtelte. "Lass das!"

Sie ließ ihre Hand wieder sinken, verschränkte die Arme vor der Brust und meinte:

"Du wirst nie fertig, wenn Du nur minutenlang dastehst und Löcher in die Luft starrst. Die Vitrine putzt sich nicht von selbst. Wo hast Du Deine Gedanken?"

Mamoru bekam sofort rote Wangen. "Das geht Dich mal gar nichts an."

Kioku gab sich geschlagen. "Hauptsache, Du tust hier irgendwas Produktives."

"Ja, ja", meinte er und widmete sich wieder seiner Arbeit, seinen Träumen und seinen Fluchtgedanken.
 

"Ich geh den Müll raustragen!", rief er quer durch den Flur.

<Wieso melde ich mich eigentlich jedes Mal ab? Ich wäre vielleicht längst draußen, wenn ich einfach stillschweigend verschwinden würde, anstatt eine schlechte Ausrede nach der andren zu erfinden.>

Doch zu spät, Kioku war schon zur Stelle. Sie beäugte die beiden Müllsäcke in seinen Händen misstrauisch.

"Wieso willst Du Deine Jacke und Deine Schuhe wegwerfen? Hast Du eingesehen, dass Du ja doch keine Chance hast? Dann kannst Du auch einfach die Sachen in den Schrank räumen, nicht?", meinte sie.

"Was? Nein! Ich ... äh ... was meinst Du?"

Kioku seufzte und wies auf den Müllsack in seiner linken Hand. "Wenn Du solche Sachen nach draußen schmuggeln willst, dann tu das doch zukünftig in einem Beutel, der nicht durchsichtig ist, was?"

<Mist.>

"Ich hab ja nichts dagegen", fuhr Kioku ungerührt fort, "dass Du den Müll raus bringst, aber zuerst trägst Du die Kleider wieder in Dein Zimmer zurück. Und Du kannst Seigis Schuhe ausleihen, um kurz raus zu gehen."

Mamoru erkannte dies klar als eine weitere ihrer Vorsichtsmaßnahmen. Seigis Schuhe waren ihm ein gutes Stück zu groß, und er würde wohl kaum versuchen, mit ihnen und dafür ohne Jacke wegzulaufen. Er lehnte den richtigen Müllsack gegen die Wand und trug den Beutel mit seinen Klamotten in sein Zimmer zurück.

Soviel also zu Fluchtversuch Nummer 25, Plan Y. Na toll. Ihm gingen so langsam die lateinischen Buchstaben aus. Mamoru war zwar mit jedem Male kreativer geworden, doch leider hatte das Gleiche für Kioku gegolten. Und die Zeit wurde langsam knapp.

Was sollte er denn noch tun? Fliegen?

...Warum denn eigentlich nicht?

Aber er musste sich beeilen. Er hielt kurz die Luft an und lauschte. Kioku schien sich seinem Zimmer nicht zu nähern. Flink schlich er zu seinem Fenster und öffnete es. Ihn trennten fünf Stockwerke bis zum Erdboden, und unten auf der Wiese oder auf der nahe gelegenen Straße war keine Menschenseele zu sehen. Kurzerhand warf Mamoru sein Gepäck auf dem Fenster und hoffte inständig, dass es keiner finden möge, während er noch auf dem Weg nach unten war. Er schloss das Fenster wieder und hastete aus seinem Zimmer.

"Wusste nicht, dass Du so ne Freude dran verspürst, Dich um den Müll zu kümmern. Merk ich mir", witzelte Kioku, als Mamoru an ihr vorbeistürmte. Er zog sich fieberhaft Seigis Schuhe über und stürzte zur Tür.

"Du gehst? Ohne das hier?" Kioku hielt ihm den Müllbeutel unter die Nase. Er knurrte kurz, griff danach, und rannte zum Fahrstuhl. Dabei wäre er fast über die zu groß geratenen Schuhe seines Onkels gestolpert.

"Beruhig Dich, Du hast noch genug Zeit", meinte Kioku in ihrer schnippischen Art und bevor sie die Tür hinter sich schloss meinte sie noch: "Die Arbeit läuft Dir ja nicht weg!"

<Aber ich ihr!>, dachte Mamoru mit siegessicherer Schadenfreude.

Gewonnen! Na ja, so gut wie. Der eigentliche Kampf lag ja erst noch vor ihm. Er rannte nach draußen, warf achtlos den Müllsack neben den Container, umrundete dann das Hochhaus, wobei er einige Male stolperte, und schloss schlussendlich glückselig den Plastikbeutel mit seinen Sachen in die Arme. Schnell hatte er seine Jacke und seine Schuhe angezogen, Seigis Riesenlatschen in der Plastiktüte verstaut und diese wiederum sicher unter einer Hecke versteckt. Bevor Kioku auch nur auf die Idee kommen konnte, sich Gedanken zu machen, war Mamoru längst über alle Berge.
 

Er musste inzwischen joggen, wenn er noch rechtzeitig da sein wollte. Das hatte auch was Gutes an sich, denn er als Kampfsportler wusste, dass es sich aufgewärmt gleich viel besser kämpfte. Er machte nur dann und wann eine kleine Pause, um sich zu dehnen und die Muskeln etwas aufzulockern. Er war irgendwie überhaupt nicht aufgeregt oder nervös, und er wusste nicht mal, warum. Das einzige, was ihm Sorgen bereitete, war sein Bauch, der noch immer in unregelmäßigen Abständen schmerzhafte Signale versandte. Doch das konnte noch warten.

Die letzten zweihundert Meter bis zum Sportplatz ging er in gemütlichem Tempo. Er hatte nur noch ein paar Minuten Zeit und wollte etwas Kraft sammeln ehe es zur Auseinandersetzung kam.

Der Sportplatz war rechteckig, über die Länge hinweg war ein Fußballplatz angelegt. Parallel zum Fußballfeld verliefen fünf schnurgerade Rennbahnen für den 100-Meter-Sprint, die am oberen Ende in einen Sandkasten für die Weitspringer führten. Das Dunkelrot des Hartgummiuntergrundes auf dem ganzen Platz wurde nur durch die weißen Linien unterbrochen, die für die Sprinter und Fußballspieler angebracht worden waren. Der gesamte Platz wurde von einem mehrere Meter hohen Zaun umgeben, der aus recht dünnen, aber sehr robusten Metallstäben bestand, die so nah bei einander standen, dass nicht mal ein Tennisball zwischendurchgepasst hätte. Nur eine Tür, die aus dem gleichen Drahtgeflecht bestand, führte auf den Platz oder wieder von ihm weg. Im Moment hätte Mamoru sich mehr Ausgänge gewünscht. Wenn es nach ihm ginge, könnte man in diesen Zaun so viele scheunentorgroße Öffnungen anbringen wie Löcher in einem Schweizer Käse sind. Dann wäre seine Chance zu fliehen, wenn es drauf ankäme, höher. Aber so konnte er nichts weiter tun, als resigniert zu seufzen und sich seinem Schicksal hin zu geben. Auf der Seite des Platzes, wo die Tür eingelassen war, hatte man Aussicht auf den nahe gelegenen Parkplatz und die Straße, die drei weiteren Seiten waren von dichten, recht hohen Rosenbüschen umgeben. Zwischen dem Zaun und den Büschen war nur ein Pfad von kaum mehr als anderthalb Metern, gerade so viel Platz, dass der Gärtner die Ranken stutzen konnte, bevor sie den Zaun erreichen und die Sportler mit den spitzen Dornen verletzen konnten. Jetzt, Anfang März, sahen die Sträucher etwas trostlos aus, denn die Blüten waren noch nicht da, nur kleine Knospen wuchsen aus den für ihre Schönheit bekannten Pflanzen.

Mamoru schloss die Tür hinter sich. Der Zaun wirkte nun wie eine Festung, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Wie ein Gefängnis. Oder wie eine Kampfarena, bei der nur der Sieger lebend wieder herauskommen konnte. Den dunkelroten Hartgummibelag des Platzes hätte man auch für getrocknetes Blut halten können, fand Mamoru. Exakt in der Mitte des Platzes - so exakt, dass man hätte meinen können, ein gigantischer Mathematiker hätte diesen Punkt persönlich vermessen und markiert - stand Chikara, die Arme vor der Brust verschränkt und siegessicher in Mamorus Richtung grinsend.

"Ah, nun sieh mal einer an! Mein Prügelknabe ist pünktlich!", grölte er quer über den Platz.

"Die Bezeichnung <Sieger des Tages> würde mir besser gefallen!", brüllte Mamoru zurück. Er schlenderte auf seinen Kontrahenten zu. So langsam aber sicher wich die Coolness aus ihm, doch er versuchte es zu verbergen. Was ihm aber ziemlich schwer fiel. Trotz des kühlen Windes, der kleine Sandkörnchen des Weitsprungbeckens umhertrieb, spürte Mamoru die Schweißperlen auf seiner Stirn. Eine wahnsinnige Nervosität breitete sich in ihm aus, verlief über sämtliche Nervenbahnen hinweg bis in die äußersten Spitzen seiner Glieder.

Er war an Chikara heran. Sie standen einige Herzschläge lang regungslos vor einander. Wie zwei Raubtiere, die sich nie zuvor begegnet waren, aber beide nicht vorhatten, klein bei zu geben.

"Bereit, den Rest Deines erbärmlichen Lebens im Rollstuhl zu verbringen, Würstchen?", erkundigte sich Chikara.

"Bereit, den Rest meines erbärmlichen Lebens damit zu verbringen, mir meine Rente zu bezahlen und mich umher zu rollen?", entgegnete Mamoru. Er hoffte, irgendwie um eine gebrochene Nase herumkommen zu können. "Ich mein, wir könnten uns doch in ein nettes Café setzen und alles ausdiskutieren, findest Du nicht?"

Chikara lachte laut auf. "Das sieht Dir ähnlich! Nein, nein, Würstchen! Die Zeit des Redens ist vorbei."

Er zog seine Jacke aus. Darunter trug er nur ein weißes T-Shirt, das eigentlich viel zu eng anlag und schier zerriss aufgrund der gewaltigen Muskelmasse, die sich darunter abzeichnete. Mamoru gefiel so gar nicht, was er da vor sich sah, wenn es auch ein regelrecht faszinierender Anblick war. Dennoch entging ihm nicht die Bewegung, die er im Augenwinkel wahrnahm.

"Ich dachte, Du wolltest auch alleine kommen?", meinte er in vorwurfsvollem Ton.

Jetzt erst drehte er seinen Kopf zu der dritten Person und erkannte sie voller Ãœberraschung als Hikari.

"Sie hier?", fragte er verblüfft.

"Schiedsrichter. Was dagegen?" Chikara schaffte es, noch etwas breiter zu grinsen.

"Ich wollte ihr eigentlich den Anblick ersparen, wie ich ihren heißgeliebten Großkotz in Grund und Boden stampfe", erklärte Mamoru schulterzuckend. "Du weißt schon. Pure Rücksicht."

Chikara ging einfach nicht auf die Sticheleien ein. Stattdessen reichte er Hikari seine Jacke. Sie nahm das Kleidungsstück an sich und hielt Mamoru die freie Hand hin, zum Zeichen dafür, dass er ihr seine Jacke auch geben solle. Das tat er dann auch. Allerdings nicht kommentarlos.

"Drückt Ihr mir die Daumen, holde Maid?"

Sie kicherte leise, gab aber keine richtige Antwort darauf. Doch nicht einmal das schien Chikara aus der Ruhe zu bringen. Es schien fast, als sei sein Grinsen in seinem Gesicht festgefroren. Na ja, zumindest passte es so zu seinem eiskalten Herzen, fand Mamoru. Er streifte sich den dicken Pullover über den Kopf und drückte auch ihn Hikari in die Hand. Sein weißes Unterhemd, das nun zu Tage trat, war schon voller Schweiß, aber er machte sich keine Sorgen, sich erkälten zu können. Bei diesem Highlight würde ihm schon warm genug werden, davon war er überzeugt. Und es war wichtig, alles loszuwerden, was ihn im Kampf unnötig einschränken konnte.

"Was für Regeln gelten?", erkundigte sich Mamoru, der nun noch ein letztes Mal all seine Muskeln dehnte.

"Regeln?" Chikara sah irgendwie geisteskrank aus mit dieser fast schon unmenschlichen Fratze. "Wozu das denn? Die schränken doch nur ein!"

"Ja, dafür sind sie gedacht. Stimmt schon", entgegnete darauf Mamoru in sarkastischem Ton.

Darauf lachte Chikara nur. "Ok, wie wär's damit: Regel Nummer eins, man lässt den andren am Leben."

"Ja? Ich höre. Fahre fort", meinte Mamoru als er sich ausgiebig streckte und sich auflockerte.

"Reicht doch. Ich weiß gar nicht, was Du willst."

Mamoru schüttelte ungläubig den Kopf. Tat der nur so dämlich oder war er so versessen auf dieses Gefecht, dass er sein Gehirn völlig ausgeschaltet hatte? Falls letzteres zutraf, konnte das entweder etwas sehr Gutes oder etwas sehr Schlechtes bedeuten. Etwas Gutes, wenn er so vor Wut verblendet war, dass er sich nicht mal an die einfachsten Grundlagen der hohen Kampfkunst erinnern konnte. Etwas Schlechtes, wenn er durch seine Gleichgültigkeit sein Gefühl für Feinheiten verlor und nicht mehr Gnade noch Rücksicht in irgend einer Form kannte.

"Ich meine", setzte Mamoru zu einer Erklärung an, "wann ist der Kampf beendet? Gibt es ein Unentschieden? Wann steht der Sieger fest? Beschränken wir uns auf nur eine Kampfsportart? Und welchen Preis gibt der Verlierer dem Gewinner?"

Er streckte seine Arme in den Himmel und drückte seinen Rücken durch, bis seine Wirbelsäule knackte. Dann zog er sich schlagartig vorne zusammen, als wieder dieser eigenartige Schmerz durch seinen Unterleib zuckte. Er sollte besser schleunigst herausfinden, was da nicht stimmte, und etwas dagegen unternehmen. Er hielt kurz die Luft an, zum einen, um so den Schmerz etwas zurückzukämpfen, und zum anderen, um keinen Klagelaut abzugeben. Er stand nun vor einem harten Kampf und er durfte keine Schwäche zeigen; auf keinen Fall!

Doch Chikara schien zum Glück tatsächlich nichts gemerkt zu haben.

"Unentschieden is nich", antwortete er endlich. "Ich bin der Sieger, wir wenden jede nur erdenkliche Kampfsportart an, der Preis ... nun, was hältst Du von Ruhm und Ehre? Und wann der Kampf beendet ist? Natürlich dann, wenn Du bewusstlos am Boden liegst. Nicht eine Sekunde eher."

"Bist ja schwer von Dir überzeugt", presst Mamoru keuchend hervor. Seine Bauchmuskulatur schien sich zu verkrampfen. Ihm war irgendwie mit einem Male speiübel.

"Was ich von Dir anscheinend nicht behaupten kann", stellte der Blonde fest. "Aber von Dir hab ich ja doch nichts anderes erwartet. Und nun würde ich sagen, auf los geht's los!!!"

Das letzte Wort hatte er lauthals geschrieen und sich in der selben Sekunde auf Mamoru gestürzt. Beide schlugen auf dem robusten Gummiboden auf und Mamoru wurde durch den harten, unerwarteten Aufprall die Luft aus den Lungen gepresst. Der Schmerz durchzuckte seinen Bauch wie ein Stich mit einem glühend heißen Schwert. Er keuchte auf und gab leise, krächzende Laute von sich. Er hatte noch keine Zeit gefunden, seine Lungen mit frischem Sauerstoff zu füllen.

"Fängst Du schon an zu schwächeln?", lachte Chikara und verpasste Mamoru einen derben Kinnhaken. Die Wucht des Schlages traf ihn wie eine Dampflok. Sein Kopf wurde zur Seite geschleudert und seine Schläfe knallte gegen den Boden. Er hatte sich aber schnell wieder gefangen, winkelte seinen Arm an und stieß mit aller Kraft seinen Ellenbogen in den Magen seines Gegners. Chikara schien es kaum zu stören. Noch immer verunstaltete dieses grässliche Grinsen sein Gesicht. Er hatte keine Mühe damit, Mamoru an den Oberarmen zu packen, ihn hoch zu reißen und ihn mit einem gekonnten Schulterwurf durch die Lüfte segeln zu lassen. Dieser fing den Sturz geschickt ab, rollte über die Schulter, stieß sich vom Boden weg und kam in einer fließenden Bewegung wieder auf die Beine. Er ließ Chikara aber keine Zeit, noch mal anzugreifen, sondern nahm Anlauf, sprang mit einem gewaltigen Satz in die Luft, machte eine geschickte Dreihundertsechziggraddrehung um die eigene Achse und griff mit einem Fersenkick an. Und die Attacke saß. Chikara wurde hart an der Schulter getroffen und einige Meter weit zu Boden geschleudert. Geschickt wie eine Katze setzte Mamoru wieder auf der Erde auf. Er federte aus der Hocke nach oben und stürzte sich wieder auf Chikara, um ihn mit einem Schlag ins Gesicht zu attackieren. Zu spät bemerkte er das siegessichere Grinsen, das einfach nicht aus dem Gesicht des Blonden weichen wollte. Noch immer auf dem Boden liegend winkelte er sein Bein an und begrüßte Mamoru mit einem heftigen Tritt in den Bauch. Dieser war zu schnell und konnte nicht mehr ausweichen, sodass er mit der ganzen Wucht seines Angriffs in den gemeinen Konter seines Gegners lief. Er brach hustend und keuchend zusammen.

Rote Schlieren waberten vor seinen Augen hin und her und seine Übelkeit schien noch zuzunehmen. Einige Augenblicke wankte er unsicher umher und sein Gleichgewicht hätte ihn fast verlassen, hätte sich nicht inzwischen Chikara aufgerappelt, um das selbst in die Hand zu nehmen. Er riss Mamoru grob zu sich herum, griff mit der linken Hand in die beiden Träger des Unterhemds und schlug mit der rechten Faust erbarmungslos zu; immer wieder, sechs Mal, sieben Mal, acht Mal...

Mamoru sah nur eine Möglichkeit. Er riss beide Arme hoch, um sich vor den Schlägen zu schützen, sprang dann mit beiden Beinen vom Boden ab und ließ sich blindlings in den Trägern hängen, die Chikara immer noch eisern festhielt. Durch das plötzliche, immense Gewicht auf seinem linken Arm wurde Chikara vorwärts gerissen. Noch im freien Fall drehte sich Mamoru weiter, stieß seinem Kontrahenten sein Knie ins Gesicht und stöhnte laut auf, als er ziemlich unsanft mit dem Rücken auf dem Boden aufschlug. Sein Widersacher hatte derweil vor Schreck und Schmerz Mamorus Unterhemd losgelassen. Er lag auf dem Boden und presste sich die Hand gegen die blutüberströmte Schläfe, während er laut aufjaulte.

"Das wirst Du büßen, Du Scheißkerl!", fluchte er.

"Na, na! Es sind Damen anwesend!", mahnte Mamoru sarkastisch. Er lag schweratmend auf dem Boden und konzentrierte sich, um den Schmerz loszuwerden, der ihm durch Bauch, Rücken und den Kopf jagte. Er stützte sich ab, um aufzustehen. Er kam nicht weit. Chikara war schon wieder heran und verpasste ihm einen sauber gezielten Schlag auf die Nase. Mamoru fiel rückwärts und knallte hart mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf, während er sich die Hand gegen das Gesicht presste. Noch bevor er die Gelegenheit hatte, irgendetwas zu unternehmen, war sein Feind wieder auf den Beinen und stand mit blutigem Kopf über ihm. Sein Blick war finster. Endlich war das hässliche Grinsen verschwunden.

"Sprücheklopfer", murmelte er. "Dir zeig ich, wo der Hammer hängt."

Er holte weit aus und versetzte Mamoru einen heftigen Tritt in die Seite. Dieser brüllte auf und krümmte sich auf dem Boden. Erst viel zu spät bemerkte er, was für eine schlechte Idee das war, denn in dieser Haltung präsentierte er Chikara seinen Rücken als perfekte Zielscheibe. Und dieser Fehler blieb nicht ungestraft. Er wurde halb ohnmächtig, als er den gewaltigen Stoß in seinen Nieren spürte. Der Schmerz schien seinen gesamten Leib explodieren zu lassen. Zwischen seinen Ohren ertönte ein lautes Rauschen und wie aus weiter Ferne hörte er seine eigenen, lauten Schreie und das grässliche, vergnügte Lachen seines Gegners, der Spaß daran fand, Mamoru immer weiter als Fußball zu missbrauchen.

Und dann, am Rande der Bewusstlosigkeit, hörte er die sanfte Stimme hinter seiner Stirn.

Kämpfe. Befreie Deine Macht. Erwache, Herr der Erde.

Er wusste selbst nicht, woher er die Kraft nahm, aber als nächstes führte Mamoru - immer noch auf dem Boden liegend - einen geschickten Tritt aus, der Chikara von den Füßen fegte. Er selbst erhob sich wieder, was ihn einige Mühe kostete. Die Welt schwankte vor seinen Augen und die seltsamen, blutigen Schwaden umnebelten immer noch seinen Verstand. Er schaute sich verwirrt um. Hatte er nicht gerade noch eine Stimme gehört? Neben ihm kam Chikara wieder langsam auf die Beine, und im Abstand von etwa fünfzig Metern stand Hikari auf dem Sportplatz und schaute den beiden Kerlen aus schreckgeweiteten Augen zu. Sie war ganz blass. Anscheinend hatte sie sich den Kampf nicht so brutal vorgestellt. Hatte sie ihm gesagt, er solle erwachen? War sie womöglich sogar die Person, die er Nacht um Nacht sah? Hatte er schon von ihr geträumt, als er ihr noch gar nicht körperlich begegnet war?

Ein derber Schlag ins Gesicht holte Mamoru wieder in die Realität zurück. Er torkelte rückwärts und prallte gegen die Umzäunung. Chikara holte zu einem weiteren Schlag aus.

Kämpfe! Bitte! Du musst Dich stellen! Nur so erfährst Du Deine wahren Fähigkeiten!

Wieder diese Stimme! Wieder dieses kurze Aufflackern von neuer Kraft und neuem Kampfeswillen! Mamoru duckte sich blitzartig unter dem Hieb seines Gegners durch. Chikaras Hand prallte ungebremst gegen den metallenen Zaun und die Haut platzte an den Knöcheln auf.

Das war die Gelegenheit!

Mamoru atmete tief ein, nahm gewaltigen Schwung, indem er sich um die eigene Achse drehte, und dann ließ er seinen Fuß in den Nacken seines Kontrahenten krachen. Eh er's sich versah stieß Chikara laut brüllend mit der Stirn und der Lippe gegen die Verstrebungen des Zaunes. Er sackte zurück, doch Mamoru hatte sich schon hinter ihm aufgebaut, packte ihn nun am Kragen des T-Shirts, nahm Schwung und donnerte den Kopf des Blonden wieder gegen das Gitter. Und wieder. Und wieder. Bis die eigenartige Kraft ihn wieder verließ. Er konnte Chikaras gewaltiges Gewicht nicht mehr halten. Das Shirt entglitt seinen Fingern. Blutend und stöhnend sackte der Feind zu Boden. Auch Mamoru konnte sich nicht mehr aufrecht halten. Er brach in die Knie und landete unsanft auf den Händen. Einige Meter weit konnte er noch krabbeln, dann verließen ihn seine Kräfte völlig. Haltlos fiel er zu Boden. Sein Schweiß vermischte sich mit dem Staub und dem Sand unter seinem Gesicht. Die ganze Welt vor seinen Augen schien sich zu drehen und bunte Pünktchen tanzten wild vor seinem Gesichtsfeld auf und ab. Ununterbrochen pulsierten seine Nieren schmerzhaft in seinem Rücken, und sein Bauch verkrampfte sich bis ins Unerträgliche. Er war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte, wie aus weiter Ferne seinen Namen zu hören. Mühevoll drehte er den Kopf. Alles schien vor ihm unscharf zu sein, er konnte seine Umgebung kaum erkennen. Doch seine Augen sagten ihm, Hikari würde geradewegs auf ihn zugelaufen kommen. Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Es würde schon bald alles wieder in Ordnung kommen. Wenn doch nur diese grässlichen Schmerzen endlich aufhören könnten!

Noch ehe er einen weiteren Gedanken hätte denken können, krachte erneut die Faust seines Gegners in sein Gesicht. Mamoru stöhnte leise auf - zu mehr war er nicht mehr fähig. Er lag hilflos auf dem Bauch, sein Gegner über ihm. Chikara fuhr mit einer immer noch kräftigen und schnellen Bewegung mit dem Arm unter Mamorus Hals und riss ihn in einem einzigen, schmerzhaften Ruck nach oben. Er stand nun aufrecht hinter dem halb knienden, halb schlaff hängenden Mamoru und drückte mit dem Unterarm dessen Kehle zu. Vom Selbsterhaltungstrieb geleitet hob Mamoru seine Arme, griff nach dem Unterarm seines Peinigers und zerrte mit Leibeskräften daran - doch vergeblich. Der Druck steigerte sich sogar eher noch.

Du musst kämpfen! Du musst weiterleben, das ist wichtig! Gib nicht auf!

<Was soll ich denn tun?>, fragte er sich verzweifelt. Er hörte in seiner Nähe ein schrilles Kreischen. Müde und unendlich langsam hob er ein Augenlid und sah Hikari vor sich. Sie stand tatsächlich da und schrie irgendwas. In seinem desolaten Zustand konnte er ihre genauen Worte nicht mehr hören, er griff nur Wortfetzen auf. Aber er verstand denn Sinn dessen, was sie da sagte. Sie forderte Chikara lauthals auf, sofort loszulassen!

Was er als nächstes mitbekam waren ein klatschendes Geräusch und eine schnelle Bewegung direkt vor seinem Auge. Sein Gehirn wurde durch den Sauerstoffmangel langsam ernsthaft vernebelt, aber es konnte sich dennoch einen Reim darauf machen, was geschehen sein musste. Chikara hatte sich das von seiner Freundin nicht bieten lassen und hatte ihr einen so heftigen Schlag verpasst, dass sie zu Boden gestürzt war.

<Ich ... muss ... ihr ... helfen...>

Doch zuerst musste er sich um sich selbst kümmern. Anscheinend ging es Chikara nicht schnell genug. Vielleicht wollte er einfach nicht warten, bis Mamoru erstickt war. Jedenfalls lockerte er den Griff um seine Kehle. Aber nur, um stattdessen einen anderen Griff anzusetzen. Er stützte sein Knie in Mamorus Rücken, etwa in Höhe der Schultern. Seine Hand griff nach Mamorus Stirn. Und dann zog er den Kopf des Schwächeren langsam aber stetig nach hinten. Am Ende seiner Kräfte und gegen die Schmerzen in seinem Nacken ankämpfend, kniff Mamoru seine Augen aufeinander.

Als ein undeutliches Raunen hörte er Hikaris Schrei:

"Du brichst ihm das Genick!"

<Nein! Das darf nicht sein!>

Du, Herr der Erde, musst jetzt sofort wiedererwachen! Du musst Deine Kräfte erwecken! Du musst kämpfen! Du musst Deine Aufgabe übernehmen!

<Ja>, dachte Mamoru. Urplötzlich erfüllten Hoffnung und tiefes Vertrauen sein Herz.

<Ich bin bereit.>

Eine angenehme Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Er spürte, wie sein Herzschlag sich langsam beruhigte und einen kräftigen, gleichmäßigen Rhythmus annahm. Ein tiefer, innerer Frieden breitete sich in seinem Brustkorb aus und nahm ihm alle Schmerzen und alles Leid. Er öffnete wieder die Augen. Sein Blick war klar und so scharf wie nie zuvor. Hikari lag vor ihm auf dem Boden und hatte sich auf einen Ellenbogen aufgestützt. Ihre Hände, Unterarme und das linke Knie waren mit blutigen Schrammen versehen und die pure Panik sprach aus ihrem Gesichtsausdruck. Mamoru setzte ein beruhigendes Lächeln auf, das ihr sagen sollte es ist alles in Ordnung. Jetzt wird alles gut.

Die Wärme in seinem Körper steigerte sich nun rapide, wurde zu einem Strom aus purer, wenn auch angenehmer Hitze, der durch seinen ganzen Leib floss. Dann schien irgendetwas diese Hitze aus seinem Fleisch zu saugen. Der Sog verstärkte sich immer weiter, und schien durch seine Brust nach draußen zu weichen. Und dort, wo die Energie dieser Wärme die Luft berührte, entstand ein kleines, goldenes Leuchten. Zunächst waberte ein formloser goldfarbener Nebel durch die Luft, und dann, nach einem hellen Blitz, erschien auf einmal ein eigenartiges Gebilde aus dem Nebel. Ein durchsichtiger, goldfarbener Polyeder erschien, in dessen Mitte eine kleine, goldene Kugel schwebte. Was sich da materialisierte, glich einem perfekt geschliffenen Kristall, der von innen heraus leuchtete und strahlte. Mamoru streckte die Hand aus und ergriff den glänzenden Kristall. Und dann geschah alles gleichzeitig:

Ein gleißendes, intensives, goldenes Strahlen entwich dem etwa faustgroßen Kristall und breitete sich wie eine kleine Explosion aus. Durch die Druckwelle wurde Chikaras Körper fortgerissen und mit dem Rücken gegen den Zaun geschleudert. Hikari war anscheinend zu weit entfernt, sie spürte nur einen heftigen Windstoß, der an ihren Kleidern zerrte, der aber nicht stark genug war, ihr zu schaden.

Mamoru selbst wurde nur sanft vom Wind erfasst, der mit seinen Haaren spielte und seinen Körper von Schmutz und Schweiß befreite. Das helle Strahlen des Kristalls blendete ihn so sehr, dass er die Augen schließen musste. Und dennoch wusste er immer noch genau, was alles in seiner Umgebung geschah. Er sah alles um ihn herum; und das sogar in einer bislang ungekannten Schärfe und Genauigkeit. Doch damit nicht genug.

Er fühlte die Erde unter sich. Aber er spürte sie nicht nur wegen der Gravitation, die ihn nach unten zog; nein. Er fühlte die gesamte Erde, als Ganzes, als ein System, als ein Planet. Er spürte jedes einzelne Sandkorn, jede einzelne Pflanze, jedes einzelne Tier, jeden einzelnen Menschen. Jede Geburt und jedes Sterben. Er konnte alle Klagelieder und allen Jubel, jede einzelne Sprache auf dieser Welt hören und verstehen. Alles Licht und alle Wärme spürte er ebenso auf seiner Haut wie auch alle Dunkelheit und alle Kälte. Er wusste auf einen Schlag um jeden einzelnen Grashalm und um jedes einzelne Insekt. Er fühlte regelrecht das emsige Treiben der Würmer, Bakterien und Maden, die abgestorbenes Material wiederverwerteten und so Material für neues Leben heranschafften. Er sah, wie die Bäume das lebensspendende Wasser aus dem Boden sogen. Er erlebte im kleinsten Detail die Umsetzung von Sauerstoff zu Kohlenstoffdioxid, und dann wieder von Kohlenstoffdioxid zu Sauerstoff. Er sah die Erde, das Wasser, das Feuer und den Wind. Und er verstand, wie sehr sie alle von einander abhingen, und das sie einen festen Kreis des Lebens bildeten.

Mamoru spürte, wie dieser ganze Planet, sein Planet, fühlte, wuchs, gedieh, atmete, lebte!

Gerade, als diese Masse an Eindrücken und Impulsen sein menschliches Gehirn zu übersteigen drohte, riss der Strom an Informationen mit einem Male ab. Nach nur einer Sekunde tiefster Verbundenheit mit dieser blauen, lebensspendenden Kugel, kehrte Mamoru geistig wieder in die Wirklichkeit zurück, die er genaugenommen nie wirklich verlassen hatte; eher noch: deren Teil er geworden war. Oder die zu einem Teil von ihm wurde.

Mamoru sah sich verwirrt um. Hikari lag immer noch an der selben Stelle, wo er sie zuletzt gesehen hatte. In dieser einen Sekunde, in der er sich mit diesem Planeten vereinigt hatte und zum Herrn dieser Welt geworden war, hatte sie sich nicht um einen Millimeter bewegt. Nur der Ausdruck der Verwirrung und des Unglaubens war noch deutlicher in ihr Gesicht getreten.

Als Mamoru sich umwandte, sah er auch, warum.

Er hatte zwar noch mitbekommen, dass Chikara durch die heftige Druckwelle gegen die Umzäunung geschleudert worden war, aber was danach mit ihm geschah, das wurde Mamoru erst jetzt klar, wo er dieses unglaubliche Bild vor Augen hatte:

Chikara hing an diesem Zaun. Er hing wirklich, so erstaunlich das auch klingen mag. Rosenranken wanden sich um seinen Körper und hielten ihm am Zaun fest, die Arme zu beiden Seiten weit abgespreizt, die Beine senkrecht zum Erdboden hin zeigend, den Kopf haltlos herunterhängend. Er war offensichtlich bewusstlos. Die Rosenranken waren anscheinend in Bruchteilen von Sekunden gewachsen, und zwar in genau dem Moment, in dem Mamorus Feind gegen den Zaun geprallt war. Und das Außergewöhnlichste war: Sie blühten. Das galt nicht nur für die Äste, sie sich um Chikaras Körper rankten, und ihm unzählige blutige Schnitte in die Haut ritzten. Alle Rosen, die rund um den Sportplatz wuchsen, blühten nun in den schönsten, tiefsten Rottönen auf, obwohl es eigentlich um diese Jahreszeit viel zu kalt war für diese herrlichen Pflanzen. Aber sie taten es. Es war, als hätten sie etwas von der gewaltigen, goldenen Energie abbekommen, und das hätte ihnen genügt, um solche Pracht zu erlangen. Sie blühten und gediehen, als hätten sie nie etwas anderes getan. Als wollten nie wieder etwas anderes tun.

Mamoru sah sich weiter um. Er suchte alles mit seinen Augen ab, aber den goldenen Kristall konnte er nicht mehr finden. War er in seinen Körper zurückgekehrt? Aber das war nun gleichgültig.

Noch immer verwirrt auf dem Boden sitzend starrte Mamoru seinen Feind aus ungläubig geweiteten Augen an. Bis er eine Bewegung bemerkte. Hikari rappelte sich langsam vom Boden auf. Sie tat einen Schritt, keuchte vor Schmerzen auf und fiel vorwärts. Mamoru sprang hastig auf, machte einen großen Satz auf sie zu und fing sie auf. Dann stutzte er. Er sah an sich herunter und stellte verblüfft fest, dass all seine Verletzungen komplett verheilt waren.

<Was ist mit mir geschehen?>, fragte er in sich hinein.

Keine Antwort.

<Was wird weiter sein?>

Stille.

<Was genau ist meine Mission? Wozu bin ich da?>

Nichts.

Er wartete vergeblich auf die Antwort der unbekannten Frau, die sonst immer in seinem Geist herumspukte. Nach einem langen Seufzer beschloss er, auf die Nacht und damit auf seinen nächsten Traum zu warten, um mit ihr zu sprechen. Bis dahin gab es noch Wichtiges zu tun. Er spürte Hikaris sanfte Hände, als sie sich haltsuchend an seiner Brust abstützte. Ihr linkes Knie sah nicht gut aus, ebenso wie ihre Unterarme. Er spürte ihre Körperwärme mit einem Feingefühl wie selten zuvor in seinem Dasein. Mit leicht roten Wangen schob er den einen Arm unter ihre Schultern und den anderen unter ihre Knie, hob sie hoch, ging neben dem Zaun in die Hocke, setzte sie neben Chikara wieder ab und lehnte sie gegen das Gitter.

"Danke", flüsterte sie leise. Sie schien wirklich üble Schmerzen zu haben, doch sie warf ihm einen tapferen Blick zu. "Was ist mit ihm?", fragte sie und ihre Augen wanderten kurz zu Chikara und dann wieder zu Mamoru zurück.

"Ich weiß auch nicht genau", murmelte er und erhob sich wieder. Er stellte sich vor seinen bewusstlosen Gegner und sah ihn mit fragendem Blick an. Chikara hing dort am Zaun wie gekreuzigt, und die Rosen schienen ihn eisern festhalten zu wollen. Als Mamoru sie allerdings zögerlich berührte, zogen sie sich raschelnd zurück; langsam genug, dass Chikara nicht einfach wie ein Sack Mehl zu Boden plumpste, aber immer noch schnell genug, dass man die Bewegung richtig sehen konnte.

Mamoru fing seinen Gegner behutsam ab und legte ihn vorsichtig auf den Boden. Chikara hatte zwar an diesem Tag ein gutes Stück übers Ziel hinaus geschossen, aber Mamoru war jetzt nicht nach Rache zumute. Er war zu gutherzig, um den blonden Jungen einfach achtlos herumliegen zu lassen. Wenn ihm etwas passieren würde, könnte sich Mamoru das nie verzeihen.

"Was meinst Du, sollen wir einen Krankenwagen rufen?", murmelte er, während er leicht Chikaras Wange tätschelte und dann und wann seinen Namen sagte, um ihn zum Aufwachen zu bringen.

Hikari zuckte mit den Schultern und begutachtete ihr Knie. "Keine Ahnung. Der ist zäh, der hält ne Menge aus."

"Schon, aber ob er eine Explosion aushält von einem..." Mamoru stockte. Er wandte sein Gesicht zu Hikari, die immer noch ihr Bein ansah, aber ebenfalls in ihrem Tun inne hielt.

"...ja, was genau war das eigentlich?", beendete er seinen Satz.

"Das wollte ich Dich fragen", entgegnete Hikari. "Bist Du ein Außerirdischer, oder irgendwie so was? Was zum Teufel hast Du da gemacht?"

"Keinen blassen Schimmer", antwortete er. Mangels einer besseren Idee begann er damit, an Chikaras Schultern herumzurütteln, doch vergeblich. Innerlich lachte er verzweifelt auf. Was zur Hölle war da geschehen? Er, ein Außerirdischer? Als Kind war er sehr einsam gewesen, und seine Fantasie hatte damals jemanden geschaffen, um nicht einsam zu sein. Fiore. Ein außerirdisches Kind mit grüner Haut und spitzen Ohren. Oder war Fiore mehr als Einbildung gewesen? Mamoru versuchte sich an Näheres zu erinnern, doch sein Gedächtnis war verschwommen. Es war einfach zu lange her.

Mamoru gab auf. Anscheinend konnte Chikara einfach noch nicht aufwachen, aus welchen Gründen auch immer. Er atmete zwar regelmäßig, und sein Herz schlug gleichmäßig und kräftig, aber er reagierte nicht auf seine Umgebung. Da wandte sich Mamoru eben wieder Hikari zu. Er kroch den kurzen Weg von vielleicht nur einem Meter zu ihr rüber und betrachtete ihr Knie. Sie hatte sich eine üble Schramme eingehandelt, als Chikara sie so grob behandelt hatte.

"Tut es sehr weh?", erkundigte sich Mamoru. Er ließ seine Fingerspitzen tastend um die Wunde herum gleiten.

"Au!", stöhnte Hikari. "Ja, schon."

"Tut mir Leid." Mamoru machte ein grimmiges Gesicht. "Mir hat es schon von Anfang an nicht gefallen, dass Du dabei warst. Als hätte ich's vorausgesehen."

Er hatte wirklich großes Mitleid mit ihr. Sie wirkte so unendlich zerbrechlich und hilfsbedürftig, wie sie so da saß und blutete. Er mochte es nicht, ihr schönes Gesicht schmerzverzerrt zu sehen. Er wollte ihr lieber ein Lächeln auf die Lippen zaubern. Wenn es doch nur irgend etwas gäbe, das er für sie tun könnte!

Ihm fiel aber nichts besseres ein, als seine Hände um die Schramme herum zu platzieren und vorsichtig auf die Wunde zu pusten, um sie zu kühlen. Sie sah ihm dabei mit so großem Interesse zu, dass sie die Schmerzen darüber fast vergaß. Aber auch nur fast.

"Danke, Mamoru. Aber das wird schon wieder."

Statt zu antworten seufzte er nur. Was sollte er denn auch besseres tun? Das schönste Mädchen auf der Welt war verletzt, und er war schuld daran! Nur, weil er unbedingt kämpfen und sich als was Besseres darstellen musste! Nichts hatte er sich so sehr gewünscht, wie in ihrer Nähe zu sein, sie zu berühren, mit ihr zu reden! Und nun? Nun konnte er ihr nicht helfen. Konnte ihr - mal wieder - nicht zeigen, was er für sie empfand. Warum war das Leben immer so grausam?

Er schloss die Augen. Er musste nachdenken. Musste selbst erst mal mit dem zurechtkommen, was er da gerade erlebt hatte. Und es fiel ihm nicht leicht.

<Alles, was ich im Augenblick will, ist ihr die Schmerzen zu nehmen. Ihr zu helfen. Dafür zu sorgen, dass es ihr gut geht.>

Als er Hikaris leisen, überraschten Aufschrei hörte, öffnete er seine Augen wieder und schaute sie verwundert an. Sie starrte nur verblüfft auf ihr Knie. Er folgte ihrem Blick und erschrak auch erst mal heftig, als er endlich realisierte, was Hikari so geschockt hatte: Ihr Knie war wieder vollkommen geheilt. So, wie auch Mamorus Wunden verblasst waren ohne auch nur eine Narbe oder gar einen Funken Schmerz zu hinterlassen, so sah man auch an Hikaris Knie nun nicht mal mehr den kleinsten Kratzer.

Er hob seinen Kopf wieder und sah in ihre smaragdgrünen, schreckgeweiteten Augen.

"Was - bist - Du?", flüsterte sie völlig fassungslos.

Er ließ von ihr ab, hockte sich im Schneidersitz vor sie und ließ den Kopf hängen.

"Wenn ich das wüsste! Ich sag Dir Bescheid, wenn ich's herausgefunden habe."

Er wusste nicht, wer er war. Seit er bei einem Unfall sein Gedächtnis verloren hatte, war er auf der Suche nach seiner Identität. Und die Antworten, die er bisher gefunden hatte, gingen weit auseinander. Seine Tante und sein Onkel - wenn sie das denn tatsächlich waren! - hatten ihn aufgezogen wie einen ganz normalen Jungen. Er war weder adelig, noch von einem Medizinmann oder von einer bösen Fee von einem Zauberbann belegt. Aber Nacht für Nacht suchte ihn im Traum eine eigenartige Fremde auf, die ihn <Herr der Erde> nannte. Und nun hockte er da, spürte den Boden zu seinen Füßen als sei er ein Teil seines Körpers, und war dazu in der Lage, Wunden in Nullkommanix zu heilen. Was sollte man da noch glauben?

Als Mamoru den Blick wieder hob, sah er Hikari lächeln. Er wusste nicht, ob sie unter Schock stand, oder ob sie einfach mit einem Schlag alle Scheu vor ihm und seinen fremdartigen Fähigkeiten verloren hatte. Er persönlich fürchtete sich vor sich selber. Was mochte er noch für ungeahnte Eigenschaften besitzen? Jedenfalls beugte sie sich etwas zu ihm vor, legte ihre Hand beruhigend auf seine Schulter und sagte:

"Du bist etwas Außergewöhnliches, weißt Du das? Ich hab zwar keine Ahnung, was das vorhin genau war, aber eins weiß ich: Das warst Du. Und es war nichts wirklich Schlechtes. Ich denke, es gibt viel Unerklärliches auf dieser Welt und um sie herum. Aber wir müssen keine Angst davor haben, nur weil wir es nicht verstehen."

"Woher weißt Du, dass ich Angst habe?", fragte Mamoru kleinlaut. "Sieht man es mir so sehr an?" Seine Stimme klang bitter. Er wandte den Kopf von Hikari ab. Doch sie legte darauf ihren Finger unter sein Kinn, hob so seinen Kopf und zwang ihn dazu, sie anzusehen, während sie fortfuhr:

"Ich bin immerhin eine Frau", erklärte sie. "Ich hab ein feines Gefühl für so was. Irgendwie hab ich schon in der letzten Zeit gespürt, dass irgendetwas an Dir anders ist, als bei all den anderen. Ich hab nur nicht gewusst, was. ...Na ja, genaugenommen weiß ich jetzt immer noch nicht so genau, was das gerade überhaupt war! Aber ... ich muss schon sagen ... es beeindruckt mich. Ich schätze mal, damit kannst Du noch sehr viel aus Dir machen."

"Danke schön!" Jetzt lächelte Mamoru stolz. Sein Herz fühlte sich auf einmal so leicht an, nun, wo er wusste, er hatte es tatsächlich geschafft, Hikari zu beeindrucken. Er errötete leicht. "Ähm ... weißt Du ... Du hast auch ... von Anfang an diese ... diese Anziehung auf mich ausgeübt. In Deiner Nähe, da fühle ich mich einfach ... wahnsinnig wohl."

Sie nickte verstehend und lächelte ihn weiter mit ihrem zuckersüßen Lächeln an. Er schwebte geistig in höchsten Höhen.

"Sag mal, Mamoru", meinte Hikari da, "Kannst Du nicht vielleicht auch irgendwas für Chikara tun?"

"Was? Für wen?" Mamoru hatte sich so sehr auf das Gespräch mit ihr konzentriert, dass er seine Umwelt vollkommen vergessen hatte. "Oh, ach, ja, natürlich. Mal sehen."

Er wandte sich dem immer noch bewusstlosen Chikara zu. Er hatte keine Ahnung, was genau er tun sollte. Mangels einer besseren Idee legte er einfach mal seine rechte Hand auf die Stirn seines Erzfeindes. Doch nichts geschah.

<Vielleicht muss ich die Fähigkeit erst irgendwie aktivieren?>

Er konzentrierte sich intensiv darauf, an das Wort <heilen> zu denken. Doch es bewirkte nichts. Hatte er seine Fähigkeit etwa schon wieder verloren? Das durfte nicht sein, er brauchte diese Begabung doch, um Hikari zu beeindrucken!

"Bleib ganz ruhig", riet ihm Hikari und setzte sich ganz nah zu ihm. "Versuch Dich mehr zu konzentrieren."

Leichter gesagt als getan!

Aber Mamoru versuchte es erneut.

<Ich möchte ihm helfen. Ich möchte ihn heilen, und sei es nur, um ihr dadurch zu imponieren!>

Und tatsächlich! Die Kratzer, die durch die Rosendornen entstanden waren, verheilten langsam. Es waren ziemlich viele Schnitte, wenn sie auch klein waren, und sie kosteten wahnsinnig viel Konzentration und Kraft. Mamoru musste den Heilungsprozess in der Mitte abbrechen, er konnte einfach nicht mehr. Keuchend sank er zurück und wischte sich feine Schweißperlen von der Stirn.

"Gib mir etwas Ruhe", stöhnte er.

"Aber das war doch schon echt super!", lobte Hikari. Sie umarmte ihn und drückte ihm einen kleinen Kuss auf die Wange.

"...Hikari...", stotterte er verdattert.

Sie zwinkerte ihm zu. "Ist eine kleine Belohnung für zwischendurch."

Gerade da hörten sie ein leises Stöhnen.

"Chikara", flüsterte Hikari und beugte sich zu ihm hinunter. "Wie fühlst Du Dich?"

Er schlug die Augen auf und sah sich benommen um.

"Weiß nicht", meinte er und versuchte sich aufzurichten.

"Bleib liegen und ruh Dich noch etwas aus", riet Hikari, aber der Blonde schlug den Aufforderung einfach in den Wind.

"Was zum Teufel ist passiert?", fragte er. Sein Blick fiel auf den vollständig regenerierten Mamoru. "Ich verstehe nicht..."

<Wäre nicht das erste Mal>, dachte Mamoru, behielt es aber für sich. Er streckte die Hand hin. "Komm, ich helfe Dir auf."

Chikara schlug die Hand beiseite. "Deine Hilfe kannst Du Dir sonst wohin schieben!" Unter Ächzen und Stöhnen richtete er sich auf. Er schien sauer und verwirrt zu sein. Aber anscheinend sah er ein, dass Mamoru - wie der es auch immer geschafft haben möge - der Sieger des Tages war. Jedenfalls schnauzte er Hikari an:

"Komm! Wir gehen!" Er setzte sich in Bewegung, lief einige wackelige Schritte und drehte sich dann zu ihr um. Hikari hatte sich keinen Millimeter bewegt.

"Was ist denn?", brüllte er sie an, doch sie blieb cool.

"Ich lasse mich nicht herumkommandieren, das weißt Du genau", erklärte sie. "Und wenn Du das nicht verstehst, dann kannst Du mir gestohlen bleiben. Zisch ab!"

"Wie bitte?", fragte er ungläubig nach. Sein Gesicht färbte sich dunkelrot vor Zorn.

Mamoru stellte sich zwischen die beiden. "Hast Du nicht gehört? Du sollst abzischen!"

Chikara kam auf Mamoru zugestapft und baute sich bedrohlich vor ihm auf. "Was bist Du, ihr Papagei?"

"Willst Du wirklich jetzt noch Ärger vom Zaun brechen?", stellte Mamoru die Gegenfrage. Er wusste, Chikara hätte nun keine Chance mehr gegen ihn. Er hatte zwar eine Menge Kraft eingebüßt, als er die Wunden seines Feindes versorgt hatte, aber dennoch war der blonde Junge immer noch verwundet und stark geschwächt.

Chikara knurrte, warf einen letzten, hasserfüllten Blick auf Mamoru und Hikari, dann drehte er sich endgültig um und trabte davon.

Mamoru seufzte erleichtert auf. Endlich, endlich war es überstanden. Langsam setzten sich die beiden in Bewegung. Die Sonne ging schon so langsam unter und es gab beim besten Willen keinen Grund, weiter zu bleiben. Mamoru sammelte seinen Pullover und seine Jacke auf. Es wurde empfindlich kühl; besonders, wenn man nur ein nassgeschwitztes Unterhemd trug. Er zog sich den Pullover über und bot Hikari seine Jacke an. Doch sie lehnte dankend ab.

"Ist schon Okay", erklärte sie, "Ich hab's nicht weit bis heim."

"Soll ich Dich begleiten?"

"Nein, schon gut. Ich denke, Du solltest Dich jetzt lieber ausruhen."

"Es macht mir nichts aus!"

Hikari lächelte ihn an. "Das weiß ich. Aber ich muss jetzt etwas allein sein und nachdenken. Das alles war ziemlich viel auf einmal. Na ja. Wir sehen uns morgen in der Schule, ja? Dort können wir dann ja weiterreden. Mach's gut!"

"Ja, mach's gut", verabschiedete er sich. Sie gingen in verschiedenen Richtungen davon. Mamoru hatte nun viel mit Nachdenken zu tun. Was seine Gedanken nun allerdings am meisten beschäftigte, war, wie er seiner Tante seine Abwesenheit erklären sollte...

Es war blödsinnig. Er wusste eigentlich ganz genau, dass es blödsinnig war. Er tat es trotzdem.

Er verzichtete darauf, den Fahrstuhl zu benutzen; der machte immer so einen Krach, wenn er in einem Stockwerk ankam. Deshalb schlich Mamoru auf Zehenspitzen die fünf Geschosse hinauf. Den Schlüsselbund hielt er fest in seiner verschwitzten Hand, damit bloß nicht Metall auf Metall klirren konnte. Vor der Haustüre zur Wohnung zog er die Schuhe aus. Er zielte sorgfältig, trotzdem gab das Schloss verräterische, knackende Geräusche von sich, als der Schlüssel eingeführt wurde. In Mamorus Ohren klang dieses Geräusch wie Kanonendonner nach. Unendlich vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt breit, zog behutsam seinen Schlüssel wieder aus dem Schloss, was auch wieder mit diesem schabenden, knackenden Geräusch verbunden war, und klemmte sich dann seine Schuhe und die Plastiktüte mit Seigis Riesenlatschen so leise unter den Arm, wie es nur möglich war. Leider war es nicht sehr leise möglich, dagegen schien das Plastik vehement etwas zu haben. Auf Zehenspitzen betrat er die winzige Eingangsdiele der Wohnung. Er lauschte mit angehaltener Luft. Kein Laut war zu hören.

Er wusste ja so genau, dass es blödsinnig war! Er hatte die Regeln gebrochen, indem er seinen Hausarrest missachtet und sich nach draußen geschlichen hatte. Und selbst wenn es ihm gelänge, noch dreimal so leise zu sein, es würde ihn nie und nimmer vor dem Donnerwetter bewahren, das ihn jetzt erwartete. Vielleicht, aber auch nur vielleicht konnte er so die Standpauke aufschieben, er konnte sie aber nie und nimmer verhindern. Die Wahrscheinlichkeit, dass seine Tante seine Abwesenheit von mehreren Stunden nicht bemerkt haben könnte, war praktisch gleich null. Eigentlich sollte er sich direkt stellen und auf mildernde Umstände hoffen, wenn er ein Geständnis ablieferte.

Aber was sollte er denn auch gestehen?

Entschuldigung, Tante Kioku, dass ich nicht auf Dich gehört habe, aber ich musste mal eben zum Herrn der Erde werden, vielleicht? Pffft! Das war lachhaft!

Richtiggehend absurd!

...Aber immerhin die Wahrheit...

Vorsichtig drückte er die Klinke herunter und schloss die Tür hinter sich. Fast schon in Zeitlupe zog er seine Jacke aus und hängte sie auf. Dann zwang er sich zu einer extrem ruhigen Atmung und presste den Rücken fest gegen die Wand. So hatte er es schon oft im Fernseher gesehen, bei Actionfilmen, wo Spione und Geheimagenten umherschlichen. Mamoru schüttelte stumm den Kopf. Diese Agenten im Film hatten nie versucht, es mit einem Feind wie seiner Tante aufzunehmen! Das war denen doch ne gewaltige Nummer zu groß!

Er schlich weiter, einen Schritt neben den anderen setzend, die kalte, harte Wand der Diele im Rücken. Er musste nur noch um die Ecke spähen, ob die Luft auch sauber war, dann leise und schemenhaft wie ein Ninja den Flur entlang huschen und lautlos in seinem Zimmer verschwinden, dann hatte er es geschafft. Es klang ja so einfach! Gut, also dann mal los!

Er hielt die Luft an, lehnte sich gerade so weit zur Seite, dass er genug sehen konnte und spähte in den Flur. Was er dort sah, war der Alptraum eines jeden männlichen Wesens! Der Hausdrache persönlich stand da, cool mit der Schulter an die Wand gelehnt, ein Nudelholz in der einen Hand schwingend, den finstersten Blick der Weltgeschichte im Gesicht.

"Ha- Ha- Hallo, Tante Ki- Kioku! N- Nett, Dich zu- zu sehen...", stammelte Mamoru unschuldig grinsend.

"Wo zum Teufel warst Du so lange?", fragte sie ohne Umschweife. Selbst der bösartigste Racheengel hätte nicht so unheilvoll schauen können.

Er zuckte mit den Schultern und trat nun hinter der Ecke hervor. Es hatte ja doch keinen Sinn mehr, jetzt Geheimagent spielen zu wollen.

"Ich hab den Weg zum Müllcontainer nicht sofort gefunden", log er.

"Wie bitte?", donnerte sie jetzt los. "Und zwischenzeitlich bist Du ins Bermudadreieck geraten, oder was?"

Er nickte heftig. "Ja, ja!", bestätigte er. "Ich hab mich auch schon gewundert, das ich auf einmal so knallbunte Sachen getragen hab ... das waren Bermudashorts!"

"Jüngelchen..." Uh, je, sie war übelst sauer, wenn sie ihn so nannte. "...ich bin stinkwütend! Du setzt Dich einfach so über meine Anordnungen hinweg, obwohl Du ganz genau weißt, dass Du Hausarrest hast! Und dann versuchst Du mir hier so einen Bären aufzubinden! Klasse! Große Klasse! Bist Du zumindest stolz auf Dich? Ich kann's nicht glauben, dass Du mich hier so zum Narren hältst!"

Sie schnappte erregt nach Luft. Sie hatte sich anscheinend zur Genüge in Rage geredet. Nun versuchte sie allmählich, ihren Blutdruck wieder zu senken.

"Und jetzt sag mir endlich: Wo warst Du überhaupt so lang?", wollte sie wissen. Die Ruhe, die nun in ihrer Stimme mitschwang, war beinahe noch bedrohlicher als das Donnerwetter von gerade eben.

Er druckste herum und sah betreten zu Boden.

"Ich höre!", drängte sie.

"Das ... das kann ich Dir nicht sagen."

"Und warum nicht?"

"Schweigepflicht."

Darauf lachte Kioku lauthals los. Es klang allerdings weniger humorvoll als umso mehr hysterisch.

"Na, wunderbar!", rief sie aus. "Erst zettelst Du ne Schlägerei mit Deinem besten Kumpel an, nachdem Du seine Freundin ausgespannt hast..."

"Nicht wirklich ausgespannt. Nur geküsst", unterbrach er.

"...wie auch immer! Dann kümmerst Du Dich einen Scheißdreck um die Regeln, die ich aufstelle. Wer weiß, was Du gerade noch alles verbockt hast, wo auch immer Du Dich rumgetrieben haben magst! Und nun bist Du auch noch respektlos mir gegenüber! Was hab ich nur falsch gemacht?"

"Nimm's positiv", meinte er und versuchte, mit einem Lächeln zu retten, was noch zu retten war. "Ich hab's immerhin geschafft, Dich zu überlisten. Und das war alles andere als leicht. Das heißt, Du hast mich zu nem klugen Kerlchen erzogen."

"Ja", seufzte sie, "das hast Du von Deinem Vater geerbt. Den konnte man auch nicht einsperren. Ich sag Dir was, Kleiner, ich hasse die Pubertät. Die war bei mir schon grässlich. Aber Du schießt den Vogel echt ab."

Sie hatte sich anscheinend wieder beruhigt. Zumindest nannte sie ihn wieder <Kleiner>, das war ein gutes Zeichen.

"Danke", meinte er und fiel seiner Tante um den Hals. "Danke, dass Du es mir nicht allzu krumm nimmst. Du bist so verständnisvoll und gütig! Ich hab Dich lieb."

"Versuchst Du gerade, Dich einzuschleimen?", grinste Kioku. Sie schloss ihren Neffen in die Arme.

"Nö. Wie kommst Du denn da drauf?"

"Falls es doch so ist, dann mach Dir lieber keine falschen Hoffnungen, mein Kurzer. Denn eins ist sicher: Nach dieser Aktion hast Du Hausarrest bis Du fünfunddreißig bist."

"Was, so lange willst Du ständig ein Auge auf mich haben? Wird Dir das nicht bald lästig?" Mamoru löste die Umarmung ein wenig und grinste seine Tante an. Diese wies aber nur den Flur hinunter.

"Ab in Dein Zimmer, aber sofort!", lachte sie.

Er setzte sich in Bewegung. Ein schleichendes Gefühl der Unbehaglichkeit ließ ihn allerdings noch mal anhalten. Er drehte sich wieder zu seiner Tante um.

"Hast Du das ernst gemeint? Ich meine, das mit dem Arrest bis ich fünfunddreißig bin?"

Doch als Antwort erntete er nur ein diabolisches Grinsen.

Mamoru seufzte resigniert.

"Eines will ich aber auf jeden Fall noch wissen", meinte er. "Hast Du wirklich die ganze Zeit nur darauf gewartet, dass ich zurück komme?"

"Natürlich nicht!", erklärte Kioku. "Aber man hört doch schon aus einem Kilometer Entfernung, wie Du die Treppe hochgestapft kommst! Und selbst, wenn ich das überhört hätte, was ich nicht habe: Allein das Geräusch, das entsteht, wenn Du den Schlüssel ins Schloss steckst, reicht aus, um einen Bären aus dem Winterschlaf zu reißen."

Mamoru schüttelte seufzend den Kopf. "Du warst in Deinem früheren Leben ein Luchs."

Kioku kicherte darauf nur. "Wegen der guten Ohren?"

"Auch", antwortete Mamoru gedehnt und machte sich schon mal auf den Weg in sein Zimmer. "Aber vor allem, weil Du noch andere Gemeinsamkeiten mit diesen Tieren aufweist." Er öffnete die Tür zu seinen vier Wänden.

"Welche Gemeinsamkeiten?", fragte Kioku in skeptischem Ton.

"Nun ja", antwortete er zögerlich und setzte vorsorglich einen Fuß in sein persönliches Reich, "Luchse sind - wie Du - klein, haarig und unglaublich bissig."

Damit schlug er die Tür hinter sich zu und riegelte sie ab. Und das gerade noch rechtzeitig, ehe Kioku ihm eins mit dem Nudelholz überziehen konnte.
 

Die Nacht war inzwischen angebrochen und legte den Mantel der Dunkelheit über die immer ruhiger werdende Stadt. Der Vollmond und die Sterne strahlten und funkelten heller, als es normal gewesen wäre. Dafür schienen die Lichter und die Geräusche der Metropole gedämpft, als hätte jemand ein feines, dunkles Seidentuch über den Dächern ausgebreitet, das für Ruhe und Frieden sorgen sollte.

Mamoru stand am Balkon, sah in den prächtigen Sternenhimmel hinauf und verbrachte seine Zeit mit nachdenken und träumen. So sehr in das kleine Wunderland seiner Fantasie vertieft, bemerkte er nicht, wie Kioku auf den Balkon hinaustrat, doch er zuckte erschrocken zusammen, als er ihre Stimme hörte:

"Kurzer? Was tust Du da?"

"Erschreck mich nicht so!" Er atmete erst mal tief durch ehe er antwortete. "Ich sehe mir die Sterne an. Heute Abend ist es wirklich wunderschön hier!"

"Und kalt", stellte Kioku bibbernd fest. "Du solltest nicht ohne Jacke rausgehen. Und überhaupt, es ist schon spät. Geh lieber ins Bett."

"Och, nö. Noch nicht." Mamoru versuchte, wie ein kleines Kind zu greinen. Flüsternd fuhr er fort:

"Ich bin hier gerade so glücklich."

Er empfand tatsächlich so ein wohlig warmes Gefühl ums Herz, das ihn sehr zufrieden stimmte. Er hatte zwar noch immer nicht recht begriffen, was genau mit ihm geschehen war und was es für ihn bedeutete, nun zum <Herren der Erde> geworden zu sein, aber irgendwie spürte er keine Angst mehr vor dem, was ihn von nun an erwarten mochte. Es war fast so, als erfülle ihn das Licht des Vollmondes mit einem ungeahnten inneren Frieden.

Lächelnd fuhr ihm Kioku durch die schwarzen Haare, die im Glanz dieser himmlischen Pracht einen starken, bläulichen Schimmer hatten. "Aber nur noch fünf Minuten, hörst Du? Höchstens!"

Sie wandte sich um und wollte gerade wieder im Wohnzimmer verschwinden, als sie Mamoru rufen hörte:

"Hast Du das gerade gesehen?"

Sie drehte sich ihm wieder zu und fragte:

"Was denn?"

Mamoru beugte sich leicht über das Balkongeländer, um besser in den Himmel sehen zu können. Er strahlte über das ganze Gesicht. "Da ist gerade irgendwas runtergefallen! Irgendwas golden Glänzendes!"

"Das war bestimmt eine Sternschnuppe", mutmaßte Kioku und suchte flüchtig den Himmel mit den Augen ab, in der Hoffnung, auch etwas sehen zu können. Doch da war nichts mehr.

Mamoru schüttelte entschieden den Kopf. "Eine Sternschnuppe, die direkt aus dem Mond gefallen kommt? Unmöglich!"

Kioku lachte und legte die Hand auf die Schulter ihres Neffen. "Es war einfach ein Gesteinsbrocken - oder sonst was - der genau zwischen Erde und Mond in der Atmosphäre verglüht ist. Interpretier nicht rein, was nicht drin ist, Kurzer. Oder glaubst Du etwa noch an das Märchen vom Hasen im Mond?"

"Natürlich nicht!", brummelte er verlegen.

"Na also!" Kioku nickte zufrieden. "Ich glaube, die kühle Luft hier draußen tut Dir nicht gut. Komm lieber rein."

"Ich spinne nicht!", empörte sich Mamoru. Dann seufzte er und fügte sich. Mit einem letzten Blick auf den silbernen Vollmond folgte er seiner Tante ins Warme. Als er den Zugang vom Balkon zurück ins Wohnzimmer durchschritt, dachte er dummerweise nicht an den unteren Balken des Türrahmens. Er stieß mit den Zehenspitzen gegen das Holz, verlor das Gleichgewicht und fiel mit einem leisen Schreckensschrei vorwärts. Seine Unterarme fingen das Gröbste des Sturzes auf, dennoch war der Aufprall alles andere als angenehm.

"Mamoru, hast Du Dir was getan?" Kioku kam zu ihm, um ihm aufzuhelfen, doch ehe er auch nur den Mund aufmachen konnte, um eine Antwort zu geben, spürte er ein leichtes Ruckeln und Zittern unter sich. Der Boden vibrierte, wenn auch nur leicht. Geschirr klapperte, lose Schranktüren krachten in kurzen Abständen immer wieder zu und das leise Klingen zusammenschlagender Gläser durchzog den Raum.

"Ein Erdbeben", stellte Kioku fest und kniete neben Mamoru nieder. Doch keine drei Sekunden, nachdem sie das gesagt hatte, war es auch schon wieder vorbei.

"Das ist ja noch mal gutgegangen", lachte sie und half Mamoru auf die Beine.

Er bedankte sich und sah sich dann misstrauisch um. Nachbeben? ... Nein, keine. Irgendwie wusste er, dass es dabei auch bleiben würde. Eigentlich konnte man das nie so genau sagen, aber Mamoru ... fühlte es einfach.

Er rieb sich gedankenverloren die Unterarme. Sie schmerzten leicht vom Sturz.

<War dieses Beben die Reaktion dieses Planeten auf meinen Schmerz?>, überlegte er. <Um Himmels Willen, wie wird die Erde dann erst reagieren, wenn ich mir richtig wehtue? Anscheinend sind wir doch auf eine feinere Art miteinander verbunden, als ich dachte.>

"Ich gehe ins Bett", verkündete er leicht geistesabwesend. Als er gerade in seinem Zimmer ankam, verspürte er wieder dieses eigenartige Stechen und Ziehen in seiner Magengegend, das ihn schon seit längerer Zeit verfolgte. Noch immer konnte er sich nicht wirklich erklären, was es genau war. Seit an diesem Spätnachmittag dieser seltsame goldene Kristall erschienen war, hatte Mamoru nichts mehr von diesem Schmerz gespürt, doch jetzt, wo sich allmählich wieder alles zu beruhigen schien, kehrte er zurück. Mamoru hoffte, dass es nichts Ernstes war und bald verschwinden möge. Er vermutete, es handelte sich dabei um das Leid, das diesem Planeten ununterbrochen wiederfuhr. Immerhin, das wusste der neu erwachte Herr der Erde, wurde diese lebende Insel des Sonnensystems ohne Unterlass von Erdbeben, Vulkanausbrüchen und ähnlichen unangenehmen Dingen heimgesucht. Mamoru biss vor Schmerz die Zähne zusammen.
 

Er lag noch lange wach. Auch als Seigi und Kioku längst im Bett lagen, und es auf Mitternacht zuging, vermochte er kein Auge zuzutun. Seine Gedanken schwirrten immer noch um den goldenen Kristall, der ihn heute zum Herrn der Erde gemacht hatte, um den langgezogenen, leuchtenden Streif, den er an diesem Abend am Himmel gesehen hatte, und um das Erdbeben, das ihm gezeigt hatte, wie eng er doch mit diesem Planeten verbunden zu sein schien. Zwischenzeitlich machten sich immer wieder die Schmerzen in seinem Bauch bemerkbar, die auch nicht sehr schlaffördernd waren.

Aber irgendwann versank er doch noch im Reich der Träume.

Dort ging er Hand in Hand mit Hikari in einem Wald spazieren. Die Bäume waren beeindruckend groß. Hier und da drangen einige Sonnenstrahlen durch das sonst so dichte Blattwerk der majestätischen Riesen. Schmetterlinge schwirrten umher, ihre Flügel waren groß und schillerten in den schönsten Farben, die man sich nur vorstellen konnte. Überall vernahm man ein Rascheln und das Knacken von trockenen Ästen. Ein Bild des Lebens und des Friedens.

Mamoru warf einen raschen, verliebten Blick auf Hikari. Sie war in der Realität schon so atemberaubend schön, dass sie nicht mal im Traum noch schöner dargestellt werden konnte. Beide lachten vergnügt, während sie den Wald durchschritten.

Doch mit einem Male verschwand Hikari. Sie löste sich einfach in Luft auf.

Goldfarbene Nebel, die von selbst zu leuchten und zu schimmern schienen, versperrten Mamoru die Sicht. Der Dunst verdichtete sich schnell weiter und bald war der Wald nicht mehr zu sehen. So laut er auch nach Hikari rief, sie blieb spurlos verschwunden. Als hätte der Nebel sie einfach verschluckt.

Mamoru ging weiter, in irgend eine Richtung, ohne auf irgend ein Hindernis zu stoßen. Er lief immer schneller, rannte zum Schluss und kam doch nirgendwo an. Mit einem Male blieb er stehen. Trotz der Rennerei ging sein Atem ganz ruhig. Die Nebel zogen sich leicht zurück und ließen einen Blick auf den silbernen Vollmond zu, der anscheinend in sekundenschnelle die Sonne von gerade eben abgelöst hatte. Wieder erschien das winzige goldene Licht vor dem Mond und stürzte, einen leuchtenden, goldfarbenen Schweif hinter sich herziehend, zu Boden. Die Nebelschwaden wurden wieder etwas dunkler, aber es war ein angenehmes, schützendes Dunkel, wie in Ehrfurcht; als wollten sie den kleinen goldenen Neuankömmling nicht erschrecken.

Mamoru rannte auf die Stelle zu, an der das Ding heruntergekommen sein musste. Der Vollmond verschwand allmählich hinter dem dichter und dunkler werdenden Nebel. Die Stimme einer jungen Frau ertönte. Er hörte sie nur, aber er konnte durch den dichten Nebel hindurch nichts erkennen. Diese Stimme kam ihm bekannt vor, aber er konnte sie nicht wirklich zuordnen. Sie lachte vergnügt. Dann sagte sie:

"Endymion?"

Eine männliche Stimme, die Mamoru ebenso eigenartig vertraut vorkam, antwortete:

"Ja?"

Da fragte die Frau:

"Sag mal, liebst Du mich?"

"Ja, das tu ich", antwortete er.

Sie wollte wissen:

"Und wie sehr?"

Er antwortete:

"Mehr als mein Leben."

Mamoru wunderte sich. Aus welchem Grund kamen ihm diese Stimmen so vertraut vor? Waren das vielleicht die Stimmen seiner Eltern? Aber der Name seines Vaters hatte nicht Endymion gelautet, sondern Keibi! ... Oder war das womöglich nur ein Kosename, von dem niemand gewusst hatte?

... Wenn es denn hier tatsächlich um seine Eltern ging! ...

Plötzlich erschien ein Blitz vor Mamorus Augen. Alles wurde völlig schwarz um ihn herum. Blutrot schimmernde Nebelschwaden krochen wie böse Geister umher; nicht greifbar, und ebenso tödlich wie körperlos. Der gellende Schrei der Frau zerriss die Finsternis:

"ENDYMION! ... ENDYMIOOOOOOOOOON!!! ... BITTE NICHT! ... NEIN!"

Inmitten der Dunkelheit und der roten Nebel erschien ein silberner Strahl, der senkrecht in den Himmel emporschoss und sich in der Unendlichkeit verlor. Ein Schemen bewegte sich darin.

Da erst erkannte Mamoru die Silhouette: Es war die unbekannte Frau mit den langen, goldenen Haaren, die ihn schon so oft in seinen Träumen gerufen hatte.

Er vernahm die sanfte Melodie einer Spieluhr, die plötzlich allgegenwärtig durch den Raum tönte. Es war eine wunderschöne, beruhigende Melodie, die Mamoru früher einmal gehört, und dann wieder vergessen hatte.

Ein sanfter Wind strich durch die rot glühende Dunkelheit und spielte mit den goldenen Haaren der Unbekannten.

"Nur der Silberkristall kann uns jetzt noch helfen", sagte die Frau, und ihre Stimme klang hilflos und traurig, aber auch irgendwie fordernd und immer noch voller Hoffnung. "Der Silberkristall hat die Macht, unsere Träume wahr werden zu lassen. Du musst ihn unbedingt finden! Wenn Du ihn findest, dann findest Du auch Dich selbst und Deine Erinnerung wieder!"

"Aber wie soll ich das machen?", entgegnete Mamoru. "Und was ist überhaupt heute geschehen? Was war das heute für ein eigenartiger, goldener Kristall? Wer bist Du? Und vor allem: Wer bin ich?"

"Ich weiß, das alles ist sehr viel für Dich. Aber der Silberkristall wird all Deine Fragen beantworten. Er wird Dir die vergangene Zeit offenbaren und Dir Deinen Weg weisen. Bis Du den Silberkristall gefunden hast soll Dir der Goldene Kristall als Freund, Begleiter und Werkzeug dienen. Er ist das Symbol des Lebens, die Energiequelle der Erde und der Schutzpatron der Träume. Er wird Dir Deine Suche erleichtern. Denn er war schon vom Anbeginn der Zeit an mit dem Silberkristall verbunden. Und nun, Herr und Krieger der Erde, wird es Zeit für Dich, mit der Suche fortzufahren. Das hier soll Dir dabei behilflich sein..."

"Krieger?", fragte er verblüfft nach. Doch darauf erhielt er keine Antwort.

Die Melodie war plötzlich nicht mehr allgegenwärtig, sondern sie kam aus einer sanft schimmernden, goldenen Kugel, die sich vor Mamoru materialisierte. Er griff beherzt in die Kugel hinein und spürte etwas kleines, hartes. Die Kugel verschwand, und in seiner Hand lag eine goldene, sternförmige Spieluhr.

"Diese Spieluhr besitzt eine außergewöhnliche Macht", erklärte die Fremde. "Sie wird die Kräfte, die zwischen Dir und Deinem Planeten wirken, regulieren und kontrollieren."

Er sah auf. Als er sich bei der Fremden für das Geschenk bedanken wollte, war sie verschwunden. Dann war der Traum vorbei und Mamoru schlug die Augen auf.

Er fühlte sich müde, so unendlich müde und abgekämpft. Gerade so, als wäre das alles nicht nur ein Traum gewesen. Der kühle Nachtwind strich über sein Gesicht.

<Moment mal, hier stimmt doch was nicht.>

Schlafwandelte er etwa? Er stand irgendwo mitten in der Stadt in einer schmalen Seitengasse und blickte verwirrt um sich.

<Was zum Teufel tu ich hier? Und wie bin ich hier her gekommen?>

Er kratzte sich am Kopf und erstarrte. Dann nahm er sich den schwarzen Zylinder ab.

<Was zum...>

Als er weiter an sich heruntersah, erschrak er nur noch mehr. Er trug plötzlich einen teuer aussehenden schwarzen Anzug, einen weiten schwarzen Umhang, der in der Innenseite aus roter Seide gemacht war, dazu weiße Handschuhe, einen Gehstock und eine weiße Maske über den Augen, die er erst ziemlich spät bemerkte. Er nahm sie ab, schüttelte überrascht den Kopf und versuchte sich zu orientieren. Er sah sich um und lauschte in die Nacht hinein. Dumpf erklang eine Melodie. Er hatte sie in seiner Verwirrung und seiner Orientierungslosigkeit die ganze Zeit überhört, doch nun suchte er hektisch nach dem Ursprung des Liedes. Er kramte in den Taschen seines Smokings und zog bald überrascht die kleine Spieluhr hervor.

<War es mehr als ein Traum? Ist das hier etwa das Ding, das vorhin aus dem Mond gefallen ist?>

Ungläubig kniff sich Mamoru in den Arm. Schmerzhaft stellte er fest, dass das hier tatsächlich die Realität war. Des weiteren bemerkte er, dass nicht sofort ein Erdbeben antwortete. Anscheinend half ihm die Spieluhr tatsächlich dabei, die Kräfte zu kontrollieren, die zwischen ihm und dem Planeten herrschten.

Er klappte den Deckel der Spieluhr zu und steckte sie wieder ein. Er konnte sich nicht wirklich vorstellen, wie ihm die Spieluhr die Suche nach dem Silberkristall erleichtern sollte, aber er war jetzt so oder so viel zu müde zum Nachdenken, er wollte nur noch nach Hause und ins Bett. So sah er sich nach Straßenschildern um. Er huschte durch die Stadt wie ein schwarzer Schatten, wie ein Gentlemaneinbrecher.

Er fand bald den Weg zurück in die Wohnung seines Onkels und seiner Tante. Mamoru beschloss, sich morgen Gedanken über die eigenartigen Vorkommnisse zu machen. Jetzt war er nur noch todmüde.

Als er sich - zum zweiten Mal in dieser Nacht - seinen Schlafanzug überstreifte, spürte er wieder das qualvolle Stechen in der Nähe seines Magens.

Spieluhr hin oder her, die Schmerzen, die sich über seinen gesamten Bauch hinweg spannten, waren noch immer nicht verflogen. Mamoru schüttelte verwirrt den Kopf, als er darüber nachdachte. Entweder, seine neuen <Hilfsmittel> konnten das Leid dieses Planeten doch nicht ganz von ihm abwenden, oder aber, er war ernsthaft krank. Er wusste beim besten Willen nicht, vor welcher Möglichkeit er mehr Angst haben sollte...
 

Als er nur wenige Stunden später wieder erwachte, waren die schwarzen, teuer aussehenden Klamotten, die er definitiv gestern auf seinem Sessel abgelegt hatte, spurlos verschwunden. Nur die Spieluhr lag noch da.

Ungezählte Male hatte sich Mamoru schon das Lied seiner neuen Spieluhr angehört. Die Melodie sagte ihm irgendwas; ganz so, als würde er sie schon seit Ewigkeiten kennen. Aber das war doch absolut unmöglich! Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie diese Spieluhr in der Hand gehalten.

Zumindest nicht in diesem Leben.

Er schüttelte nachdenklich den Kopf bei dieser Vorstellung. Aber anders konnte er es sich nun mal nicht erklären. Manchmal tauchten verschwommene Bilder in seinem Kopf auf. Doch sie verschwanden wieder, noch ehe sie Mamoru Gelegenheit gaben, etwas zu erkennen. Und manchmal hallten in seinem Kopf die körperlosen Stimmen wider, die er in seinem letzten Traum gehört hatte. ...Endymion... Der Name sagte ihm doch etwas.

Irgendwas.

Und doch irgendwie nichts.

Er sah sich um. Die anderen Schüler der Moto-Azabu-Oberschule schienen ihre Pause sichtlich zu genießen. Mamoru saß derweil nur unter einem Baum und starrte Löcher in die Luft. Er atmete tief durch und richtete seinen Blick zum Himmel empor. Irgendwas war heute ganz anders als sonst. Auf eine unerklärliche Art und Weise waren die Luft reiner, der Himmel blauer, die Sonne heller, die Bäume grüner, die Temperatur höher, die Vögel lauter und die Menschen besser gelaunt. Es war beinahe so, als hätte dieser ganze Planet eine wundersame Reinigung durchgemacht, seit Mamoru als Herr der Erde erwacht war.

Nur ein Aspekt störte ihn noch in diesem allgegenwärtigen Frieden. Noch immer spürte er die Schmerzen in seinem Leib. Mal etwas stärker, mal etwas schwächer, und in seltenen Momenten hatte Mamoru ganz seine Ruhe. Aber es fand doch kein wirkliches Ende. Und das bereitete ihm Sorgen.

Er brauchte eine Ablenkung. Er knöpfte das Hemd seiner Schuluniform am obersten Knopf auf, griff nach seiner dünnen, silbernen Halskette und holte sie zum Vorschein. Daran war ein wunderschöner silberner Ring befestigt. Er war recht einfach gemacht, und doch wirkte er faszinierend. Statt in irgend einer Form klobig zu sein und zu protzen, schien er eher die Botschaft von Zierlichkeit, Bescheidenheit und Zerbrechlichkeit auszustrahlen, wie ein Symbol der Reinheit und Tugend. Winzige Drähte aus Silber rankten sich um den Ring herum und bildeten einen Rahmen für ein rosafarbenes Herz in der Mitte, das aus glattgeschliffenem Rosenquarz bestand. Dieses Schmuckstück war der Ehering seiner Mutter gewesen. Einer der wenigen verbliebenen Beweise dafür, dass Mamorus Eltern einmal existiert hatten.

Des weiteren hing nun an der Halskette, die mitsamt dem Ring schon fast eine Art Heiligtum für Mamoru darstellte, die goldene Spieluhr, die er erst seit der letzten Nacht besaß. Sie war nicht mal faustgroß, besaß die Form eines fünfzackigen Sternes und dem Gewicht nach zu urteilen schien sie aus massivem Gold zu bestehen, obwohl sich Mamoru das nicht wirklich vorstellen konnte. Wäre es tatsächlich so, müsste dieses Ding ein kleines Vermögen wert sein. Genau in der Mitte des goldenen Sternes befand sich eine kreisrunde Klappe. Öffnete man sie, sah man auf eine von unten beleuchtete, blaue Scheibe, vermutlich aus bemaltem Glas, auf der sich ein Sichelmond um eine goldene Mitte drehte; das alles wurde von einer niedrigen Glaskuppel geschützt. Und die Melodie, die dann erklang, war ruhig und wunderschön. Sie erinnerte Mamoru ein wenig an ein Schlaflied. Sie wiederholte sich unablässig, bis man die Klappe wieder schloss. Aber augenblicklich stand sie offen, und die wunderschöne Melodie tönte leise. Der Wind wurde dabei merklich ruhiger, als wolle er der Melodie lauschen und sie dann in die weite Welt hinaus tragen.

Mamoru hatte das Kleinod schon von allen Seiten begutachtet. Irgendwie zweifelte er ja daran, dass diese Spieluhr mechanisch betrieben war. Dazu war sie einfach nur zu langatmig. Die Melodie konnte sich stundenlang widerhohlen, ohne dass man das Ding auch nur irgendwo aufzuziehen bräuchte. Es gab aber andererseits auch kein Batteriefach oder Ähnliches. Man sah genaugenommen gar keine Schrauben oder etwas Derartiges, das die Spieluhr zusammengehalten hätte; ganz so, als bestünde sie tatsächlich aus einem einzigen Guss.

In die langsame, fast schon melancholische Melodie des Kleinods mischte sich plötzlich der Klang einer wohl bekannten Stimme. "Stör ich grad?"

Mamoru klappte hastig den Deckel der Spieluhr zu und starrte Motoki an.

"Erschreck mich nicht so!", beschwerte er sich. Dann wies er aber auf den Boden neben sich. "Setz Dich doch."

Motoki machte es sich neben ihm bequem. Was nicht ganz leicht war, denn er musste dabei umständlich darauf achten, sein angeschlagenes Knie weder großartig zu belasten, noch es zu sehr anzuwinkeln.

"Was macht Dein Knie?", erkundigte sich Mamoru, der die ganze Prozedur beobachtete.

"Nun ja", antwortete Motoki leise ächzend, "es ist noch dran. Es wird bestimmt bald besser."

"Balder als Du glaubst", erwiderte Mamoru und begann, das Hosenbein hochzukrempeln.

"Also, entschuldige mal! Was wird das denn, bitte?", entrüstete sich Motoki lautstark.

Doch Mamoru ignorierte es. Er besah sich das Knie einen Moment lang und legte dann die Hände drauf.

Motoki zuckte unter einem schmerzerfüllten Aufstöhnen zusammen. "Pfoten weg!"

"Immer schön locker bleiben", beruhigte ihn Mamoru, positionierte seine Finger neu und konzentrierte sich. Das Ergebnis war nicht gerade überragend, aber es ließ Motoki immerhin fassungslos nach Luft schnappen. Die Schramme war nun merklich kleiner als zuvor, und der schützende Schorf, der sich über der Wunde gebildet hatte, war um Einiges glatter und dünner geworden. Erschöpft seufzend lehnte sich Mamoru zurück. Er stützte seinen Rücken am Baum ab, während er einige Male tief durchatmete. Motoki brachte derweil noch immer nicht mehr als ein Krächzen heraus; ein sicheres Zeichen dafür, wie perplex er doch war.

Irgendwann waren seine Stimmbänder doch wieder dazu in der Lage, Laute zu produzieren, die eher einer menschlichen Sprache glichen.

"Okay, großer Medizinmann, wie Du haben das geschafft?"

"Großer Medizinmann haben gemacht Hokuspokus", erklärte Mamoru. Er fühlte sich schrecklich müde, und er hatte eigentlich keine Lust, nun zu erläutern, was ein Herr der Erde so draufhatte an kleineren oder größeren Kunststückchen.

"Was? Wessen Po hast Du geküsst?"

Aha. Motoki ging es also schon wieder besser. Ungläubig untersuchte er jeden einzelnen Quadratzentimeter seines Knies mindestens viermal. "Jetzt mal ernsthaft: Was hast Du da gemacht?"

"Wie, Du kannst mal ernsthaft sein?", fragte Mamoru in sarkastischem Ton nach.

"Okay, okay, ich sehe schon. Du willst es mir nicht sagen." Motoki seufzte resigniert. Er krempelte sein Hosenbein wieder runter und lehnte sich dann neben Mamoru an den Baum.

"Du, Mamoru?", setzte er an. "Kann ich mal mit Dir über was reden?"

"Tust Du das nicht schon?"

"Bist heute aber verdammt witzig. Hast Du nen Clown gefrühstückt? Na, jedenfalls ... ich wollte ... ich ... es geht um unsere ... Freundschaft. Was meinst Du, sollen ... wir es einfach ... noch mal ... versuchen?"

Mamoru sah den Blonden lange nachdenklich an. Ihm war das Zögern in seiner Stimme keineswegs entgangen. Klar, es hatte in der letzten Zeit einige Spannungen gegeben, aber schlussendlich schien es doch so zu sein, dass die beiden ohne einander einfach nicht konnten. Ein zaghaftes Lächeln erschien auf Mamorus Lippen.

"Heißt das, Du setzt Dich wieder zu mir?", fragte er vorsichtig.

Motoki machte eine Bewegung, die wohl halb als Schulterzucken, halb als Kopfnicken gemeint war. "Wenn Du nichts dagegen hast?"

Mamoru knuffte ihm leicht an die Schulter. "Wieso sollte ich?" Er lachte. Es klang sehr befreit und glücklich. Auch Motoki stimmte schnell ein.

Als sie sich wieder beruhigt hatten, schwiegen sie eine kleine Weile. Bis Motoki auf Mamorus Halskette zeigte. "Was hast denn Du da für ein goldenes Ding hängen? Das hab ich ja noch nie gesehen."

Gedankenverloren griff der Angesprochene nach der Spieluhr, liebkoste sie einen Augenblick mit den Fingern und ließ sie dann unter seinem Hemd verschwinden.

"Nichts."

"Komm, zeig doch mal!", bat Motoki und hielt seine offene Hand hin.

"Nein! Auf keinen Fall!" Mamoru presste seine Hand auf sein Hemd; genau über die Stelle, die durch die Spieluhr ein wenig ausgebeult war.

"So bissig?", stichelte Motoki in seiner alten Art. "Und warum? Hast Du das Teil von einem hübschen Mädchen geschenkt bekommen, hmmm?" Er stieß Mamoru leicht mit dem Ellenbogen an.

Dieser bekam einen leicht rötlichen Schimmer auf den Wangen. Er dachte an die Frau zurück, die ihm regelmäßig nachts in seinen Träumen besuchte. Sie hatte ihm die Spieluhr immerhin geschenkt. Aber wie sollte er das Motoki erklären? Er kannte nicht mal den Namen dieser Person...

"So ähnlich", antwortete er dann leicht geistesabwesend. Er erinnerte sich zurück an den Traum, den er in der letzten Nacht gehabt hatte.

Endymion?

Ja?

Sag mal, liebst Du mich?

Ja, das tu ich.

Und wie sehr?

Mehr als mein Leben.

Endymion ... noch immer glaubte Mamoru, diesen Namen zu kennen. Als hätte er ihn schon tausendmal gehört. Und öfter. Vielleicht ein Prominenter? Ein Politiker? Oder jemand, der seit zwei, drei Jahrhunderten tot war? Ein Sportler? ...Das alles klang ja nicht sehr überzeugend.

Und mit einem Mal ging ihm ein Licht auf.

<Endymion!>

"Motoki, nimm das jetzt bitte nicht krumm, aber ich muss ganz, ganz dringend weg!"

"Hat's was mit einem gewissen Mädchen zu tun?"

Mamoru konnte an Motokis Grimasse ablesen, dass er darum betete, es möge nichts mit Hikari zu tun haben. Er verstand zwar noch immer nicht wirklich, was der Blonde gegen diese liebreizende Person hatte, aber er hatte momentan weit wichtigere Sorgen. Er zwinkerte grinsend.

"Ja, aber nicht so, wie Du denkst."

"Sondern?", fragte Motoki nach. Er zog skeptisch die Augenbrauen hoch.

"Ich muss zu Suiren."

Motoki legte die Stirn in Falten. Mit dieser Antwort hatte er ganz offensichtlich so gar nicht gerechnet. "Suiren? ...Na ja, die is ja auch ganz süß, aber ... na, wie Du meinst."

Mamoru schüttelte den Kopf und klopfte seinem neuen alten Freund auf die Schultern. "Weißt Du, Motoki, das Leben besteht nicht nur aus Frauen."

Darauf grinste der Blonde bloß. "Was denn sonst?"

Mamoru setzte eine gewichtige Miene auf, als er seinen Kumpel aufklärte:

"Da gibt es noch Autos, Sport und vor allem: Schokolade!"

Von Motokis Lachen begleitet verschwand Mamoru schleunigst. Er rannte, was die Beine hergaben, quer über den Campus, in das Schulgebäude hinein, sämtliche Treppen hinauf und Gänge entlang, bis er endlich völlig aus der Puste im Klassenzimmer ankam. Er spürte die schmerzhafte Anspannung in seiner Bauchmuskulatur, aber er ignorierte sie. Sie war im Moment unwichtig. Alles war im Moment unwichtig. Was zählte, war nur die Tatsache, dass er herausfinden musste, wer Endymion ist oder war.

Und Suiren konnte es ihm sagen.

Hoffentlich.

Wie er vermutet hatte, war es nicht schwer, Suiren zu finden. Sie hatte sich mal wieder in einem ihrer unzähligen Bücher vergraben. Auf dem Buchdeckel stand irgendwas mit Genmanipulation.

"Suiren?"

Sie sah noch nicht mal von ihrem Buch auf. "Ja?"

"Kann ich Dich mal was fragen?"

Erst jetzt steckte sie ein Lesezeichen in ihre Lektüre und legte sie weg, während sie Mamoru freundlich anlächelte. Sie war berühmt für ihren reichen Schatz an Wissen. Man konnte sie alles fragen; sie fand die Antwort. Und falls sie mal etwas nicht wusste - was nur äußerst selten vorkam - dann gab sie nicht auf, bis sie es wusste. Die Schüler munkelten, es solle in ganz Tokyo nur ein Mädchen geben, das regelmäßig mehr Punkte in den Tests hatte; eine gewisse Ami Mizuno. Aber die ging auf eine andere Schule. Suiren jedenfalls war ein wandelndes Lexikon, und sehr freundlich und hilfsbereit dazu. Sie freute sich darüber, wenn sie anderen etwas beibringen konnte.

"Klar, schieß los", lachte sie ihn fröhlich an.

Mamoru hockte sich auf den Tisch und mit großer Anspannung in der Stimme fragte er:

"Was kannst Du mir über Endymion sagen?"

"Endymion...", murmelte sie. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Mamoru glaubte schon fast, das Rattern in ihrem Kopf zu hören. Sie erinnerte ihn in diesem Moment stark an einen dieser modernen Computer, die berühmt waren für die schier wahnsinnige Rechenleistung von sage und schreibe 200.000 Rechenoperationen pro Sekunde und noch mehr! Obwohl er irgendwann einmal davon gehört hatte, dass dies nicht mal im Ansatz die Leistung des Gehirns eines Regenwurms war. Trotzdem fand er die Zahl sehr beeindruckend.

"Endymion...", murmelte sie wieder und schlug die Augen auf. Sie grinste ihn spitzbübisch an. "Ja, ich erinnere mich. Ich hab etwas von ihm gehört. Es ist allerdings nicht sehr viel. In der griechischen Mythologie war Endymion ein wunderschöner Hirte. Seine Schönheit war so dermaßen atemberaubend, dass sich die Mondgöttin Selene unsterblich in ihn verliebte. Soweit zur Vorgeschichte. Was danach passiert ist, da spalten sich die Legenden. Manche Leute behaupten, Selene selbst habe ihn in einen ewigen Schlaf versetzt, denn so wolle sie seine Sterblichkeit überbrücken und ihn ewig jung und schön machen. Eine andere Version besagt, dass der Göttervater Zeus den jungen Schönling in den Schlaf der Ewigkeit versenkte, da er nicht wollte, dass sich Selene mit einem Sterblichen abgibt. Hilft Dir das weiter?"

Mamoru nickte langsam, während er über das nachdachte, was er da gehört hatte.

"Was weißt Du über die Göttin Selene?", fragte er weiter. Suiren antwortete prompt:

"Selene ist eine hoch verehrte griechische Mondgöttin gewesen. Sie galt als die Tochter des Hyperion. Außerdem war sie die Schwester und die Gemahlin des Helios."

"Schwester und Gemahlin?" Mamoru zog eine Augenbraue hoch.

Suiren nickte bekräftigend. "Tja, die Beziehungen der Götter eben. Die sind ja alle irgendwie miteinander verwandt. Jedenfalls trug Selene im späteren römischen Reich den Namen Luna; wurde noch später allerdings mit Diana gleichgesetzt. Diana ihrerseits galt als Geburts-, Mond-, und Jagdgöttin. Sie wurde bald der griechischen Artemis gleichgesetzt. Sie galt als die Tochter des Jupiter und der Latona. Wie Du siehst, ist das alles nicht ganz einfach. Besonders, wenn sich die griechischen und die römischen Mythologien mischen, wird's schwierig."

"Sag mal, Suiren, hast Du mir auch noch was über diesen Helios? Wo Du gerade dabei bist...", fragte Mamoru lächelnd.

"Na, logo!", grinste Suiren. Sie schien jetzt richtig in Fahrt zu kommen. "Helios war der griechische Sonnengott, Sohn des Titanen Hyperion, Enkel des Uranos, Bruder der Selene und der Eos und - wie gesagt - Selenes Ehemann. Er galt als allsehend und wurde als Zeuge aufgerufen, wenn jemand vor Gericht einen Eid abgelegt hat. Man setzte ihn Apoll gleich. So, das wäre mal alles. Brauchst Du noch was?"

Mamoru zuckte mit den Schultern. "Weiß nicht. Fällt Dir ganz spontan noch was ein? Primär interessierte mich ja eigentlich nur Endymion. ...Natürlich war der Rest auch sehr spannend und informativ!", beeilte er sich zu sagen. Es war immer besser, Suiren zu loben und ihr geballtes Wissen hoch zu preisen. Ihre Intelligenz war immerhin ihr ganzer Stolz, und sie war in diesem Punkt auch ein ganz klein wenig eitel.

"Nun ja", machte Suiren, "ich kann Dir im Moment nur noch sagen, dass der schlafende Endymion angeblich nach Elysium gebracht wurde. Oder Elysion, wie es die Griechen nannten. Dabei handelt es sich um ein paradiesisches Land am Westrand der Welt, jenseits des Ozeans, wohin die Lieblinge der Götter entrückt wurden, ohne zu sterben. Man nannte diesen Ort auch <die Insel der Seligen>. Später dachte man sich Elysium als einen Teil der Unterwelt, die man im Griechischen auch als Hades bezeichnete. Der Gott Hades gebot über diese Region. Er wurde im Römischen Pluto genannt. Also, wenn Du noch mehr Informationen brauchst, ich kann gerne mal etwas herumstöbern, wenn ich das nächste Mal in der Bücherei bin. Das ist gar kein Problem, das mach ich super gerne!"

Mamoru wehrte ab. "Danke für das Angebot, aber ich denke, das reicht vorerst. Vielen lieben Dank für Deine Mühen, Suiren, Du hast mir damit wirklich sehr weitergeholfen. Das war riesig nett von Dir."

Sie nickte ihm zu und widmete sich wieder ihrem Buch über Genmanipulation. Mamoru hingegen wandte sich um und ging zu seinem Sitzplatz zurück, wobei sich Schmerzen wie ein glühend heißer Draht durch seinen Bauch zogen. Als er sich setzte, verebbte das grässliche Gefühl wieder allmählich. Seine Gedanken waren aber ganz woanders.

<Der Göttervater Zeus hat den jungen Schönling in einen ewigen Schlaf versenkt.>

Irgendwie glaubte Mamoru eher an diese Version. Denn wenn das tatsächlich der Wahrheit entsprach - sofern eine Mythologie über Götter und schöne Hirten überhaupt der Wahrheit entsprechen konnte - dann würde es seinen Traum erklären, in dem der Mann namens Endymion und die Frau sehr glücklich mit einander waren, kurz bevor die Frau so verzweifelt geschrieen und seinen Namen gerufen hatte. Das würde sie nicht tun, wäre sie selbst es gewesen, die ihn in den ewigen Schlaf versetzt hatte. Nein, ein anderer muss es gewesen sein. Und wenn nicht Zeus, dann eben eine andere, sehr mächtige Person. Vielleicht ihr Gemahl Helios, der eifersüchtig war? Wie auch immer.

War der <ewige Schlaf> nicht eigentlich ein sehr milder Ausdruck für den Tod? Das erinnerte Mamoru an seine Spieluhr. Noch an diesem Morgen war ihm die Melodie wie ein Schlaflied vorgekommen. Aber er würde jetzt garantiert nicht zu Suiren gehen und sie fragen, ob es in der Antike schon Spieluhren gegeben habe. Er bezweifelte es nämlich stark. Noch dazu eine Spieluhr der Götter! Absurd!

Ob Endymion wohl einen teuren schwarzen Anzug getragen hatte? Mit einem Zylinder, einem Gehstock, einem Umhang, Handschuhen und einer Maske? Wohl kaum. Was war überhaupt mit diesen Klamotten passiert?

Fragen über Fragen.

Und noch immer quälte ein grässliches, unbehagliches Gefühl Mamorus Bauch.
 

"Ich bin wieder zu Hause!", brüllte er den Flur entlang.

"Das find ich toll!", brüllte seine Tante zurück. "Dann kannst Du ja die Wäsche abhängen und bügeln!"

Mamoru verspürte auf einmal den übermächtigen Impuls, sich einfach umzudrehen und wieder fort zu gehen. Aber er verdrängte ihn mehr oder weniger erfolgreich. Er seufzte schwer, während er seine Schuhe auszog.

"Kann ich zumindest vorher noch was essen?", fragte er.

"Na klar doch. Ich hab schon gekocht. Steht in der Küche bereit."

Zumindest etwas Gutes! Er hatte nämlich schon einen Bärenhunger. Eigentlich konnte er es sich selbst kaum erklären; früher war er kein großer Esser gewesen. Aber in der letzten Zeit schaufelte er für Zwei in sich hinein. Sein Stoffwechsel schien mit Lichtgeschwindigkeit zu arbeiten. Und in genau diesem Tempo vertilgte Mamoru auch die riesige Menge Fisch und Reis.

"Hey, Du Mähdrescher! Das Essen ist nicht nur für Dich alleine!", beschwerte sich Kioku, als sie in die Küche kam. "Lass Deinem Onkel auch noch was!"

Mit vollgestopften Backen und schwer enttäuschtem Blick sah er sie an. Eigentlich wollte er sich gerade die dritte Portion holen. Er schluckte schwer und schob sich noch das letzte Reiskorn in den Mund.

"Sehe ich ja gar nicht ein", maulte er. "Ich hab noch Kohldampf."

"Ich sag's ja immer", murmelte Kioku leise vor sich hin. "Die Pubertät ist was ganz Schreckliches."

"Was hast Du gesagt?", erkundigte sich Mamoru, der nur ein undeutliches Gemurmel vernommen hatte. Er griff nach seinem Teller, um ihn zur Spüle zu tragen.

"Ich sagte, geh und kümmere Dich um die Wäsche!", erläuterte sie.

Als Mamoru sich etwas zu ruckartig von seinem Platz erhob, schoss ein grässlicher, stechender Schmerz durch seinen Körper. Er ließ den Teller wieder auf den Tisch fallen, umschlang mit den Armen seinen Bauch, beugte sich vor und stieß einen kurzen Schmerzlaut aus. Kioku blickte ihn geschockt an. Dann grinste sie. "Komm mir bloß nich so, Freundchen! Das zieht bei mir nicht. Du kannst Dir Deine Schauspielkunst an den Hut stecken."

Doch es war nicht gespielt. Bei weitem nicht.

Die Pein raubte ihn fast die Sinne. Das quälende Stechen dauerte nur wenige Herzschläge lang an, doch es reichte, um seinen Gleichgewichtssinn kurzzeitig auszuschalten. Haltlos kippte er zur Seite. Er prallte zuerst gegen die Wand und schlug dann auf dem Boden auf, wo er keuchend liegen blieb.

"Mamoru?" Kioku sah ein, dass es sich hierbei keinesfalls um einen Scherz oder einen Trick handelte. "Mamoru!"

Sie stürzte zu ihm und ergriff ihn an der Schulter. "Junge! Sag mir doch, was los ist! Komm schon, Kurzer, rede mit mir!"

Er krümmte sich auf dem Boden und zog die Beine an. Was nicht einfach war, denn er hatte zwischen der Wand und dem Tisch nicht wirklich viel Platz. Er schnappte einige Male keuchend nach Luft, biss die Zähne zusammen - und dann war es schnell überstanden. Mit einem langgezogenen Seufzer entspannte er wieder seine verkrampften Muskeln. Er wollte aufstehen, aber seine Tante wusste es mit sanfter Gewalt zu verhindern. Sie platzierte vorsichtig seinen Kopf auf ihrem Schoß und streichelte ihm durch das Haar.

"Ist schon in Ordnung", beruhigte er sie. "Es ist vorbei."

Er stützte sich am Boden ab und brachte sich in eine hockende Position.

"Was war es?", fragte Kioku verstört.

"Ich weiß nicht", nuschelte er. "War nicht wichtig."

"Nicht wichtig?" Kioku fuhr fast aus der Haut. "Nicht wichtig?? Sagtest Du gerade, es war nicht wichtig??? Willst Du mich verkohlen? Teufel noch mal, Du sagst mir jetzt sofort, was das gerade eben war!"

Er stand vom Boden auf und setzte sich wieder auf den Stuhl. Er sah gar nicht glücklich aus.

"Ich weiß es ja auch nicht so recht", gestand er. "Es hat vor gar nicht so langer Zeit angefangen. Mir tut einfach immer mal wieder der Bauch weh. Meistens ist es aber nicht so schlimm."

"Ach", machte Kioku, "und wann wolltest Du mir das sagen?"

"Was hättest Du schon tun können?", fragte Mamoru trotzig.

"Ganz einfach", erklärte seine Tante. "Genau das, was ich jetzt tun werde. Ich bringe Dich zum Arzt."

Der unglückliche Ausdruck in Mamorus Gesicht wurde noch deutlicher. "Muss das sein?"

Er hasste Ärzte, er hasste Praxen, er hasste alles, was ihn an die gottverdammte Zeit erinnerte, die er als Kind im Krankenhaus zugebracht hatte. Lange genug hatte er den Chemikaliengestank eingeatmet; diesen intensiven Geruch von Medizin und Desinfektion. Das Haus, das Leben retten sollte, wirkte selbst einfach nur versteinert, monoton, tot, steril, lebensfeindlich.

"Natürlich muss das sein!", rief Kioku aus. Dann wurde ihre Stimme leiser und ruhiger, und bekam einen zaghaften Klang. "Kleiner, ich weiß sehr genau, dass Du das absolut nicht magst. Aber versteh doch, ich mache mir nur Sorgen um Dich. Du bist doch mein kleiner Süßer. Ich will nicht, dass es Dir schlecht geht. Das hättest Du mir wirklich früher sagen sollen."

Sie nahm ihn sachte in die Arme und er ließ es geduldig geschehen. Sie flüsterte jetzt nur noch:

"Ich hab Dich doch lieb."

Er nickte. "Gut, dann gehen wir eben."
 

Es hatte einige Stunden in Anspruch genommen. Nun, wo Mamoru wieder zu Hause war und ungläubig auf das Päckchen mit seinen Tabletten starrte, musste er erst mal gründlich über seinen Arztbesuch nachdenken, bevor er alles im gesamten Umfang realisieren konnte.

Der Doktor hatte hier und da etwas untersucht, immer wieder Fragen gestellt, mal da, mal dort gedrückt und sich alles von Mamoru haarklein beschreiben lassen; jedes einzelne Gefühl, jede kleine Besonderheit, jedes noch so unbedeutende Vorkommnis in naher Vergangenheit. Und schlussendlich kam dann endlich die Aufklärung:

"Das ist absolut normal für Jungs in diesem Alter. So in etwa mit fünfzehn oder sechzehn Jahren fangen die jungen Kerle an, wie die Pilze in die Höhe zu schießen. Dabei wächst der Knochen so schnell, dass die Muskeln und die Organe kaum hinterherkommen. Bis zu einem gewissen Grad sind die Muskelstränge natürlich noch dehnbar, aber wenn sie mal besonders beansprucht werden, beispielsweise bei einer plötzlichen Bewegung, dann werden sie so sehr angespannt, dass es wehtut. Das geht aber wieder vorbei und ist zwar unangenehm, aber absolut ungefährlich. Solange man es nicht übertreibt. Bei solchen Wachstumsschüben kann es schon mal vorkommen, dass man ein Gefühl der Übelkeit verspürt, dass einem schwindlig wird, dass man - wie in diesem Fall - Schmerzen hat und dass man einen wahnsinnigen Appetit bekommt. Da gibt's nur eins: Augen zu und durch. Ich empfehle: viel schlafen, viel trinken, regelmäßig, genug und ausgewogen essen, leichte sportliche Aktivitäten, viele Pausen zwischendurch und was das Wichtigste ist: auf die Signale des Körpers hören! Ich werde schwache, schmerzhemmende Tabletten verschreiben, die bei Bedarf eingenommen werden können. Machen Sie sich also keine Sorgen, und wundern Sie sich nicht, wenn Mamoru nun in kürzester Zeit um einige Zentimeter in die Höhe schießt."

Kioku hatte daraufhin nur mit den Augen gerollt und gemurmelt: "Was denn, der wird noch größer?"

Und auf dem Heimweg hielt sie ihm noch eine ellenlange Gardinenpredigt darüber, dass Mamoru in Zukunft sofort sagen soll, wenn etwas los ist, und dass sie den männlichen Stolz nicht verstehen könne, nach dem man alles unter den Teppich kehren solle und bloß nicht jammern dürfe. Ihr werter Neffe allerdings hatte seine Ohren schon nach fünf Minuten auf Durchzug geschaltet.

Nun saß er also wieder in seinem Zimmer, schüttelte den Kopf, holte eine Tablette aus der Packung, schüttete sich etwas Wasser in ein Glas und schluckte seine Medizin. Danach holte er die kleine Spieluhr unter seinem Hemd hervor, betrachtete sie einen Moment und meinte:

"Na gut, also schön. Es hatte doch nichts mit der Erde zu tun, und Du bist absolut unschuldig. Es tut mir Leid, dass ich Dich zu Unrecht verdächtigt habe."

Wie von Geisterhand öffnete sich der Deckel der Spieluhr und ihre wunderschöne, sanfte Melodie erklang.

Jetzt, wo die Sonne schon um ein gutes Stück hinter den höchsten Gebäuden der Stadt versunken war, streckte die Dunkelheit der Nacht ihre langen Finger aus, die sich schon fast zaghaft am Himmel entlang zogen. Nur noch wenige Minuten, dann würden die letzten Reste stumpfen Rots verblasst sein. Es schien fast wie eine ewig währende, lautlose Schlacht zwischen Hell und Dunkel, die aber keine der beiden Seiten je gewinnen würde. Denn Morgen für Morgen und Abend für Abend wiederholte sich das Spiel der Unvergänglichkeit. Und wieder einmal - wie schon so oft in den vergangenen 4,6 Milliarden Jahren - sah es so aus, als würde die Sonne nie mehr aufgehen. Doch natürlich war das nur eine Illusion, und nur wenige Stunden später sollte die Realität genau dies beweisen. Doch das lag im Moment noch in der Zukunft. Zu weit in der Zukunft, um wirklich Platz in Mamorus Gedanken zu finden. Genau genommen war der Sechzehnjährige geistig noch nicht einmal in der Gegenwart, die ihm das atemberaubende Schauspiel eines weiteren Sonnenuntergangs dieser Welt präsentierte. Nein, Mamoru beschäftigte sich gerade mit völlig anderen Dingen. Er sinnierte über das wohl größte Mysterium, das dieser Planet zu bieten hatte. Es handelte sich dabei um ein Millionen von Jahre altes Geheimnis, das vielleicht auf ewig unentdeckt bleiben wollte. Ein Rätsel, das die Menschheit schon seit - nun ja - Menschengedenken im Nebel der Unwissenheit umhertaumeln ließ. Die Frage aller Fragen, deren Antwort nur im tiefsten Dunkel zu finden war.

Das tiefschwarze, wohlgehütete, wohl bis zur Unendlichkeit unerklärt bleibende Arkanum:

Die Frauen.

Und eines dieser hochmystischen Wesen kam gerade ins Wohnzimmer und fragte:

"Hast Du die Wäsche aufgehängt?"

"Ja, hab ich", log Mamoru.

"Ach ja?", fragte Kioku und hob die Augenbraue hoch, was Mamoru aber nicht sehen konnte, da er weiterhin unberührt zum offen stehenden Fenster rausstarrte, wo man vor Düsternis eh nicht mehr die Hand vor Augen sah. "Und wie viel? Ein Wäschestück? Zwei? Jedenfalls liegt da noch ne ganze Menge Zeug rum, das aufgehängt und getrocknet werden will. Beeil Dich, sonst setzt's Schimmel. Und nen Satz heißer Ohren dazu."

Mamoru warf seiner Tante einen verständnislosen Blick zu. "Wenn Du es weißt, wieso fragst Du dann noch?"

Er würde diese Frauen nie verstehen...

"Es geht hier ums Prinzip", erklärte Kioku und machte sich auf der Couch breit. "Und jetzt schwing die Hufe und arbeite auch mal was."

Doch dazu hatte er gerade keine Lust. Er schloss das Fenster mit den Worten:

"Du, Tante Kioku? Kannst Du mir mal was erklären?"

"Klar, Kurzer. Was hast Du auf dem Herzen?"

Mamoru machte es sich ihr gegenüber auf dem weichen Sessel bequem. Es war ihm nicht gerade angenehm, diese Frage zu stellen, aber schlussendlich siegte doch seine Neugier.

"Sag, warum brauchen Frauen eigentlich immer so wahnsinnig viele Schuhe?"

Seine Tante warf ihm daraufhin einen Blick zu, der ihm zeigte, dass sie drauf und dran war, an seinem Verstand zu zweifeln.

"Wie bitte?", entfuhr es ihr. "Wie um alles in der Welt kommst Du jetzt da drauf?"

Er zuckte mit den Achseln. "Nur so."

Kioku war selbst schuld, wenn sie ihm aufbrummte, in ihrem Schlafzimmer Staub zu wischen. Denn sonst wäre ihm nie wirklich bewusst geworden, was Schuhe doch für ein wahnsinniger Staubfänger sein konnten! Und Kioku besaß einige Paar Schuhe. Wenn auch nicht ganz so viele, wie angeblich so manch anderes Weibstück...

Augenblicklich jedenfalls wich im Anbetracht dieses Gedankens der misstrauische Blick aus ihren Augen und machte Platz für einen Gesichtsausdruck, gegen den der hellste Sonnenstrahl ein blanker Hohn war. Kioku seufzte verträumt während sie nach den richtigen Worten suchte, mit denen sie ihrem dummen Neffen beibringen wollte, über welchen kostbaren Schatz er doch so verständnislos und abfällig redete. Sie entschloss sich dazu, es ihm an einem praktischen Beispiel zu demonstrieren.

"Komm mit, Kurzer. Ich zeige es Dir."

Im Schlafzimmer angekommen suchte sie aus ihrem Kleiderschrank ein langes, grünes Kleid hervor und legte es sorgsam auf das Bett.

"Wenn man sich schick machen will, muss alles in Form und Farbe zusammen passen. Man kann also beispielsweise nicht eine orangefarbene Hose anziehen, einen roten Schlabberpulli darüber, ein teures, weißes Jackett darauf und rosa Armeestiefel an den Füßen, alles klar?"

"Klar", meinte Mamoru. "Rosa Armeestiefel wären ja schon ein Antagonismus an sich. So weit kann ich Dir also gerade noch folgen."

"Anta...was?"

"Antagonismus", erläuterte er darauf, "ein Widerspruch, eine Gegensätzlichkeit, eine Divergenz. Ein Paradox, wenn Du so willst."

"Was für'n Paradeochse?", fragte sie verwirrt.

"Kein Paradeochse", belehrte er, "ein Paradox! Pa... ra... dox. Etwas, das einen Widerspruch in sich selbst enthält."

Kioku brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass sie nichts begriff.

Ihr Neffe seufzte. "Vergiss es. Fahre fort."

Sie verbrachte noch etwa zwei Sekunden mit Nachdenken und gab es dann auf. Nun wandte sie sich wieder dem grünen Kleid zu, das sie auf dem Bett ausgebreitet hatte.

"Wie gesagt, Form und Farbe müssen zusammen passen. Der Stil übrigens auch. Zu diesem Kleid würde ich diese Handtasche wählen..." Sie wies auf ein unförmiges Ding, in das vielleicht gerade noch so eine menschliche Hand hineinpasste.

Vielleicht.

"... und dazu diese Schuhe..."

Sie brachte ein schwarzes Paar Lackschuhe mit Pfennigabsätzen zum Vorschein, die sie Mamoru stolz unter die Nase hielt. Dieser beäugte zunächst die Schuhe, dann das Kleid, dann die Handtasche, und dann wieder das Kleid.

"Und warum nimmst Du nicht die Schuhe, die da unten im Regal stehen? Die passen doch farblich", erkundigte er sich.

Kioku schlug die Hände überm Kopf zusammen. Dass sie noch die Schuhe in ebendiesen Händen hielt, und ebendiese Schuhe in ebendieser Bewegung an ihren Kopf bekam, störte sie nicht.

"Um Himmels Willen, Kurzer!", stöhnte sie. "Das sind doch Turnschuhe!"

"Na und? Ich finde sie schick!"

Kioku seufzte in einem Anflug von Resignation. "Aber dieses Kleid hier ist edel, dazu muss man edle Schuhe wählen!"

Mamoru grinste von einem Ohr zum andren. "Etwa so edel wie Du?"

Seine Tante stellte sich in Pose, zwinkerte ihm zu und fragte:

"Warum nicht?"

"Du weißt schon, was das Wort edel bedeutet, oder?", fragte er in belustigtem Ton.

"Natürlich weiß ich das!", schnauzte ihn Kioku an. "Wofür hältst Du mich?"

"Dann weißt Du natürlich auch...", fuhr Mamoru ungerührt im Plauderton fort, "...dass ein Chemiker das Wort edel gebraucht, um einen Stoff zu beschreiben, der äußerst reaktionsträge ist..."

Kioku sah ihn eine Weile verständnislos an. Dann verengten sich ihre Augen zu blitzenden kleinen Schlitzen. "Willst Du damit etwa sagen, ich sei langsam?"

"Quod erat demonstrandum", antwortete ihr Neffe grinsend, "was zu beweisen war."

"Ich sollte Dir so langsam mal Eine runterhauen, hab ich so das Gefühl!", donnerte Kioku. "Was ist jetzt? Willst Du jetzt wissen, was es mit den Schuhen so auf sich hat, oder nicht?"

"Ja, ja. Ich bin ganz Ohr."

Tante Kioku verbrachte noch einige Zeit damit, die Kleider rauszusuchen, Outfits zusammen zu stellen, und das passende Paar Schuhe dazu zu finden. So langsam begriff Mamoru, dass es mehr als nur ein Klischee war, Frauen würden zum Umziehen immer so lange brauchen. Es gab tausende verschiedener Kombinationen, unter denen man wählen konnte. Doch das eigentliche Problem waren die Millionen von Kombinationen, die man nicht zusammenstellen durfte. Das Geheimnis lag nicht darin - so erklärte ihm Kioku - das Richtige herauszusuchen, sondern das zu tragen, was nicht das Falsche war. Das verstand Mamoru nicht, aber er nickte immerhin brav und sagte dann und wann mal so was wie "Ja, klar" oder "find ich auch schön" oder Ähnliches. Dabei studierte er eingehend Kiokus Miene, die ihm verriet, ob er etwas gut oder schlecht finden sollte. Im Prinzip war es also ganz einfach, und seine Tante nickte ihm dann auch immer bestätigend zu.

Dennoch fand er die Prozedur schon sehr bald ziemlich nervtötend, und er verstand, warum seine Leidensgenossen (also all die anderen Männer) sich immer beklagten, wenn sie zum Shoppen mitgehen sollten.

Im Großen und Ganzen hatte er doch keine richtige Antwort darauf gefunden, warum Frauen immer so viele Schuhe brauchten. Dies, und noch vieles Andere mehr, würde wohl auf Ewig ein Geheimnis bleiben, um das sich Mythen und Legenden rankten. Wohl würde so mancher Mann, der mutig - oder auch einfach nur dumm genug - war, sich auf die Suche nach der Lösung dieses Geheimnisses zu machen, mit seinem Leben oder doch zumindest mit seinem Verstand bezahlen, aber wahrscheinlich würde es nichtsdestotrotz das größte Rätsel der Menschheitsgeschichte bleiben.

Bleibt schlussendlich nur noch zu sagen, dass Kioku es doch tatsächlich nach geraumer Zeit geschafft hatte, vor lauter Begeisterung ihren ganzen Kleiderschrank im Schlafzimmer auszubreiten. Und nun standen sie und ihr Neffe in einem Durcheinander aus Farben und Stoffen, und keiner traute sich mehr so recht, auch nur einen einzigen Schritt vorwärts zu tun, aus Angst, irgendwo drauftreten zu können.

"Ähm, tja, nun gut", stotterte Kioku, "gibt's noch Fragen?"

"Ja, eine", meldete sich Mamoru zu Wort. "Was ist der Sinn des Lebens?"

Darauf grinste Kioku ihn an und antwortete:

"Schuhe!"

"Diese Antwort hatte ich befürchtet", murmelte er seufzend und augenrollend.

"Was denn, was denn?", fragte Kioku. "Was ist so falsch daran?"

"Ach, weißt Du", begann Mamoru, während er sich unsicher im vollgestopften Zimmer umsah, "korrigier mich, wenn ich was Falsches sage, aber ... waren Schuhe nicht ursprünglich einfach nur dazu da gewesen, um nützlich zu sein?"

"Ach", machte Kioku verzweifelt, "Du Dilettant hast mal wieder gar nichts begriffen!"

Genau genommen war das nicht wirklich eine Antwort...

Kioku beugte sich vor und griff nach einem Pullover. "Jetzt hilf mir aufräumen, Kurzer."

"Nö. Wieso sollte ich?", stellte Mamoru fest. "Den ganzen Kram hast Du doch rausgeräumt."

"Das hab ich doch nur für Dich getan, Du undankbare kleine Made!", schimpfte sie und warf Mamoru den Pullover zu. Er fing ihn auf und lächelte leicht böse, als ihm die rettende Idee kam.

"Wie Du willst", meinte er, noch immer auf diese boshafte Art grinsend. Er latschte quer über die ausgebreiteten Klamotten (weswegen Kioku am Rande eines Herzinfarkts war), knüllte den Pulli zu einer relativ gleichmäßigen Kugel zusammen und platzierte diesen unförmigen Haufen mitten auf einem Regalbrett im Schrank.

"So etwa?"

"Nein, nein, nein!", kreischte seine Tante wie von Sinnen. "Ihr Kerle seid doch zu nichts zu gebrauchen! Raus! RAUS!!!"

Und damit bückte sie sich und hob ihre Sachen selbst auf, legte sie vorsichtig zusammen oder hängte sie auf Kleiderbügel und schimpfte währenddessen auf die Männer, ihre Unordnung und ihre undankbare Art.

Ein paar Minuten noch lehnte Mamoru sich gegen den Türrahmen und amüsierte sich königlich darüber, wie Kioku schuftete und dabei wie ein Rohrspatz vor sich hin schimpfte.

Arbeiten ist schön.

Mamoru könnte stundenlang dabei zusehen.

Nach einem arsengetränkten Blick seiner Tante hin war es ihm allerdings lieber, sich schleunigst aus dem Staub zu machen.

Auch, als Onkel Seigi etwas später mit den Worten "Ich bin wieder zu Hause!" die Haustüre hinter sich schloss, war seine Frau noch mit Aufräumen und Schimpfen beschäftigt. Und ihr Repertoire war sehr beachtlich. Sie konnte stundenlang Flüche herunterbeten, ohne sich dabei auch nur ein einziges Mal zu wiederholen. Das hatte Mamoru schon als Kind von ihr übernommen...

"Schatz?", fragte Seigi und bestaunte das unordentliche Zimmer. "Du bist schon wieder mit Deinen Schuhen beschäftigt?"

Er hörte ein wütendes Kreischen.

Er sah eine schnelle Bewegung.

Er erkannte das fliegende Ding vor sich gerade noch als Stiefel.

Dann sah er nur noch bunte Sterne vor seinen Augen.

"Diese Mathearbeit war viel zu schwer!", beschwerte sich Motoki. Sonderlich gestresst wirkte er allerdings nicht gerade, wie er so an einem Baum lehnte, sich ausgiebig streckte und herzhaft gähnte, ohne sich dabei allerdings die Mühe zu machen, sich die Hand vor das sperrangelweite Maul zu halten. Er hockte sich ins Gras, lehnte den Rücken gegen den Stamm des alten Baumes, schloss genießerisch die Augen und seufzte tief.

"Meinst Du?", fragte Mamoru. Er zog es vor, neben Motoki stehen zu bleiben und seinen Blick über den annährend menschenleeren Campus der Moto-Azabu-Oberschule schweifen zu lassen.

"Du etwa nicht?", erkundigte sich Motoki, noch immer mit geschlossenen Augen. Er wirkte irgendwie müde.

"Ich schon", murmelte Mamoru, "aber schau Dir Suiren an."

Das Klassengenie rannte quer über den Campus und erkundigte sich bei ihren Mitschülern, wie es "denn so gelaufen ist", nur um sich dann in Pose zu werfen und herumzuposaunen, wie leicht ihr es doch gefallen ist, diese kleinen süßen Aufgaben zu lösen.

"Gibt es eigentlich irgendwas, das die nicht kann?" Motoki klang etwas entnervt, aber in Wahrheit kümmerte er sich kaum um Suiren. Ihm war egal, dass sie so großartig war. Im Augenblick schien ihm sogar so ziemlich alles herzlich egal zu sein. Was ihn allerdings interessierte, das waren die paar Minuten, die er noch in Freiheit verbringen konnte, bevor der nächste Unterricht beginnen würde.

"Stör Dich daran nicht", schlug auch Mamoru vor. "Jetzt gibt es erst mal wichtigere Dinge. So was wie Ferien, zum Beispiel. Heute ist Mittwoch, der 6. März. In anderthalb Wochen haben wir den Prüfungsstress überstanden, danach können wir ausspannen, dann steht das neue Schuljahr vor der Tür: die elfte Klasse. Unser zweites Jahr in der Oberstufe."

"Na toll", rief Motoki aus, "vom Regen in die Traufe!"

"Wohl eher: Vom Regen in die Flutkatastrophe", prophezeite Mamoru. "Oder glaubst Du vielleicht, die haben vor, es uns leichter zu machen? Bestimmt nicht!"

"Das ist eine Verschwörung der Regierung gegen die unschuldige, wehrlose Schülerschaft. Tyrannei nennt sich so was. Das ist ungeheuerlich."

"Das nennst Du Tyrannei?", grölte Mamoru. "Du solltest Tante Kioku erleben, wenn sie der Ansicht ist, sie müsste mich erziehen. Das gibt dem Wort Tyrannei eine völlig neue Bedeutung."

Motoki hob müde ein Augenlid, betrachtete Mamoru einige Herzschläge lang, streckte sich erneut und fragte dann:

"Wieso? Was hast Du wieder angestellt?"

"ICH?"

"Natürlich Du!"

"Pöh!", machte Mamoru beleidigt. "Immer ich."

"Das kennen wir doch gar nicht anders", feixte Motoki.

Dann gab Mamoru auf. Motoki hatte ja Recht. "Okay, okay; ich geb's ja zu. Mea maxima culpa. Nun ja, es geht einfach immer noch um den kleinen Kratzer an Deinem Knie und um unsere kleine ... Auseinandersetzung vor ein paar Tagen. Tante Kioku sagt so was Ähnliches wie ich hab Hausarrest, bis ich fünfunddreißig bin oder so."

Motoki glotze ihn nun etwas blöde an. "Den ersten Satz hab ich noch verstanden ... und dann..."

"<Mea maxima culpa> ist Latein und heißt übersetzt <Meine große Schuld>", klärte ihn Mamoru auf. "Es handelt sich dabei also um ein Schuldbekenntnis. Nimm es zugleich als eine Entschuldigung. Alles klar? Tu mal was für Deine Allgemeinbildung."

"Und tu Du mal was gegen Deine Arroganz", meckerte Motoki. "Ist ja nicht zum Aushalten. Kaum ist Suiren um die Ecke verschwunden, schon lässt Du hier den großen Einstein raushängen. Was hab ich nur verbrochen, dass ich mit so was wie Dir bestraft werde?"

"Ich bin keine Strafe", belehrte ihn Mamoru, "ich bin eine Chance! Ein uraltes Sprichwort besagt Kein Mensch ist Dein Feind, kein Mensch ist Dein Freund. Jeder Mensch ist Dein Lehrer! Merk Dir das gut!"

Motoki bekam einen eigenartigen, panisch anmutenden Gesichtsausdruck, als er mit einem Kreischen in der Stimme feststellte:

"ICH BIN VON LEHRERN UMGEBEN??? RETTET MICH!!!"

Mamoru schüttelte nur theatralisch den Kopf und murmelte:

"Nöh. Du bist nicht mehr zu retten."

Damit schien er genau das auszudrücken, was auf den verwirrten Gesichtern der wenigen anderen Schüler geschrieben stand, die sich bei Motokis Anfall zu ihm umgedreht hatten. Motoki grinste in die Runde und störte sich dann schon gar nicht mehr daran. Im Gegenteil: Er stand ganz gerne dann und wann mal im Mittelpunkt. Ganz anders als Mamoru. Der verkroch sich hinter dem dicken Baumstamm.

"Komm da hinten raus, Du Held!", forderte Motoki, stand auf und ging um den Stamm herum. Dort saß sein Kumpel zu den Wurzeln des Baumes und starrte vor sich hin. Nur noch ein paar Schritt Wiese trennten ihn von der stacheligen Hecke, nach der nur noch die hohe, weiße Mauer das Gebiet des Campus umzäunte. Irgendwie wirkte Mamoru mit einem Schlag ernst und nachdenklich.

"Du, Motoki?", fragte er leise.

Der Angesprochene hockte sich umständlich nieder, lehnte auch sich - wieder einmal - gegen den Stamm und antwortete endlich:

"Was denn? Ist was mit Dir?"

"Sag mal, fühlst Du das?"

Motoki erwartete, dass Mamoru irgendwas tat. Aber außer weiterhin starr geradeaus zu sehen, unternahm er nichts. Schließlich antwortete der Blonde mit einiger Verzögerung:

"Was genau meinst Du?"

"Spürst Du etwas Besonderes hier? Irgend eine Veränderung?"

Motoki sah sich um, doch er konnte nichts Außergewöhnliches entdecken. "Nein, und jetzt spuck endlich aus, wovon Du redest!"

Mamoru zuckte nur mit den Schultern. "Keine Ahnung. Hab mich wohl getäuscht. Vergiss es."

Motoki kratzte sich verständnislos am Kopf. Er musste sich ganz schön veräppelt fühlen.

"Nein, das vergesse ich jetzt nicht. Und wenn Du mir nicht sofort sagst, was Du meinst, dann hau ich Dich; denn ich werde unter Garantie nächtelang nicht schlafen können, wenn ich jetzt nicht bald mal erfahre, wovon Du redest!"

"Ich meine nur..." Mamoru zögerte, während er nach den richtigen Worten suchte. "...Ich hab ein merkwürdiges Gefühl. Es ist ... wie kann ich das beschreiben? ...Es fühlt sich so an, als wäre etwas ganz anders als sonst. Vielleicht kennst Du dieses Gefühl, beobachtet zu werden? Du siehst nichts, Du hörst nichts, und dennoch spürst Du ganz genau, dass da etwas ist. Etwas, das da absolut nicht hin gehört."

"Kumpel, Du halluzinierst. Da ist nichts!", lachte Motoki. "Seit wann, bitte schön, leidest Du unter Verfolgungswahn?"

"Seit gerade eben wieder etwas stärker. Aber im Großen und Ganzen ... seit heute Morgen", flüsterte Mamoru tonlos. Er sah seinen Freund von der Seite an. In seinem Blick lag ein Ausdruck leisen, namenlosen Schreckens.

"Ich kann es nicht wirklich beschreiben", fuhr er fort, "ich spüre nur, wie ... wie der Wind anders ist. Als wolle er mir etwas zuflüstern. Und dieser Baum hier war vor einem Moment noch anders. Ich spüre ... eine Art Unruhe, die von ihm ausgeht. Und das Meer ... es beginnt zu tosen."

"Ein flüsternder Wind und ein unruhiger Baum?", fragte Motoki ungläubig. "Und Du willst über diese Entfernung spüren können, was das Meer tut? Willst Du mich auf die Schippe nehmen?"

"Sehe ich so aus?" Es war fast als läge nun echte Angst in Mamorus Blick. "Ich verstehe ja selbst nicht, was da mit mir geschieht. Aber denk nur daran, wie ich Dein Knie geheilt habe. ...Na gut, beinahe geheilt. Ist dieser kleine Kratzer vom letzten Mal noch da?"

Motoki nickte. Dann krempelte er sein Hosenbein hoch, um die kleine, dünne, längliche Wunde vorzuzeigen. Mamoru machte sich wieder daran zu schaffen, als Motoki nachdenklich meinte:

"Na ja, das ist schon etwas Besonderes. Gebe ich ja auch zu. Du hast mir übrigens noch immer nicht erzählt, wie Du das anstellst..."

Mamoru hatte die Wunde nun völlig verheilen lassen. Er lehnte sich mit einem erschöpften Seufzer zurück. Als er antwortete, überging er Motokis letzten Satz einfach.

"Und anscheinend sind die gleichen Kräfte, die mir diese paranormalen Heilfähigkeiten ermöglichen, auch dazu in der Lage, mich Dinge spüren zu lassen, die ein ... nun ja ... <normaler> Mensch nicht spüren würde. Mit anderen Worten: Ich bin anscheinend hyperästhetisch veranlagt. Das ist unglaublich..."

"Was für ein para... hyper... Schnickschnack?", fragte Motoki verwirrt nach, während er sein geheiltes Knie betrachtete und - noch immer fassungslos - den Kopf schüttelte.

Mamoru zögerte etwas mit der Auskunft. Er versuchte, es seinem Freund so einfach wie nur irgend machbar beizubringen:

"Ich weiß auch nicht wirklich viel darüber. Ich habe mich vorher nie wirklich mit der Parapsychologie auseinandergesetzt. Aber heute morgen hatte ich ein sehr interessantes Gespräch mit Suiren..."

"Sitzt in letzter Zeit oft mit ihr zusammen, was?", unterbrach ihn Motoki grinsend und stupste ihn mit dem Ellenbogen an.

"Was denn?", verteidigte sich Mamoru. "Du musst selbst zugeben, sie ist eine zuverlässige Informationsquelle! Und jetzt halt die Klappe und hör zu. Die Parapsychologie ist eine Wissenschaft, die sich mit dem Übersinnlichen auseinandersetzt. Dazu gehören so Sachen wie die Levitation, also das freie Schweben einer Person oder eines Gegenstandes, die Telepathie, also Gedankenübertragung, die Telekinese, also das Bewegen eines Gegenstandes durch die bloße Willenskraft, die Präkognition, also das Hellsehen, und viele weitere Bereiche. Dinge, die paranormal sind, können mit den gewöhnlichen wissenschaftlichen Mitteln nicht analysiert werden. Man sieht den Ausgangszustand, man sieht das Ergebnis; doch was dazwischen geschieht, das kann niemand physikalisch erklären. Ich kann Dir nicht sagen, wie ich es geschafft habe, Dein Knie heilen zu lassen. Ich weiß nur: Ich bin dazu in der Lage! Tja ... nun also zur Hyperästhesie. Dieser Begriff wird in der Parapsychologie und in der Medizin nicht ganz gleichwertig gehandhabt. In der Medizin benutzt man diesen Ausdruck, um die Überempfindlichkeit der Sinnesnerven gegen Berührungen zu beschreiben; psychisch bedingt ausgelöst durch Erschöpfung, Nervenkrankheiten und Ähnliches. In der Parapsychologie allerdings sind diese Fähigkeiten nicht krankheitsbedingt. Hyperästhesie ist für die Parapsychologen die Erscheinung, dass gewisse Menschen winzige, anderen Menschen nicht mehr zugängliche Signale mit ihren Sinnen wahrnehmen können. In der Fachsprache bezeichnet man diese Personen als höchst sensitiv. Kurz und gut: Ich hab besondere Fähigkeiten drauf, die sich weit und breit kein Schwein näher erklären kann. Ich kann Wunden verheilen lassen und bekomme jede Kleinigkeit in meiner Umgebung mit. ...In gewisser Weise ist das erschreckend. Auch für mich."

"Und für mich erst!", rief Motoki aus. "Kumpel, Du schockst mich gerade! Aber auf derbste Art und Weise! Dann bist Du ... so ne Art Superman?"

"So in der Art", bestätigte Mamoru augenrollend, in der Hoffnung, Motoki könnte es so am besten verstehen. "Ich habe nur einen besseren Modegeschmack."

"Und das heißt schon was!", stellte Motoki grinsend fest. Dann wurde er schlagartig wieder ernst. Er starrte lange Zeit stumm vor sich hin und dachte nach. Auch Mamoru war jetzt sehr ruhig.

Aber nur äußerlich.

Innerlich war er hin und her gerissen. Was mochte das alles für ihn bedeuten, und für seine Zukunft? Welche Fähigkeiten würden wohl noch in ihm schlummern? Was hatte das alles zu tun mit seinem Erwachen als Herr der Erde, mit der kleinen, goldenen Spieluhr, mit dem teuer aussehenden schwarzen Smoking, der so urplötzlich verschwunden war, mit der alten, griechischen Mythologie über den Hirten Endymion und die Mondgöttin Selene, mit dem Silberkristall und mit dem Goldenen Kristall? Und was im Augenblick das Wichtigste war...

"Wer ist dieser Jemand, von dem Du sagst, dass er Dich verfolgt? Was bedeutet dieses Gefühl, alles hier würde sich verändern?" Motoki hatte genau das ausgesprochen, was in Mamorus Gedanken herumgespukt war.

"Ich weiß es nicht", murmelte Mamoru wahrheitsgetreu. Er sah in diesem Moment wahnsinnig müde aus. "Ich weiß ja noch nicht mal, ob ich meinem Gefühl überhaupt vertrauen darf. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, jetzt, nach dem Gespräch mit Suiren? Ich habe keine Ahnung. Kann sein, dass ich mich selber verarsche. Kann sein, dass das alles gar nichts bedeutet. Kann aber auch sein, dass ich eine kommende Gefahr spüre. Kann genauso gut sein, dass dieses Etwas, das auf uns zukommt, was immer es sein mag, erst in ferner Zukunft auf uns stößt. Wer weiß das schon? Möglicherweise ist es gutartig, möglicherweise ist es bösartig, möglicherweise ist es gar nicht existent. Ich habe nur das Gefühl ... huschende Schatten zu sehen, die verschwinden, sobald ich mich darauf konzentriere. Ich weiß einfach, dass jemand oder etwas in meiner Nähe ist und mich beobachtet. Ich weiß es einfach. Ich kann es nicht rational erklären, aber es ist einfach so. Keine Ahnung woher, aber ich weiß es so sicher, wie ich weiß, dass die Sonne morgen früh wieder im Osten aufgehen wird. Dieses ... Ding ... was immer es sein mag ... ist noch nicht lange hinter mir her. Vielleicht seit gestern Abend, oder seit heute Morgen, ich weiß es nicht. Aber irgendwas ... lauert still und leise in der Finsternis."

Motokis Mund stand zu einem stummen Entsetzensschrei geöffnet. Und dennoch glaubte er seinem Freund. Er musste es glauben. Was er da gerade alles gehört hatte, das konnte sich doch keiner einfach so aus den Fingern saugen! Das übertraf ja die kühnsten Fantasien der berühmtesten Autoren seit Menschengedenken! Die unglaublichsten Geschichten schrieb eben immer noch nur die Realität...

"Und ... und...", stotterte Motoki fassungslos, "...und ... mit diesem Wissen - und dieser Kreatur im Nacken - hast Du tatsächlich ... diese schwere Mathearbeit geschrieben? Also, ich hätte mich da echt nicht mehr konzentrieren können!"

Mamoru klatschte sich die flache Hand gegen die Stirn und seufzte. Na klar! In einem solchen Moment musste Motoki solch einen überflüssigen Kommentar abgeben!

"Was denn?", fragte der Blonde verunsichert.

"Motoki", beklagte sich Mamoru, "manchmal hast Du einfach das wahnsinnige Talent, am falschen Ort zur falschen Zeit die falschen Dinge zu sagen."

"Nun mach mal langsam!" Motoki verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. "Man kann das Pferd auch von hinten aufzäumen!"

Mamoru starrte ihn einige Sekunden lang blöde an und meinte dazu nur:

"Ich glaube, Du solltest Dir ein Sprichwörterlexikon zulegen..."

Dann erstarrte er mitten in der Bewegung.

"Motoki...", flüsterte er tonlos und presste seinen Rücken gegen den Baumstamm. "Da ist jemand. Auf der anderen Seite vom Baum. Tu mir den Gefallen und sieh nach."

"Echt?", flüsterte der Blonde geschockt zurück. "Ich hab nichts gehört..."

"Tu, was ich sage!"

"Ja, ja", meinte Motoki und schluckte schwer. Er machte einige vorsichtige Schritte um den Baum herum und verschwand aus Mamorus Blickfeld. Dieser blieb wie angewurzelt stehen, hielt den Atem an und lauschte. Und tatsächlich hörte er nur Sekunden später Motokis Stimme:

"Hey, wer bist Du denn? Was suchst Du hier?"

Die Stimme eines Mädchens antwortete. Sie klang leise und wirkte irgendwie etwas eingeschüchtert. "Bist ... bist Du Motoki Furuhata, aus der zehnten Klasse?"

Als Mamoru die Stimme seines Kumpels hörte, konnte er sich prompt bildlich vorstellen, wie Motoki sich in heldenhafte Pose stellte. Der selbstherrliche Unterton in seiner Stimme, als er antwortete, zeigte Mamoru, wie sehr er doch recht gehabt hatte mit seiner Einschätzung.

"Der, und kein anderer."

Mamoru vermutete, Motoki würde sich gerade mit einer eitlen Bewegung ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht wischen und sein breitestes Grinsen auflegen. Jedenfalls sähe ihm das ähnlich.

"Gut. Man hat mir nämlich gesagt, dass ich Dich hier finden würde. Sag, Du bist mit Mamoru Chiba in einer Klasse, nicht wahr?"

In seinem Versteck hinter dem Baum konnte Mamoru schon fast hören, wie seinem Freund ungläubig der Unterkiefer herunterklappte.

"Äääh..."

"Dann könntest Du ... ihm ... vielleicht ... das hier geben?"

Kurze Stille. Dann Motokis Stimme:

"Was ist das?"

"Wonach sieht es denn aus?" Das Mädchen kicherte verlegen. "Also danke, ja? Ist lieb von Dir!"

Damit drehte sie sich wohl herum und eilte davon. Mamoru hörte das Gras unter ihren Sohlen rascheln, und das Geräusch wurde immer leiser, wich bald dem Trappeln auf Asphalt und war dann ganz verklungen.

"Motoki!", flüsterte Mamoru. "Pssst, Motoki! Wo bleibst Du denn?"

Der Blondschopf kam um die Ecke und stammelte:

"Ich hab da was für Dich..."

"Quatsch keine Opern, rück raus das Ding! Was ist es? Und wer war das Mädchen?"

"Du wirst es nicht glauben..." Mit einem Schlag grinste Motoki von einem Ohr zum andren. "...ich glaub es ja selbst kaum!"

Und damit überreichte er Mamoru einen Briefumschlag. Noch während Mamoru ungeduldig den Umschlag aufriss, fuhr Motoki fort:

"Sie ist nicht von hier. Ihrer Uniform nach zu schließen, kommt sie von einer anderen Schule, aber ich kenne diese Art von Uniform nicht. Keine Ahnung, zu welcher Schule sie gehört. Ihrem Alter nach zu urteilen, würde ich schätzen, sie dümpelt irgendwo in der Mittelstufe herum. Aber sie schien eine ganz Süße zu sein. Ich weiß ja nicht - stehst Du auf etwas jüngere Mädchen?"

Mamoru warf ihm einen bitterbösen Blick zu und zerrte den Brief auf dem halb zerfetzten Umschlag. Er brachte gerade keine Geduld auf, sorgsam damit umzugehen.

"Na, was steht drin?", erkundigte sich Motoki und versuchte, einen Blick aus das Papier zu erhaschen.

Mamoru überflog die sauber geschriebenen Zeilen, ließ das Papier dann sinken, starrte Motoki ungläubig an und antwortete:

"Ein Liebesbrief."

Motokis Grinsen steigerte sich schlagartig in ein schadenfreudiges Lachen. "Ah, Du solltest Dein verblüfftes Gesicht mal sehen! Das ist absolut der Hammer! Unbezahlbar!" Er japste verzweifelt nach Luft und lachte unverhohlen weiter. Ihn störte Mamorus zornesrotes Gesicht kein bisschen. "Uh, wie gruselig! Du wirst von einem kleinen Mädchen verfolgt! Schlotter, schlotter! Ich hab Angst! Willst Du jetzt die Polizei rufen? Das FBI? Die Armee? Oder einen Exorzisten? Ich pack's nicht!"

"Ja, ja, beruhig Dich wieder."

"Pffft, nöh. Beim besten Willen nicht. Das Meer beginnt zu tosen, so ein Blödsinn! Ich krieg mich nicht mehr! Ich lach mich krank!"

Er sank auf die Knie, fiel dann entgültig zu Boden und kugelte sich dort vor Lachen. Mamoru konnte nur mit Mühe dem Impuls wiederstehen, ihm schlicht und ergreifend einen Tritt in seine vier Buchstaben zu versetzen.

"Du bist ja bloß eifersüchtig, weil mal ausnahmsweise nicht Du im Mittelpunkt stehst", giftete er.

Motoki nickte nur prustend. "Die kannst Du gerne behalten, ich bleibe eh bei Reika. Aber dass Du auch endlich auch mal beachtet wirst, amüsiert mich königlich!"

"Ja, ist nicht zu übersehen", murmelte Mamoru und ging den Brief noch mal Zeile für Zeile durch.

"Was willst Du jetzt machen?", fragte Motoki, wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln, stand endlich wieder auf und klopfte sich den Staub aus seinem Hemd, während er noch leise kichern musste.

"Na, was wohl? Ich werde den Brief natürlich beantworten und sagen, dass ich kein Interesse hab. Du weißt, mein Herz gehört Hikari."

"Ja, und sie benutzt es auch kräftig als Fußabtreter. Aber wenn Du meinst ... tu, was Du willst! Ich sage nur: Ich an Deiner Stelle hätte die Kleine von gerade eben gern mal ... getestet! Wie heißt sie denn?"

"Wenn sie den Brief auch verfasst hat, und nicht nur die Postbotin war, dann heißt sie Miharu. Ich frage mich, woher sie die Zeit nimmt, hier aufzukreuzen. Hat sie denn keinen Unterricht?" Mamoru faltete den Brief - nun ein gutes Stück vorsichtiger - wieder zusammen und schob ihn in die Brusttasche seines Hemdes. Er stellte sich die Frage, wie er den Brief denn beantworten sollte, wenn er weder wusste, wie das Mädchen mit Nachnamen hieß, noch, auf welche Schule und in welche Klasse sie genau ging. Aber irgendwie wollte er das auch nur sehr ungern herausfinden. Vielleicht wegen der leisen Angst in seinem Hinterkopf, er könne dieses Mädchen doch irgendwie süß finden und müsste sich dann zwischen ihr und Hikari entscheiden, was er nicht wollte. Na gut, dann musste er eben Motoki mit dieser Aufgabe betreuen. Der würde sicherlich nicht nein sagen.

Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet Mamoru, dass er nur noch wenige Minuten Zeit hatte, um sich ein wenig zu entspannen. Als er seine Klassenarbeit abgegeben hatte, war die reguläre Unterrichtsstunde noch nicht zu ende gewesen, und seit dem hatte er zusammen mit Motoki das bisschen Restzeit hier draußen verbracht. Schon bald würde die Pause anbrechen, und Minuten später würden beide wieder im Unterricht sitzen.

"Zumindest hat Dich Dein Gefühl nicht getäuscht", sagte da Motoki grinsend. "Da war tatsächlich jemand. Weißt Du, Kumpel, wenn es mal so richtig, richtig ernst wird - sagen wir mal, wenn Dich so was Grässliches wie ein kleines Kätzchen angreift, oder so - dann kannst Du auf mich zählen; ich bin für Dich da! Ich beschütze Dich!"

"Und wer beschützt mich vor Dir?", brummte Mamoru. Der Deckel der Spieluhr klappte auf, und ihre sanfte Melodie ertönte dumpf unter Mamorus Hemd. Aber nur ein paar Sekunden lang. Dann schloss er die Klappe wieder mit einem verwirrten, skeptischen Gesichtsausdruck. Er fühlte sich so gar nicht wohl in seiner Haut. Gerade da sah er im Augenwinkel eine Bewegung. So was wie ein großer Schatten. Als er den Kopf umwandte, war das Etwas schon wieder weg.
 

Hab ich Dich also endlich gefunden..., wisperte es. Dann zog es sich lautlos zurück und verharrte in der Finsternis.

Kein Laut war zu hören. Kein Atmen. Nicht mal das Rascheln des langen Gewandes. Es bewegte sich nicht. Nur ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. Doch dann drang sein leises Flüstern durch die sonst so vollkommene Stille der Finsternis.

"Ich habe Dich endlich gefunden", stöhnte es. "Nach so langer Zeit habe ich Dich endlich gefunden. Tausend Jahre lang war ich auf der Suche. Und nun ... nun ist Deine unsterbliche Seele endlich wieder in greifbarer Nähe."

Es verharrte.

Es wartete.

Eine Ewigkeit schon hatte es mit warten und suchen verbracht. Und nun, wo das Ziel gefunden war, wollte es lieber vorsichtig sein. Es durfte keinen Fehler begehen; nicht jetzt! Es musste sich gedulden.

Es hatte seinem Herrn und Meister ewige Treue und ebenso ewigen Gehorsam gelobt. Wann immer es den Ruf seines Herrn und Meisters hörte, musste es diesem Ruf bedingungslos folgen.

Und sei es in den Tod hinein.

"Ich - darf - keinen - Fehler - begehen!"

Nach so langer Zeit des Wartens besaß es auch noch genug Geduld, um weiter warten zu können. Jahrhunderte, wenn dies nötig war.

Doch so lange würde es wohl nicht mehr dauern...
 

"Mamoru!"

Er wandte sich um und sah dem schönsten Wesen des Universums ins Gesicht.

Wem wohl?

Na klar...

"Hikari", sagte er verblüfft. "Was ... was tust Du denn..."

"Ich hab Dich schon gesucht!" Nun war sie endlich an ihn heran. "Was machst Du heute so?"

"Hö?"

Er war vollkommen überrascht. Er hatte nie und nimmer - oder zumindest nicht in absehbarer Zeit - damit gerechnet, überhaupt von diesem schönen, übernatürlichen Wesen auch nur angesprochen zu werden. Nun war genau dies doch eingetreten - und dann hatte der Wortwechsel gleich solch eine persönliche Note! Wie schon so oft zuvor schien sich ein seidiger, rosafarbener, dichter Nebel um sein Gehirn zu hüllen, der absolut alles aus seiner kleinen Traumwelt verbannte, was nicht in irgend einer Form zu Hikari gehörte.

Der Laternenpfahl vor ihm war eindeutig zu dieser Kategorie zu zählen. Und er lief auch prompt dagegen.

Mit einem kurzen Schrei, den er mehr der Überraschung halber als des wirklichen Schmerzes wegen ausstieß, torkelte er zurück und hielt sich die Stirn.

"Himmel, hast Du Dir was getan?", fragte Hikari besorgt. "Lass doch mal sehen..."

Es war nichts Ernstes. Er würde eine dicke Beule bekommen, aber nicht mehr. Wenn er sich früh genug darum kümmerte, würde noch nicht einmal das eintreten.

"Sag mal, was sollte das gerade eben eigentlich?", fragte Hikari nach. In ihrer sanften Stimme lag ein belustigter Ton.

"Ach, ich ... ähm...", stammelte Mamoru verlegen, "...tja, also ... das ... das war ... das war Absicht."

"Wie bitte?"

"Ja", erläuterte Mamoru im Brustton der Überzeugung. "Ich wollte mir damit ein bisschen was von Deinem Mitleid erheischen. Hat's geklappt?"

Erst sah sie ihn verblüfft an. Dann begann sie zu kichern, und daraus wurde dann ein glockenhelles Lachen.

"Ja, hat blendend funktioniert", verkündete sie. Die Freude, die sie empfand, wirkte ansteckend. Mamoru musste in dieses Lachen einfach einstimmen. Dabei hielt er sich die Hand vor die absichtlich eingerannte Stirn.

Als er sich endlich wieder etwas beruhigt hatte, ließ er seine Hand wieder sinken und seufzte schwer. Seine Gedanken kreisten wie irr in seinem Kopf. Er lief hier neben der schönsten Frau der Welt die Straße entlang und hatte nichts besseres zu tun, als sich lächerlich zu machen. Er hatte doch noch so viel mehr drauf! Aber wenn Hikari in seiner Nähe war, dann konnte er irgendwie nicht mehr geradeaus denken. Sie war so einzigartig, so zauberhaft, so begehrenswert...

Er warf einen kurzen Seitenblick auf sie. Sie hatte solch ein sanftes Gesicht, solch wunderschöne, rundliche Konturen, solch eine makellose Haut. Ihre Lippen schimmerten in prachtvollem Rot; so schön, wie kein roter Apfel auf Erden zu sein vermocht hätte. Selbst der berühmte Apfel aus dem Garten Eden, das Symbol der Versuchung schlechthin, der zum Verhängnis für Adam und Eva wurde, konnte kaum so beispiellos rot sein, wie Hikaris Lippen es waren. Freilich, sie hatte mit einem Lippenstift nachgeholfen, aber was zählte, war das Endergebnis!

Und diese wunderschönen Augen! Kein Smaragd, kein Nephrit, überhaupt kein Schmuckstück auf diesem Planeten konnte diesem tiefen Grün das Wasser reichen. Mamoru war nicht dazu in der Lage, diese intensive Farbe zu beschreiben. Kein Wort in seiner Sprache - oder in irgend einer menschlichen Sprache! - konnte auch nur annährend ausdrücken, wie sehr man vom bloßen Anblick dieser schönen Augen verzaubert werden konnte.

Auch die kleine Stupsnase war eine weitere dieser Einzigartigkeiten Hikaris. Sie wirkte so zart und zerbrechlich... absolut unbeschreiblich...

Die langen, seidigen, schwarzen Haare perfektionierten das Gesamtbild. Sie wehten im Wind und wirkten dabei so unendlich leicht; fast so, als bestünden sie aus Farbe gewordener Luft. Alles an ihr - angefangen bei diesem göttlichen Gesicht, weiter über ihre so perfekt gearteten Brüste, bis hin zu den langen Beinen - wirkte so sinnlich und so wahnsinnig elegant. Jede einzelne Bewegung, jeder Atemzug, jeder Schritt, brachte Mamoru schier um den Verstand. Alles, absolut alles hätte er gegeben, um dieses Weib sein Eigen nennen zu dürfen.

Wenn er sich vorstellte...

Hikari in einem herrlichen, weißen Hochzeitskleid, mit einer einzigartig schönen Perlenkette um den Hals und einem riesigen Blumenstrauß mit weißen und blassblauen Blüten in der Hand; daneben Mamoru, in einem teuren, schwarzen Anzug und einer großen, weißen Blume am Revers; und so würden sie beide überglücklich lächelnd auf den Traualtar zuschreiten, eine Blaskapelle im Hintergrund würde dann für romantische Musik sorgen...

"Mamoru?" Hikari war stehen geblieben und sah ihn nun aus ihren großen, grünen Augen an.

"Ja?" Völlig verzaubert blieb Mamoru stehen und wandte sich ihr zu.

"Nichts, vergiss es." Hikari kicherte und lief wieder weiter.

"Hä?" Mamoru war verwirrt. Er fühlte sich wie aus einem tiefen Schlaf gerüttelt. "Was ist los?"

Hikari warf ihm ein spitzbübisches Lächeln zu als sie erklärte:

"Ich wollte Dich nur aus Deinen Träumen reißen, bevor Du auch noch gegen diesen Laternenpfahl hier läufst."

Mamoru bekam leicht rote Wangen.

"Ach was! Den hab ich natürlich gesehen", behauptete er nuschelnd und setzte sich wieder in Bewegung. Dabei musste er allerdings einen gewaltigen Schritt zur Seite machen, um nicht doch noch eine ungewollte Bekanntschaft mit dem Pfahl machen zu müssen.

"Ja, sicher doch!", lachte Hikari. "Weißt Du, Du solltest vielleicht etwas mehr auf Deine Umgebung achten. Merk Dir das."

"Ich achte doch auf meine Umgebung!", verteidigte sich Mamoru. Und wie er das tat! Zur Zeit zeichnete sich seine Umgebung eben aus durch endlos lange Beine, einen schier göttlichen Körper und diese wahnsinnig erregenden, großen Brüste, die...

"Wenn Du mich schon mit Blicken ausziehen musst, dann versuch doch zumindest, es so zu tun, dass ich es nicht bemerke", meinte Hikari spitz. Als Mamoru nun endgültig einen knallroten Kopf bekam und diesen verlegen von ihr wegdrehte, lachte sie belustigt.

"Oh, Junge, Du musst noch viel lernen!", feixte sie. "Aber so irgendwie find ich das ja ganz süß."

"Hä? Meinst Du das ernst?", fragte er vollkommen perplex. Er konnte nicht recht fassen, was er da hörte.

"Aber ja doch!" Sie bekräftigte ihre Worte durch ein Nicken. "Es ist in gewisser Weise so ... menschlich. Es wirkt nicht zu steif und perfekt, sondern eher - entschuldige das Wort - trottelig. Na ja, es... Was? Hab ich was Falsches gesagt?", unterbrach sie sich, als sie bemerkte, wie Mamorus Kopf noch mal ein um einige Stufen dunkleres Rot bekam. Als er nicht antwortete, kam sie selber drauf. Sie seufzte. "Ja, ich weiß, ich weiß. Wenn Jungs in Deinem Alter in der Nähe sind, darf man solche Worte wie <steif> einfach nicht in den Mund nehmen..."

Das Rot auf seinen Wangen nahm bei den letzten sieben Worten sichtlich noch etwas weiter zu.

"Ich bin ja schon ruhig."

"Tschuldigung", nuschelte Mamoru kleinlaut. Das Ganze war ihm wirklich mehr als absolut peinlich. Doch noch während die beiden weiterhin die Straße entlang liefen und er damit beschäftigt war, sich in Gedanken einen Blödmann, einen Idioten und einen totalen Versager zu schimpfen, kühlte sich sein Gemüt langsam ab und sein Kopf nahm mit der Zeit wieder eine normale Farbe an.

"Aber nun sag mal...", wandte sich Hikari ihm zu, "...Du hast mir noch immer nicht auf meine Frage von vorhin geantwortet. Was hast Du heute so vor?"

Er zuckte mit den Schultern. "Der Schultag war anstrengend. Erst mal gehe ich nach Hause und schlage mir den Bauch voll. Und danach... Soweit ich weiß, hab ich nichts vor. Warum fragst Du?"

"Ich hab auch nichts Besseres zu tun. Was würdest Du davon halten, wenn wir den Tag zusammen verbringen würden?"

"Was? Wir beide? Du meinst ... Du und ich? Also ... wir?"

"Klar! Was hast Du dagegen?"

"Ich hab nichts dagegen! Ganz im Gegenteil", brachte Mamoru heraus. "Ich bin nur so ... überrascht. Ich hab nicht damit gerechnet."

"Also? Was ist Deine Antwort?"

"Hmm."

Mamoru wusste absolut nicht, was er darauf antworten solle. Entweder, er hatte unwahrscheinliches Glück, und seine Tante hatte seinen Hausarrest inzwischen vergessen (woran er allerdings nicht wirklich glauben konnte) oder aber, er musste diese Göttin auf Erden versetzen. Diese Situation erinnerte ihn irgendwie stark an die berühmte Büchse der Pandora. Eigentlich konnte jede Entscheidung nur eine falsche Entscheidung sein.

"Also? Was ist jetzt?"

"Tja, ich weiß nicht...", druckste er herum. "Jetzt sofort?"

Hikari zuckte mit den Schultern. "Warum nicht?"

"Keine Ahnung", entgegnete er. "Was willst Du denn unternehmen?"

Sie seufzte tief. Anscheinend hatte sie nicht mit annährend so viel Widerwillen gerechnet. "Kannst Du denn kein Stückchen spontan sein?"

Er druckste ein wenig herum. "Doch ... eigentlich schon..."

"Was hält Dich davon ab?"

"Zum einen mein leerer Magen und zum andren die Tatsache, dass wir noch unsre Schuluniformen tragen. Ich persönlich finde die Dinger unpraktisch und absolut nicht zum Party machen geeignet."

"Zum einen...", so erläuterte Hikari, während schon ein leicht gelangweilt klingender Ton in ihrer Stimme mitschwang, "...sind diese Anzüge auch nur Kleidungsstücke. Die Moto-Azabu-Oberschule ist eine renommierte Institution, deren Name sich sehen lassen kann. Du kannst stolz sein, auf diese Schule zu gehen. Und zum andren könnten wir ja zusammen Essen gehen. Hast Du Lust?"

<Ich hätte Lust auf Dich...>

"Ähm...", machte Mamoru mangels eines passenderen Kommentars.

Hikari schüttelte resigniert den Kopf. "Deiner Gesichtsfarbe nach zu schließen, sollte ich in Zukunft lieber höllisch auf meine Wortwahl achten, was?"

Wieder schlich sich die Schamesröte in sein Gesicht. "Tut mir Leid..."

Hikari winkte ab. "Vergiss es. Also?"

"Tja, ich weiß nicht..."

Nun wurde es Hikari anscheinend langsam zu bunt. Sie baute sich vor Mamoru auf, stemmte die Fäuste in die Hüften und donnerte:

"Mamoru Chiba, was ist Dein Problem?"

Als er sich wieder in ein <Ähm>, ein <Tja> oder ein <keine Ahnung> flüchten wollte, blaffte sie ihn an:

"Spuck's schon aus! Schnell und schmerzlos. Was - ist - Dein - Problem?"

Mamoru verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. "Mein Problem ist ein paar Köpfe größer als ich, blond, muskulös, und es trachtet so schon nach meinem Leben."

Hikari verdrehte die Augen. "Ich glaub das nicht. Deswegen machst Du hier so ein Theater? Was soll das? Den hast Du doch schon mal in Grund und Boden gerammt; das schaffst Du doch immer wieder!"

"Bei Dir hört sich das so an, als wolltest Du das...", meinte Mamoru. Er klang dabei sichtlich verstört. "Und außerdem ist das alles nicht so einfach, wie ich das vielleicht ganz gerne hätte. Überhaupt: Warum ausgerechnet ich? Und warum jetzt so plötzlich?"

Hikari ließ ihre Fäuste wieder sinken. Sie wirkten nun irgendwie schlaff und nutzlos, fast wie unbrauchbare, überflüssige Anhängsel. Sie ließ auch die Schultern hängen und senkte den Kopf. Ihr Blick wanderte zu Boden. Ihre Mundwinkel zuckten leicht und zwischen ihren schön geschwungenen Augenbrauen entstand eine steile Falte.

"Ach, so ist das", flüsterte sie. Dabei war sie so leise, dass Mamoru wirklich Schwierigkeiten hatte, sie zu verstehen. Zögerlich trat er einen kleinen Schritt auf sie zu und wusste nicht so recht, was zu tun sei.

"Du misstraust mir", fuhr sie fort, und ihre Stimme schwankte leicht. "Ich dachte ... ich dachte, ich könnte ... einfach mal einen schönen Tag mit Dir verbringen. Ich dachte, Du freust Dich vielleicht, wenn ... wenn ich mal mit Dir was Nettes essen gehe, oder so. Und Du ... was tust Du? Behandelst mich wie Dreck. Ich weiß ja selber, ich bin nichts Besonderes. Aber mir dann so zu zeigen, wie sehr Du an mir zweifelst, das ist zu viel. Das ist entwürdigend. Ich hätte nie von Dir gedacht, dass Du so ein Scheusal sein kannst..."

Sie drehte ihm den Rücken zu und schlug sich die Hände vors Gesicht. Ein leises Schluchzen drang über ihre Lippen. Mamoru indessen spürte einen dicken Klos in seinem Hals, der ständig zu wachsen schien. Er wollte was tun; irgendwas! Aber was konnte er schon machen, um sie zu trösten? Er schluckte heftig. Währenddessen fuhr Hikari immer weiter fort:

"...das ist so gemein von Dir! Ich..." Sie schluchzte wieder auf und wischte sich über die Wangen. "...ich habe mich also doch in Dir getäuscht. Und dabei hab ich wirklich geglaubt, Du seiest nicht so furchtbar herzlos wie all die andren Kerle. Aber da hab ich ... mich anscheinend geirrt. Es tut mir Leid, dass ich so wahnsinnig naiv war. Aber jetzt, wo ich weiß, wie wenig ich Dir wert bin, und wie sehr Dich meine Anwesenheit zu stören scheint, da ... da kann ich ja genauso gut gehen. Und ich dumme Gans hab gehofft, zumindest ein bisschen attraktiv zu sein. Wie dämlich war ich doch!"

Mamoru war immer noch damit beschäftigt, den dicken Klos in seinem Hals loszuwerden. Er atmete tief ein, ging langsam um Hikari herum, stellte sich vor sie und griff zaghaft an ihre Schulter.

"Hikari...", sagte er leise in versöhnlichem, tröstendem Ton. Sie hob ihm den Kopf etwas entgegen und sah ihn aus verheulten Augen an. Tränen rannen ihr über die Wangen und verschmierten ihre Wimperntusche. Mamoru griff in seine hintere, linke Hosentasche und förderte eine Packung Papiertaschentücher zutage. Eines dieser Taschentücher zog er heraus und hielt es Hikari etwas unbeholfen hin. Mit einem leise gehauchten "Danke" nahm sie es an und fuhr sich damit über die tränennassen Wangen.

Mamoru führte einen inneren Kampf gegen sich selbst. So irgendwie bereitete ihm der bloße Gedanke an Chikaras praktisch vorprogrammierte Rache schon beinahe körperliches Unbehagen. Zum andren allerdings hatte er die letzten Monate seines Lebens nur damit verbracht, sich ein derartiges Zusammensein zu wünschen. Er hatte sich doch so lange herbeigesehnt, etwas mit Hikari zu unternehmen und ihr nahe zu sein. Nun war sein Wunsch doch endlich erfüllt!

<Nun gut, dann packe ich die Chance eben beim Schopf.>

"Hikari ... wenn ... wenn du immer noch möchtest ... ich würde wahnsinnig gerne mit Dir zum Essen gehen. Was sagst Du?"

Sie wischte noch einmal über ihr Gesicht und sah ihn dann aus großen Augen an. Sie schniefte kurz auf. "Meinst Du das ernst? Oder sagst Du das nur, damit ich mir nicht mehr so blöd vorkomme?"

"Ich meine es absolut ernst!", antwortete Mamoru und versuchte, sie zuversichtlich anzulächeln. Dabei machte er allerdings eher einen gequälten Gesichtsausdruck, als er grob im Kopf seine derzeitige Barschaft überschlug. Vielleicht, wenn beide nichts Teures bestellen würden, konnte er sie sogar einladen. Aber auch wirklich nur vielleicht.
 

Zunächst einmal verschwand Hikari in einer öffentlichen Toilette, wo sie ihr Make-up frisch auflegte. Mamoru überlegte, in einer Telefonzelle zu verschwinden um seiner Tante Bescheid zu sagen, wo er sei, doch er konnte sich leibhaftig vorstellen, wie sie ihm durch den Telefonhörer hindurch den Hals herumdrehen würde. Nein, es war wahrscheinlich das Beste, wenn er sich einfach eine gute Ausrede einfallen ließ. Irgendwas in der Richtung von <ich bin länger in der Schule geblieben, um Motoki was zu erklären> oder so. Das kam schon mal vor.

Als Hikari dann also - geschlagene fünfzehn Minuten später - fertig war, und wieder so bezaubernd wie eh und je aussah, machten sich die beiden auf die Suche nach einem passenden Lokal. Sie klapperten so Einiges ab - von unbezahlbaren Restaurants (deren bloßer Anblick schon reichte, Mamoru eine gequälte Grimasse ziehen zu lassen, die unmissverständlich machte, dass dies einige Preisklassen über seinem Niveau lag) über verrauchte Kneipen und Fast-Food-Ständen bis hin zu diversen Bars. Schließlich fanden sie doch ein lauschiges Plätzchen und bestellten sich Nudelsuppen. Es dauerte auch nicht allzu lange, bis die beiden sich im Gespräch verloren. Man erzählte sich dies und jenes, man lachte, man lernte sich kennen. Und das kribbelige Gefühl in Mamoru, das er immer in Hikaris Nähe empfand - diese Empfindung der Spannung, der Aufregung, der Verliebtheit - wurde mit der Zeit stärker und stärker. Aber da war noch etwas, tief in ihm drin, das von Zeit zu Zeit immer mal wieder aus ihm hervorbrach: Zweifel. Irgendwie hatte Mamoru den Eindruck, Hikari würde ihm etwas verschweigen. Mit reiner Vernunft war dieses Empfinden nicht zu erklären, aber irgendein Faktor dieses Zusammenseins störte ihn. Er plagte sich mit der Frage herum:

<Aus welchem Grund will sie so urplötzlich was von mir?>

Was empfand sie, tief im Innersten? Was hatte sie dazu bewogen, zu ihm zu kommen? Was war es schlussendlich genau gewesen, das ihn für sie auf einmal so wahnsinnig attraktiv machte?

Und davon abgesehen gab es noch etwas, das deutlich auf Mamorus Gemüt drückte. Es war dieses unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Es war schon ein paar Tage her, dass er immer wieder diesen seltsamen Schatten zu sehen glaubte. Nein, eigentlich war <Schatten> nicht der richtige Ausdruck. Es war mehr nur eine huschende Bewegung. So, als lauerte hinter jeder Ecke etwas Körperloses, das einfach etwas dunkler war als es Schatten eigentlich sein durften. Und es war schneller. Und bedrohlicher.

Zumindest wirkte es so.

Es schien, als sei das Ding nicht ständig in seiner Nähe. Manchmal sah er es so lange nicht, dass er es zwischenzeitlich wieder vergaß.

Doch nur, weil er das unbekannte Etwas nicht andauernd sehen konnte, musste das nicht automatisch heißen, es habe sich nun endgültig verdrückt.

Mamoru ließ sich diese Gedanken immer und immer wieder durch den Kopf gehen. Irgendetwas war absolut nicht so, wie es sein sollte. Das Problem war nur, dass er sich nie lange genug darauf zu konzentrieren vermochte. Wenn Hikari nur ein Mal den Blick aus ihrer Suppenschüssel hob und ihn mit einem zuckersüßen Lächeln ansah, so begann er daraufhin, überglücklich zu grinsen, und dann vergaß er alles, was zuvor noch in seinem Geist herumgespukt hatte.

"Hikari? Darf ... ich Dir ... vielleicht ... eine Frage stellen? Etwas ... etwas ... Persönliches?"

"Klar doch", antwortete sie und schob mit zufriedenem Gesichtsausdruck ihre inzwischen leere Suppenschüssel von sich.

"Also, Du musst darauf nicht antworten, wenn Du nicht willst. Ich versteh das. Aber ... sag mal ... mich würde interessieren, aus welchem Grund Du Dich entschieden hast, den heutigen Nachmittag mit mir zu verbringen? Ich meine ... weswegen ist nicht - wie sonst auch immer - Chikara bei Dir?"

"Tja, gute Frage." Hikari lehnte sich zurück, seufzte leise und schloss die Augen. Sie schien konzentriert nachzudenken und nach den richtigen Worten für eine Erläuterung zu suchen. "Du erinnerst Dich doch bestimmt noch an die Sache auf dem Sportplatz. Als dieses komische, golden leuchtende Ding erschienen ist und Du Chikara dann um Längen geschlagen hast. Er ist an diesem Tag ... ich sage einfach mal: Er ist ziemlich grob mit mir umgesprungen."

Mamoru nickte bestätigend. Er erinnerte sich an diesen Moment noch sehr genau. Es hatte ziemlich schlecht um ihn gestanden. Hikari hatte versucht, Chikara davon abzuhalten, Mamoru das Genick zu brechen, und daraufhin hatte sie einen so derben Schlag abbekommen, dass sie zu Boden gegangen war. Nachdem Mamoru seinen Feind durch die Hilfe des Goldenen Kristalls besiegt hatte, war Chikara ziemlich sauer gewesen und hatte Hikari böse angeschnauzt. Sie hatte es sich nicht gefallen lassen und Chikara hatte sich wutentbrannt getrollt.

"Wie auch immer", fuhr Hikari fort. Nun schlug sie ihre wunderschönen, tiefgrünen Augen wieder auf und sah Mamoru mit einem traurigen Blick an. Sie wirkte tief in ihrer Seele schwer verletzt; und es machte Mamoru rasend, dass er nichts von dem Schmerz in ihrem Inneren lindern konnte. "Nicht nur am fraglichen Tag, auch später noch hatten er und ich unsere Meinungsverschiedenheiten. Er sagt, er ist schwer in seinem Stolz verletzt. Und ich sage, er hat es nicht anders verdient. Der Kerl muss lernen, dass er eben nicht immer nur gewinnen kann! Chikara schränkt mich zu sehr ein. Er lässt mir nicht mal meine eigene, freie Meinung. Wir haben viel gestritten. Ich habe heute einfach mal etwas Abwechslung gebraucht. Da habe ich mir eben überlegt, womit ich wohl den Tag verbringen könnte, und ... na ja ... mein erster Gedanke ... warst Du!"

"Ich? Wirklich?", fragte Mamoru fassungslos.

Hikari nickte. "Ja, Du! Du bist etwas Besonderes. Das spüre ich mit jedem Tag etwas deutlicher. Ich kann es nicht erklären ... es ist so, als würdest Du Dich ... verändern! Du wirkst, im Gegensatz zu früher, irgendwie reifer und erwachsener auf mich. Ich verstehe es selbst kaum. Aber irgendwie fühle ich..." Ihre Wangen bekamen bei diesen Worten eine leichte Rotfärbung. "...fühle ich mich sehr wohl in Deiner Nähe. Du hast so eine beruhigende Wirkung auf mich. Als wärst Du so eine Art ... Schutzengel, oder so was. Ja, das klingt jetzt blöde und wahnsinnig kindisch, aber ich meine es ernst!"

Er warf ihr einen verständnisvollen Blick zu. Als er behutsam ihre Hand ergriff und tröstend darüber streichelte, sah sie ihn mit Erstaunen und - ja, man könnte sagen - Bewunderung an.

Er lächelte sanft als er erklärte:

"Nein, das klingt überhaupt nicht blöde oder kindisch. Es ist mir eine wirklich große Ehre, diese Worte aus Deinem Munde zu hören. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie sehr mich das freut! Du machst mich gerade wahnsinnig stolz damit, dass Du Dich mir so sehr anvertraust und Deine innersten Gefühle offenbarst - und dafür bin ich Dir wirklich dankbar. ...Hikari... Wenn es irgendetwas gibt, das ich für Dich tun kann, dann sag mir das. Ich würde gerne für Dich da sein. Sag mir, was ich machen soll. Ich tu absolut alles."

Ihr stiegen Tränen der Rührung in die Augen. "Das ist so lieb von Dir", hauchte sie - und fiel ihm um den Hals.

Mamoru fühlte den rasenden Herzschlag in seiner Brust. Tröstend legte er seine Arme um Hikari und fuhr ihr besänftigend über den Rücken. Als er durch den Stoff ihrer Uniform hindurch den dicken Verschluss ihres BHs spürte liefen seine Wangen wieder knallrot an, aber er bemühte sich, seine Konzentration auf Wichtigeres zu richten. Er lehnte seinen Kopf gegen ihre heiße Stirn und flüsterte ihr beruhigende Worte zu, während sie leise schluchzte und schwarz gefärbte Tränen der Mutlosigkeit und der Verzweiflung ihre Wangen entlang liefen.

Er förderte ein weiteres Taschentuch zutage - nicht nur, um den Gentleman zu markieren, sondern auch, um seine Uniform vor den hässlichen Flecken zu bewahren, die frisch verflüssigte Wimperntusche wohl verursachen mochte. Sie tupfte sich vorsichtig die Wangen ab, um nicht noch mehr zu verschmieren, was so schon unrettbar war, als Mamoru leise fragte:

"Und was soll nun weiter geschehen?"

Sie zuckte hilflos mit den Schultern. "Keine Ahnung. Jedenfalls kann mir Chikara, dieser Menschenschinder, jetzt gestohlen bleiben. Was soll ich mit so einem herzlosen Monstrum? Den brauch ich doch nicht!"

Sie schnäuzte in ihr Taschentuch. "Sag mal, Mamoru, das hast Du schon ernst gemeint, was Du vorhin gesagt hast? Also, dass Du für mich da sein willst?"

Er schenkte ihr als Antwort ein warmes, sanftes Lächeln. Er konnte dem Impuls, der tief aus seinem Herzen kam, einfach nicht widerstehen. Er lehnte sich leicht zu ihr rüber und gab ihr einen zarten Kuss auf die Wange. Ihre Haut fühlte sich heiß an und es schien fast so, als würden elektrische Funken auf seinen Lippen tanzen. Sein Herz jagte fast schon schmerzhaft in seiner Brust und als er sich wieder zurückzog, da sahen ihn Hikaris vor Dankbarkeit glühende, smaragdfarbene Augen an und sagten ihm, er habe das Richtige getan.

Einige Augenblicke noch lehnten die beiden an einander, dann bezahlte Mamoru das Essen und sie gingen mit leichten Herzen aus dem Lokal.
 

Aus der Dunkelheit heraus betrachtete es sein Ziel. Es legte den Kopf schief. Denn es wusste nicht recht zu begreifen, was gerade mit dem Ziel geschehen war. Ein neuer, bislang unbekannter Faktor war eingetreten und hatte die Grundvoraussetzungen der Mission unter Umständen geändert; ja, vielleicht sogar völlig über den Haufen geworfen! Verunsichert musterte es sein Ziel. Es würde nun warten und darauf hoffen, dass sich der neue Faktor nicht als störend herausstellen würde für seine Mission. Falls doch, so musste dieser neue Faktor umgehend eliminiert werden. Doch es würde sich vorerst noch gedulden. Es würde warten und beobachten, wie es das schon in den vergangenen Jahrhunderten getan hatte.

Lautlos zog es sich wieder in die zeitlose Finsternis zwischen den Dimensionen zurück.

In seinen Augen blitzte ein unheimliches Licht. Es schlich dem Ziel lautlos hinterdrein. Dieses Mädchen in der Nähe des Ziels beunruhigte es von Sekunde zu Sekunde mehr. Wenn es doch nur wüsste, wer sie war; welche Rolle sie spielte im Schauspiel des Schicksals!

Hellblaue Funken und grünliche Blitze wanden sich um sein rechtes Handgelenk und leckten gierig nach ICTUS, der Waffe der ultimativen Zerstörung, die sich an seinen Unterarm schmiegte. Doch es musste die sonst so ungebremste Macht dieser uralten Waffe zügeln. Dazu war hohe Konzentration vonnöten, die es nicht aufbringen konnte, solange es sich von seinen Gefühlen überwältigen ließ.

Es atmete tief ein und mahnte sich zur inneren Ruhe. Noch war die Zeit nicht gekommen, diese tödlichste aller Waffen einzusetzen. Noch war die gesamte Lage einfach zu unklar.

Mit Erschrecken musste es feststellen, dass seine Kräfte nachgelassen hatten. Jahrhunderte lang waren sie nicht zum Einsatz gekommen. Ein großer Teil seiner gewaltigen Macht schlummerte noch in den Tiefen der zeitlosen Finsternis; dieser Dimension der Schrecken, in der es so lange schon darauf gewartet hatte, das längst verloren geglaubte Ziel zu finden.

Nun musste es dafür Sorge tragen, dass seine alte Macht wieder zu neuem Leben erwachte. Denn anders konnte die Waffe ICTUS, die sich geschmeidig um sein Handgelenk schmiegte, verheerende Auswirkungen haben. Und es konnte nicht riskieren, selbst von dieser gewaltigen Macht verschluckt und in die Abgründe der Hölle gezogen zu werden.

Ein letztes Mal noch warf es einen schon fast hasserfüllten Blick auf das Mädchen, das womöglich durchaus dazu in der Lage war, die ganze Mission zu gefährden. Dann verschwand es wieder in der Finsternis.
 

"Hmm?"

Mamoru drehte sich blitzschnell um und suchte seine Umgebung mit den Augen ab. Doch die Bewegung, die er zu sehen geglaubt hatte war wieder verschwunden. Vorausgesetzt, sie war je da gewesen.

Er wurde dieses grässliche Gefühl nicht los, verfolgt zu werden.

"Das bildest Du Dir nur ein, Mann. Du siehst Gespenster", sagte er zu sich selbst, um sich zu beruhigen. Der Gedanke, verrückt zu werden, schien ihm irgendwie noch viel angenehmer als die Möglichkeit, dass dieses Ding, das ihm an den Fersen haftete, echt war. Denn eine Fantasiefigur konnte ihm nicht bei lebendigem Leibe das Fleisch von den Knochen reißen.

Seit er sich an einer Weggabelung von Hikari verabschiedet hatte und von da an alleine auf dem Heimweg war, wurde das Gefühl, wie ein Hase gejagt zu werden, wieder um ein gutes Stück stärker in ihm. Dazu kam noch, dass er allmählich aufs Neue das leichte Ziehen in seiner Magengegend zu spüren begann, und er hatte dummerweise seine Tabletten Daheim liegen gelassen. Das alles, und Kiokus Laune, die sich bis zu diesem Zeitpunkt vermutlich schwer zu Mamorus Nachteil entwickelt hatte, trieb ihn zu größerer Eile an, endlich nach Hause zurück zu kehren.

Dort dann endlich angekommen seufzte er schwer, als er die Haustür hinter sich schloss. Seine Tante wartete bereits auf ihn. Er atmete tief durch. Nun musste er nur noch überzeugend sein - er konnte ja unmöglich zugeben, dass er seinen Nachmittag mit Hikari verbracht hatte, wo er doch noch immer Hausarrest hatte. Zu unrecht, wie er auch weiterhin noch fand. Also setzte er seine unschuldigste Miene auf und ging pfeifend an Kioku vorbei, die sich im Eingangsbereich gegen eine Wand gelehnt hatte und glücklicherweise einen ziemlich gut gelaunten Eindruck machte. Sie lächelte freundlich als sie sagte:

"Na, mein Kleiner, wo warst Du denn so lang?"

"Och, weißt Du, ich hatte da noch was Wichtiges zu erledigen. Aber jetzt bin ich ja wieder da."

Seine Strategie bestand darin, möglichst wenig zu sagen. Mamoru hatte vor, sich jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen zu lassen, bis es seiner Tante zu dumm werden würde. Er lief weiter den Flur entlang.

"Ach ja? Was war denn so wichtig?", fragte Kioku.

"Ich musste Motoki grad noch was erklären. Er war ein wenig begriffsstutzig, weißt Du?"

"Oha. Und da hast Du Dich mit ihm in der Schule hingesetzt und es ihm beigebracht? Das ist ja sehr löblich von Dir. Hast Du jetzt Hunger, mein Kurzer?"

"Nein, hab ich nicht."

"Nein?"

Mamoru lief etwas langsamer und drehte sich dabei zu Kioku um. "Ich hab schon gegessen. ...Also... Motoki und ich, wir ... äh ... haben uns was zu Essen besorgt. Ich brauch also nix mehr."

"Soso. Ist ja interessant. Und Du hast so lange gebraucht, Motoki zu unterrichten? Man könnte ja fast meinen, der Junge sei dumm wie Schifferscheiße."

"Ach was! Wir haben die meiste Zeit mit essen verbracht!"

"Na dann. Aber sag mal, eines würde mich noch interessieren..."

Mamoru war nur noch einen Schritt von seiner Zimmertür entfernt. Er warf ihr einen sehnsüchtigen Blick zu, während er, an seine Tante gerichtet, sagte:

"Und was?"

"Nun ... hättest Du nicht mal zu Hause anrufen können? Ich hab ja nichts dagegen, wenn Du Dich um Motokis Ausbildung sorgst, aber das hättet ihr ja auch hier machen können, nicht wahr?"

"Tja, in dieser Bar hat es kein Telefon gegeben."

"Ach ihr seid die ganze Zeit über in der Bar geblieben?"

Mamoru fühlte sich langsam unwohl in diesem Frage-und-Antwort-Spiel. Er schluckte schwer, ehe er erläuterte:

"Ja, es war gemütlich. ...Und nicht zu laut! Also, ein nettes Arbeitsklima."

"Dann frage ich mich...", meinte Kioku nachdenklich, "...wie ihr es geschafft habt, mir so einen Streich zu spielen ... eigenartig!"

"Streich?" Mamoru drehte sich seiner Tante nun doch zu und sah sie fragend an. "Was meinst Du?"

"Nun ja", antwortete Kioku, "immerhin hat mich Motoki angerufen und gefragt, wo Du wärst. Und das ist jetzt schon ein paar Stunden her. Er meinte, er habe erwartet, Du seiest zu Hause, denn der Unterricht sei schon lange vorüber und er wisse ja immerhin, dass Du Hausarrest hast. Das scheint er ja dementsprechend ein gutes Stück besser zu wissen als Du!"

"Furuhata, Du Verräter!", flüsterte Mamoru leise.

"Jedenfalls sollst Du ihn doch bitte zurückrufen. Das kannst Du gerne tun - nachdem Du mir erzählt hast, wo Du wirklich warst!"

Mamoru langte nach dem Türgriff in seinem Rücken und versuchte, in seinem Zimmer zu verschwinden. "Tja ... das würde ich ja verdammt gern tun, aber ich hab verdammt viele Hausaufgaben und..."

"...Und Du bleibst verdammt noch mal hier, solange ich mit Dir rede!", donnerte Kioku.

"Du redest nicht, Du schimpfst", stellte Mamoru fest. "Und das erweckt in mir dummerweise regelmäßig den Wunsch, mich zu verdünnisieren."

"Wenn Du nicht auf der Stelle hier her kommst...", drohte Kioku, "...dann wirst Du nur noch verdünnisierte Nahrung zu Dir nehmen können!"

"Dreh mir nicht andauernd die Worte im Mund herum!"

"Dich sollte ich umdrehen! Um Dir mal nen kräftigen Tritt in den Arsch zu verpassen! Verdient hättest Du's!"

"So! Du hast's geschafft. Ohne meinen Anwalt sag ich jetzt gar nichts mehr!"

"Von mir aus! An-Wald, An-Wiese, An-Hecke, was auch immer."

"Tante Kioku!"

"Kurzer!"

"Musst Du immer das letzte Wort haben?"

"Ja!"

"..."

Stille.

"Aber...", greinte Mamoru wie ein kleines Kind, "...aber ... ich will auch mal Recht haben!"

"Du hast das Recht, mir sofort zu sagen, wo Du heute Nachmittag warst und was Du gemacht hast ... oder auf ewig zu schweigen, wenn Du verstehst..."

Er grummelte beleidigt irgendwas in seinen nicht vorhandenen Bart. Dann fragte er:

"Darf ich zumindest vorher noch die Uniform ausziehen? Die is so unbequem."

"Du bist schon bequemlich genug. Ein paar Minuten mehr oder weniger in dem Ding wirst Du wohl noch überleben, oder?"

"Und wenn nicht?"

"Sagen wir so", erklärte Kioku mit einem diabolischen Grinsen. "Mich wirst Du sicherlich nicht überleben, wenn Du mich weiter reizt!"

"Du hast schlagende Argumente...", stellte er kleinlaut fest. Dann seufzte er resigniert, lehnte seine Schultasche gegen die Tür zu seinem Zimmer und schlich ins Wohnzimmer wie ein Massenmörder auf dem Weg zum Schafott.

"So, nun also zur Wahrheit! Ich will die reine Wahrheit, nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit! Das heißt nichts dazuerfinden und nichts verschweigen. Alles was Du sagst, kann und wird gegen Dich verwendet werden. Verstanden?"

"Äh", machte Mamoru.

"Das nehme ich als Ja", stellte Kioku zufrieden fest. Sie setzte sich. "Dann schieß mal los."

"Ja, ja." Mamoru verschwand kurz in der Küche, schnappte sich seine Tabletten, zwei Gläser und eine Flasche Saft und erschien wieder im Wohnzimmer, wo er sich und seiner Tante etwas einschüttete und erst einmal seine Medizin nahm. Er hoffte, dieser Wachstumsschub sei bald überstanden, denn diese Pillen gingen ihm allmählich auf den sprichwörtlichen Geist.

"Ich warte", nörgelte Kioku, "und ich warte bekanntlich nur ungern!"

Nun gut, die Geschichte war schnell erzählt. Mamoru saß auf der Couch wie ein Häuflein Elend und mimte den getretenen Hundewelpen, während Kioku nur stumm in ihrem Sessel hockte und der Erzählung lauschte.

"Tja", so schloss Mamoru, "ich hab also die paar Stunden mit Hikari verbracht. Das wirst Du mich spüren lassen, hab ich recht?"

"Hmm."

"Sag was, Tante Kioku!"

"Hmm." Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. "Sag mal, Kurzer ... dieses Mädchen ... Hikari ... was empfindest Du für sie?"

"Hallo? Was geht Dich das an?" Aber seine rote Gesichtsfarbe sprach Bände.

"Vielleicht kann ich einen Freispruch für Dich erwirken. So was wie mildernde Umstände wegen Unzurechnungsfähigkeit, oder so. Kooperiere mit mir, das kann Dir nur gut tun. Also? Spuck's schon aus."

"Hatten wir das nicht schon?" Mamoru sah verlegen zu Boden.

"Mag sein", meinte Kioku, "aber ich will auf den neuesten Stand kommen. Spann mich nicht auf die Folter!"

Er seufzte. Ganz unterbewusst griff er nach seiner silbernen Halskette und fingerte an dem Ring herum, der an besagter Kette befestigt war. Dabei achtete er allerdings darauf, dass die goldene Spieluhr nicht zum Vorschein kam, die ja immerhin ebenso an dieser Kette hing. Kioku wusste noch nichts von ihr, und so sollte es vorerst auch noch bleiben. Er spielte verlegen an diesem Ring herum, der früher einmal der Ehering seiner Mutter gewesen war und suchte nach den passenden Worten.

"Das ist nicht leicht zu beschreiben ... Wenn ich an sie denke, dann..." Er horchte in sich hinein und lauschte den Worten, die ihm sein Herz zuflüsterte. Eine sanfte Woge der Wärme strömte durch seine Brust und zauberte ihm ein verliebtes Lächeln auf die Lippen, während die rote Farbe auf seinen Wangen wieder etwas intensiver wurde. "...dann fühle ich mich wahnsinnig wohl. Ich hab das Gefühl, innerlich zu verbrennen, jedes Mal, wenn sie mich berührt. Wenn ich sie auch nur ansehe, spüre ich, wie mein Herz schneller schlägt. Sie brauch nur in meiner Nähe zu sein, und schon fühle ich, wie das Blut in mein... äääh ... in meine Wangen schießt. Öhm ... nun ja. Jedenfalls ... tja ... wie würdest Du dieses Empfinden beschreiben?"

"Ich würde sagen", meinte Kioku, "Du leidest an einer akuten Form von Verliebteritis. Das ist leider unheilbar. Es gibt nur eins, was Dir vielleicht helfen könnte: die Realität. Weißt Du, es würde mich ehrlich gesagt sogar regelrecht wundern - gar stören! - wenn Du nicht jedem Rock hinterher gucken würdest. Das ist in Deinem Alter normal, würde ich sagen. Aber ausgerechnet... Ich will nichts sagen, was Dich verletzen könnte, mein Kleiner. Du weißt, das liegt mir fern! Aber nach allem, was ich über dieses Mädchen gehört habe, wundert es mich doch sehr, dass sich Dein Herz ausgerechnet sie ausgesucht hat!"

"Wo die Liebe hinfällt", antwortete Mamoru mit einem Schulterzucken.

"Ja, ich weiß. Ich bin auch schon den unterschiedlichsten Kerlen nachgestiegen und hab mich jedes Mal hinterher gefragt <Mädchen, was hast Du da nur für ne Scheiße gebaut?> ... na ja, fast jedes Mal. Sonst säße Dein Onkel schon längst in der Wüste. Jedenfalls, wie ich schon sagte, was Du jetzt durchmachst, ist unheilbar. Da musst Du durch. Es wäre auch völlig gleichgültig, ob ich Dir Vorträge halten oder Dich einsperren würde; es würde alles nur verschlimmern. Wie das Sprichwort sagt: Du kannst Dich auf den Kopf stellen und mit den Ohren wackeln, der Arsch bleibt hinten. Es gibt Dinge, die kann man einfach nicht ändern. Aber das muss nicht heißen, dass Du jetzt blind in Dein Unglück rennen darfst! Kurzer, ich möchte Dich bitten, jetzt gut nachzudenken. Tu mir den Gefallen und stell Dir solche Fragen wie: Was weiß ich über dieses Mädchen? Was fühle ich genau? Wie stelle ich mir die Zukunft vor? Wie realistisch sind meine Träume? Was würde ich tun, wenn etwas doch anders käme? Kann ich mit ihr wirklich glücklich sein? Ist sie das, was der Volksmund als bezeichnet? All solche Fragen. Und lass Dir dafür viel Zeit. Sei gründlich. Und denk immer daran: Wenn Du Fragen oder Probleme hast, sind Seigi und ich immer für Dich da! Wir wünschen Dir alles Gute und viel Glück für Deine Zukunft, und wir wollen nur, dass es Dir gut geht! Wir lieben Dich über alles, und wir stehen hinter Dir, was auch immer passieren mag. Es läuft nicht immer alles perfekt im Leben; das weißt Du selbst auch schon zur Genüge. Aber daran kann man arbeiten! Meine Befürchtung ist einfach, dass dieses Mädchen Dir sehr wehtun könnte. Und das möchte ich nicht. Vielleicht kenne ich sie auch zu wenig! Vielleicht ist sie der Liebreiz und die Unschuld in Person, und ich urteile vorschnell! Ich weiß es nicht. Aber eines weiß ich: Wenn sie Dir doch eventuell einmal das Herz brechen sollte - was ich beim besten Willen nicht wünsche! - dann ist das kein Weltuntergang. Du solltest Dein Leben genießen und alles einmal ausprobieren. Du solltest einfach immer weiter für Dein Wohlergehen kämpfen; auch wenn das einige Rückschläge bedeuten wird. Doch Du wirst an Deinen Aufgaben und Erfahrungen wachsen. Und wohin immer Dein Weg Dich führen wird, mein Kleiner: Sei Dir dessen bewusst, dass ich immer für Dich da sein werde. Ich würde absolut alles für Dich hingeben. Und das Gleiche gilt für Deinen Onkel. Wir haben Dich so lieb, Kurzer!"

Mamoru ließ den silbernen Ring samt der Kette wieder unter dem Hemd seiner Schuluniform verschwinden, als Kioku aufstand, zu ihm kam und ihn fest an sich drückte.

"Du weißt, ich hab Dich und Onkel Seigi genauso lieb, Tante Kioku!", entgegnete Mamoru und erwiderte die Umarmung.

"Ja, das weiß ich", hauchte sie leise. Nach einer kurzen Weile löste sie sich wieder aus den Armen ihres Neffen. Dieser nickte ihr aufmunternd zu und meinte:

"So, ich denke, ich verziehe mich jetzt so langsam mal in mein Zimmer und kümmere mich um meine Hausaufgaben, ja?"

"Ist gut." Sie ließ ihn gewähren. Doch gerade noch so, ehe er aus dem Wohnzimmer verschwunden war, rief sie ihm noch nach:

"Kurzer?"

"Ja?"

"Einen Aspekt habe ich dummerweise vergessen zu erwähnen..."

"Welchen denn?" Er blieb in der Tür stehen und sah sie verwundert an.

"Nun", antwortete Kioku, "was ich letztens gesagt habe ... dass Du Arrest hast, bis Du fünfunddreißig bist ... vergiss das mal wieder."

"Ehrlich?", freute sich Mamoru.

"Ja", antwortete seine Tante zwinkernd. "Ist gerade auf siebenundsiebzig aufgestockt worden."

"WAS?"

"Na ja", erläuterte sie, "immerhin hast Du Hausarrest und hast Dich aus widrigen Gründen diesem eisernen Gesetz entzogen. Dementsprechend fällt auch die Konsequenz aus. Und da das hier nicht das erste Mal ist, und Du Dich somit als Widerholungstäter geoutet hast..."

"Was ist aus den mildernden Umständen geworden? Aus der Unzurechnungsfähigkeit wegen Verliebteritis? Aus dem Freispruch?"

"Abgelehnt. Du hättest einen besseren Verteidiger gebraucht. Und da ich in einem Richter, Geschworener, Verteidiger, Staatsanwalt, Jury, Schöffe und Publikum bin, ergeht einstimmig der Beschluss: Du wirst nachher hier gründlich Staubsaugen."

"Was ist mit Berufung oder Revision?", quengelte Mamoru.

"Dein persönlicher Verteidiger - das bin ich - rät Dir davon ab. Beuge Dich lieber dem Urteil. Die Sitzung ist beendet."

"Hab ich keinen letzten Wunsch frei?"

"Doch, natürlich! Solange es sich dabei um den Wunsch nach Ordnung und Sauberkeit handelt! Immerhin können wir hier nicht alles erfüllen; wir sind das Gesetz und kein Geist aus der Wunderlampe."

Mamoru zog einen Schmollmund. "Sag meinem Verteidiger, er ist gefeuert und kann das Gehalt, das er von mir zu bekommen hat, in den Wind schießen."

"Ach ja?", freute sich Kioku. "Das gibt ne saftige Schadensersatzklage!"

Ihr Neffe verzog sich kommentarlos. Es gibt Situationen, da ist jedes Wort unangebracht.

Die Stille war vollkommen. Selbst die winzigen grünlichen Blitze, die sich um ICTUS wanden, waren absolut stumm. Die Finsternis schien alle Geräusche aufzusaugen; mit derselben Mühelosigkeit, mit der sie die Zeit in dickflüssigen Sirup verwandelte. Dies war eine Dimension der endlosen Weiten, die keinen Anfang und kein Ende besaß.

Weder zeitlich noch räumlich.

Und umgeben von Stille und Finsternis verharrte es und wartete voller Ungeduld darauf, dass seine Zeit endlich kommen möge.

Es sah an seinem rechten Handgelenk hinab. Silbern in der Finsternis glänzend umschlang ICTUS seinen Unterarm, einem Handschuh aus Metall gewordenen Ranken gleich. Ein Glühen und Blitzen wand sich ohne Unterlass um diese mächtige Waffe. Ganz so, als besäße es eine boshafte Intelligenz, schrie dieses Instrument der Zerstörung auf diese Weise nach neuer Energie.

"Sei ohne Sorge, ICTUS, schon bald werde ich Dir den Kristall bringen, der Dir Deine ganze Macht zurückgibt. Mein Wort darauf", wisperte es, und obwohl die Worte von der Stille verschluckt wurden, kaum dass sie seine Lippen verlassen hatten, nahmen die bläulichen Funken etwas ab, die aus den Runen und den verschlungenen Ornamenten der silbern glänzenden Waffe hervorsprühten.

Einzig das Loch, das den Blick auf seine Handfläche freigab, zeugte von der Unvollständigkeit dieses Mordinstruments. Dies war die Stelle, wo der Kristall eingesetzt werden musste. Es verfluchte die Feinde, die den Kristall im letzten Jahrtausend aus dieser seiner angestammten Halterung gerissen und ICTUS damit von seiner wertvollsten Energiequelle getrennt hatten. Im jetzigen Zustand war diese Waffe immer noch mächtig, aber im Anbetracht der gewaltigen Macht der Feinde war selbst ICTUS absolut nutzlos. Ohne den Kristall konnte es diesen Krieg nie und nimmer gewinnen.

Es konzentrierte sich und beanspruchte enorme Energien, um in die Welt der Menschen zu treten. Das bedeutete für es nur einen kleinen Schritt im Raum, aber trotzdem war es sehr kraftlos, als es endlich in dieser Dimension von Licht, Zeit und Leben ankam. Keuchend sah es sich um. In dieser Welt besaß es keinen Körper sondern konnte nur als Schatten existieren. Nur das gelegentliche Aufglühen von ICTUS wäre dazu imstande gewesen, es zu verraten. Aber auch die Waffe hatte beim Dimensionssprung zu viel Energie verloren.

Es spürte das Leben, das in dieser Großstadt pulsierte. Leben bedeutete Energie. Und es brauchte nur Sekunden um ein Opfer zu finden, dessen Kraft ICTUS und seinem Träger helfen konnte, in dieser Dimension zu überleben.

Ohne jegliches Zögern entriss es dieser wehrlosen Gestalt die lebenswichtige Energie.

Das Mädchen hatte nicht mal mehr die Zeit, um zu schreien...
 

"Komm schon! Bitte, bitte!", flehte Mamoru Motoki an. "Frag mich die Vokabeln noch mal ab! Du kannst mich hier nicht so hängen lassen!"

Motoki seufzte darauf genervt. "Ich hab Dich doch schon ein paar Mal abgefragt! Glaub mir: Du hast den Scheißdreck drauf! Mann, wenn wir so weiter machen, dann kann ja sogar ich die ganze Scheiße bald auswendig!"

"Das ist doch nichts Schlechtes", entgegnete Mamoru mit einem Grinsen. "Dann hättest Du auch mal bessere Noten in Englisch."

"Deinetwegen bekomm ich noch Albträume", brummelte Motoki.

"Komm schon, gib Dir einen Ruck! Nur noch dieses eine Mal! Ich will doch nur sicher gehen! Na los, die Prüfung heute ist wichtig!"

"Hölle und Teufel, ja, verdammt noch mal! Aber dann gibst Du endlich Ruhe, klar?"

Motoki zog wieder das inzwischen ziemlich mitgenommen aussehende Stück Papier aus seiner Schultasche, wischte ein paar Mal mit der Hand drüber, um es zu entknittern und ein paar Eselsohren zu entfernen, dann räusperte er sich und legte mit gelangweilt klingender, monotoner Stimme los:

"Instantaneous?"

"Unmittelbar", antwortete Mamoru.

"Reliability?"

"Zuverlässigkeit."

"Komplize?"

"Accomplice."

"Hirnverbrannter Trottel?"

"Crack-brained fool. ...Hey, Moment mal! Das war vorhin aber noch nicht dabei!"

"Das nicht ... aber es hat mich einfach interessiert, ob Du das auch weißt. Sag mal, woher kennst Du so'n Schrott eigentlich?"

Mamoru zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Steht vielleicht so im Wörterbuch? Oder... Ach, ich hab keinen blassen Schimmer. Jetzt mach einfach mal ernsthaft weiter!"

"For Heaven's sake?"

"Heilige Scheiße!"

"Na ja, ist etwas frei übersetzt, aber..."

"Nein", rief Mamoru und wies mit dem Arm in eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern. "Sieh mal da!"

Dort, auf dem Boden, etwas in den Schatten zweier großer Müllcontainer gezogen, lag ein regloser Körper. Die beiden Jungs rannten hin und untersuchten das junge Mädchen. Sie war bewusstlos. Vorsichtig drehte Mamoru sie auf den Rücken und strich ihr behutsam eine Strähne ihres langen, braunen Haares aus dem Gesicht. Motoki schnappte entsetzt nach Luft.

"Kennst Du sie?", fragte Mamoru nach und versuchte herauszufinden, was der Kleinen fehlte. Ihre Haut fühlte sich eigenartig trocken an und ihr Atem ging ungleichmäßig und stockend.

"Ja, klar doch!", rief Motoki aus. "Das ist Miharu!"

"Miharu?"

"Na logo! Erinnerst Du Dich nicht mehr? Die Kleine, die Dir den Liebesbrief geschrieben hat! Du weißt schon, den hab ich Dir Gestern gegeben! Das ist sie! ...Hast Du ne Ahnung, was ihr fehlt?"

"Hmm", machte Mamoru. Er nahm ihr Handgelenk und prüfte ihren Puls. Das Herz schlug für seinen Geschmack etwas zu langsam, aber doch relativ beständig. "Ich bin mir nicht sicher. Es sieht so aus, als habe sie einen Kreislaufkollaps erlitten, wegen Flüssigkeitsmangels. Verflucht, ich bin doch kein Arzt! Jetzt beweg Dich endlich und ruf einen Krankenwagen! Na los!"

"Ja, ist gut!" Motoki entledigte sich seines Schulranzens und seiner Jacke und stopfte den Zettel mit den Vokabeln in seine Schultasche. In einem letzten Zögern wandte er sich seinem Freund zu und fragte:

"Hey, großer Medizinmann ... kannst Du was für sie tun?"

"Ich werd's versuchen. Aber versprechen kann ich natürlich nichts. Und jetzt beweg Deinen Arsch!"

Der Blonde raste davon. Bis zur nächsten Telefonzelle war es nicht sehr weit. Mamoru indessen versuchte, es Miharu so bequem wie nur möglich zu machen, indem er sich hinhockte und ihren Kopf auf seinem Schoß platzierte. Er ergriff ihre Hand und konzentrierte sich darauf, ihr seine heilenden Impulse zu senden.

Was konnte denn bloß mit ihr geschehen sein? Das hier war doch alles andere als normal! Mamoru fand einfach keine logische Erklärung. Dazu hatte er aber auch ziemlich wenig Gelegenheit, denn diese Heilprozedur verlangte ihm viel Kraft und Ausdauer ab. Schon bald war er mit seiner Energie am Ende. Er lehnte sich einfach achtlos zurück, stieß mit seinem Rücken gegen die eine Hauswand und schnappte erschöpft nach Atem, während er die Augen vor lauter Anstrengung geschlossen hielt. Er hatte seinem Körper mit dieser Aktion wahrscheinlich sogar noch mehr abgefordert, als wirklich gut für ihn gewesen wäre. Das Ergebnis war nicht unbedingt berauschend. Aber immerhin hatte sich Miharus Atmung beruhigt und sie sah nicht mehr so leichenblass aus. Die Chancen standen womöglich ganz gut, dass sie überlebte.

Träge hob Mamoru ein Augenlid an.

Im gleichen Augenblick bereute er es auch schon wieder.

Denn was er da vor sich sah, erschreckte ihn so sehr, dass er am liebsten zu schreien angefangen hätte. Doch aus seiner Kehle drang nur ein raues Krächzen.

An der gegenüberliegenden Häuserwand war ein gigantischer Schatten zu sehen. Er schien grausam missgestaltet zu sein; Hörner und scharfe Krallen waberten wie dicker Nebel umher und schienen wieder zu verschwinden, ehe man sie richtig hätte erkennen können. So etwas wie Tentakel schienen sich zu formen und im selben Moment wieder zurückzuziehen. Etwas Undefinierbares erschien; irgend eine Mischung zwischen einem zweiten Paar Arme und einem Paar gewaltiger Schwingen, deren Form sich unbeständig änderte.

Das vielleicht Grässlichste an dieser Erscheinung war: Weit und breit war kein Körper zu sehen, der diesen grässlichen Schatten hätte werfen können. Dieses Etwas schien einfach zweidimensional an der weißen Häuserwand festgeklebt zu sein. Doch es bewegte sich unablässig.

Und dann trat dieses Wesen aus der Wand hinaus und materialisierte sich auch in der dritten Dimension!

Mamoru wich ängstlich zurück und drückte seinen Rücken fester gegen die Mauer. Zu seiner Linken war die von Hauswänden umzäunte Sackgasse, wo nur einige Müllcontainer und Pappkartons herumstanden. Zu seiner Rechten war der Ausgang, wo Licht und Leben zu finden waren. Vor ihm war das Ding, dass nun Schritt für Schritt näher kam, ohne dabei das geringste Geräusch zu verursachen. Und noch immer lag Miharus Kopf auf Mamorus Beine gebettet.

Die Kreatur - immer noch körperlos, dunkelgrau und durchsichtig - streckte seine rechte Hand vor (oder das, was bei einem menschlichen Wesen die rechte Hand gewesen wäre) und erst jetzt bemerkte Mamoru das starke Glühen und die winzigen Blitze, die sich um den Schatten wanden ohne ihn dabei zu erhellen. Er konnte an diesem Wesen keine Gesichtszüge erkennen - dort, wo der Kopf sein sollte, thronte nur eine Art schwarze, durchsichtige Blase auf dem Körper der Kreatur. Diese Blase hatte zwar annährend menschliche Proportionen - sah man von den Tentakeln ab, die ständig kamen und gingen - aber man konnte keine genauen Konturen ausmachen. Fast, als sähe man noch immer nur eine Silhouette, und kein dreidimensionales Etwas.

Das Ding - Mamorus Verstand weigerte sich, es als ein lebendes Wesen zu bezeichnen - reckte sie Krallen seines rechten Armes immer weiter Mamoru entgegen und berührte ihn schließlich am Hals. Es war ein grausiges Gefühl der Kälte, fast, als würde richtig dickflüssiger Nebel auf einmal Hände ausbilden und erbarmungslos zupacken.

Mamoru spürte keinen Schmerz bei dieser Berührung. Es war zwar unangenehm und kalt, aber erträglich. Und er spürte, wie eine wohlige Müdigkeit ihn einzuholen drohte.

<Dieser Schatten raubt mir meine Kraft!>, dachte Mamoru entsetzt. <Das war es also, was Miharu zugestoßen ist!>

Doch so leicht wollte er sich nicht geschlagen geben. Mit aller verbliebenen Kraft suchte er sich dem Einfluss des Wesens zu wehren. Er packte mit seinen Händen zu, nur um irgendwas zu greifen.

Seine Finger gingen ins Leere.

Als sei diese Kreatur tatsächlich Gestalt gewordene Dunkelheit.

Mamorus Kräfte schwanden immer weiter. Er versuchte verzweifelt sich zu wehren, aber obwohl er das Etwas nicht berühren konnte, so war doch das Wesen dazu in der Lage, Mamoru an Ort und Stelle zu halten und ihn absolut bewegungsunfähig zu machen. Der Druck auf seinem Hals nahm etwas zu.

<Gleich ist es aus...>, dachte er. Doch die gewaltige Müdigkeit nahm diesem Gedanken seinen Schrecken.

<Was soll ich tun?>

Ihm wurde schon allmählich schwarz vor Augen.

<Ich brauche Hilfe...>

Erschöpft und dem Ende seiner Kräfte nahe, spürte er die Wärme, die seine Müdigkeit noch unterstrich und ihn träge machte, und die sich immer weiter steigerte. Nur Sekunden später schien ein wahrer Vulkan aus Hitze in seinem Körper auszubrechen. Er wollte aufschreien, doch seine zusammengepressten Stimmbänder versagten ihm den Dienst. Nur ein leises Röcheln drang aus seiner Kehle.

<Ich halte nicht mehr durch! Bitte ... hilf mir doch jemand!>

Und dann...

Dann erschien ein sanftes, pulsierendes Leuchten im engen Raum zwischen Mamoru und dieser Scheußlichkeit. Das Glühen verstärkte sich zusehends. Und aus diesem Licht heraus erschien der Goldene Kristall.

Die Kreatur zögerte sichtlich und ihr Griff um Mamorus Hals wurde merklich schwächer. Hätte dieser durchsichtige Schatten erkennbare Augen gehabt, so hätten sie sich vermutlich mit Skepsis auf den leuchtenden Kristall gerichtet. Es schien, als könne sich das Wesen nicht entscheiden, ob es sich mit dem Goldenen Kristall anlegen oder eher seine Macht nicht unterschätzen sollte.

Mit dem letzten Rest an Energie hob Mamoru unter Ächzen und Stöhnen seinen rechten Arm, griff nach dem warmen, intensiv leuchtenden Kristall und richtete ihn gegen die finstere Kreatur.

"Weiche ... von mir ... böser Geist...", murmelte er vollkommen erschöpft. Er musste mit aller Macht seinen inneren Impuls zurückkämpfen, sich einfach der verlockenden Müdigkeit hinzugeben und in das Reich der Bewusstlosigkeit zu gleiten.

Das Wesen rührte sich nicht. Ausdruckslos, schon beinahe ernüchtert schien es den Goldenen Kristall anzustarren. Fast, als sei diese Kreatur absolut unbeeindruckt von dem sanften Licht, das aus dem Inneren des Kristalls leuchtete.

"Macht des ... Goldenen ... Kristalls! Ich rufe ... Dich ... bitte ... erhöre mein Flehen und ... hilf mir. Kämpfe ... für mich!"

Augenblicklich verstärkte sich das Licht, wurde heller und gleißender und schien die Umgebung zu verschlucken, um sie so vom Bösen zu reinigen. Und als die ersten goldenen Strahlen das Wesen berührten, da durchdrangen sie den Körper des Dämons ohne Schaden anzurichten! Im Gegenteil: Am rechten Arm der Schattenkreatur sah es so aus, als würde irgendetwas das Licht aufsaugen und es in feste Materie verwandeln! Nach und nach wurde so ein silbriges Glänzen sichtbar, das sich um das Handgelenk des Wesens formte, und das mehr und mehr die Form eines Handschuhs annahm, der aus geschwungenen, zu Silber erstarrten Ranken zu bestehen schien, und der mit magischen Symbolen, Runen und Ornamenten nur so übersät war. Und dieses Ding - was es auch immer sein mochte - fuhr beständig damit fort, das Licht des Goldenen Kristalls abzusaugen. Mehr noch; es nahm nicht nur das Leuchten auf, das der Kristall so schon abgab, es schien auch noch die Energie aus dem Inneren des Kristalls herauszuziehen und sie zu absorbieren.

Für Mamoru war das etwa das Gefühl, als würden ihm die Gedärme herausgesogen. Er spürte den immensen Energieverlust seines Kristalls überdeutlich und er war absolut hilflos dagegen. So sehr er sich auch wehrte - die Kreatur fuhr mit ihrem Tun fort ohne mit der sprichwörtlichen Wimper zu zucken.

Das sonst so immense Glühen und Strahlen des Goldenen Kristalls nahm ab und erlosch dann völlig.

Vollkommen entkräftet schloss Mamoru die Augen.

Sein Geist glitt in eine emotionslose Finsternis.
 

Irgendwann drangen wieder Geräusche in sein Bewusstsein. Das monotone Brummen von Automotoren. Vogelgezwitscher. Das leise, sanfte Säuseln des Windes. Und noch etwas... Eine Stimme...

"Mamoru! Verdammt noch mal! Mach die Augen auf! Rede mit mir! Mann, was ist mit Dir los? Mamoru!!!"

<Motokis Stimme>, realisierte Mamorus Gedächtnis träge. Doch eine gewisse Gleichgültigkeit hinderte ihn daran, auf seinen Freund zu reagieren. Er wollte wieder einschlafen.

"Mamoru! Wach endlich auf!"

Ein starkes Rütteln ging durch seinen Körper.

<Mann, kann der penetrant sein! Ich will doch nur meine Ruhe.>

"Mamoru! Sag endlich was! Irgendwas! Ma-mo-ru! Rede doch!"

Doch er reagierte immer noch nicht. Sein Pech.

Denn erst, nachdem ihm Motoki eine saftige Ohrfeige verpasste, stöhnte er und öffnete träge die Augen.

"Du miese, kleine Ratte! Wenn ich wieder richtig auf'm Damm bin, mach ich Dich deswegen kalt!", drohte Mamoru leise murmelnd.

"Den großen Geistern sei's getrommelt und gepfiffen, Dir geht's besser!", stellte Motoki grinsend fest. Doch er wurde schlagartig wieder ernst. "Was ist los mit Dir? Was zur Hölle ist hier passiert?"

"Hölle ... pah! Das passt ja wie die Faust auf's Auge. Hier ist aber echt die Hölle losgewesen. Wo ... wo ist der Schatten?" Mamoru versuchte den Kopf anzuheben und sich zu orientieren, doch dazu fehlte ihm einfach die nötige Kraft. Er ließ seinen Brummschädel wieder in die weiche Jacke sinken, die Motoki ihm unter den Nacken geschoben hatte.

"Schatten?" Motoki war deutlich verwirrt und sah sich für seinen Freund um. "Hier gibt's ne Menge Schatten. Wirst schon etwas präziser sein müssen."

Mamoru dachte kurz nach. Konnte er sich womöglich etwas so dermaßen Abstruses einfach eingebildet haben? Zum einen war die Kreatur zu schrecklich gewesen um wahr zu sein. Zum andern allerdings war sie auch zu abscheulich, als dass sein Verstand dazu in der Lage gewesen wäre, sich so was nur auszudenken. Aber wer hatte denn schon so was gehört? Schatten, die lebendig wurden, herumliefen und Energie sammelten? Und doch war Mamoru nach dem gewaltigen Energieverlust zusammengebrochen. Etwas Derartiges geschah ja nicht grundlos.

Mamoru beschloss, erst etwas mehr über seinen Feind herauszufinden, ehe er weitere Entscheidungen treffen würde.

"Ich hab's wohl nur geträumt", vertröstete er Motoki.

"Kannst Du mir jetzt mal bitte verraten, was hier passiert ist, Kumpel? Ich hab keinen Bock, noch länger auf heißen Kohlen zu hocken."

"Ich ... weiß es auch nicht so genau. Mir ist nur irgendwie schlecht geworden, als ich mich um Miharu gekümmert hab. Vielleicht vertrag ich es nicht, wenn ich es mit meiner Heilfähigkeit übertreibe? Übrigens, wie geht es der Kleinen? Sie hab ich ja völlig vergessen."

"Nun ja", antwortete Motoki mit einem besorgten Seitenblick auf das Mädchen, das noch immer am Boden lag und sich nicht rührte. "Sie ist noch bewusstlos, aber ich finde, sie sieht besser aus. Sie hat wieder etwas mehr Farbe im Gesicht. Deine heldenhafte Rettungsaktion war insofern ein voller Erfolg, so meine Meinung. Es hat sich gelohnt. Der Krankenwagen dürfte auch gleich hier aufkreuzen. ...Kannst Du aufstehen? Soll ich Dir helfen?"

"Ja, versuchen wir's." Mamoru packte Motokis Arm, hielt sich daran fest und wurde von seinem Freund hochgezogen. Er war noch nicht richtig auf den Beinen da sackte er auch schon wieder keuchend dem Erdboden entgegen.

"Gib ... gib mir noch einen ... Moment zum Ausruhen", bat Mamoru nach Luft schnappend. Er fühlte sich immer noch ausgelaugt und auf nicht näher zu beschreibende Art und Weise leer. Der Goldene Kristall war vermutlich wieder in seinem Körper verschwunden, doch obwohl er ihn nicht sehen konnte, so spürte er doch immer noch, wie sehr sein Licht abgenommen hatte.

Zorn und die Verzweiflung der Hilflosigkeit keimten in Mamoru auf. Wieso war dieser Schatten nur so stark gewesen? Wer oder was genau war das überhaupt? Und warum hatte es Mamoru am Leben gelassen? War Miharu nur eine Falle gewesen? Oder war das alles Zufall?

<...Komischer Zufall, wenn sich einfach so ein Schatten materialisiert...>

Was sollte er nun gegen diesen übermächtigen Gegner tun?

<Wieso sollte ich überhaupt etwas tun?>, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. <Warum ich? Es ist nicht meine Aufgabe, Schatten nachzujagen. Ich muss nur eines tun: den Silberkristall finden und damit meine Erinnerung zurückgewinnen. Gegen dieses Ding kann ich ja doch nichts unternehmen. Was auch? Der Goldene Kristall ist nutzlos gegen das Etwas. Vielleicht werde ich es ja auch nie wieder sehen? Wer weiß? Ich hoffe, dass es jetzt Ruhe gibt.>

Doch irgendwie zweifelte Mamoru an der Ruhe. Die Gestalt hatte ihn Tagelang verfolgt; es wollte wahrscheinlich irgend etwas von ihm. Die Energie des Goldenen Kristalls? Wollte diese Höllenkreatur ihn vielleicht als eine Art Ladestation benutzen? Mamoru wollte sich nicht wie Vieh behandeln lassen, das man nach Lust und Laune melken konnte!

<Auf keinen Fall!>

"Mamoru? Kann ich irgendwas für Dich tun?", fragte Motoki. Er sah sehr besorgt drein.

"Hmm, ich weiß nicht", gestand Mamoru. "Einen Versuch wär's wert. Gib mir Deine Hand und lass mich sehen, was ich tun kann."

Motoki machte ein misstrauisches Gesicht, ließ Mamoru aber doch gewähren. Der Herr der Erde griff nach der Hand seines Freundes und konzentrierte sich so gut ihm das in seinem erschöpften Zustand noch möglich war.

Zunächst spürte er ein sanftes, warmes Pulsieren, daraufhin sah er so etwas wie eine schwache, goldfarbene Korona, die sich rund um die Hände der beiden bildete, und dann fühlte er, wie die Kraft und die Wärme des Lebens seines Freundes in Mamorus Körper strömte. All dies war ein sehr angenehmes Gefühl, ein Gefühl der Geborgenheit und der tiefen, innigen Freundschaft. Ein Gefühl vollsten Vertrauens. Und auch ein Gefühl von Stärke und ... Macht. Mamoru besaß durchaus die Macht dazu, Motoki alle Energien abzuziehen, und in seinem Innersten erwachte die Gier, mehr zu besitzen; immer weiter dieses Gefühl der Stärke und Wärme zu spüren.

Der Goldene Kristall war mächtig. Vielleicht war er sogar das mächtigste Werkzeug der Erde, wenn Mamoru nur lernen würde, ihn richtig einzusetzen. Mit seiner Hilfe konnte Mamoru als Herr der Erde den ganzen Planeten und all seine Energien kontrollieren, das wurde ihm mit einem Schlag bewusst.

Nur mit Mühe konnte Mamoru im letzten Moment seine Hand losreißen. Nur ein Moment mehr, und Motoki hätte vielleicht zu viel Kraft verloren. Beide atmeten schwer. Und Mamoru spürte die tiefe Reue in sich aufkeimen. Er hätte beinahe das Leben seines besten Freundes aufs Spiel gesetzt. Er fühlte sich wie ein Verräter. Und das Schlimmste war: Er fühlte sich wie auf Entzug. Noch immer gierte sein Inneres danach, erneut die Hand des Freundes zu ergreifen und auch den Rest an Energie zu stehlen.

Und dann...

Es gab so viele Menschen auf der Welt, und all ihre Energie gehörte ihm, dem Herrn der Erde!

Waren das die Wünsche des Goldenen Kristalls? Oder war nun eine Seite an Mamoru erwacht, die lange Zeit im Verborgenen geblieben war?

Was es auch immer war, er versuchte mit aller Gewalt, es zurückzukämpfen. Er besaß diese Macht, alle Energie an sich zu reißen, aber er besaß auch immer noch Ehrgefühl und Verantwortungsbewusstsein. Er würde diese Macht nicht für niedere Zwecke missbrauchen! Keinesfalls!

"Mamoru? Wie geht's Dir jetzt?" Motoki klang etwas müde, und so sah er auch aus. Dennoch lächelte er, weil es ihn freute, seinem Freund geholfen zu haben.

"Motoki", flüsterte Mamoru leise. Ein kaum hörbares Wimmern lag in seiner Stimme. "Motoki ... es ... es geht mir viel besser. ...Und Du? Wie fühlst Du Dich?"

Motoki zuckte mit den Schultern. "Ich könnte etwas Schlaf gebrauchen, vielleicht auch noch ne nette Massage, aber sonst ... man lebt."

"Da bin ich aber froh", seufzte Mamoru. Er und Motoki arbeiteten sich hoch, stützen sich dabei gegenseitig und lehnten sich an die Hauswand, und kaum dass sie einen festen Stand gefunden hatten, da erschienen auch schon ein Krankenwagen und ein Polizeiauto. Die Sanitäter stürzten sich regelrecht auf Miharu während die Polizisten ein paar Fragen stellten. Danach luden sie die beiden Jungs dazu ein, sie in die Schule zu fahren und ihr Zuspätkommen zu erklären.

"Was kann mit Miharu nur passiert sein?", fragte sich Mamoru laut, als er und Motoki auf der Rückbank des Polizeifahrzeugs saßen.

"Ich hab auch keine Ahnung", meinte der Polizist, der auf dem Beifahrersitz saß. Er drehte sich zu den beiden Freunden nach hinten, während er weiter erläuterte:

"Es ist auf jeden Fall nicht das erste Mal. Seit ungefähr einer Woche finden wir fast regelmäßig Leute, die anscheinend völlig grundlos zusammengebrochen sind. Es gibt einige Personen, die behaupten, es handele sich dabei um eine neue Krankheit. Wenn die Patienten wieder aufwachen, faseln sie von einem Schatten oder von irgendwelchen Dämonen..."

Motoki stupste Mamoru leicht mit dem Ellenbogen an, doch dieser ignorierte es.

"...und sie sind lange Zeit sehr müde. Ich hab keine Ahnung, was es damit auf sich hat. Ich persönlich denke, dass da draußen irgend ein Irrer herumrennt und unfreiwillige Opfer überfällt um Drogen an ihnen zu testen. Denn anders könnte ich mir die wilden Geschichten von Schatten und Geistern nicht erklären. Aber irgendwie komisch kommt mir das Ganze schon vor. Man findet an den Opfern weder Einstichstellen von Nadeln noch Reste von Kapseln oder Tabletten."

"Und was ist mit Würgemalen?", platzte Mamoru dazwischen. Im letzten Moment widerstand er dem Impuls, sich an den Hals zu fassen.

"Was?", fragte der Polizist verdaddert. "Würgemale? Was hat das denn damit zu tun?"

"Na..." Mamoru suchte fieberhaft nach einer Ausrede. "...ich meine ja nur. Wenn es wirklich ein Irrer ist, der Drogen verteilt, dann muss es doch Spuren eines Kampfes geben. Ich würde mir ja nicht freiwillig irgendwas verabreichen lassen."

"Ach so." Der Polizeibeamte dachte einen Augenblick nach. "Nein, von Würgemalen oder sonstigen außergewöhnlichen Verletzungen weiß ich nichts. Aber mich kleinen Beamten hat das ja nicht zu interessieren. Die Leute von Oben meinen wohl, ich soll meine Streife machen und mich um meine Angelegenheiten kümmern. Es gibt für diese merkwürdigen Vorfälle schon eine Sonderkommission, aber die lassen natürlich nichts durchsickern. So, wir sind da. Alle Mann aussteigen!"

Aufgrund der Erklärungen der Beamten, Mamoru und Motoki hätten selbstlos Hilfe geleistet und seien aus diesem Anlass zu spät zum Unterricht erschienen, wurde den beiden eine Menge Ärger erspart. Aber innerlich machte sich Mamoru noch auf ganz anderen Ärger gefasst. Denn inzwischen zweifelte er daran, dass seine Begegnung mit dem Schattenwesen die letzte gewesen sein sollte.
 

Zufrieden lächelnd starrte es auf seine Waffe ICTUS, die nun mit frischer Energie versorgt war. Aber wenn es daran dachte, wie es auf das Ziel getroffen war und sich mit ihm angelegt hatte, da verging ihm die Zuversicht schlagartig wieder.

"Ich benötige all seine Energie", stellte es fest. "Solange der Goldene Kristall nicht seine ganze Macht entfalten kann, ist er für den Kampf wertlos. Du, Herr der Erde, solltest bald lernen, mit Deiner Waffe umzugehen, denn sonst wirst Du nie ein würdiger Gegner sein."

Klanglos verhallte seine Stimme in der geräusch- und zeitlosen Unendlichkeit der Finsternis.

Nun war es schon einige Tage her, seit es sich einem Teil der Energie des Goldenen Kristalls bemächtigt hatte. Es war nach der Auseinandersetzung mit dem Ziel noch eine Weile beobachtend da geblieben und es hatte durchaus mitbekommen, was nach seinem Verschwinden mit dem Goldenen Kristall und - vor allem - mit dessen Träger passiert war.

"Nun hast Du ein Stück von der Macht Deines Kristalls gekostet, Herr der Erde", bemerkte es mit sehr gemischten Gefühlen. Das konnte etwas sehr Gutes oder etwas sehr Schlechtes für den weiteren Verlauf der Mission bedeuten. "Nun hast Du eine Ahnung davon, dass man den Kristall der Erde zum Guten oder zum Bösen einsetzen kann. Du entscheidest - und nicht einmal ich kann Dir diese Entscheidung abnehmen. Du allein musst Deinen Lebensweg wählen. Willst Du die Stärke Deiner Waffe nutzen, um Deine Gier nach neuer Energie zu stillen - oder willst Du seine heilenden Kräfte und die Macht seines Schutzes verwenden? ...Du entscheidest..."

Ihm war klar, dass es auch weiterhin die Macht des Goldenen Kristalls für ICTUS brauchte - vollkommen gleich, wie die Entscheidung des Ziels ausfallen würde. Es würde den Herrn der Erde von nun an noch sehr viel intensiver beobachten. Zwar war es nicht dazu in der Lage, die Entscheidung letztendlich zu fällen, aber es würde auf jeden Fall alles ihm mögliche tun, um das Ziel für die eine Entscheidung zu bewegen, die für ihn und seine Mission am günstigsten war.

Doch bis zur Verkündung der Entscheidung würde wohl noch eine ganze Weile vergehen, das war ihm klar.

Im Laufe der Zeit war es ihm immer leichter gefallen, einen kurzen Blick in die Welt der Menschen zu werfen, obwohl sich sein Körper noch immer in der Unendlichkeit der Finsternis befand. Nur allmählich erwachte seine alte Macht wieder zu neuem Leben. Doch es benötigte weiterhin die Lebensenergie der Menschen, solange es noch immer nicht im Besitz des Kristalls war, der ICTUS vervollkommnen würde.

"Die Abenddämmerung breitet sich über der Stadt aus", stellte es fest. "Schon bald ist es dunkel. Dann sollte ich mein Werk fortsetzen, denn der alles verhüllende Mantel der Schatten wird mich beschützen. Bald - schon sehr bald - werde ich aus diesem meinem Gefängnis entfliehen können. Dann endlich kann ich auch in der Welt der Menschen leben. ...Süße Freiheit! Wie lange schon habe ich nicht mehr Deinen verzückenden Hauch eingeatmet?"

Es seufzte schwer.

"Vor so langer Zeit haben mich unsere verfluchten Feinde in dieser zeitlosen Hölle eingeschlossen", so erinnerte es sich. Es sinnte auf Rache für all die verlorenen Jahrhunderte. Doch all der Zorn nutzte ihm jetzt nichts. Es musste sich nun konzentrieren, denn es musste primär an seine Mission denken, die wichtiger war als alles andere. Jeder Fehltritt konnte alles zum Scheitern verurteilen; und so musste es sich noch ein wenig in Geduld üben.

"Ich brauche noch etwas mehr Energie, ehe ich mich wieder Dir widmen kann, oh Herr der Erde", überlegte es. Dann brach es erneut auf in die Welt der Menschen, immer auf der Suche nach einem neuen Opfer. Denn der Preis, den es zahlen musste, um die Kraft des noch unerfahrenen Trägers des Goldenen Kristalls nutzen zu können, war hoch...
 

Mamoru hockte im Eingangsbereich der Wohnung. Viel mehr: Er kniete da, in wartender, wenn auch respektvoll aufgerichteter Pose, und verharrte dort schon seit mehr als einer halben Stunde, wenn ihm auch so langsam aber sicher die Harnblase drückte, die Füße einschliefen und das Kreuz wehtat.

Das Ganze hatte eine gewisse stolze und irgendwie traditionell anmutende Atmosphäre. Oder zumindest wirkte es so, sah man von den Rinnsalen von Schweiß ab, die dem Sechzehnjährigen langsam das Gesicht hinab liefen.

Er wartete...

Wartete...

Und dann endlich hörte er ein vertrautes Kratzen im Türschloss. Er bemühte sich, noch mehr Respekt in seiner Körpersprache auszudrücken, indem er den Hals noch etwas mehr emporreckte, den Rücken noch etwas mehr durchdrückte, die Brust noch etwas mehr nach vorne und die Schultern noch etwas weiter nach hinten schob.

Und als dann Kioku die Wohnung betrat und auf ihren Neffen blickte, da verneigte er sich tief vor ihr und begrüßte sie mit den Worten:

"Willkommen zu Hause, Großmeisterin Kioku."

Mit unverhohlener Skepsis betrachtete sie den Jungen, der da vor ihr am Boden kniete und fragte:

"Was willst Du und wie viel kostet es?"

<Scheiße. Erwischt. Das geht jetzt zu schnell...>

Noch immer die Nase am Boden plattgedrückt antwortete er:

"Mein Leben ist bescheiden..."

Er wurde von Kioku unterbrochen, die laut losprustete, doch er fuhr unbeirrt fort:

"...und ich bedarf nicht vielem. Einzig das Leben, das Glück und die Liebe sind mein Begehr. So tritt denn in mein Haus..."

Jetzt konnte Kioku vor Lachen nicht mehr an sich halten. "Dein Haus???"

"...und frage nicht <wie viel>. Denn Du sollst mein Gast heute sein, und ohne Sorge und Kummer und Schmerz die Zeit mit mir verbringen."

"Oh, Herr im Himmel, das wird teuer. Ich seh's schon", meinte Kioku und wischte sich eine winzige Lachträne aus dem Augenwinkel. Sie zog die Straßenschuhe und ihre Jacke aus.

Nun also richtete sich Mamoru endlich auf, ganz traditionsgemäß, zunächst noch mit dem linken Knie am Boden während er den rechten Fuß fest aufstellte, dann drückte er sich ab und streckte auch das linke Bein durch, und sowie er aufrecht dastand, machte er erneut einen Knicks. Er nahm Kioku die Einkaufstüten ab. Dann wandte er sich um und schritt seiner Tante voran in die Küche. Er bot ihr einen Platz am Esstisch an, brachte ihr zu trinken und servierte einen herrlich angerichteten Teller voll Sushi.

"Sushi?", fragte Kioku erstaunt. "Das hast Du doch wohl nicht etwa..."

"Doch", antwortete Mamoru mit gequältem Lächeln. "Ich hab es eigenhändig ... gekauft ... aber es ist ja der gute Wille, der zählt..."

"Aber so was ist teuer...", entgegnete sie, "woher hast Du das Geld? Auf Dein Taschengeld musst Du ja schon seit einiger Zeit verzichten."

Er ließ nun endlich seine ich-habe-einen-Besen-verschluckt-und-er-kommt-schon-zum-andern-Ende-wieder-raus-Haltung bleiben und hockte sich zu seiner Tante an den Tisch. Dann erläuterte er:

"Bei uns ist letztens am Nachmittag der Unterricht ausgefallen, und da bin ich ein paar Stunden zu Motoki gegangen und hab seinem Vater im Geschäft ausgeholfen. Und von dem Geld will ich Dich hier bestech... äh, verwöhnen, meinte ich."

"Oha." Eine bessere Antwort fiel ihr nicht ein.

Mamoru stand wieder auf um zwei Paar Essstäbchen zu holen. Und dann konnte die Mahlzeit endlich beginnen. Kioku ließ sich von vorne bis hinten bedienen und genoss es sichtlich. Sie lehnte nur ab, als Mamoru ihr anbot, er könne ihr die Sushistückchen vorkauen und in den Mund legen.

Schlussendlich - Mamoru hatte den Rest für Onkel Seigi im Kühlschrank verstaut und dann das Essgeschirr abgewaschen - saßen die beiden im Wohnzimmer und führten <Verhandlungsgespräche>.

"Wenn Du Dir schon solche Mühe gibst", so erläuterte Kioku während sie sich auf der Couch breit machte, "dann kann ich mir zumindest anhören, was Du überhaupt willst. Also? Ich lausche Deinen Worten."

Mamoru räusperte sich umständlich. Dann legte er zögernd los:

"Also ... es geht um Folgendes: Ich hab ... ich hab Dir ja schon öfter von Hikari erzählt..."

Er bekam rote Wangen und Kioku rollte mit den Augen, ließ ihren Neffen allerdings kommentarlos fortfahren:

"...In der letzten Zeit gewinne ich mehr und mehr den Eindruck, dass sie ... nun ja ... gerne mit mir zusammen ist ... Du verstehst. Und das liegt sehr in meinem Interesse! Und ich wollte ganz gern ... nen Abend mit ihr im Kino verbringen. Ich wollte Dich hiermit fragen, ob Du mir erlauben würdest, mit ihr ein paar Stunden weg zu bleiben. Und ich wollte Dich zu diesem Anlass um etwas Geld bitten. Weißt Du, ich kann ja verstehen, dass Du mich mit diesen ... Maßnamen ... nur erziehen willst. Und das gelingt Dir ja auch ganz gut. Nur ... ich finde es ein klein bisschen übertrieben, das alles so dermaßen in die Länge zu ziehen. Ich habe wirklich viel gebüßt. Viel verzichtet. Na ja, ich gebe zu, ich war in dieser Zeit der Strafe auch ungehorsam, aber ... aber ich finde, das kannst Du mir nicht den Rest meines Lebens ankreiden, hmmm?"

"Nein, nicht den Rest Deines Lebens", erläuterte Kioku fröhlich, "nur den Rest meines Lebens!"

"Nett."

"Ich weiß."

"Jedenfalls", so sprach Mamoru weiter, "Motoki ist wieder voll auf dem Damm. Nicht mal ne kleine Narbe ist übrig geblieben. Und zwischen uns hat sich alles wieder eingerenkt. Und ich meine, jetzt, wo alles wieder im Lot ist, da sollte auch wieder der normale Alltag anfangen, denkst Du nicht auch?"

"Kommt drauf an ... könntest Du mich noch ein paar Mal zum Essen einladen?"

Mamoru seufzte, aber er wollte noch nicht so schnell aufgeben. Er ließ seiner Tante etwas Bedenkzeit. Nach einer Weile des Schweigens konnte er die Spannung, die in der Luft lag, schier nicht mehr ertragen.

"Also?", brachte er schüchtern hervor.

Kioku lehnte sich zurück, lächelte und schüttelte langsam den Kopf.

"Weißt Du", so seufzte sie, "ich werde diese Zeit vermissen. Selten war dieses Haus so blitzblank sauber wie in der letzten Zeit. Und es war so schön, als ich Dein Taschengeld für mich ausgeben konnte... Aber hey, vom weiteren Aufräumen und Saubermachen halte ich Dich nicht ab! Damit kannst Du auch in Zukunft gern fortfahren..."

"Was?" Mamoru horchte auf. "Soll das heißen..."

"Ganz genau." Kioku öffnete wieder die Augen und grinste ihn spitzbübisch an. "Ich erkläre Dich hiermit zu einem freien Mann. ...Na ja, Männchen. Das Urteil ist rechtskräftig. Der Gouverneur scheint großes Mitleid mit Dir zu haben. Hast ihn mit Deinen schönen, großen, blauen Welpenaugen überzeugt."

"Großartig!" Mamoru sprang ihr in die Arme, drückte sie feste und hopste dann wie ein Gummiball durchs Zimmer. "Super, super, super! ...und das mit dem <Männchen> hab ich natürlich überhört..."

"Ich kann's ja noch mal sagen", bot sich Kioku an.

"Kein Interesse."

"Dann sag ich Dir eben was Anderes: Wenn Du weiter so rumhüpfst, beschweren sich noch die Nachbarn von unten. Also lass es", mahnte seine Tante.

"Ja, ja, ist gut." Freudestrahlend ließ sich Mamoru neben ihr nieder und streckte ihr seine Hand entgegen. Sie starrte seine Finger nur verwirrt an.

"Gib mir Fünf?", riet sie.

"Nein, gib mir Geld!", forderte Mamoru grinsend. "Sonst bekomm ich Schwierigkeiten mit dem Kinopersonal."

Kioku seufzte und stand von der Couch auf.

"Oh, wie schön die Zeit doch war ... kannst Du nicht vielleicht noch mal was anstellen, bitte?"
 

"Ach, Mamoru!", seufzte Hikari. Der Enthusiasmus stand ihr förmlich in den wunderschönen, dunkelgrünen Augen geschrieben. "Ich finde es ja so wahnsinnig toll von Dir, dass Du mich so lieb ins Kino eingeladen hast! In den Film wollte ich ja sowieso schon seit einer Ewigkeit!"

"Freut mich, dass es Dir gefällt." Mamoru warf ihr einen verliebten Blick zu. Sie sah einfach zu süß aus, wie sie so freudig von einem Bein auf das andere hopste wie ein kleines Kind. Ihre schönen Augen strahlten förmlich. Alles an ihr sprühte vor Leben. Und sie hatte sich - extra für ihn? - sehr sexy angezogen. Das langärmelige, weiße Shirt hatte einen tiefen Ausschnitt und ihr dunkelblauer, sehr kurzer Rock...

"Junger Mann, wollen Sie nun was bestellen oder nicht?" schnauzte ihn die Frau auf der anderen Seite der Theke an. Sie hatte ihre Geduld schon vor einiger Zeit verloren. Und ihre Stimmung sank weiter im Anbetracht der langen Schlange unzufriedener Kunden, die sich schon hinter Mamoru gebildet hatte, und die allmählich mit Knurren und Brummeln reagierte.

Mit rotem Kopf bestellte er endlich Cola und Popkorn. Er bezahlte und konnte schließlich damit fortfahren, Hikaris atemberaubenden Körper zu mustern...
 

Im Schutz der Dunkelheit beobachtete es den jungen Mann und seinen Freund lachend durch die Straßen ziehen. Beide waren etwas beschickert, doch das störte ihn nicht. Dieser Zustand änderte nichts an der Energie im Leibe des Kerls. Wenn die beiden sich nur endlich trennen würden...

Zwar wäre es für ihn kein Problem gewesen, sie anzugreifen und sich die Energie beider Männer einzuverleiben, doch wie es festgestellt hatte, hatten die Menschen damit begonnen, die ausgesaugten Opfer für krank zu halten. Eine neue und vor allem seltene Krankheit ... da wäre es doch eigenartig gewesen, wenn urplötzlich zwei Leute auf einmal damit zusammenbrechen würden - zur selben Zeit am selben Ort. Nein, es wollte nichts riskieren. Die Menschen könnten sich ernsthafte Gedanken machen. Sie wüssten zwar nicht wonach oder wen sie suchen sollten, aber sie würden vorsichtiger werden. Womöglich würden sie sich bald nicht mehr aus ihren Häusern trauen. Das könnte die Mission gefährden, und das durfte es nicht zulassen.

Lautlos schlich es den beiden weiter nach. Es lächelte, als sie sich endlich von einander verabschiedeten und getrennte Wege entlang torkelten...
 

Mamoru hatte von diesem Film nie etwas gehört. Hikari hatte ihn sich ausgesucht. Er wusste nicht wirklich, was ihn erwarten würde. Der Titel war absolut nichtssagend. Insgeheim hatte Mamoru gehofft, es könne sich um eine Komödie handeln. Er hätte eine kleine Aufmunterung dringend nötig gehabt.

Doch weit gefehlt.

Bis jetzt war eine rassige Spanierin nach New York geflogen in der Hoffnung, dort eine Karriere als Sängerin anfangen zu können und dann verliebte sie sich in ihren Gesangslehrer, der dummerweise verheiratet war - eine Schnulze hoch zehn, und kitschig ohne Ende.

Doch es hatte den Anschein, als habe Hikari sowieso etwas anderes vorgehabt, als ihre kostbare Zeit dem Film zu widmen. Und sie hatte auch Mamoru schnell davon überzeugt, dass ebendieser Film nichts anderes als Mittel zum Zweck war. Ihre Argumente wirkten großartig und ohne jegliche Verzögerung - sie ergriff seine Hand, lehnte sich an seine Schulter und seufzte. Das allein reichte völlig aus, seine Aufmerksamkeit zu hundert Prozent auf sie zu ziehen.

Sie gab ihm ein wenig Zeit, sich an seine Gefühle zu gewöhnen und ein wenig wieder auf den Teppich zu kommen. Dann reckte sie ihm ihr Gesicht zu und hauchte ihm einen leichten Kuss auf den Mundwinkel. Sie spürte sein erregtes Zittern und lächelte siegesgewiss. Dann lehnte sie sich ihm noch etwas mehr entgegen...
 

Ein leises, dumpfes Geräusch ertönte, als es sein Opfer zu Boden sinken ließ. Der junge Mann war schon lange nicht mehr bei Bewusstsein. Behutsam setzte es diesen Kerl aufrecht hin und lehnte ihn mit dem Rücken gegen eine Hauswand. Innerhalb der nächsten paar Stunden würde ihn schon irgendwer finden. Hoffentlich.

Es sorgte dafür, dass der Mann so weit im Schatten saß, dass man ihn nicht sofort entdeckte, er aber auch so gut sichtbar war, dass schon bald jemand über ihn stolpern musste. Denn es tötete grundsätzlich nicht. Das würde unangenehme Fragen aufwerfen. Und tot war dieser Mann für ihn sowieso nicht von Nutzen. Es hatte viel mehr von einem Lebenden, denn der konnte seine Kraft wieder regenerieren und später wieder als Energielieferant nützlich sein.

Ein Blick auf sein rechtes Handgelenk verriet ihm, dass ICTUS schon bald genug Energie gespeichert haben würde. Bald würde die Kraft reichen, um auch längere Zeit ohne den gesuchten Kristall in der Welt der Menschen leben zu können.

Es sehnte sich nach dem Herrn der Erde. Dessen Energie fühlte sich warm und wohlig an, und der Goldene Kristall hätte bestimmt genug Kraft, um ICTUS zu mehr Macht zu verhelfen. Doch es wollte dem Ziel lieber etwas mehr Zeit zur Erholung gönnen. Denn es wusste, dass es für die Gesundheit des Herrn der Erde nicht gut war, wenn er auf kurze Zeit hin noch einmal so viel Energie verlor - und ihm durfte nichts geschehen. Das könnte die Mission gefährden.

Zufrieden mit seiner Arbeit lächelte es und verschwand wieder in der Dimension der zeitlosen Finsternis.
 

Mamoru löste sich wieder von Hikaris süßen Lippen um leise keuchend nach Luft zu schnappen. Er lächelte überglücklich. Kaum zuvor in seinem Leben hatte er solche Gefühle zu empfinden vermocht. So lange schon hatte er sich eine Situation wie diese herbeigesehnt - und nun war all sein Hoffen endlich wahr geworden!

"Du bist doch nicht schon aus der Puste?", fragte Hikari belustigt nach. Sie musste flüstern, um die anderen Leute im Kino nicht zu stören.

"Nein, nein." Mamoru hob die rechte Hand und fuhr ihr damit über die zarten Wangen, die selbst im schummrigen Licht des Kinosaales einen deutlich roten Schimmer aufwiesen. Auch seine Gesichtsfarbe war ganz ähnlich. Seine tiefdunklen, blauen Augen glänzten vor Freude und Erwartung. Seine Lippen waren inzwischen angeschwollen. Seine Körpertemperatur war deutlich angestiegen. Sein Herz jagte mit wahnsinniger Geschwindigkeit.

Trotz der inzwischen recht späten Stunde verspürte er nicht mal den Hauch von Müdigkeit. Alles, was er noch zu fühlen imstande war, war das Empfinden von leidenschaftlicher Gier.

Er lehnte sich wieder etwas zu Hikari herunter. Seine Nasenspitze berührte die ihre. Und schon bald darauf hatten sich beider Lippen wieder vereint und die Zungen spielten im feuchten Spiel miteinander.

Nur für die Dauer eines einzelnen, schnellen Herzschlages durchzuckten Mamoru wieder die Zweifel, ob das, was er gerade tat, richtig war. Wenn Chikara Wind davon kriegen würde, dass seine Freundin mit seinem größten Feind im Kino hockte und ihre Zunge in seinen Rachen steckte, würde er Mamoru wahrscheinlich mindestens zwei Köpfe kürzer machen.

Doch kaum dass ein Bruchteil einer Sekunde vergangen war, hatte Mamoru jegliche Verbindung zu diesem Gedanken wieder verloren. Lächelnd sah er tief in Hikaris dunkelgrüne Augen und fühlte sich wie hypnotisiert. Er küsste ihre Lippen, ihre Wangen und ihr Kinn und empfand dabei eine bislang ungekannte Befriedigung.

Wenn er daran dachte, dass dies nur eine der vielen, niederen Vorstufen zu einer wahren, körperlichen Vereinigung war, wurde ihm regelrecht schwindlig vor Glück und Vorfreude. Er konnte sich kaum vorstellen, dass dieses Empfinden noch zu toppen war.

Erst, als das Licht im Saal sachte hochgedreht wurde bemerkten die beiden, dass der Film längst vorüber war. Sie grinsten sich gegenseitig an, als sie den nur spärlich ausgeleuchteten Raum Hand in Hand verließen.

Inzwischen war es tiefste Nacht. Nur wenige Sterne waren über Japans Hauptstadt zu erkennen. Nur der Sichelmond schien in einer Suppe aus Düsternis dahinzudümpeln. Bunte Leuchtreklamen und weiße Straßenlampen säumten die Wege. Es waren nicht mehr sehr viele Menschen unterwegs. Ein frischer Wind kam auf.

"Mir wäre es nicht recht, wenn Du frierst", meinte Mamoru und begann sich die Jacke auszuziehen. "Möchtest Du?"

"Oh, ja! ... Vielen Dank, das ist wirklich lieb von Dir!"

Natürlich hätte er nie zugegeben, dass er ihr das Kleidungsstück nicht nur gegeben hatte, um sie vor der Kälte zu schützen, sondern auch vor den Blicken anderer Männer. Er war der festen Überzeugung, ihm alleine gebühre, diese schier göttliche Schönheit ansehen zu dürfen; ein Privileg, das sonst keinem vergönnt war. Sie war zwar nicht seine Freundin (noch nicht! Und auch noch nicht ganz offiziell) aber es schmeckte ihm dennoch nicht, dass er diesen herrlichen Anblick teilen sollte. Er mochte die Idee, dieses reine Wesen könnte von fremden Blicken schier ausgezogen werden, so ganz und gar nicht. Er half ihr in die Jacke zu schlüpfen.

Hikari strahlte ihn an und kuschelte sich tief in sein Kleidungsstück. Sie steckte sogar kurz die Nase in den Kragen um Mamorus Duft einzuatmen. Er bemerkte das mit einem gewissen Gefühl von Stolz. Aus einem Impuls heraus legte er seinen Arm um ihre Schulter. Sie begrüßte diese Geste, indem sie ihn warm anlächelte.

"Ich bringe Dich jetzt nach Hause, ja?", bot Mamoru an.

"Hmmm", seufzte Hikari bejahend und lehnte sich etwas mehr an ihn. Sie schritten davon.
 

An einem weit entfernten Ort, umhüllt von fast schon greifbarer Dunkelheit, saß eine Frau auf ihrem steinernen Thron. Langes, rotes Haar wallte an ihrem Körper herunter, am dunkelblauen Kleid entlang und schmiegte sich gerade noch auf die Sitzfläche und um ihre Hüften herum. Die stechenden, gelblich glühenden Augen der Frau, die rund um die Pupille in unheimlichem Rot leuchteten, blickten in die weite Halle.

Die Frau machte eine unwillige Handbewegung. Daraufhin erschien ihr langes, silbernes Zepter, das mitten in der Luft stehen blieb. Auf der Spitze dieses Zepters war eine etwa kopfgroße Kugel angebracht, in der dunkle, violettfarbene Nebel zu wabern schienen. Einige Herzschläge lang betrachtete die Frau diese Kugel und bewegte ihre Hände in rhythmischem Wallen um sie herum.

Ein mürrisches Knurren glitt der unheimlichen Frau über die Lippen. Dann hob sie ihre Stimme an und rief in die Halle, die sich in Schwärze und Dunkelheit regelrecht verlor, hinein:

"JEDYTE!"

Auf dem mehrere Meter durchmessenden, freien Platz vor der niedrigen Tribüne, auf der ihr Thron stand, erschien ein dichter Nebel von schwarzer Farbe. Aus dem Rauch trat ein Mann von vielleicht dreißig Jahren mit kurzem, blondem Haar und stechend grünen Augen. Der Nebel verschwand, und der Mann in seiner grauen Generalsuniform verneigte sich tief vor dem Thron.

"Ich repräsentiere den fernen Osten des Dunklen Königreichs. Ich bin Jedyte, der erste Prinz der vier Himmel. Ich stehe Euch zu Diensten, Königin Perilia. Euer Wunsch ist mein Befehl."

"Höre, Jedyte!", donnerte Königin Perilia mit ihrer mächtigen Stimme in den riesigen Saal hinein. "Nun, wo das Königreich des Dunklen nach so langer Zeit wieder zu neuem Leben erwacht ist, brauchen wir unbedingt frische Energie, um uns manifestieren zu können. Wir müssen uns auf die Suche nach dem Heiligen Silberkristall begeben, der uns die Macht über das Universum verschaffen wird. Das soll Deine Aufgabe sein. Doch zu aller erst musst Du Energie sammeln, denn unsere dämonischen Legionen sind leider zum größten Teil immer noch im Tiefschlaf. Sammle menschliche Lebensenergie. Für unsere Truppen. Für mich. Für unsere Suche nach dem Silberkristall. Und vor allem: für unsere große Herrscherin Königin Metallia. Ich schicke Dich in Deine angestammte Region zurück: in den Osten. Dort sollst Du die Länder erkunden. Finde heraus, wer sich uns in den Weg stellen könnte und vernichte ihn. Ich kann die Anwesenheit der Feinde spüren. Auch sie werden bald damit anfangen, ihre Truppen zu erwecken. Wir müssen unbedingt vor ihnen bereit sein! Wir müssen diesmal schneller sein, um die uralte Schlacht ein für alle Mal zu gewinnen! Jedyte! Geh! Geh und erfülle Deine Mission. Nimm ein Monster Deiner Wahl mit und tu alles in Deiner Macht stehende, um unserer großen Herrscherin Deinen Respekt zu beweisen."

"Sehr wohl", antwortete Jedyte. "Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Königin Perilia.

Damit verschwand Jedyte wieder in seiner schwarzen Wolke.
 

"Hikari?"

"Ja?"

"Sag mal..." Mamoru zögerte kurz auf der Suche nach den passenden Worten. "...Wie geht es nun eigentlich weiter? Mit uns? Mit ... Dir und Chikara?"

"Chikara? Wer's das denn?", lachte Hikari.

"Das ist der Kerl, der schon seit ner Ewigkeit drauf aus ist, mich umzubringen", erinnerte sie Mamoru ernst.

"Ach, Mamoru!", seufzte sie und ließ ihren Blick durch die Gegend gleiten. "Mit Chikara und mir ist es aus. Ich kann mit dem groben Klotz absolut nichts mehr anfangen. Er ... er ist so ... gefühllos. Er reizt mich einfach nicht mehr. Aber Du! Ich entdecke ständig neue Seiten an Dir. Du bist etwas Besonderes! Ich finde es ... na ja ... interessant!"

"Interessant...", murmelte Mamoru, und ein gewisser Stolz schwang in seiner Stimme mit. "Ich wollte schon immer interessant für Dich sein. Seit ich Dich das erste Mal gesehen habe, konnte ich die Augen nicht mehr von Dir lassen."

Wieder schlich sich die Röte auf seine Wangen, aber was er da gerade gesagt hatte war ja immerhin schon lange kein Geheimnis mehr. Er blieb stehen, lehnte sich ihr entgegen und hauchte ihr einen sanften Kuss auf die Lippen, den sie mit einem leisen Seufzer erwiderte.

Als er sich wieder von ihr löste, musste er schwer schlucken. Er zog Hikari fest an sich und schlang seine Arme um ihren schmalen Körper. Dann lehnte er seine heiße Stirn an ihre und blickte ihr tief in die Augen.

"Ich liebe Dich."

"Mamoru...", hauchte sie fast unhörbar leise. "Ich Dich auch."

Er lächelte und senkte wieder seine Lippen auf die ihren. Als er seinen Kopf wieder ein Stück zurückzog, flüsterte er ihr zu:

"Gehen wir weiter?"

Sie nickte.

Doch nur wenige Schritte weiter blieben sie wieder stehen.

"Da sitzt wer", stellte Hikari fest und eine leise Angst schwang in ihrer Stimme mit.

"Beruhig Dich. Ich glaube, er ist betrunken ... oder vielleicht ohnmächtig. ...Oder ... er ist doch nicht etwa..."

Mamoru kniete neben dem jungen Mann nieder und untersuchte ihn. Es dauerte keine drei Sekunden da schnappte er entsetzt nach Luft. Diesem Mann wurde die Energie entzogen!

Mamoru sah sich wild um. Er konnte den unheimlichen Schatten nicht sehen, aber das musste nichts heißen. Es war tief in der Nacht, die Straße war wenig belebt und auch nur mäßig ausgeleuchtet.

Seine Gedanken drehten sich wild im Kreis. Wenn das Wesen noch in der Nähe war, musste er so schnell wie möglich mit Hikari fliehen! Aber wohin? Dieses Wesen folgte ihm schon seit Tagen auf Schritt und Tritt. Es gab kein Entrinnen! Mamoru musste Hikari irgendwie beschützen ... aber er konnte auch diesen armen Kerl nicht einfach hier liegen lassen.

"Was ist mit ihm?", fragte Hikari verunsichert nach. "Kannst Du ihm helfen?"

"Ich...", stotterte Mamoru, "...ich..."

Er fürchtete sich ein wenig, seine Fähigkeiten einzusetzen. Wenn diese Kreatur wieder auftauchte! Jeden Moment konnte genau dies geschehen! Was wäre dann? Aber was sollte er auch sonst tun? Er würde auf keinen Fall Hikari allein losschicken, um eine Telefonzelle zu suchen. Den jungen Mann mitnehmen war auch unmöglich, er war unter Garantie zu schwer. Ihn hier allein liegen lassen war auch nicht drin. Weit und breit war auf einmal keine Menschenseele mehr zu sehen. Und rings herum standen nur Geschäfte, die längst geschlossen hatten.

"Also?", fragte Hikari, als sie immer noch keine Antwort bekommen hatte.

Mamoru entschloss sich nach einigem Zaudern doch dazu, es eigenhändig zu versuchen. Er griff nach der Hand des Fremden und konzentrierte sich auf die Energieübertragung.

<Noch ein bisschen kann ich hergeben ... noch ein bisschen ... verdammt, ich hab keine Ahnung davon, welches Maß an Energie ich hier abgebe! Ich hab einfach noch kein Gefühl dafür entwickelt, wann es zu viel und wann zu wenig ist...>

Irgendwann ließ er den Fremden wieder los und lehnte sich keuchend gegen die Hauswand. Er fühlte sich unheimlich müde. Und in ihm wuchs beständig das Gefühl der Bedrohung; ganz so, als sei der Feind in gefährlicher Nähe. Mamoru musste sich unbedingt beruhigen. Er griff unter seinen Pullover und förderte die kleine, goldene Spieluhr zutage, die an seiner Halskette hing.

"Was ist das?", fragte Hikari, doch diese Frage ließ er unbeantwortet. Er öffnete den Deckel und die sanfte Melodie erklang. Augenblicklich hatte das Lied eine beruhigende Wirkung auf Mamoru. Es schien ihm fast, als gäbe ihm die Spieluhr einen Teil seiner Energie zurück. Er seufzte auf.

"Wir sollten verschwinden", murmelte er erschöpft. "Wir werden ein Telefon suchen und das Krankenhaus anrufen. Wir sollten besser zusammen bleiben. Ich werde Dich keine Sekunde aus den Augen lassen. Ich will nicht, dass Dir was passiert. Wir werden..."

Er zuckte zusammen. Dieses Gefühl der Kälte! Dieses eindeutige Empfinden der Bedrohung!

Auf der gegenüber liegenden Straßenseite materialisierte sich etwas Unförmiges...
 


 

[Anmerkung des Autors]
 

Ich weiß, es ist fies von mir, gerade hier aufzuhören. Und jetzt kommt's noch fieser: ich werde einige Wochen lang in den Urlaub fahren und komme erst am 2.Oktober zurück. Und wahrscheinlich werde ich für den Dienstag direkt danach kein Kapitel parat haben.
 

Aber ihr werdet noch früh genug wieder von mir hören!

^-^
 

Draco

Jedyte streckte seine geistigen Fühler aus und tastete damit über die Stadt, auf der Suche nach Energie. Bei seiner vorsichtigen Sondierung bemerkte er mit einem Male eine eigenartige Verzerrung auf der Energieebene der Menschen. Zwar konnte das Gefüge mal leicht schwanken, aber eine solche Energiekonzentration an einem Ort war ungewöhnlich.

Waren etwa die alten Feinde schon am Werk?

"Das sehe ich mir mal an", beschloss Jedyte. "Ich werde das Monster aber vorerst hier lassen. Die Energie ist zwar ungewöhnlich hoch - für einen Menschen - doch für mich scheint sie noch kein größeres Problem darzustellen."

Eine schwarze Wolke wand sich um seinen Körper und verschluckte ihn.
 

Gebannt starrte Mamoru auf die gegenüber liegende Straßenseite, wo mit einem Mal ein schwarzes Etwas aufgetaucht war, und das pure Entsetzen jagte ihm eiskalte Schauer den Rücken hinunter. Auch Hikari neben ihm begann schrill und hoch zu kreischen. Keine Frage, Mamoru bildete sich dieses Etwas nicht nur ein, sondern Hikari sah es auch.

...Hikari!

"Hikari! Lauf! Lauf weg, so schnell Du kannst!"

Sie rührte sich nicht. Die Angst lähmte sie zu sehr, so war sie nicht dazu in der Lage, auch nur einen Schritt zu tun. Und Mamoru fühlte sich noch zu geschwächt, als dass er dazu fähig gewesen wäre, aufzuspringen und sie mit sich zu reißen. So musste er hilflos mit ansehen, wie sich der Nebel ganz langsam verzog und allmählich so etwas wie menschliche Konturen freigab.

"Na, na! Ihr müsst doch keine Angst vor mir haben", tönte die amüsiert klingende Stimme eines jungen Mannes aus der Dunkelheit. "Ich hab euch doch gar nichts getan! ...Noch nicht..."

Damit verschwand der Nebel vollständig und ließ einen Blick auf die schlanke Gestalt des bizarren Gesprächspartners zurück. Auf den ersten Blick mochte man ihn für einen gewöhnlichen Menschen halten, der einen etwas altertümlichen und eigensinnigen Kleidungsgeschmack hatte. Doch als der Fremde endlich in das Licht einer nahe gelegenen Laterne trat, presste Mamoru sich keuchend und voller Furcht stärker gegen die Wand in seinem Rücken, denn der Unbekannte hatte vollkommen grüne Augen; einzig die Pupillen waren schwarz wie die Nacht. Seine kurzen, blonden Haare, seine steife Haltung, seine Aura, ja sein ganzes Auftreten erinnerte stark an einen Soldaten von hohem Rang.

Ein Soldat der Finsternis...

"Was hast Du mit uns vor?", fragte Mamoru verunsichert. Er blickte den Fremden gebannt an und war nicht dazu in der Lage, die Augen von ihm abzuwenden. "Wer bist Du überhaupt?"

"Na schön", meinte der Mann grinsend. "Ihr sollt ja immerhin nicht dumm sterben, wenn ihr eure Energie schon so schön für unsere große Herrscherin hergebt. Mein Name ist Jedyte - ich bin der Prinz des fernen Ostens und einer von den vier großen Generälen im Königreich des Dunklen. Ich muss meinen Auftrag erfüllen. Und nun wird es Zeit für euch, dieser Welt Lebewohl zu sagen."

Er hob seine Hand gegen die beiden, und schwarze Blitze wanden sich in seiner Handfläche. Sein Gesicht strahlte pure Siegessicherheit aus. Er schien so etwas wie eine Attacke starten zu wollen, hielt aber dann verblüfft keuchend inne und starrte Mamoru an. Die Blitze verschwanden.

"Was ist das? Wo hast Du das her?", fragte Jedyte und zeigte auf Mamorus Brust. Dort hing immer noch die Spieluhr an der silbernen Halskette. Das Licht aus ihrem Inneren des faustgroßen, goldenen Schmuckstücks erhellte nur den Bruchteil der Umgebung und ihre sanfte Melodie erklang und zog sich leise über den Schauplatz dieses ungleichen Kampfes hinweg.

"Das hier?" Mamoru griff verblüfft nach der Spieluhr und sah sie sich an.

<Wieso interessiert er sich dafür? Was will er damit? Woher kennt er dieses Schmuckstück überhaupt?>

"Ja", antwortete der Blonde mir der gleichen Verwirrung in der Stimme. "Ich habe das Gefühl, die Melodie zu kennen. Ich habe sie irgendwann schon mal gehört... Aber ich kann mich nicht wirklich erinnern..."

Mamoru derweil hatte sich zur Genüge ausgeruht, sodass er wieder einigermaßen aufstehen und sich auf eigenen Beinen halten konnte.

"Jedyte", so sprach er leise auf sein Gegenüber ein, "wenn ich Dir die Spieluhr gebe, wirst Du dann mich und meine Freundin in Ruhe ziehen lassen?"
 

Kaum, dass es die Dimension der Zeitlosen Finsternis erneut betreten hatte, hörte es auch schon wieder den Ruf seines Herrn und Meisters. Ein wenig wunderte es sich darüber, denn der Herr und Meister hatte lange geschwiegen. Es war ein wenig verunsichert, was es tun sollte; denn es wusste genau, dass es lieber hätte sparsamer mit seiner Energie umgehen sollen. In der letzten Zeit war es viel verschwenderischer gewesen als zuvor und hatte dementsprechend mehr Zeit darauf verwenden müssen, neue Energie zu beschaffen, anstatt das Ziel im Auge zu behalten.

Es schimpfte lautlos mit sich selbst. Wie dumm es doch gewesen war; wie töricht! Anstatt nur an sich selbst und an die eigene Freiheit zu denken, die nur durch die Hilfe großer Mengen Energie zu erreichen war, hätte es sich lieber um seine Mission kümmern sollen!

Mit dieser Erkenntnis eilte es nun endlich los, um seinem Herrn und Meister treu zu dienen, wie es das schon vor etlichen hundert Jahren getan hatte. Es folgte dem Ruf bis in die Welt der Menschen hinein...
 

Irgend etwas an Jedyte schien sich geändert zu haben. Wo er gerade eben noch verunsichert und fast schon ... menschlich ... gewirkt hatte, da schien er nun von neuer schwarzer Energie regelrecht besessen zu sein. Er grinste diabolisch und gab mit selbstherrlichem Ton bekannt:

"Ich pfeife auf Dein Angebot! Wenn ich etwas wirklich haben will, dann nehme ich es mir einfach! Doch ihr könnt eurem Schicksal nicht entrinnen! Ich weiß, dass einer von euch große Energien besitzt, und die werde ich mir ebenso einfach nehmen!"

<Der Goldene Kristall!>, schoss es Mamoru durch den Kopf. <Er will nur mich und den Kristall der Erde haben, von Hikari will er vielleicht gar nichts! Vielleicht kann ich sie irgendwie hier herausholen...>

Jedyte reagierte, noch ehe Mamoru die Bedeutung seines Gedankens wirklich begriffen hatte. Erst, als der General des Dunklen Königreichs vor ihm stand und die Hand nach der Spieluhr ausstrecke, schreckte Mamoru hoch und schlug in wilder Panik mit den Armen um sich. Er konnte einfach nicht mehr klar genug denken, um seine Kampfkünste einzusetzen.

Wahrscheinlich hätten sie ihm sowieso nichts genutzt.

Spielerisch fing Jedyte einen Arm von Mamoru ab und entzog ihm in der selben Bewegung seine Energie. Es war ein scheußliches Gefühl; dagegen war es regelrecht angenehm gewesen, sich mit dem Schattenwesen anzulegen.

Jedyte raubte Mamoru nur einen Teil seiner Energie - gerade so viel, dass der Herr der Erde geschwächt zusammensackte und nach Luft schnappte. Dann griff der General nach der Spieluhr - und riss die Hand mit einem Schmerzensschrei wieder zurück, als ein winziger, goldener Blitz aus dem Schmuckstück in sein Handgelenk fuhr.

"Verdammt! Dieses Ding beschützt sich selbst", fluchte Jedyte vor sich hin und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand. "Na warte, dafür sollst Du büßen!"

"Aber ich hab doch gar nichts..." Weiter kam Mamoru nicht. Jedyte packte ihn am Kragen und zog so fest zu, dass der Junge kaum noch Luft bekam, während ihm die Energie entzogen wurde. Schon bald darauf vernebelte sich sein Gehirn. Als nächstes registrierte er eine heftige Erschütterung. Er wurde gegen die Wand geschmettert, stürzte dann zu Boden und blieb dort einen Augenblick lang benommen liegen. Nur undeutlich verschwommen sah er die Szenerie vor sich. Er erkannte nur düstere Schemen, die in der dunklen Häusergasse umherzugeistern schienen. Nur knapp außerhalb dieser Gasse, gerade noch auf dem Bürgersteig und von dem spärlichen Licht einer Straßenlaterne beleuchtet, standen sich Hikari und Jedyte gegenüber. Der Prinz des fernen Ostens lachte leise und siegessicher in sich hinein.

"Ich weiß nicht, ob ihr die Feinde seid, von der Königin Perilia gesprochen hat", so sagte er in drohendem Ton, "aber im Zweifelsfall gilt: Wer nicht für das Königreich des Dunklen ist, ist gegen uns ... und muss unverzüglich eliminiert werden. Ich denke, daran sollte ich mir nicht meine Finger schmutzig machen, das kann sehr gut mein Dämon für mich erledigen. Noctas, los, entzieh ihnen ihre Energie!"

Neben dieser Drohung, dem verzweifelten Wimmern Hikaris und dem lauten Donnern des eigenen Herzens hörte Mamoru nur noch die Spieluhr, deren sanfte Melodie noch immer ununterbrochen ertönte. Er griff nach dem goldenen Schmuckstück und fasste einen Entschluss.

<Ich muss die Macht des Goldenen Kristalls einsetzen! Zwar werde ich so vor diesem Kerl preisgeben müssen, wer ich bin, aber wenn ich es nicht tue, haben wir keine andere Chance zu überleben! Ich hoffe nur, ich werde es heil überstehen...>

Mamoru spürte die Blutergüsse und Schrammen an seinem Körper, die er sich bei diesem heftigen Sturz eingehandelt hatte, und sie schmerzten bei jeder kleinsten Bewegung. Dennoch biss er tapfer die Zähne zusammen, raffte sich auf und griff nach der Spieluhr, die an der silbernen Halskette knapp über seinem Herzen baumelte.

"Macht des Goldenen..."

Du darfst es nicht tun!

"Was?"

Mamoru hielt mitten in der Bewegung inne und starrte mit vor Unglauben geweiteten Augen vor sich hin, während sich zwischen Mamoru und Jedyte ganz langsam eine Art schwarzer Nebel bildete. Was er da gerade gehört hatte - war die Stimme der Frau gewesen, die er so oft in seinen Träumen gesehen hatte!

Bitte, setz die Macht des Goldenen Kristalls nicht frei! In Deinem geschwächten Zustand würde es Dich umbringen - erst recht, da Du noch nicht richtig mit diesem Werkzeug umzugehen weißt. Es gibt einen anderen Weg, Jedyte zu bekämpfen.

Der Nebel wurde allmählich immer dichter. Mamoru zweifelte keine Sekunde daran, dass der Dämon Noctas, von dem der General gerade erzählt hatte, gleich erscheinen würde. Es blieben nur noch Sekunden.

"Was muss ich tun?"

Gerade da hatte das schattenhafte Wesen entgültig den Weg in die Welt der Menschen gefunden. Ein wenig schwerfällig wirkte es, als es sich Mamoru zuwandte - oder zumindest glaubte er, dass es sich zu ihm drehte; denn der Körper der Kreatur war genauso durchsichtig und unförmig wie das letzte Mal, als der Herr der Erde diesem Höllenwesen gegenübergestanden hatte.

<Nein! Nein, bitte nicht! Nicht schon wieder dieses Ding!>

Doch alles Betteln war vergebens. Wieder einmal sah Mamoru sich dieser Schattengestalt gegenüber. Er wusste inzwischen nur zu gut um die Macht dieses Monsters.

Die Kreatur stand eine ganze Weile nur da und starrte den Jungen aus nicht erkennbaren Augen an. Seine Gestalt, die nur aus durchsichtiger Düsternis zu bestehen schien, regte nicht einen Muskel. Ganz so, als könnte sich das Ding nicht entscheiden, was nun zu tun sei.

Mamoru hielt die Spieluhr fest an sein Herz gepresst.

<Es ist aus. Verdammt noch mal, es ist aus! Wer immer Du bist, Frau, die immer im Traum zu mir spricht, Du hattest Unrecht. Es gibt keinen Weg, Jedyte zu bekämpfen. Diese Kreatur an seiner Seite ist zu stark. Ich schaffe es nicht...>

Er schloss den Deckel der Spieluhr, und als der letzte Ton in der nun absoluten Stille verklang, da schien es, als seien die Anwesenden auf ein unhörbares Kommando hin aus einer verzauberten Starre erwacht. Der erste, der sich regte, war Jedyte. Er machte mit einem Male einen ungewöhnlich ängstlichen Eindruck. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er die Schattengestalt an, dann hob er den rechten Arm und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Gestalt.

"Wer ... oder was ... bist Du? Bist ... bist Du einer von unseren Dienern? Ich habe Noctas herbeigerufen, verdammt!"

"Hier bin ich, mein Prinz", so erklang eine kratzige Stimme und auf der Straße materialisierte sich eine hässliche Gestalt, die eine entfernte Ähnlichkeit mit einem halb verwesten Menschen hatte. Die Haut war vertrocknet, ledern und von dunkelbrauner Farbe. Nur eine Art roter Umhang versteckte den Körper des Dämons vor unerwünschten Blicken. Langes, weißes, strohiges Haar hing ihm vom halbwegs blanken Schädel - alles in allem ein grauenhafter Anblick.

"Dann...", stotterte Jedyte und wandte sich der Schattenkreatur zu. "...dann ... dann ... Wer bist Du dann?"

Das Ding bewegte sich nicht einen Millimeter weit.

"Rede, Biest!", forderte der General lautstark. Er schien seine Fassung wiedererlangt zu haben. Doch das Wesen stand auch weiterhin regungslos da und wandte den Kopf in Mamorus Richtung. Jedyte folgte dem Blick der Schattengestalt.

"Ich verstehe nicht", knurrte er. Der General schien langsam richtig sauer zu werden. Ganz offensichtlich hatte er das Ratespiel satt. "Was hat dieser Junge mit dem Ganzen zu tun? Wer ist er?"

Doch noch immer bekam er keine Antwort.

"Vielleicht ist er ja sogar derjenige, von dem vorhin diese außergewöhnliche Energie ausging?", mutmaßte Jedyte laut. "Zwar habe ich nicht viel aus ihm herausbekommen, aber womöglich hat er versteckte Reserven... Noctas! Überprüfe das mal!"

"Gern", antwortete die lebende Leiche. Der Dämon hob seine dürren, staubtrockenen Arme an und schleuderte die Hände mit Wucht in Mamorus Richtung, wobei sich die Unterarme wie Gummi verlängerten. Noch im Flug fuhr er seine rasiermesserscharfen, dolchlangen Krallen aus und zielte mit unglaublicher Präzision auf Mamorus Augen. Dieser schrie gellend auf und riss schützend die Arme vor sein Gesicht.

"Nun gut", meinte der Prinz des fernen Ostens währenddessen. "Nun also zu Dir, Du taubstumme, schwarze Seifenblase. Warte nur ab, ich werd schon aus Dir rauskriegen, was ich wissen will."

Darauf sprang er mehrere Meter hoch in die kühle Nachtluft hinein, ballte seine rechte Hand zu einer Faust und konzentrierte sich auf seinen Angriff. Schwarze Blitze wanden sich um seine Hand und als ihre Intensität hoch genug war, stieß Jedyte einen gellenden Kampfschrei aus und schleuderte den schwarzen Blitz gegen die Schattenkreatur.

Dann geschah alles gleichzeitig.

Die scharfen Krallen des Dämons hatten Mamoru schon fast erreicht, und Jedytes Blitzattacke schoss dem dunklen Wesen entgegen, da reagierte das Ding mit übernatürlicher Schnelligkeit. Es breitete seine gigantischen Schwingen aus und hob sich mit einem einzigen, kräftigen Flügelschlag in die Luft, und in der selben Bewegung fegte es Mamoru von den Füßen; genau in dem Augenblick, als die Krallen des Dämons dort in die Mauer krachten, wo gerade noch der Kopf des Herren der Erde gewesen war. Kaum, dass Jedytes Blitze wirkungslos in den Boden schlugen, war das Wesen schon an ihn heran und griff blitzartig mit den langen, klauenbewährten Fingern an. Während sich Jedyte geschickt der Attacke entzog und nun seinerseits wieder zur Offensive überging, landete Mamoru, noch immer vom Schwung mitgerissen, unsanft auf dem Boden und wurde von herabrieselnden Mauerstücken und einer Wolke aus Staub überschüttet. Der Dämon zerrte seine Krallen mit einem hässlichen kratzenden Geräusch wieder aus der Wand heraus und zog die langen Arme wieder zurück in die Ausgangsposition.

"Nun tu doch endlich was!", kreischte Hikari in hysterischer Stimmlage. "Mamoru! Du bist der einzige, der alles jetzt noch zum Guten wenden kann!"

Sie war dem Untoten am nächsten und ihr Blick wanderte wild vom Dämon zu Mamoru, dann kurz zu den beiden Kämpfenden, die noch immer mitten in der Luft schwebten und sich gegenseitig attackierten, dann wieder zurück zum Herrn der Erde. Die pure Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben.

"Aber was soll ich tun?", rief ihr Mamoru verzweifelt entgegen.

"Was weiß ich?! Denk Dir was aus!", schrie sie zurück.

"Na toll", brummte er und arbeitete sich wieder auf die Beine.

<Die Frau aus meinen Träumen hat gerade noch gesagt, es gibt einen Weg, Jedyte zu bekämpfen - aber welchen? Wieso spricht sie jetzt nicht mehr zu mir? Und selbst, wenn ich es schaffe, Jedyte und sein Monster zu besiegen, was tu ich dann mit dem Schattenwesen? Ich kann es ja noch nicht einmal berühren; das letzte Mal ist meine Hand einfach durch ihn durch gefahren ... Moment mal...>

Nun traf die Erkenntnis Mamoru wie einen Schlag. Die Flügel dieser Kreatur hätten ihn nicht berühren müssen und dennoch hatten sie es getan. Warum? Wieso sollte sich das Wesen die Mühe machen und ihn zur Seite stoßen um ihn vor dem Angriff des Dämons zu beschützen? Konnte diesem Ding nicht egal sein, was mit Mamoru geschah? Offensichtlich nicht, aber warum? Oder war das bloß Zufall? Doch der Herr der Erde wollte nicht so recht an einen Zufall glauben. Es war Absicht. Irgendwie wusste er einfach, dass das Wesen sich nicht zwingend hätte materialisieren müssen. Aber es hatte genau das getan...

"Mamoru! Pass auf!", kreischte Hikari. Diese Worte rissen ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf und sah wieder die langen, braunen Krallen des Dämons auf sich zurasen.

"Jetzt bist Du fällig!", fauchte das Monster freudig.

Mamoru machte einen gewaltigen Satz zur Seite, doch genau das schien das Monster einkalkuliert zu haben. Seine Krallen zielten weiterhin auf Mamoru. Nun konnte er nicht mehr ausweichen, das war sicher! Dennoch blieb das Gefühl, durchbohrt zu werden, aus. Als Mamoru ungläubig seinen Blick hob, sah er auch, warum: Die Schattenkreatur war kurzerhand hinabgesegelt, hatte die verfaulenden, knochigen Arme des Dämons ergriffen und sie schlicht und ergreifend herausgerissen, und das mit einer Leichtigkeit, mit der man einen trockenen, dünnen Ast zerbrechen mochte. Das Geräusch, das dabei entstand, klang auch ganz ähnlich. Die abgestorbenen Arme rieselten als schwarzer Staub zur Erde oder wurden vom Wind verweht.

Für Jedyte war das die Chance. Er sammelte seine Energien für einen großen Angriff auf die Schattenkreatur. Mamoru sah dies durch das Wesen hindurch. Ohne langes Fackeln ergriff er einen der Steine, die gerade noch aus dem Mauerwerk gefallen waren und schleuderte ihn Jedyte entgegen.

Dieser guckte nur verblüfft.

"Was denn, ein Stein???"

Und schon knallte ihm das Geschoss ins Gesicht, was dazu führte, dass seine gesammelten Energien ins Leere gingen und dort verpufften.

"Mit so einem primitiven Angriffsmittel hast Du wohl nicht gerechnet, was?", freute sich Mamoru. "Erst den Breiten markieren und dann nicht mal mit nem Steinchen fertig werden! Pah!"

Dann sah er die Schattenkreatur an, die inzwischen vor ihm gelandet war und ihn aus leeren, schwarzen Augen ansah. Sie nickte ihm zu. Mamoru lächelte.

"Ich bedanke mich auch bei Dir für Deine Hilfe. Aber jetzt sollten wir endlich einen Weg finden, diese Dreckskerle loszuwerden, was?"

Das dunkle Ding nickte erneut.

Während der Dämon damit beschäftigt war, seine Arme wieder nachwachsen zu lassen, und Jedyte auf dem Boden lag, sich die blutige Nase zuhielt und dabei herumfluchte, ging die Schattenkreatur auf Hikari zu, die nicht so recht wusste, was sie von diesem eigenartigen Bund zwischen ihrem Lover und einem durchsichtigen Nebelwesen halten sollte. Sie entschied sich anscheinend dafür, das Ganze nicht gut zu heißen.

"Hau bloß ab, Du ... Du ... unförmiges Etwas! Komm mir bloß nicht zu nahe! Mamoru! Beschütz mich doch vor diesem Ding!"

Doch noch ehe Mamoru auch nur einen Piepton hätte von sich geben können, hatte die Schattenkreatur Hikari bereits am Hals gepackt und begann damit, ihr die Energie zu entnehmen. Man konnte regelrecht sehen, wie das Wesen eine Art schwarzer Aura aufbaute, und somit richtiggehend das Leben aus dem Körper des Mädchens sog.

"Was tust Du?", schnappte Mamoru entsetzt. "Hör sofort auf damit!"

Er schnellte vorwärts und eilte auf die beiden zu, als sich unmittelbar vor ihm etwas Braunes in die Mauer bohrte und ihm so den Weg verwehrte. Der Dämon hatte sich inzwischen regeneriert, und auch Jedyte war wieder auf den Beinen.

"Glaubst Du etwa, ich würde Dir das einfach so durchgehen lassen?", fauchte er. Eine dunkelrote Blutspur zog sich durch sein Gesicht. Mit finsterem Blick baute er sich vor Mamoru auf.

"Aber", stotterte dieser. "...aber ... aber ich muss doch..."

Er warf einen gehetzten Blick auf das Schattenwesen, das wie zur Salzsäule erstarrt dastand und immer noch damit fortfuhr, Hikari die kostbare Lebensenergie auszusaugen. Es hatte Mamoru den Rücken zugewandt und in dieser Pose erweckte es irgendwie den Anschein, als würde es sich plötzlich überhaupt nicht mehr für den Herrn der Erde interessieren.

"Gar nichts musst Du!", donnerte Jedyte zornig. "Du musst nur eines: Sterben! Und mach Dir wegen Deinem kleinen schwarzen Helfer da keinen Kopf - ich werde ihn Dir ins Jenseits nachschicken. Los geht's, Noctas! Zeig dem Kleinen da den Weg direkt in die Hölle!"

"Nichts lieber als das!", kreischte der Dämon und stürzte sich mit vorgereckten Krallen auf Mamoru.

"Nein, danke!", rief Mamoru und stellte sich in Kampfposition. "Die Hölle kenne ich schon - ich bin immerhin bei Tante Kioku aufgewachsen!"

Und als das Monster nahe genug heran war, machte er einen gewaltigen Satz in die Luft und drosch mit einem kraftvollen Fersenkick auf den Kopf des Gegners ein. Ein seltsames Geräusch entstand; erst ein leises Knacken, dann ein Laut, als ob uraltes Papier zerreißen würde. Der Schädel des Dämons sah ziemlich ramponiert aus, als Mamoru seinen Fuß wieder herauszog. Doch anscheinend war das Monster schon zu lange tot, als dass es den Schmerz zu spüren vermocht hätte. Es schwankte einen Moment und musste erst wieder sein Gleichgewicht finden. Doch Mamoru gab ihm dafür keine Zeit. Er holte erneut Schwung, machte eine Dreihundertsechziggraddrehung, und knallte seinem untoten Gegenüber die Fußkante vor die Brust. Nach einem weiteren knackenden Geräusch befand sich ein ziemlich unansehnliches, hohles, staubiges Loch in den Rippen des Dämons.

Trotz dieser kleinen Erfolge war es Mamoru durchaus bewusst, dass er so nicht ewig weiter machen konnte. Hikari hatte kaum noch Energie in ihrem Körper, das konnte er spüren. Und auch, wenn er den Dämon zurückhalten konnte, so würde das auch bald nicht mehr klappen, denn der Herr der Erde fühlte, wie die Wunden und der Energieverlust an seinem Leib nagten. Und dieser Dämon regenerierte sich einfach immer wieder neu. Schon bald würde Mamoru die Puste ausgehen - und dann?

<Ich kann wohl doch nicht mehr weiter auf die Hilfe des Schattenwesens vertrauen. Keine Ahnung, warum es mich vorhin beschützt hat; jetzt jedenfalls scheine ich ihm vollkommen egal zu sein! ...Gut. Trotz der Warnung, die ich vorhin von der Frau aus meinen Träumen gehört habe, gibt es nun nur noch einen Weg: den Goldenen Kristall! Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Ich muss meine Feinde mit einem einzigen, mächtigen Schlag besiegen!>

"MACHT DES GOLDENEN KRISTALLS!!!"

Erst jetzt ruckte der Kopf des Schattenwesens herum. Es beobachtete den Herrn der Erde dabei, wie der ein gleißendes, goldenes Licht vor seiner Brust erscheinen ließ und es mit ausgestreckten Armen in die Höhe hielt; zum Angriff bereit. Es ließ das bewusstlose Mädchen achtlos zu Boden fallen, um sich in der selben Bewegung herumzudrehen, seine Schwingen auszubreiten und in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit auf Mamoru zuzurasen. Noch ehe Hikari den harten Asphalt auch nur berührte, hatte die Schattenkreatur bereits den Herrn der Erde ergriffen und in die Lüfte mitgerissen.

"Hey, was soll das?", rief Mamoru empört aus, als er endlich begriffen hatte, was da mit ihm geschah. Das Schattenwesen war bereits mehrere Meter über die umliegenden Hausdächer hinausgeschossen und hatte dabei noch kein Stück seiner Geschwindigkeit verloren. "Lass mich los, ich muss zurück! Was erlaubst Du Dir überhaupt??? Wer oder was bist Du, und was hast Du mit mir vor? Entscheide Dich endlich mal, ob Du für oder gegen mich bist! ... Nun sag doch irgendwas!"

Einige Straßen weiter, in einer schmuddeligen, düsteren Ecke setzte das Schattenwesen ihn ab und starrte ihn wieder mit diesem ausdruckslosen Gesicht an. Es schien wieder wie eine Statue erstarrt zu sein, nur dann und wann bewegte sich etwas an seinem Kopf, das man für einen Tentakel halten mochte.

Mamoru sah sein ungewöhnliches Gegenüber argwöhnisch an und hielt den Goldenen Kristall fest in seiner rechten Hand, die leicht zitterte; teils der Anstrengung und der Aufregung halber, teils wegen der Unsicherheit gegenüber diesem schwarzen Ding, und nicht zuletzt aufgrund des hohen Energieverlustes des bisherigen Tages. Er hatte absolut keine Ahnung, wie er reagieren sollte. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, was dieses Ding mit ihm anstellen wollte. Doch eines wurde ihm allmählich klar: Dieses Wesen konnte oder wollte nicht die menschliche Sprache benutzen.

Also, was tun?

Einen weiteren Moment standen sich die beiden reglos gegenüber. Dann, nach scheinbar endlosen Sekunden, streckte das Wesen seine durchsichtige, wie aus purer Dunkelheit geformte Hand aus und hielt sie dem Jungen entgegen.

"Was? Was ist denn? Was willst Du?", fragte Mamoru. Als Antwort darauf wies die Kreatur auf den Goldenen Kristall.

"Oh, nein, Kumpel. Vergiss es. Ein Mal und nie wieder, Danke! Ich verzichte!"

Doch anscheinend gefiel der Schattengestalt nicht, was er da von sich gab. Sie griff trotz heftiger Proteste nach dem Goldenen Kristall und nahm seine Energie an sich, bis Mamoru bewusstlos zusammenbrach. Daraufhin verschwand das Ding spurlos.
 

Als Mamoru wieder zu sich kam, wusste er sich zunächst gar nicht zurecht zu finden. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er sich auf dem Dach eines der Häuser befand, die um die enge Gasse gruppiert waren, in der Jedyte und Noctas standen und einen skeptischen Blick auf das Schattenwesen warfen, das ihnen gegenüber stand und dort reglos verharrte. Zwischen den beiden verfeindeten Parteien lag die bewusstlose Hikari. Von seiner Position aus konnte Mamoru nicht feststellen, ob sie überhaupt noch lebte.

"Verflucht", murmelte er vor sich hin und ballte die Hand zur Faust. "So kann ich ihr nicht helfen, aber was soll ich bloß tun? Mich da unten einmischen? Oder irgendwie Hikari schnappen und verschwinden? Aber wie? ...Wie bin ich überhaupt hier herauf gekommen?"

Und als er an sich herunter sah, bemerkte er noch etwas Verwunderliches: Er stellte erst jetzt fest, dass er wieder den schwarzen Anzug trug, den er schon angehabt hatte, als er die Spieluhr fand. Der Gehstock, Der Zylinder, die weiße Maske, der Umhang, der außen schwarz und innen rot war, all das war wieder aufgetaucht.

"Oh", machte er. "Ich weiß nicht so ganz, was ich davon halten soll."

Doch wundern konnte er sich später. Jetzt war erst mal wichtig, Hikari in Sicherheit zu bringen.

<Keine Aufmerksamkeit erregen ... nicht in den Kampf einmischen ... verdeckt operieren und dann schleunigst abhauen!>, ging es ihm durch den Kopf. Er beobachtete, wie das Schattenwesen seine Schwingen ausbreitete und wie ein Pfeil auf Jedyte und Noctas zuschoss. Bei diesem Anblick durchzuckte ihn ein merkwürdiges Gefühl. Trotz seiner Vorsätze drängte es ihn irgendwie danach, doch in diesem Kampf mitzuwirken. Dann wurde ihm mit einem Mal unheimlich schwindlig und seine Beine gaben unter seinem Gewicht nach...
 

Kaum machte er wieder die Augen auf, da spürte er eine heftige Erschütterung. Unsanft prallte sein Rücken von einer Hauswand ab. Er sah etwas Braunes auf sich zurasen und konnte gerade noch rechtzeitig seinen Gehstock hochreißen, um die scharfen Krallen des Dämons abzuwehren.

Er hatte keine Ahnung, was er nun schon wieder verbockt hatte. Er hatte nur einen gewaltigen Filmriss. Wieso legte er sich nun doch mit diesem Biest an? Was war nur geschehen?

"Tja, Sailorkrieger", lachte Jedyte im Hintergrund siegesgewiss vor sich hin, "man sollte sich eben nicht mit dem Königreich des Dunkeln anlegen! Der Preis, den man dafür bezahlt, ist hoch - denn es kostet das Leben!"

<Sailorkrieger? Was meint er?>

Mamoru war der Verzweiflung nahe. Er wusste ja nicht einmal zu sagen, wie lange dieser Kampf schon andauerte. Er wusste auch nicht, wie lange er noch durchhalten konnte, oder wo die Schattenkreatur auf einmal geblieben war, oder ob Hikari noch lebte. Er wusste gar nichts.

Im letzten Moment parierte er einen weiteren Angriff der untoten Krallen. Er sollte mit seinen Gedanken wirklich im Hier und Jetzt bleiben, stellte er stumm fest.

<Aber wie soll ich noch länger gegen so starke Gegner bestehen? Mir geht so langsam schon wieder die Puste aus!>

Er schlug die Arme des Dämons mit seinem Spazierstock zur Seite und hieb mit der Faust und aller Kraft auf den Schädel des Monsters ein.

<Ein Spazierstock!!! Was soll denn das für ein Held sein, der seine Feinde mit einem Spazierstock erledigt???>

Doch keine Zeit zum Aufregen. Noctas verlängerte wieder seine Arme und wollte Mamoru damit umschlingen; wahrscheinlich um ihn so zu Tode zu quetschen. Der Krieger der Erde allerdings duckte sich geschickt unter dem Angriff hindurch und hechtete in Sicherheit. Kaum hatte er wieder sicheren Boden unter den Füßen, da sah er auch schon, wie die spröden, abgestorbenen Arme ebenfalls ihren Kurs gewechselt hatten und nun geradewegs auf ihn zusteuerten. Um sich zu retten legte Mamoru seine ganze Kraft in seine Beine und stieß sich vom Boden ab. Das Ergebnis war überwältigend: Er segelte mehrere Meter durch die Luft und kam weit von den Krallen des Dämons entfernt wieder auf.

"Wow", machte er verblüfft. "Voll cool. Nie wieder schlechte Noten in Sport!"

Dann wurde er überrascht von einer urplötzlich auftauchenden Bewegung, die er gerade noch im Augenwinkel wahrnahm. Eher reflexartig als gewollt riss er seinen Arm in die Höhe, der noch immer den Spazierstock führte. Etwas Eigenartiges geschah: Der Stab wurde blitzschnell länger und immer länger - und genau in dem Moment, als die Spitze des Stabes sich in Jedytes Magengrube bohrte, erreichten die schwarzen Blitze des Generals Mamoru. Beide wurden zurückgeschleudert. Der Herr der Erde ließ seinen Stock achtlos fallen, umschlang seinen Körper mit seinen Armen und wand sich in grässlichen Krämpfen. Der Schmerz ließ nur einen Augenblick später nach, doch die Zeit reichte gerade für einen neuen Angriff von Noctas. Er verkrallte seine knochigen Finger in den Oberarmen des Jungen und zog ihn nah an sich heran. Der Dämon öffnete grinsend sein Maul und zeigte scharfkantige Reißzähne, die nicht halb so verfallen und brüchig wirkten wie der Rest des verdorrenden Körpers. Er ließ seinen Unterkiefer herunterklappen; bereit, Mamorus Halsschlagader mit einem gezielten Biss zu kappen.

"Nein! Lass mich los, Du Untier!", brüllte er und trat mit den Füßen um sich, doch dem verwesenden Körper machte das gar nichts aus.

"Ein tragisches Ende, was?", meinte Jedyte keuchend, während er sich wieder auf die Beine arbeitete. "Wie es einem Sailorkrieger gebührt. Tja, Du hattest wohl keine Zeit für eine sonderlich steile Karriere, stimmt's? Und egal, wie viele es von euch noch so gibt, ich werde sie alle aufspüren und vernichten, darauf kannst Du Gift schlucken."

"Warum schluckst Du das Gift nicht?", fauchte Mamoru und stemmte sich mit aller Kraft gegen Noctas.

"Nett, wirklich nett!", lachte Jedyte. "Ich mag es, wenn Feinde selbst im Angesicht des Todes noch Humor haben! Doch nun ... sag Adieu! Noctas, erledige ihn!"

Der Dämon näherte seine rasiermesserscharfen Reißzähne an den zappelnden Mamoru an.

Trotz - oder eher: gerade wegen - seiner verzweifelten Situation nahm er seine Umgebung sehr viel deutlicher wahr, als normal gewesen wäre. Alle Abläufe um ihn herum schienen auf einmal sehr viel langsamer vonstatten zu gehen als sonst; nicht eine einzige Bewegung entging ihm, als sein Gehirn im Angesicht des Todes auf volle Leistung schaltete und alles übermäßig kleinlich nach einer möglichen Überlebenschance absuchte. So war auch er derjenige, der den heranjagenden Schatten als erster sah. Die dunkle Kreatur preschte mit ausgebreiteten Flügeln an Mamoru und seinem Gegner vorbei, segelte blitzschnell auf Jedyte zu und reckte ihm noch im Flug die Krallen entgegen, um ihn wie Schaschlik aufzuspießen. Der Prinz des fernen Ostens empfing seinen Feind mit einem gellenden Schreckensschrei, der den Dämon Noctas noch einmal in seinem Tun zögern ließ. Mamoru nutzte das kurze Zaudern, sammelte erneut seine ganzen Energien, stemmte sich mit den Beinen gegen seinen Gegner und riss ihm dann in einer gewaltigen Anstrengung die Arme heraus. Soviel Ausdauer dieses Monster auch hatte - es besaß nichtsdestotrotz nur die Verteidigungskraft eines Kartenhauses mitten in einem gigantischen Orkan.

Der Herr der Erde befreite sich so aus dem Griff des Dämons, torkelte einige Schritte zurück, bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte und warf dann einen kurzen, prüfenden Blick auf Jedyte und das Schattenwesen. Die beiden Kontrahenten schenkten sich nichts. Die dunkle Kreatur hatte Jedyte auf dem Boden festgenagelt und donnerte wutentbrannt mit scharfen Krallen auf den General ein, der anscheinend in aller Hast eine Art energetisches Schutzschild um sich errichtete und nun alle Mühe hatte, diesen Schutz aufrecht zu halten. Währenddessen stand sein Diener nur untätig in der Gegend herum, ließ seine Arme nachwachsen, sah dem Treiben zu und überlegte sich wahrscheinlich, ob es nun wichtiger sei, den Auftrag von vorhin auszuführen, oder dem Meister im Kampf zur Seite zu stehen. Doch sein verdorrtes Gehirn war ganz offensichtlich nicht gerade das schnellste.

Mamoru derweil drehte dem Kampfgeschehen seinen Rücken zu und eilte zu Hikari, um sie zu untersuchen. Sie atmete nur sehr flach und ihr Puls ging unregelmäßig. Nur ganz kurz zögerte Mamoru noch und warf einen Blick auf das Kampffeld. Er hatte die Wahl. Er konnte seine Freundin schnappen und mit ihr schnellstmöglich verschwinden, oder aber er konnte seine Chance nutzen und seine Feinde vernichten, jetzt, da sie geschwächt wirkten und das Schattenwesen offenbar ebenso gegen sie zu sein schien.

Der Feind Deines Feindes ist Dein Freund, so lautete ein altes Sprichwort.

Mit einem Schlag war es Mamoru klar: Er konnte seine beiden Gegner nur besiegen, wenn er mit der Schattenkreatur zusammen arbeitete!

"Los geht's!", rief er und eilte auf das dunkle Wesen und den General zu. Im Laufen griff er seinen scheinbar verzauberten Gehstock wieder auf, der die ganze Zeit über herrenlos auf dem Boden gelegen hatte. Das Wesen sah ihn etwas ungläubig an, wie der Krieger der Erde neben ihm auftauchte, Jedyte seinen Stab entgegenstreckte und brüllte:

"Auf drei!"

Und dann verstand es.

Es erhob seine Krallen weit über seinen Kopf.

"Bereit?", schrie Mamoru. "Eins, zwei..."

"Was habt ihr vor?", keuchte Jedyte. "Verdammt, was soll das werden, wenn's fertig ist?"

"DREI!"

Das Dunkelwesen schlug zur gleichen Zeit mit seinen Klauen auf das Schutzfeld des Generals ein, wie Mamoru seinen Stock in die Barriere einrammte.

"ZU - GLEICH!", gab Mamoru den Takt an, und etwa zu jeder Sekunde griffen er und sein ungewöhnlicher neuer Partner das Schutzfeld an.

"ZU - GLEICH!"

Und immer wieder...

"ZU - GLEICH!!!"

Wo Jedyte den unkontrollierten und wutentbrannten Angriffen eines einzelnen Gegners noch standhalten konnte, da war er den gezielten Schlägen der nun vereinten Feinde nicht mehr gewachsen.

"Noctas! Verdammt, tu endlich was!", fuhr er seinen verblödeten, halb verwesten Diener an.

Da endlich erwachte der Dämon aus seiner Denkerpose. Seine schlanken, verlängerten Arme wand er um Mamorus Leib und zog ihn so zurück. Der junge Krieger stemmte sich gegen den plötzlichen Zug, und mit einem letzten "ZU - GLEICH!!!" donnerten er und das Schattenwesen auf das berstende Energiefeld des Generals aus dem Königreich des Dunklen ein. Noch während Mamoru erbarmungslos zurückgezogen und dabei halb zerquetscht wurde, attackierten sich Jedyte und die dunkle Kreatur wieder gegenseitig. Von der Verzweiflung gepackt schoss der Prinz des fernen Ostens auf gut Glück eine Energieattacke ab, was eine kleine Explosion zur Folge hatte. Die beiden Gegner wurden in verschiedene Richtungen davongeschleudert.

Derweil krallte Mamoru seine Finger in die Arme des Dämons und versuchte mit aller Kraft, seinen Körper aus der tödlichen Umarmung zu befreien - doch vergeblich. Der Herr der Erde hatte seine gesamte Kraft schon aufgebraucht. So sehr er auch die Zähne zusammen biss, so sehr er sich auch anstrengte, so sehr er auch herumstrampelte - es nutzte ihm nichts mehr. Und der Druck um seine Leibesmitte nahm beständig zu. Allmählich wurde ihm schwindelig vor Pein. Er keuchte schwer. Das Luftholen wurde mehr und mehr zur Quälerei. Dunkle Flecken tanzten vor seinem Gesichtsfeld umher. Doch irgendwann wurde es ihm egal. Seine Muskeln erschlafften. Zufrieden lächelnd dachte er nur noch:

<Zumindest habe ich Dir gezeigt, wo's langgeht, Jedyte, Du Drecksack.>

Er glaubte sogar, schon so langsam seinen Beckenknochen und seine Rippen knirschen zu hören. Doch eine eigenartige Ruhe kam über seinen Körper. Der Schmerz verebbte allmählich. Sein Blick verschwamm mehr und mehr. Er nahm seine Umgebung nur noch wie ein unbeteiligter Außenstehender wahr, und beobachtete so, wie die Schattenkreatur weiter gegen Jedyte kämpfte.

Das dunkle Wesen wich gerade einem schwarzen Blitz aus, indem es seine Schwingen ausbreitete, einen gewaltigen Satz in die Luft machte, und einige Meter hinter Noctas wieder auf dem Boden aufkam.

"Aber diesmal erwische ich Dich!", grölte der blonde General. Er zielte mit seinem schwarzen Blitz direkt auf das Schattenwesen, und auch, als es einen Schritt zur Seite tat, folgte er der Bewegung - und schoss damit einen von Noctas' Armen ab. Mit einem kraftlosen Ächzen kam der Herr der Erde auf dem Boden auf und blieb dort liegen; unfähig, sich zu rühren.

"Du Schwein!", jaulte Jedyte seinen dunklen Gegner an. "Mich zu benutzen, um meinen eigenen Untergebenen anzugreifen - das ist ja wohl die Höhe! Das wirst Du büßen, Du Biest! Ich mach Dich fertig! Dich, und vorher noch den Bengel da!"

Sein Zorn steigerte sich ins Unermessliche und gab ihm die Kraft für einen gewaltigen Angriff.

<Das war's>, stellte Mamoru am Rande der Bewusstlosigkeit fest. Nun, wo er wieder Luft bekam, strömten allmählich auch die Schmerzen wieder in seinen Körper zurück, um ihm unmissverständlich zu zeigen, dass er sehr wohl noch am Leben war. Im Anbetracht der Tatsachen war er das allerdings nicht mehr lange.

Jedytes Handinnenfläche leuchtete gleißendhell auf, materialisierte dann eine kleine, grünlich leuchtende Kugel und schoss diese auf den Herrn der Erde ab.

Er erkannte seinen Fehler erst, als es schon zu spät war.

Die Schattenkreatur machte nur einen kleinen Schritt nach vorne, packte den Dämon, und schleuderte ihn Jedyte entgegen. Noctas wurde von der Attacke seines eigenen Generals vernichtet.

Während Jedyte noch Zeter und Mordio schrie, reckte ihm die Schattengestalt die rechte Hand entgegen (sofern man dieses krallenbewährte Etwas überhaupt als Hand bezeichnen konnte). Um das Handgelenk materialisierte sich in kürzester Zeit ein silbrig glänzendes Ding, das man mit viel Fantasie für einen Handschuh halten konnte. Es sah allerdings eher so aus, als hätten sich Rosenranken um den Unterarm und die Hand gewunden, die durch einen Zauber zu Silber erstarrt waren.

Die Schattenkreatur hielt Jedyte die Handinnenfläche entgegen, und die Fingerspitzen begannen allmählich in grünen und blauen Lichtern zu glühen.

"Das ... das ist ... das ist doch...", stammelte der Prinz aus dem Königreich des Dunklen, als er das metallene Etwas sah.

Je mehr Energie das Wesen zur Attacke sammelte, umso heller leuchtete das silberne Ding, und umso mehr wurde auch der eigentliche, schattenhafte Körper erleuchtet. Das, was vom Kopf der Kreatur herunterhing, und das Mamoru bisher für Tentakel gehalten hatte, schien nun im Glanz der Energie einen metallischen Schimmer anzunehmen, der an Silber oder vielleicht auch an Gold erinnern mochte; je nachdem, in welchem Winkel man es ansah.

Im Zentrum zwischen den glühenden Fingern materialisierte sich eine energiegeladene Kugel von hellblauer Farbe, die von grünlichen Schimmern durchzogen wurde, und ganz langsam wuchs diese Kugel heran.

"Nein, das kann nicht sein!", rief Jedyte aus. Sein Gesicht war nun schneeweiß. Ängstlich wich er Schritt um Schritt zurück. "Du? Du bist das? Jetzt erkenne ich Dich erst! Aber das ist völlig unmöglich! Wie hast Du...?"

Er stockte. Sein ganzer Körper zitterte wie Espenlaub. Er ballte seine Hände zu Fäusten. Dann schien er sich wieder gefasst zu haben. Er warf seinem Gegenüber einen finsteren Blick zu.

"Ich komme wieder!", versprach er. Dann ließ er über seinem Kopf ein tiefschwarzes Loch im Raumgefüge entstehen, durch das er verschwand. Der Durchgang verschwand mit ihm.

Die helle Lichtkugel der Schattenkreatur wurde wieder kleiner, und bald war auch sie, zusammen mit dem silbernen Handschuh, im Nichts verschwunden.

Das schwarze Wesen stand wieder wie zur Statue erstarrt da und rührte sich nicht. Mamoru nutzte diese Zeit, um wieder einigermaßen zu Atem zu kommen. Er hatte sich inzwischen auf den Rücken gedreht und stöhnte unter den Schmerzen, die unentwegt durch seinen Körper zuckten. Er war absolut nicht mehr dazu in der Lage, seine heilenden Fähigkeiten einzusetzen. Im Gegenteil: Er hatte schon zur Genüge damit zu kämpfen, wach zu bleiben. Alles in seinem Kopf drehte sich wie irr. Er konnte nicht einmal genau sagen, was ihm alles wehtat. Es gab keinen Nerv in seinem Körper, der keine Schmerzsignale aussendete.

Noctas war besiegt. Jedyte war zurückgeschlagen. Das schwarze Wesen machte keine Anstalten, Mamoru jetzt noch schnell zu töten. ...Noch nicht.

So gesehen war es ein Sieg.

Aber was für einer?

Die Kreatur konnte ihre Meinung jede Sekunde ändern, Jedyte würde später wieder kommen, vielleicht sogar mit einer ganzen Armee von Untoten, Hikari war möglicherweise gar nicht mehr am Leben, und Mamoru selbst hatte sich womöglich schwere Verletzungen zugezogen. Vielleicht sogar bleibende Schäden?

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das dunkle Wesen, denn es war wieder aus seiner Erstarrung erwacht und trat mit langsamen Schritten auf den Herrn der Erde zu und blieb direkt neben ihm stehen, um ihn anzustarren.

Es war zwar immer noch in seiner düsteren Schattenform, doch etwas schien sich leicht geändert zu haben. Mamoru hatte den Eindruck, als sei sein Körper etwas ... fester geworden. Man konnte die Finsternis nicht mehr ganz so leicht mit den Augen durchdringen.

Nun, wo das Schattenwesen an Dichte und Materie zugenommen zu haben schien, konnte man deutlichere Konturen seines Körpers erkennen. Sein Leib war in diesem Zustand etwas mehr dazu in der Lage, Licht zu reflektieren und auf der anderen Seite Schatten zu werfen, was es für einen Betrachter leichter machte, ein dreidimensionales Gefüge zu erkennen. Und was Mamoru so allmählich erkennen konnte, waren die leichten Andeutungen von sanften Gesichtszügen. Nun wusste er definitiv zu sagen, dass der lebende Schatten in seine Richtung starrte.

"Na, was hast Du jetzt wohl mit mir vor?", wisperte Mamoru. "Willst Du jetzt endgültig einen Schlussstrich ziehen?"

Das Ding gab keine Antwort. Stattdessen kniete es zum Krieger der Erde nieder und verharrte wieder einige Sekunden lang regungslos. Daraufhin ergriff es Mamorus Hand.

"Ja, leg schon los", keuchte der Junge. "Erlös mich endlich, dann hab ich die ganze Scheiße hinter mir."

Er spürte das Fließen von Energie. Seine Glieder wurden schwerer und schwerer. Die Müdigkeit nahm immer weiter zu. Die Schmerzen wichen allmählich einem sanften Pochen. Sein Atem beruhigte sich zusehends. Sein Herz schlug immer ruhiger und gleichmäßiger. Der Drang, die Augen zu schließen und in Vergessenheit zu sinken, wuchs ins Unermessliche. Bald konnte er nicht mehr widerstehen. Die sanfte, schwere Müdigkeit, gepaart mit totaler Gleichgültigkeit, vernebelte sein Gehirn.

Dann umfing ihn die Schwärze.
 

Mit der vagen Erinnerung an eine Frauenstimme, die etwas von einem Silberkristall erzählte, schlug er die Augen wieder auf. Über ihm erstrahlte der sternenbesetzte Nachthimmel, nur von einigen Häuserwänden und -dächern umgrenzt. Die kühle Luft strich sanft durch sein Haar. Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und rieb sich die letzten Reste der Benommenheit aus den Augen. Dabei stellte er fest, dass er wieder seine normalen Klamotten anhatte. Wo der schwarze Anzug auf einmal abgeblieben war, das konnte er sich - mal wieder - nicht erklären.

Er fühlte sich unendlich müde und abgekämpft - doch er war nicht tot.

Aber was war geschehen?

Er setzte sich auf und sah sich um. Sein Blick fiel auf Hikari, die in einigen Metern Entfernung auf dem harten Asphalt lag und sich nicht rührte. Ansonsten befanden sich in dieser engen Gasse nur einige lose Steine aus dem zertrümmerten Mauerwerk, etliche Schatten und noch mehr Dunkelheit. Das spärliche Licht der Straßenlaterne reichte nicht mehr bis in die hintersten Ecken.

Unter großer Anstrengung richtete Mamoru sich auf. Anscheinend hatte er sich doch nichts gebrochen, aber dennoch bemerkte er ein unangenehmes Ziehen, dass sich in seinem Rüchen und in den Rippen ausbreitete. Er war müde, so schrecklich müde. Halb stolpernd, halb kriechend schleppte er seinen plötzlich viel zu schwer anmutenden Körper zu Hikari hinüber, dort ließ er sich schnaufend nieder und untersuchte sie vorsichtig.

Sie lebte. Doch so sehr er sie auch rüttelte und ihren Namen sagte, sie wachte nicht auf. Sie war auch völlig unterkühlt. Eiskalter, klebriger Schweiß lag in etlichen, winzigen Perlen auf ihrem Gesicht und war teilweise schon eingetrocknet.

Erst jetzt wurde es Mamoru bewusst, dass auch ihm sehr kalt war. Er fror erbärmlich und versuchte, seinen Körper durch Zittern wieder etwas aufzuwärmen. Er musste Hilfe holen, sofort! Doch was sollte er tun?

Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es kurz nach zwei Uhr Morgens war. Er mochte vielleicht zwei oder drei Stunden lang geschlafen haben.

Als er seinen Blick wieder hob und instinktiv über die düstere Gasse schweifen ließ, da sah er es. Das Wesen stand in seiner bewegungslosen Haltung da und starrte dem Herren der Erde entgegen. Wahrscheinlich hatte es sich in den Schutz der Dunkelheit verzogen und dort auf das Erwachen des Jungen gewartet. Und das auch noch stundenlang. Wozu?

Mamoru zog die Nase hoch. Er brauchte seine Taschen gar nicht erst zu durchsuchen; er wusste, dass er kein Taschentuch bei sich trug. Wahrscheinlich würde er die nächsten paar Tage mit einer Grippe oder zumindest mit einer Erkältung im Bett liegen. Doch bei diesen Temperaturen konnte man nichts anderes erwarten.

Er zögerte. Er hatte nicht den blassesten Schimmer davon, wie er jetzt handeln sollte. Er hatte nur die Ahnung, dass das Wesen irgendwas von ihm wollte; und ohne seine Einwilligung würde Mamoru diesen Ort nicht verlassen können.

Er wies mit der Hand auf Hikari. "Kannst Du ihr helfen?"

Das Wesen regte sich nicht. Einige Sekunden stand es bewegungslos da, als hätte es die Frage nicht verstanden. Dann endlich schüttelte es den Kopf.

"Hast Du dann was dagegen, wenn ich loslaufe und Hilfe organisiere?"

Die dunkle Kreatur legte zuerst den Kopf schief. Dann streckte es die Hand aus, mit der Handinnenfläche nach unten, und bewegte die Hand sachte auf und ab. Mamoru deutete dies als eine Geste, die soviel bedeuten sollte wie <bleib ruhig; warte; bleib an diesem Ort>. Mit anderen Worten: Ja, hab was dagegen.

Der Junge seufzte. "Sie wird sterben, wenn ich nichts unternehme. Und mir wäre es lieber, wenn auch ich es etwas wärmer hätte."

Der Schatten nickte. Er verstand das. Dennoch machte er keine Gesten, die zu verstehen gegeben hätten, Mamoru dürfe jetzt gehen.

"Was ist passiert, nachdem Du mich weggebracht hast ... bevor ich mitten im Kampf aufgewacht bin?"

Das Ding hob die Schultern und schüttelte den Kopf. Anscheinend waren diese Umstände zu schwierig zu erklären und die Körpersprache allein reichte nicht aus. Mamoru musste sich also auf Ja-Nein-Fragen beschränken.

"Ich war sehr geschwächt, weil ich vor dem Kampf diesem Mann geholfen habe, der wahrscheinlich immer noch da draußen irgendwo rumliegt. Dennoch war ich zum Kampf wieder gestärkt. Habe ich die Kraft zum Kämpfen von Dir bekommen?"

Es nickte bejahend.

"Warum? So, wie Du gekämpft hast, schätze ich mal, Du hättest meine Unterstützung nicht nötig gehabt."

Die Kreatur wandte sich um und wies mit ausgestrecktem Arm auf eine bestimmte Stelle am Boden. Das war genau der Platz gewesen, wo zuvor Jedyte gelegen hatte, und wo Mamoru und das Schattenwesen Seite an Seite gekämpft hatten, um sein Schutzschild zu durchbrechen.

"Oh", machte der Herr der Erde. "Du denkst, Du hättest es alleine doch nicht geschafft?"

Er dachte kurz darüber nach. Er kam jedoch zu keinem nennenswerten Ergebnis. Also stellte er die nächste offene Frage:

"Hast Du etwas damit zu tun gehabt, dass ich diesen schwarzen Anzug getragen habe? Dass ich zum ... wie hat Jedyte mich genannt? ... zum Sailorkrieger wurde?"

Die Schattengestalt wog ihren Kopf hin und her, als überlege sie eine Antwort. Nach einigen Sekunden der Unsicherheit machte sie eine fahrige Bewegung mit der Hand, aus der Mamoru nicht wirklich schlau wurde.

"Aha", machte er trotzdem. Er seufzte schwer und zog wieder seine Nase hoch.

"Was geschieht nur mit mir?", stöhnte er und begann wieder etwas stärker zu zittern. Die Kälte machte ihm ganz schön zu schaffen.

"Ich schätze, es gibt nun nur noch einige Fragen, die Du mir so nicht beantworten kannst. So Sachen wie: Wieso kann ich mich nicht mehr an den Anfang des Kampfes erinnern? Wer oder was genau waren Jedyte und sein Diener? Wieso muss ausgerechnet ich das alles erleben? Wieso habe ich die Stimme der Frau aus meinen Träumen gehört, die mich davor gewarnt hat, den Goldenen Kristall einzusetzen? Wer oder was bist Du? Und wovor genau hat sich Jedyte vorhin so sehr erschrocken?"

Die Schattenkreatur stand wieder wie erstarrt da und sah ihr Gegenüber aus tiefschwarzen Augen an. Erst jetzt fiel Mamoru auf, dass das Wesen sich im Vergleich zu vorhin wieder ein Stück verändert hatte. Wo es vor einigen Stunden noch irgendwie dunkler und fester erschienen war, da hatte Mamoru jetzt den Eindruck, als habe das Wesen wieder an Festigkeit verloren. Es war leichter, durch den schattenhaften Körper hindurchzusehen und zugleich war es schwerer, Details der Silhouette oder einzelne Körperteile auszumachen.

In Mamoru keimte eine Ahnung auf.

"Vorhin beim Kampf, da hast Du Dir Hikaris Energie einverleibt", erläuterte er. "Daraufhin hat Dein Körper an Dichte zugenommen. Hat das was mit einander zu tun?"

Das Wesen nickte. Seine ausdruckslosen Augen starrten den Herrn der Erde weiterhin auf eine Art und Weise an, die kaum etwas Lebendiges an sich hatte.

"Nun bist Du wieder etwas ... durchsichtiger. Das heißt dann also, Du hast ein gewaltiges Maß an Energie verloren?"

Es war zur gleichen Zeit eine Frage und eine Feststellung.

Das Wesen nickte.

"An mich?"

Wieder bewegte die Kreatur den Kopf auf und ab.

"Warum?"

Doch dies war wieder eine Frage, die das Wesen nicht beantworten konnte. Stumm und reglos stand es da; ein Schatten unter vielen.

Mamoru seufzte erneut. Dann zauberte sich ein sanftes Lächeln auf seine Lippen.

"Aus welchem Grund Du das auch immer getan hast - ich danke Dir dafür."

Das Wesen nickte ihm zu. Dann wandte es sich um. Es trat einige Schritte tiefer in die Gasse hinein. Dann verschmolz es mit der Dunkelheit und tauchte nicht mehr auf. Für Mamoru war das ein eindeutiges Zeichen dafür, dass das Gespräch beendet war. Er wurde zwar nicht wirklich schlau aus diesem Wesen, aber irgendwie konnte er auch keinen wirklichen Hass für diese Kreatur empfinden. Und das, obwohl einige Dinge geschehen waren, mit denen der Herr der Erde so ganz und gar nicht einverstanden war. Doch das stand momentan an zweiter Stelle.

Mamoru fand sehr bald den Mann, der mehr oder weniger den ganzen Trubel ausgelöst hatte. Auch er war - wie Hikari - nicht wirklich bei Besinnung, aber das lag wohl eher an dem gewaltigen Alkoholrausch, den er gerade verarbeiten musste. Dann und wann lallte der Kerl einige unverständliche Brocken und schnarchte daraufhin wieder ein paar Minuten lang.

Zuerst überlegte Mamoru ernsthaft, Hikari auf seinen Rücken zu packen und sie huckepack zum nächstbesten Telefon zu tragen, aber dazu war sein Körper doch noch viel zu geschwächt. Stattdessen schleifte er die beiden Körper - also Hikari und diesen komischen Kerl - in den Schutz der Dunkelheit dieser engen Gasse zwischen den Häusern und machte sich daraufhin alleine auf, um einen Krankenwagen zu verständigen.

Als die Ambulanz endlich auftauchte, erzählte Mamoru ihnen eine wirklich abenteuerliche Geschichte: Er und seine Freundin hätten diesen Betrunkenen gefunden, daraufhin wäre Hikari vor lauter Sorge um den armen Mann im Schock zusammengebrochen und auch Mamoru habe einen Kreislaufkoller erlitten - so was komme dann und wann schon mal vor. Die Sanitäter sahen ihn etwas skeptisch von der Seite an.

Aber mal ehrlich - die Wahrheit wäre wohl noch weniger glaubhaft gewesen, oder?

Sowohl der Fremde als auch Hikari wurden in das Krankenhaus eingeliefert und sollten da auf jeden Fall mal die Nacht verbringen - so sagte man es Mamoru zumindest. Beide wurden weiß-Gott-wohin gebracht und Näheres hatte Mamoru im Moment nichts anzugehen. Auch er wurde untersucht. Doch außer ein paar blauen Flecken, für die er auch schnell Ausreden gefunden hatte, und seiner Erkältung fand man nichts Besorgniserregendes. Das Einzige, was ihm Schwierigkeiten einbrachte, war die Tatsache, dass diese Leute vom Krankenhaus seine Tante Kioku und seinen Onkel Seigi aus dem Bett klingelten, was zur Folge hatte, dass die beiden natürlich auftauchten, sich unendliche Sorgen machten und etliche tausend Fragen stellten. Kioku benutzte ihren berühmten Satz "Die Welt da draußen ist groß und gefährlich" genau dreihundertsechsundfünfzig Mal - Mamoru hatte akribisch mitgezählt.

Und als er dann endlich wieder zu Hause und in seinem Bett war, da fand er noch nicht einmal die Zeit, über diesen einzigartigen Tag nachzudenken. Er schlief nämlich sofort ein und hörte in seinem Traum die Stimme einer Frau, die ihm immer wieder zuflüsterte, er solle den Silberkristall suchen...

Die weiße Farbe war überall; an den Wänden, auf dem Boden, an der Decke ... verdammt noch mal, selbst die Möbel waren weiß!

Mamoru fühlte sich mehr als unbehaglich in diesem kleinen Zimmer, das so schneeweiß gestrichen war, dass es blendete. Er versuchte seine Abscheu gegen diese allgegenwärtige Farbe so weit wie möglich zurückzudrängen, doch es wollte ihm nicht wirklich gelingen. Besonders, wenn draußen die Sirenen der ankommenden oder abfahrenden Wagen ertönten, wurde ihm wieder und wieder bewusst, wo er sich befand: in dem unliebsamsten Gebäude, das er sich vorstellen konnte; einem Krankenhaus.

Er hasste diesen Geruch nach Desinfektionsmitteln und Medikamenten, ebenso wie er überhaupt alles hier hasste.

Doch das nahm er auf sich.

Für sie.

Für Hikari.

Sie war der einzige Farbklecks hier, zwischen weiß, weiß, und noch mehr weiß. Sie, und der Strauß roter Rosen, den ihr Mamoru mitgebracht hatte, und der nun in einer hohen, blauen Vase auf dem weißen Tischchen neben dem Bett stand.

Vorsichtig strich Mamoru eine schwarze Haarsträhne aus Hikaris Stirn. Selbst ihr Gesicht wirkte bleich und hatte jegliche Farbe verloren. Wie sie so dalag, die fahle Haut auf dem weißen Kissen und schon fast erdrückt von der weißen Decke, hätte man sie für tot halten können. Nur das Pulsmessgerät neben ihr piepste leise und langsam vor sich hin und bezeugte das Leben, das noch durch ihren Körper floss.

Mamoru seufzte erschöpft. Seit zwei Stunden hockte er schon hier und wusste nicht recht was zu tun sei. Er hatte ihr bereits einen Gutteil seiner Energie gegeben, doch sie hatte darauf nicht reagiert. Das war es nicht, was ihr Körper brauchte. Seit sie am heutigen Tag in aller Frühe ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte sie nur noch geschlafen. Ihr Körper war wieder regeneriert, ihm bedurfte es keiner neuen Energie.

Und dennoch wachte sie nicht auf.

Vielleicht würde sie morgen aufwachen. Vielleicht aber auch erst nächstes Jahr. Oder nie mehr. Wer weiß das schon?

<Und es ist meine Schuld>, dachte Mamoru betrübt. Er wusste zwar nicht genau zu sagen, was konkret seine Schuld gewesen sein soll - immerhin hatte er weder Jedyte eingeladen, noch das dunkle Wesen dazu gedrängt, sich Hikaris Energie zu bemächtigen - aber dennoch fühlte er sich unsagbar schuldig.

"Wach auf! Wach doch bitte endlich wieder auf!", bettelte er, doch Hikari blieb stumm und regungslos.
 

Der Tag ging allmählich seinem Ende zu; so langsam begann es schon dämmerig zu werden, als Mamoru sein Jackett überstreifte, seinen Schulranzen auf seine Schultern setzte, einen letzten Blick auf Hikari warf und mit einem tiefen Seufzer das Zimmer verließ. Er schloss die Tür sachte hinter sich, lief gesenkten Blickes den langen Flur entlang, stieg in den Aufzug, fuhr damit ins Erdgeschoss, durchquerte die riesige Eingangshalle und kaum draußen angekommen atmete er erst mal auf. Im Krankenhausgebäude selbst wurde er einfach das Gefühl nicht los, jeden Moment erdrückt zu werden. Dennoch hatte er vor, auch weiterhin hier her zu kommen, um Hikari zu besuchen. Vielleicht würde ihr das ja helfen.

Er zog seine goldene Spieluhr hervor, öffnete sie und lauschte ihrer sanften Musik, während er sie mitsamt dem Ehering seiner Mutter an seinem schlichten, silbernen Halskettchen baumeln ließ. Die leise Melodie beruhigte ihn ungemein. Sie war wie das ermutigende, trostspendende Flüstern einer geliebten Person.

Doch erst, als er schon einige hundert Meter zurückgelegt hatte, wich die Beklemmung völlig von ihm. Was blieb war ein Gefühl der Hilflosigkeit. Es durfte doch nicht wahr sein! Kaum, dass er zu Hikari gefunden hatte, schon wurde er so von ihr getrennt! Es war einfach nicht fair!

Er ballte seine Hand zur Faust und hämmerte auf den nächstbesten Laternenpfeiler ein.

<Verdammt!>

Er nahm seine Spieluhr wieder auf und sah sie lange an. Das kleine, goldene Schmuckstück war ungewöhnlich warm, dafür, dass er es vor einigen Minuten schon aus seinem Hemd gezogen und seitdem der kühlen Luft ausgesetzt hatte. Die Melodie stoppte, als er den Deckel zuklappte und das wertvolle Kleinod wieder sicher in seinem Hemd verstaute.

Ein letztes Mal noch ließ er seine Faust auf das Metall des Pfeilers krachen, dann ließ er es gut sein. So konnte man an der Situation auch nichts ändern.

"Hey, Chiba! Was tust Du da? Bereitest Du Dich schon mal mental auf das vor, was ich gleich mit Dir machen werde?"

"Och, nö!", seufzte Mamoru. Schlimmer konnte es wirklich nicht mehr kommen. Er hob den Blick und starrte Chikara an, der sich breitbeinig vor ihm aufgebaut und die Arme vor der Brust verschränkt hatte.

"Was willst Du?"

Ohne jegliches Zögern packte Chikara Mamoru am Kragen und stieß ihn mit aller Kraft gegen den Laternenpfahl. In der selben Bewegung ließ er seine Faust in das Gesicht des Kleineren krachen, der daraufhin nähere Bekanntschaft mit dem Boden machte. Und dann erst antwortete er:

"Du kleiner, verfluchter Scheißer weißt ganz genau, was ich will! Du wirst von nun an nicht mehr in Hikaris Nähe kommen, hast Du mich verstanden?"

Stöhnend hielt sich Mamoru die blutende Nase. Noch im Aufstehen spie er etwas Blut aus. Dann strafte er sein Gegenüber mit einem trotzigen Blick.

"Ich hätte es mir nicht anders denken können", meinte Mamoru indem er ein Taschentuch aus der Hosentasche zog und damit begann, sich das Blut vom Mund zu wischen. "Es war ja so klar, dass Du es nicht kapieren würdest. Okay, jetzt mal für ganz Dumme, zum Mitschreiben: Sie ist nicht mehr Deine Freundin!"

"Du kleiner Bastard hast dazu gar nichts zu sagen!", brüllte Chikara. Er holte erneut mit der Faust aus und schleuderte sie Mamoru entgegen. Der aber machte einen schnellen, geschickten Sprung zur Seite. Die Faust seines Gegners donnerte ungebremst in das harte Metall der Straßenlaterne. Die Knöchel rissen auf und das Blut hinterließ einen roten, feucht schimmernden Flecken auf dem Pfeiler. Chikara keuchte vor Schmerz auf und fluchte wild, während er sich die Hand hielt.

Mamoru ließ ihn gewähren, damit er sich austoben konnte. Er drehte sich einfach wortlos um und ging seines Weges.

"Chiba!"

<Einfach ignorieren.>

"Chiba, verdammt noch mal! Ich bin noch nicht fertig mit Dir!"

Mamoru blieb abrupt stehen und wandte sich noch einmal um. "Aber ich bin fertig mit Dir! Hikari geht Dich nun nichts mehr an. Ich rate Dir, die Finger von ihr zu lassen, sonst werde ich nämlich ungemütlich. Verstanden?"

Er wollte weitergehen, doch er wurde von Chikara grob an der Schulter gepackt und herumgerissen.

"Du nimmst den Mund ganz schön voll!", flüsterte der Größere drohend.

"Wäre Dein Gehirn auch nur halb so voll wie mein Mund, würdest Du langsam einsehen, dass es gesünder für Dich wäre, mich jetzt loszulassen", fauchte Mamoru.

"Du wagst es?", brüllte Chikara. Sein Zorn wuchs dermaßen in die Höhe, dass er Mamoru mit nur einer Hand am Kragen packte, ihn hochhob und ihn mit Wucht gegen den Boden donnerte. In einer fließenden Bewegung kniete er sich neben seinem Kontrahenten nieder, griff dann - diesmal mit beiden Händen - an Mamorus Kehle und drückte mit aller Kraft zu.
 

Ruckartig hob es den Kopf, als es die Stimme seines Herrn und Meisters vernahm, die ihm leise zuflüsterte, dass es sich um das Ziel kümmern sollte. Und es gehorchte.

Als es die Welt der Menschen betrat, musste es sich zuerst orientieren. Es befand sich ganz in der Nähe des Ziels, das spürte es. Sein schattenhafter Körper machte einen gewaltigen Satz in die Höhe, und dann schwebte es zielsicher und graziös über einige Häuserdächer. Als es dem Ziel nahe genug war, um es beobachten zu können, aber andererseits noch vor der Entdeckung geschützt war, ließ es sich nieder und musterte das Geschehen. Es war hin und her gerissen, als es den Fremden sah, der sich dem Herrn der Erde genähert hatte und ihn attackierte. Es fasste einen Entschluss. Es musste unbedingt eingreifen! Mit einem leisen, raschelnden Geräusch entfaltete es seine gewaltigen Schwingen und machte sich bereit, herabzusegeln und seine Mission zu erfüllen. Doch im letzten Moment zögerte es. Und das gerade noch rechtzeitig, um zu beobachten, wie das Ziel auf den Angriff reagierte.

Es traute seinen Augen kaum...
 

Mit der wilden Entschlossenheit ungebändigten Zornes drückte Chikara weiterhin die Kehle seines Widersachers zu. Mamoru blieb nicht mehr viel Zeit, er benötigte dringend frischen Sauerstoff. Dennoch zwang er sich mit aller Macht dazu, sich zu konzentrieren. Er legte seine Hände auf die Arme seines Feindes, aber anstatt sie zu ergreifen und daran herumzurütteln, wie es wohl jeder in seiner Situation getan hätte, ließ er seine Finger nur sachte auf den Armen seines Gegners ruhen.

"Na, Chiba? Schon aufgegeben?", flüsterte Chikara in heiserer, an Wahnsinn grenzender Stimme. Er ließ den Griff so weit locker, dass Mamoru wieder einigermaßen Luft bekam und antworten konnte.

"Ich will Dir nur eine letzte Chance geben, ehe ich Dir zeige, was ich wirklich drauf habe...", keuchte der Herr der Erde.

"Ha! Dass ich nicht lache! Dich zertrete ich wie einen Wurm!", wisperte Chikara und erhöhte den Druck wieder.

Doch die kurze Verschnaufpause hatte Mamoru schon gereicht.

Noch während Chikara siegessicher grinsend geredet hatte, war der Herr der Erde mit der Vorbereitung schon fast fertig. Nun schlug er mit aller geistigen Macht zu, die er besaß. So vorsichtig, dass Chikara es nicht sofort bemerken konnte, doch zugleich so schnell, dass er selbst nicht vorher am Sauerstoffmangel zugrunde ging, entzog er seinem Widersacher die Energie.

Sehr schnell begann der Blonde vor Anstrengung zu zittern und sein Griff ließ merklich lockerer. Bald saß er da und konnte sich nur noch mit Mühe aufrecht halten. Mit einer Bewegung, mit der man eine lästige Fliege verscheuchen mochte, wischte Mamoru die Arme des Anderen von seiner Kehle weg; dennoch hörte er nicht damit auf, auch Chikaras letzte Reserven anzuzapfen, bis dieser schließlich zusammensackte und um Atem ringend am Boden liegen blieb.

"Was ... hast Du ... mit mir gemacht...?", stöhnte er.

Mit versteinertem Gesicht stand Mamoru vom Boden auf, klopfte sich gelassen den Staub aus dem Jackett und versetzte seinem Gegner erst mal einen Tritt in die Magengrube, ehe er endlich antwortete:

"Du kleines, gelecktes Stück Dreck verdienst von mir keine Erklärungen."

Ohne eine Miene zu verziehen schnappte er sich seine Schultasche, setzte sie sich wieder auf und verließ den Ort des Geschehens. Um Chikara musste er sich keine Sorgen machen; der würde für längere Zeit keine Bedrohung mehr sein.

Auf ein Gefühl hin, das tief aus seinem Inneren heraus kam, hob er seinen Blick und starrte auf das Häuserdach auf der anderen Straßenseite. Seine Intuition hatte ihn nicht betrogen; dort stand - dunkel, reglos, mit halbwegs ausgebreiteten Schwingen - das dunkle Wesen und starrte auf ihn herab. Doch ihn kümmerte das nicht. Der Herr der Erde wandte seinen Blick wieder ab und ging seines Weges. Auch dieses Biest war für ihn keine Gefahr; das wusste er einfach.

Niemand konnte ihm in seinem jetzigen Zustand gefährlich werden.

Doch als er sich nach einigen Minuten Fußmarsch herumdrehte, bemerkte er, wie die Kreatur ihm folgte. Sie kam ihm nie bedrohlich nahe, und sie zeigte sich nicht so offen, dass Passanten sie hätten sofort entdecken können, doch Mamoru wusste irgendwie, wohin er seinen Blick richten musste, um sie zu sehen. Sie gab sich auch keine große Mühe, sich vor ihm zu verbergen. Er wusste ja nun immerhin mit Sicherheit von ihrer Existenz.

"Was ist los, suchst Du Streit?", murmelte Mamoru leise vor sich hin. Wenn das Wesen menschlich wäre, so wäre es ihm unmöglich, die Worte auf diese Distanz hin zu hören. Doch der Herr der Erde war sich nicht ganz sicher, ob dieser Schatten nicht vielleicht Fähigkeiten besaß, die - mit menschlichen Sinnen betrachtet - ein Wunder waren. Doch gleichgültig, ob dieses Wesen ihn nun gehört hatte oder nicht, es regte sich jedenfalls um keinen Millimeter. Brummelnd wandte sich Mamoru wieder um und ging weiter.

Doch dabei blieb es nicht; der Herr der Erde konnte sich umschauen, so oft er wollte - der Schatten verfolgte ihn, als sei er sein eigener.

Irgendwann, als es dem Jungen zu bunt wurde drehte er sich dem Schattenwesen entgegen, das sich zwischen zwei Häusern auf der anderen Straßenseite verschanzt hatte, und brüllte es an:

"Was zum Teufel willst Du von mir???"

Es rührte sich nicht und starrte nur unverwandt vor sich hin.

"Verdammt noch mal, lass mich endlich in Ruhe!", schrie Mamoru unter dem vollen Einsatz seiner Stimmbänder. Er griff nach dem nächstbesten Stein, der ihm zu Füßen lag, und schleuderte ihn mit lautem Wutgebrüll der Kreatur entgegen. Der Schuss saß - oder er hätte es getan, wenn das Wesen aus fester Materie bestanden hätte. Das Geschoss flog einfach durch den materielosen Schatten hindurch. Mamoru hatte auf diese Art und Weise zwar nur eine streunende Katze verschreckt, aber anscheinend hatte die Kreatur dennoch verstanden, dass sie absolut unerwünscht war. Sie zögerte noch kurz, dann deutete sie ein leichtes Nicken an und trat dann zurück in die Dunkelheit zwischen den beiden Häusern.

Mamoru stand einfach da und atmete schwer. Die Aufregung der letzten Tage wurde allmählich zu viel für ihn. Das Atmen wurde zum Keuchen.

Das Keuchen zu einem unregelmäßigen Stocken.

Das Stocken zu einem leisen Schluchzen.

Mamoru sank auf die Knie nieder und vergrub das Gesicht in den Händen. Er wusste nicht mehr, was er tat, noch was er als nächstes tun sollte. Die kalte, wie versteinert wirkende Fassade, die er vorhin auf seine Gesichtszüge gelegt hatte, bröckelte allmählich und wich einer bislang ungekannten Hilflosigkeit.

"Was hab ich da getan?", flüsterte er mit bebender Stimme. "Was hab ich da denn bloß getan?"

Als er vorhin gegen Chikara gekämpft hatte, war er wie ausgewechselt gewesen. Er hatte jeglichen Respekt vor seinem Gegenüber und vor dem Leben selbst gänzlich verloren. Er hatte sich in dieser kurzen Zeit gefühlt, als ob ... nein, er hatte gar nichts gefühlt. Nicht Gnade, noch Rücksicht oder Skrupel. Es war fast, als hätte etwas von seiner Seele Besitz ergriffen, das ebenso schwarz war wie die dunkle Kreatur, die er gerade zu vertreiben versucht hatte. Er wusste, er war sie noch nicht ganz los. Vielleicht würde sie nie mehr verschwinden.

Vielleicht war sie die Wurzel allen Übels.

Womöglich hatte dieses Wesen Mamoru nur benutzt, um an die Energie zu gelangen, und nun wartete sie auf den passenden Augenblick, um Mamoru zu überfallen?

"Nein", wisperte Mamoru. Er wusste, dass das nicht stimmte. Wäre das wirklich der Fall gewesen, so hätte die Kreatur schon längst viele Möglichkeiten gehabt, ihn anzugreifen. Das war es also nicht.

Nein, alles, was Mamoru tat, hatte er von sich aus getan. Auf jeden Fall hatte es nichts mit dem Schatten zu tun gehabt.

Aber warum dann, warum? Weshalb benahm er sich immer so bösartig, wenn er sich der Energie anderer bemächtigte?

Allmählich verstand er, weshalb die Schattenkreatur immer und immer wieder zuschlug, und wehrlosen Leuten die Lebenskraft stahl. Es war einfach ein erhebendes Gefühl der Macht.

Aber es war auch das Empfinden von bodenloser Enttäuschung, wenn die Wirkung nachließ.

Mamoru wischte sich immer und immer wieder durch das Gesicht, in der Hoffnung, so endlich wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Er erhob sich wieder und blickte sich betrübt um. Und dann erst bemerkte er, dass direkt neben ihm die Schattengestalt stand.

"Du? Du bist doch noch da?", fragte Mamoru und zog seine Nase hoch.

Das Wesen nickte und machte zur gleichen Zeit ein Schulterzucken. Dann hob es den Arm und wies in die Richtung, in der Mamorus Zuhause lag.

"Willst Du mich nach Hause begleiten?"

Das Wesen zögerte kurz, machte aber dann doch ein leichtes Nicken.

"Ich schätze mal, ich werde lernen müssen, mit Dir auszukommen, was? Ob es mir nun passt oder nicht."

Mamoru setzte sich in Bewegung. Er ging ein paar Schritte weit. Dann sagte er:

"Kannst Du mir vielleicht sagen, was mit mir los ist? Ich meine, was zum Geier geschieht nur mit mir, dass ich auf einmal so heftig reagiere, wie vorhin mit Chikara?"

Er drehte sich um, damit er so auf das Wesen schauen konnte, das hinter ihm geblieben war. Doch der Gehweg war leer.

Mamoru sah sich suchend um und entdeckte dann eine Bewegung hinter einer Häuserecke. Nicht mehr als ein Huschen von etwas, das schwärzer war als der dunkle Schatten zwischen den Gebäuden.

"Ach, verstehe. Du magst nicht gern von anderen gesehen werden."

Tatsächlich bestand die <Begleitung> des Wesens darin, in Mamorus Nähe zu bleiben, indem es von Schatten zu Schatten schlich. Und das den ganzen Weg bis Heim.

Als Mamoru vor der großen Eingangstür zum Hochhaus stand, drehte er sich noch ein letztes Mal um und suchte mit Blicken nach der Kreatur. Und er fand sie auch.

"Tja, tut mir Leid für Dich, aber hier drinnen sind Haustiere nicht erlaubt."

Das Wesen starrte ihn nur an und rührte sich nicht.

"Das sollte ein Witz sein. Ich hatte gehofft, wenn Du schon nicht reden kannst, dann könntest Du doch zumindest lachen? Nein? Schade. Tja ... mach's gut."

Daraufhin zog er seinen Schlüssel hervor und öffnete die Tür. Eine kurze Fahrt mit dem Aufzug später öffnete er auch die Wohnungstür, trat ein und zog sich die Schuhe aus.

"Hey, Kleiner!", tönte Kiokus gutgelaunte Stimme durch die Wohnung. "Herzlichen Glückwunsch! Du hast doch tatsächlich den Weg nach Hause gefunden! Hast diesmal dafür aber lange gebraucht! Hast Du mir auch ein Souvenir aus Spanien mitgebracht, oder wo Du auch immer die ganze Zeit über gewesen sein magst?"

Mamoru kommentierte dies nicht. Er verschwand zuerst in seinem Zimmer, um dort seine Schultasche abzulegen, aus der Uniform zu schlüpfen und seine gewöhnlichen Alltagsklamotten anzuziehen. Dann erst kam er in die Küche, holte sich ein Glas, füllte es mit Saft und nahm seine Tabletten. Das schmerzhafte Ziehen in seinem Bauch hatte in den letzten paar Minuten wieder deutlich zugenommen.

"Was is los, Kurzer? Schlecht gelaunt?", fragte Kioku und hockte sich zu ihm an den Tisch.

"Ach, was!", antwortete der in sarkastischem Unterton. Eigentlich war ihm gerade nicht sonderlich nach Gesellschaft. Er hatte große Lust, sich einfach ins Bett zu legen und jahrelang zu schlafen.

"Kleiner, was is verdammt noch mal los? Spuck's aus!"

"Wirst Du es dann auch hinterher aufwischen?", fragte er nach, jetzt schon mit leicht gereiztem Unterton. Dann atmete er erst mal tief durch. Wieso wurde er jetzt schon wieder so patzig? Er fühlte sich seit dem kurzen ... <Disput> ... mit Chikara so unwohl in seiner Haut. Sein schlechtes Gewissen meldete sich und trampelte mit größter Freude auf ihm herum.

"Es tut mir Leid, Tante Kioku", erklärte er und schaute beschämt in sein inzwischen nur noch halbwegs volles Glas. "Ich will gar nicht so bockig sein. Es ist einfach ... Heute ist nicht mein Tag. Ich bin vorhin bei Hikari im Krankenhaus gewesen. Dort habe ich ein paar Stunden verbracht. Ich weiß, ich hätte anrufen und Bescheid sagen müssen. Es tut mir wirklich Leid."

"Schon okay, Kurzer. Es hat jeder mal nen schlechten Tag."

Sie strich ihm fürsorglich durch das Haar. Er seufzte daraufhin schwer. Die sanfte Berührung beruhigte ihn ungemein. Da erkundigte sich Kioku:

"Wie geht es ihr? Ich meine Hikari."

"Hmmm." Mamoru hatte Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden. Wie geht es jemandem, der einfach nicht mehr aufwacht? "Sie ... sie liegt im Koma. Die Ärzte wissen nicht, wann sie wieder aufwachen wird. Oder ob überhaupt."

Er verschwieg, dass er sich deswegen ziemlich schuldig fühlte. Er verschwieg auch, dass er sich vorhin dank Chikara eine blutige Nase geholt hatte, die er inzwischen wieder verheilen gelassen und so gut als möglich sauber gewischt hatte. Nun ja, aber er hatte ja auch verschwiegen, was sich tatsächlich letzte Nacht zugetragen hatte; ebenso, wie er die Existenz eines gewissen Schattens verschwieg, der ihm auf Schritt und Tritt hinterher lief und nicht unbedingt einen Schönheitswettbewerb gewinnen würde. Er fragte sich nur, wie lange er dieses Gefüge von Lüge und Schweigen noch aufrecht erhalten konnte. Irgendwann würde er sich verplappern. Und dann? Da all die eigenartigen Vorkommnisse der nahen Vergangenheit mit einander in Verbindung standen und er selbst weniger als die Hälfte dessen, was passiert war, verstand, würde er wohl echte Schwierigkeiten bekommen, sollte es tatsächlich mal dazu kommen, dass er mit der vollen Wahrheit rausrücken sollte.

"Och, Kurzer...", murmelte Kioku leise mit einem unüberhörbaren, mitleidigen Unterton. Sie konnte es nicht ertragen, ihren einzigen Lieblingsneffen so niedergeschlagen zu sehen. Vorsichtig schlang sie ihre Arme um ihn und zog ihn an sich heran.

"Du kannst doch nichts dafür", flüsterte sie, fast so, als hätte sie seine Gedanken gelesen. "Solche Dinge passieren einfach. Ich bin mir ganz sicher, bald ist alles wieder gut. Sie wird wieder aufwachen; das wird bestimmt nicht lange dauern."

<Und was, wenn sie aufwacht?>, fragte sich Mamoru bestürzt. <Was wird sie sagen? Sie wird den Ärzten bestimmt nicht die Version auftischen, die ich ihnen unterbreitet habe. Selbst, wenn sie nach ihrem langen Schlaf - wie lange der auch immer noch sein mag - wieder aufwacht, ist nicht unbedingt gesagt, dass sie sofort so klar bei Verstand sein wird, um die Wahrheit zu vertuschen. Oder vielleicht will sie das auch gar nicht? Oder vielleicht wird sie sich an den Abend gar nicht erinnern? Oder womöglich wird ihr ganzes Gedächtnis gelöscht sein? ...Wie bei mir damals...>

"Tante Kioku!", flüsterte Mamoru leise und erwiderte nun endlich ihre Umarmung. Er zog sie fest an sich und drückte sein Gesicht auf ihre Schulter. Liebevoll fuhr ihm seine Tante immer wieder durch die Haare und über den Rücken, während sie ihm tröstende Worte zusprach.

Es dauerte eine Weile, aber schlussendlich ging es Mamoru wieder ein gutes Stück besser.

"Danke", flüsterte er ihr zu. "Du hast mir wirklich sehr geholfen. Was würde ich nur ohne Dich tun?"

"Du wärst absolut verloren, ich weiß", meinte sie und zwinkerte ihm zu. In weitaus weniger schnippischem Ton, dafür aber mit einem warmen Lächeln auf den Lippen meinte sie:

"Nein, eigentlich finde ich sogar, dass Du Deinem Alter weit voraus bist. Ich bin mir sicher, wenn es unbedingt sein müsste, dann könntest Du auch auf Dich aufpassen. Aber ich bin dennoch gerne für Dich da, wenn Du was brauchst, mein Kleiner. Und weißt Du was? Ich hab da was, das wird Dich unter Garantie aufmuntern!"

Sie stand auf, eilte zu einem Plastikkasten, der auf der Arbeitsplatte stand, öffnete ihn und präsentierte ihrem Neffen stolz den Inhalt.

"Schokoladenkuchen", stellte Mamoru erstaunt fest.

Kioku nickte. "Den hab ich vorhin erst gebacken. Man könnte fast meinen, ich hätte gespürt, dass Du eine kleine Aufmunterung nötig hast."

Damit brachte sie sogar ein kleines, tapferes Lächeln auf Mamorus Lippen zustande.

"Genau was ich jetzt brauche. Du bist die Beste, Tante Kioku!"
 


 

[Anmerkung des Autors]
 

*nach oben schau*

*Kopf schüttel*

Irgendwie bin ich unzufrieden. Chikara entwickelt sich zum Psychopaten, Mamoru steht am Rande eines Nervenzusammenbruchs und ein schwarzer Schatten latscht durch Tokyo und macht die Leute unsicher. Was hab ich mir da bloß eingebrockt?
 

Ein Gutes hat die Sache allerdings! So langsam nähere ich mich nämlich den Szenen, wo es richtig heiß hergeht! Hab schon einen grandiosen Plan für die Zukunft geschmiedet!

...Allerdings ... befürchte ich, dass genau das bedeuten wird, dass man der Prozentanzeige dieser FF nicht mehr glauben kann. Ich fürchte, was ich bisher geschrieben habe, ist doch weniger als die Hälfte des Ganzen...

-.-° *drop*

Ich bin ja selber mal gespannt, wie es weiter geht. Denn genau wie mein großes Vorbild Wolfgang Hohlbein liebe ich es, meine Figuren ins kalte Wasser zu werfen. Das heißt, ich weiß meistens selber nicht wirklich, was im nächsten Kapitel vorkommt!

Aber das wird schon; solange ich mich an den groben Faden halte, den ich mir zurechtgesponnen hab.
 

Ach, das werdet ihr ja selber bald feststellen!

Bis dann!

Draco

In der Schattendimension saß es keuchend auf dem Boden und versuchte verzweifelt, wieder zu Atem zu kommen. Die hohe Konzentration hatte ihm viel Energie abverlangt. Und doch war es nicht dazu in der Lage, wirkliche Ruhe zu finden. In der Unendlichkeit der zeitlosen Finsternis dauerte es eine Ewigkeit, bis die Kräfte wieder einigermaßen regeneriert waren.

Überdeutlich konnte es spüren, wie dringend es neue Energie nötig hatte. In den letzten paar Tagen hatte sich sein Verbrauch enorm gesteigert.

"Auf der ganzen Welt sammeln die alten Feinde ihre Truppen", so flüsterte es gerade vor sich hin. "Aber auch unsere Krieger erwachen allmählich, einer nach dem anderen, aus ihrem Schlaf. Doch die Chancen stehen schlecht, so lange wir den Silberkristall nicht in unseren Händen halten. Entweder das, oder..."

Zögernd hob es die rechte Hand empor und betrachtete die silbern glänzende Waffe an seinem Unterarm. Bläuliche und grünliche Blitze wanden sich in unregelmäßigen Abständen um ICTUS und schrieen regelrecht nach einer Energiequelle. Das kreisrunde Loch, das in die Waffe eingelassen war und sich direkt über der Handinnenfläche befand, wirkte wie das aufgesperrte Maul eines sehr hungrigen Raubtieres. Dies war die Halterung für einen ganz besonderen Kristall, der vor Ewigkeiten entfernt worden war...

"Ich muss ihn finden", sprach es zu sich selbst. "Ich habe schon so viele Länder dieser Erde durchsucht, bislang allerdings ohne jeglichen Erfolg. Doch ich darf nicht aufgeben! Die Mission steht über meinem Wohlergehen!"

Mit aller verbliebenen Macht konzentrierte es sich und materialisierte sich wieder in der Welt der Menschen. Doch einer Physik folgend, die mit der Dimension der Menschen nichts gemein hatte, trat es nicht mehr in Japan aus der zeitlosen Finsternis heraus, sondern fand sich auf einmal auf einem völlig anderen Kontinent wieder, wo gerade die heiße Nachmittagssonne auf den trocknen Boden knallte. Und dort, zwar fein, aber dennoch gerade so im Bereich des Spürbaren, empfand es die Schwingungen einer großen Kraft.

Erleichtert stellte es fest, dass sich das Jahrhunderte andauernde Warten und Suchen doch gelohnt hatte. Hier irgendwo sollte es also endlich fündig werden. Doch ehe es Gelegenheit finden konnte, nach dem Kristall zu suchen, musste es erst mal neue Energie beschaffen. Da kam der kleine Junge, der dort am Straßenrand spielte, doch gerade recht...
 

Mit einem lauten Knall öffnete Kioku die Tür. Dann schaltete sie das Licht an und rief:

"Kurzer! Aufwachen! Guten Morgen!"

Ihm wehte aus dem Halbschlaf noch die Stimme der Unbekannten entgegen, die gerade noch so etwas gesagt hatte wie "Silberkristall"; und kaum, dass diese leise Stimme in seinem Kopf völlig verklungen war - jetzt, wo er wach war - da war Kioku schon längst wieder in der Küche verschwunden.

"Wie kann man nur so grausam sein?", murmelte Mamoru, drehte sich wieder herum, zog sich die Decke über den Kopf und schloss wieder die Augen. Er war todmüde. Nicht mal eine halbe Minute später döste er schon wieder. Und exakt drei Minuten und fünfundzwanzig Sekunden später versuchte seine Tante schon wieder, ebendiesen Zustand zu ändern.

"AUFSTEHEN!!!"

"Übermorgen", tönte es dumpf unter der Decke hervor.

"Nein, jetzt!" Und damit riss sie ihm die Decke vom Bett runter und ließ sie achtlos neben sich auf den Boden fallen. "Auf geht's!"

"Ischbin ... müde...", nuschelte er.

"Ischmir ... egal!", nuschelte sie zurück. "Und wenn ich Dich persönlich umziehen muss!"

Und als er sich nicht rührte, da arbeitete sie tatsächlich so lange an ihm herum, bis sie ihm das Oberteil seines Pyjamas ausgezogen hatte. Doch dann wurde ihr das doch zu blöd.

"Was ist denn bloß los mit Dir heute? Seit wann bist Du so verpennt?"

"Weißnich. Lass mich. Will schlafn."

"Das kommt gar nicht in die Tüte."

Es wurde zu einem langen Kampf zwischen den Beiden. Er wollte und wollte einfach nicht aus den Federn. Schlussendlich behielt die Königin Tante aber doch die Oberhand. Denn auch wenn Mamoru so müde war, dass er im Stehen hätte schlafen können, so wurde selbst er mit einem Schlag glockenhellwach, als Kioku ihm ein Stückchen Eis in die Unterhose schob.

"IIIIIIIIIIIKH! SPINNST DU???"

Der seltsame Tanz, den er aufführte, bis er das Eis endlich wieder aus seiner Kleidung gefischt hatte, war so köstlich, dass Kioku sich lachend auf dem Boden kugelte.

"Geschieht Dir recht", japste sie schwer nach Luft schnappend.

Nachdem er sie mit seinem finstersten Blick bestraft hatte, ging er hocherhobenen Hauptes ins Badezimmer und begann mit seinen morgendlichen Ritualen. Einzig, als er nach der Rasierklinge griff, um sie aus dem Badezimmerschränkchen zu holen, hielt er inne. Er dachte einen Moment nach. Dann zog er grinsend seinen Arm wieder zurück...
 

"Yo, Motoki!"

"Hey, Mamoru! Wie geht's?"

"Müde ... und Dir?" Er setzte sich neben seinen liebsten Klassenkameraden.

"Sagen wir: Ich lebe." Motoki grinste.

"Gibt's was Neues?", fragte Mamoru und stellte erst mal seine Schultasche ab.

"Jepp", antwortete Motoki und kramte in seinem Ranzen herum. "Sogar ne ganze handvoll."

"Ne handvoll was?" Mamoru lehnte sich etwas näher zu seinem Freund hin um einen Blick in dessen Tasche zu erhaschen. Nur kurze Zeit später wurden ihm die <Neuigkeiten> unter die Nase gehalten. "Briefe?"

"Nicht nur irgendwelche Briefe", grinste Motoki. "Man beachte die Herzchen, Hasis und Sternchen..."

"Och, nöh..."

"Doch. Das sind ein gutes Dutzend Liebesbriefe. Mamoru, mein Freund, Du macht Dich langsam. Bin stolz auf Dich."

"Aber die interessieren mich alle doch gar nicht! Ich hab doch Hikari", beschwerte sich Mamoru. Er begann dennoch damit, den ersten Brief zu öffnen.

"Genau das ist es ja", meinte Motoki. In seinem Blick blitzte es. "Du hast sie ja gerade nicht. Was ist, wenn sie in fünf Jahren noch nicht aufgewacht ist?"

"Und das wissen all die Mädchen, die mir hier schreiben?", fragte Mamoru ungläubig.

Motoki lehnte sich gelassen zurück und gähnte. Dann meinte er:

"Na ja, Du weißt ja. So was verbreitet sich wie Lauffeuer. Die Mädels sagen immer alle guten Jungs sind entweder vergeben, schwul oder tot, und da Du jetzt frei geworden bist..."

"Aber ich bin nicht frei!", unterbrach ihn Mamoru jammernd. Er öffnete den nächsten Brief.

"Nimm es positiv! Du könntest diese Mädels doch eines nach dem anderen ausprobieren und wenn Hikari wieder auf'm Damm ist, sagst Du ihr einfach, Du hättest erwartet, sie würde nie mehr erwachen."

"Ja, darüber wird sie sich sicher freuen...", murmelte Mamoru sarkastisch, während er in den Liebesbrief vertieft war.

"Okay, vielleicht auch nicht. Is ja gut. Aber hey, wenn Du an den Mädels kein Interesse hast, vielleicht ist für mich dann was dabei?"

"Und was ist mit Reika?"

Motoki verzog das Gesicht.

"Oh ... stimmt. Musstest Du mich daran erinnern?"

"Du musst erst daran erinnert werden?", fragte Mamoru skeptisch.

"Ja, ja, ja. Kümmer Du Dich um Deine Angelegenheiten. Also? Was sind das so für Mädchen?"

"Na ja", antwortete Mamoru gedehnt, während er schon den nächsten Brief öffnete. "Bis jetzt waren schon zwei recht hübsche Fotos dabei und in den Briefen steht prinzipiell immer das selbe drin. Mal sehen, ob hier..."

Er hatte den Brief gerade auseinander gefaltet und die ersten paar Zeilen gelesen, da bekam er schon einen tomatenroten Kopf.

"Was ist? Was ist denn?", fragte Motoki neugierig. "Was steht denn da?"

"Ähm", machte Mamoru, "hier schreibt mir ein gewisser Massanorie..."

"Ein Kerl?"

"Kannst Du es noch lauter schreien?"

"Klar kann ich..."

"Wehe, Du wagst es!"

Motoki zeigte daraufhin sein breitestes Grinsen. "Was wirst Du ihm denn antworten?"

Mamoru seufzte. "Ich denke, ich werde einen Standartbrief verfassen. Und den kopier ich dann hundert Mal und werde nur immer die Anrede passend ändern."

"Und was steht dann da drin? Dass Du das schlafende Dornröschen Hikari wieder wach küssen wirst, vielleicht?"

Allmählich wurde es Mamoru aber doch zu bunt. "Motoki!", zischte er. "Du gehst wirklich zu weit. Das Ganze ist eine ernste Angelegenheit! Hikari liegt im Koma, damit ist nicht zu spaßen! Und außerdem..." Seine Stimme beruhigte sich allmählich wieder. "...außerdem musst Du nicht so auf meinen Gefühlen herumtanzen. Lass das bitte."

Motoki wurde nun doch wieder ernst. Er senkte betreten den Blick. "Ich hab mich wohl etwas zu sehr gehen lassen, was? Entschuldige bitte. Ich hab es nicht bösartig gemeint."

"Schon gut, schon gut", seufzte Mamoru. "Vergiss es. Ein Stück weit magst Du sogar recht haben. Aber ich weiß beim besten Willen nicht, was ich machen soll!"

"Mamoru..." Motoki legte freundschaftlich seinen Arm um Mamorus Schulter. "...bist Du Dir mit Deinen Gefühlen wirklich immer noch so sicher? Ich meine Du hast ja jetzt schon etwas Zeit mit ihr verbringen können. Du hast wohl schon das eine oder andere mit ihr erlebt. ...Was das genau war, will ich gar nicht wissen... Jedenfalls, bist Du Dir dessen sicher, was Du da sagst? Was Du fühlst? Oder versuchst Du Dich womöglich noch verzweifelt an einen Traum zu klammern, der vielleicht schon lang geplatzt ist und Du willst das einfach nicht wahrhaben?"

"Hmmm." Mamoru dachte darüber nach. Aber wie er es auch drehen und wenden mochte, er wollte Hikari nicht kampflos hergeben.

"Motoki", seufzte er. "Weißt Du was? Ich versuche jetzt mal auf eine andere Art und Weise, es Dir zu erklären. Ein deutscher Dichter namens Erich Fried hat einmal ein Gedicht verfasst mit dem Titel <Was es ist>. Und eben dies möchte ich Dir nun gerne vortragen."

Er räusperte sich kurz, während Motoki ein Gesicht machte, als wüsste er nicht wirklich, was er davon halten solle. Doch er wartete stumm ab und ließ seinen Freund gewähren.

"Es ist Unsinn

sagt die Vernunft

Es ist was es ist

sagt die Liebe
 

Es ist Unglück

sagt die Berechnung

Es ist nichts als Schmerz

sagt die Angst

Es ist aussichtslos

sagt die Einsicht.

Es ist was es ist

sagt die Liebe
 

Es ist lächerlich

sagt der Stolz

Es ist leichtsinnig

sagt die Vorsicht

Es ist unmöglich

sagt die Erfahrung

Es ist was es ist

sagt die Liebe."

Erwartungsvoll blickte Mamoru sein Gegenüber an.

"Ääh, was?", meinte Motoki verwirrt. "Hab kein Wort verstanden..."

"Oh, ups", entfuhr es Mamoru. Und dann übersetzte er das Gedicht ins Japanische.

"Seit wann, zum Teufel, kannst Du Deutsch?", fragte Motoki entsetzt. "Oder hast Du mich gerade eben nur verarscht? Komm, das hast Du Dir doch ausgedacht!"

"Ich seh auch aus wie jemand, der nix Besseres zu tun hat, stimmt's?", antwortete Mamoru in sarkastischem Ton. "Nee, keine Ahnung. Ich hab es vielleicht irgendwann mal mit passender Übersetzung gehört, oder so ... vielleicht kenn ich es auch schon lange, oder ... ach kein Plan."

<Ja genau, was war das gerade eben eigentlich? Eine Erinnerung aus der Zeit vor meinem Unfall, vielleicht?>

Obwohl er eigentlich eher den Eindruck hatte, als habe er dieses Gedicht wirklich erst vor ganz kurzer Zeit unter der Nase gehabt.

"Darauf kommt es jetzt aber auch nicht an", fuhr Mamoru ungerührt fort. "Jedenfalls wollte ich ausdrücken, dass es manchmal Situationen in der Liebe gibt, die man auch nicht mit Wort und Tat verhindern kann. Es ist einfach, wie es ist. Ich glaube..." Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. "...ich glaube, ich könnte sogar dann nicht von Hikari ablassen, wenn sie mir persönlich ins Gesicht sagen würde, dass sie mir alles Schlechte der Welt wünscht. ...Was sie natürlich nicht tut!" Die letzten Worte hatte er wieder in normaler Lautstärke gesagt.

"Natürlich...", murmelte Motoki augenrollend.

Gerade da kam Frau Hanabira ins Klassenzimmer. Sie legte ihre Englischbücher auf dem Pult ab, begrüßte die Schüler und begann mit der ersten Stunde.
 

Der Schultag verlief weitaus normaler als in den letzten Tagen. Das Schattenwesen schien nicht andauernd in Mamorus Nähe zu sein (oder zumindest hatte er etwas Derartiges nicht bemerkt) und bald hatte er es ganz vergessen. Es gab nur drei Aspekte, die doch daran erinnerten, dass nicht alles seinen gewohnten Gang nahm.

Erstens: Hikari war nicht da. Das nagte schwer an Mamoru.

Zweitens: Chikara schlug den ganzen lieben langen Tag einen gewaltigen Bogen um ihn.

Und Drittens: Er war so was von hundemüde. Es kam ihm beinahe vor, als habe er die ganze letzte Nacht nicht geschlafen. Dabei musste er doch eigentlich gepennt haben wie ein Ochse. So kämpfte er sich blinzelnd, gähnend und schwankend durch den Tag.

Und als er dann endlich zu Hause ankam, war er noch todmüder als todmüde.

"Ich bin wieder zu Hause!", rief Mamoru, warf die Schultasche in die Ecke und zog sich die Schuhe aus. "Was gibt's zu Essen? Ich hab mächtig Hunger!"

"Tja, Kurzer", rief seine Tante zurück, "was hättest Du denn gern?"

"Was ich gern..." Mamoru dachte kurz darüber nach, während er das graue Jackett seiner Schuluniform ablegte. "Also am liebsten würde ich..." Dann stutzte er. "...soll das heißen, Du hast noch nicht gekocht?"

Jetzt erst kam seine Tante angeschlurft. Über ihrem schlabberigen, dunkelblauen Wollpullover und der alten Jeans trug sie ihre weiße Schürze, eigentlich ihr typisches Outfit für den Haushalt. Und genau das fiel dem verdutzten Mamoru auf.

Kioku nickte. "Ja, genau das soll es heißen. Ich hab nämlich auf Dich gewartet."

"Wieso?" Mamoru griff nach seiner Schultasche, um sie in sein Zimmer zu tragen. "Ist heute was Besonderes?"

"So ist es mein Kurzer. Ein ganz, ganz besonderer Tag. Nämlich der Tag, an dem ich Dich in die hohe Kunst des Kochens einweihe."

Mamoru wäre vor Schreck beinahe über den Teppich gefallen, der mitten im Flur lag.

"Wie bitte?", fragte er entsetzt. "Davon wüsste ich was! Ich soll ... Aber wie kommst Du auf so absurde Gedanken?"

Sie grinste ihn nur an. Aber ihr Grinsen wirkte weniger freundlich als umso mehr schadenfreudig und spitzbübisch.

"Och, ich dachte nur, Du willst endlich mal selbstständig werden. Aber wenn Du nicht magst ... dann bleibst Du eben den Rest Deines armseligen Lebens als hilfloses Muttersöhnchen zu Hause hocken und lässt Dir alles an den Arsch tragen. Jedoch das Eine werd ich Dir jetzt mal sagen, mein Freundchen: Damit kann man das weibliche Geschlecht nicht unbedingt beeindrucken. Aber wie Du meinst. Soll ich Dir jetzt einen heißen Kakao machen und Dir die Wärmflasche ans Bett tragen, mein kleiner, süßer, schnuckeliger Spatz?"

"Du bist herzlos, Tante Kioku", nörgelte Mamoru kleinlaut und kickte einen imaginären Stein weg. "Kann ich mich damit nicht vielleicht befassen, wenn ich satt bin?"

"Dann ist es ja witzlos!", beschwerte sich Kioku. "Du hast die Wahl! Entweder Du hörst jetzt auf das, was ich sage und zauberst Dir Dein erstes, eigenes Festmahl, oder Du beschränkst Dein zukünftiges Dasein auf Wasser und Brot."

Mamoru zog einen Schmollmund, aber er wusste, wer in diesem Gespräch die Oberhand hatte. Er seufzte schwer. "Okay, okay. Bereite schon mal alles vor, ich zieh mich nur mal schnell um. Ich will keine Flecken auf meiner Uniform riskieren."

"Jawohl, mein General Kurzer!", meinte Kioku, salutierte dann wie ein Soldat und verschwand in der Küche.

Mit dem Ausdruck <Festmahl> hatte Kioku kein Stück übertrieben. Jedoch den Begriff <General Kurzer> hätte man lieber austauschen sollen mit der weitaus passenderen Bezeichnung <General Kioku>, denn Mamoru stand unter ihrem Kommando satte drei Stunden in der Küche und rackerte sich Einen ab. Die Schufterei lohnte sich schlussendlich dann doch, mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass das Hühnchen ziemlich scharf und etwas dunkler als geplant war, man sich am Reis schier immer noch die Zähne ausbiss und das Gemüse nur noch aus einem wabbeligen, gleichmäßig braunen Brei bestand. Aber man konnte es immerhin essen.

Einigermaßen.

"Ich denke, ich sollte Seigi lieber etwas Anderes kochen. Der verdirbt sich ja sonst den Magen", überlegte Kioku laut.

"Danke!", brummelte Mamoru beleidigt. "Du wolltest doch unbedingt, dass ich koche!"

Und dann fiel ihm etwas auf. "Ja, genau, wo bleibt Onkel Seigi eigentlich so lange?"

"Ach", seufzte Kioku, "Du weißt doch, dass er manchmal etwas länger auf der Arbeit bleiben muss. Keine Angst, der kommt schon wieder heim. Meine wahnsinnige Attraktivität zieht ihn immer wie magisch an."

"Es muss etwas mit Magie zu tun haben. Anders könnte ich mir das auch nicht erklären...", erläuterte er trocken.

"Das meinst Du! Aber nur, weil Du es nicht besser weißt, Kleiner."

"Wie auch immer", seufzte Mamoru, "ich muss mich jetzt um meine Schularbeiten kümmern."
 

In der Welt der Schatten war viel Zeit vergangen während seiner Abwesenheit; und das, obwohl es für ihn selbst nur einige Stunden waren, da es sie in der Welt der Menschen verbracht hatte. Doch hier in der zeitlosen Finsternis herrschten andere Gesetze der Physik. Hier konnte es verweilen und ohne jeglichen Energieverlust existieren, doch in der Welt jenseits der unendlichen Schatten gab es all das, wonach es trachtete: Leben, frische Energie, Materie, Licht, Freiheit und vor allem eine etwas konstantere, auf alle Fälle viel schneller dahinfließende Zeit. Denn das Grausamste am Gefängnis der zeitlosen Finsternis war die Tatsache, dass die Zeit absolut keine Bedeutung hatte. Es geschah einfach nichts. Man war darauf beschränkt, in ewiger, stillschweigender Einsamkeit zu verharren und über die Vergangenheit nachzudenken. Doch seit es den Weg zurück in die Welt des Lichts gefunden hatte, war es von dem unbändigen Wunsch beseelt, diesen Ort des Grauens zu verlassen, und das auf schnellstem Wege!

Wohl wird es schon bald dazu in der Lage sein, auch etwas längere Zeit in der Welt der Menschen zu leben. Das Schwierige war der Anfang. Doch sobald es genug Energie gesammelt hatte, um daraus die Materie für seinen neuen Körper zu formen, würde es diesen grässlichen Ort endlich verlassen können.

Eigentlich wäre es schon lange dazu in der Lage gewesen, sich einen Körper zu fertigen, denn es hatte weitaus mehr Energie dafür gesammelt, als nötig gewesen wäre. Doch zum Ersten musste es primär an seine Mission denken, und zum Zweiten musste es seine gesamte Energie aufteilen.

Auch jetzt gab es einen Teil seiner Kraft ab, die es eigentlich dringend für sein Erwachen benötigte. Doch das hier war ein Stückchen wichtiger.

"Bitte erhebe Dich endlich aus Deinem Schlummer", wisperte es. Zwar verschluckte die Stille seine Worte, kaum dass es sie ausgesprochen hatte, aber dennoch musste es sprechen. Aus alter Gewohnheit heraus. Um der Einsamkeit zu entfliehen. "Bitte, wach endlich auf! Bald wird mein Körper wieder auferstehen. Mein alter, und zugleich mein neuer Körper. Aber Du! Du bist noch immer gefangen in den aller tiefsten Tiefen der zeitlosen Finsternis, aus denen nicht einmal ich Dich befreien konnte! In der alten Zeiten Namen bitte ich Dich; erwache!"

Und nach Ewigkeiten des tiefen Schlafes regte sich zum ersten Mal seit ungezählten Jahrhunderten wieder ein Muskel des Tieres. Das schwere Fell hob und senkte sich langsam und unendlich träge über seiner Brust. Es stieß einen langen, tiefen Seufzer aus, der sofort von der Finsternis aufgesogen wurde. Dennoch registrierte es das Geräusch.

"Bald bist Du wach!", flüsterte es ungläubig. Wäre die Finsternis nicht so vollkommen gewesen, hätte man seine vor Glück strahlenden Augen gesehen.

"Du, mein treuer Kampfgefährte! Ich bin so froh Dich schon bald wieder an meiner Seite zu wissen! Mein Wort darauf: Schon bald wirst auch Du wieder das Licht der Welt erblicken! Ich werde uns schon bald das Tor aufstoßen in eine Welt voller Menschen, deren Energie wir uns zueigen machen können! ...Doch ... zuerst..."

Mit einem Stocken unterbrach es sich. Es musste seinen Plan noch einmal überdenken, um sicher gehen zu können. Dann grinste es siegessicher vor sich hin.

"Herr der Erde", murmelte es unhörbar in der Finsternis. "Tja, Herr der Erde, wie bringe ich Dich also dazu, das zu tun, was ich von Dir will?"

Lange Zeit dachte es nach... Und dann kam ihm die rettende Idee.

"Seigi Chiba", flüsterte es. "Seigi Chiba... Ich denke, es wird allmählich wieder Zeit, ein wenig Schicksal zu spielen..."
 


 

[Anmerkung des Autors]:
 

Der etwas weiter oben genannte Charakter "Massanorie" gehört nicht mir, sondern meiner lieben Freundin RallyVincento. ^^

Wer ihre hammergeile Story "Sind die Sterne gegen uns?" auch mal lesen will, der klicke hier:
 

http://animexx.4players.de/fanfic/?doc_modus=startseite&ff=88158
 

(Sollte der Link nicht funktionieren, sagt mir bescheid... ich muss dann halt hier ein wenig herumtesten...)
 

Is echt ne super Geschichte!

"Herr der Erde", murmelte es unhörbar in der Finsternis. "Tja, Herr der Erde, wie bringe ich Dich also dazu, das zu tun, was ich von Dir will?"

Lange Zeit dachte es nach... Und dann kam ihm die rettende Idee.

"Seigi Chiba", flüsterte es. "Seigi Chiba... Ich denke, es wird allmählich wieder Zeit, ein wenig Schicksal zu spielen..."

Schnell hatte es herausgefunden, wo es hin musste. Als es die Welt der Menschen betrat und von dort aus mit weit entfalteten Schwingen durch die Lüfte jagte, blickte es sich suchend um - und fand schließlich, was es suchte. Ohne den geringsten Laut zu verursachen landete es auf dem hochgelegenen Balkon eines gigantischen Hochhauses. Dieses Bürogebäude war mit spiegelnden Fenstern nur so übersät - von Weitem glaubte man, einen riesigen, senkrecht emporragenden Schlangenkörper zu sehen, dessen Schuppen aus glitzerndem Kristall zu bestehen schien. Von drinnen musste man wohl einen wunderbaren Blick nach außen haben - von außen betrachtet sah man nur sein eigenes Spiegelbild.

Doch das machte ihm nichts, es wusste auch so, wonach es zu suchen hatte. Geräuschlos machte es einige Schritte den Balkon entlang, und als es vor einem bestimmten Fenster stand, da ging sein schattenhafter, materieloser Körper einfach durch das Glas hindurch. Auf der anderen Seite befand sich ein teuer eingerichteter Büroraum, einige Aktenschränke standen an der Wand, auf dem riesigen Schreibtisch thronte der Monitor eines modernen Computersystems und dahinter saß ein etwas dicklicher Mann mit kreidebleichem Gesicht auf seinem Ledersessel und hatte vor lauter Angst echte Mühe damit, Luft zu bekommen.

"Wer... Was... Was...", stammelte der Mann und krallte seine Finger so fest in die ledernen Armlehnen seines Sessels, dass die Finger weiß wurden.

<Du also...>, dachte es, doch es konnte diesen Gedanken nicht laut aussprechen. <...Du bist der Schlüssel, mit dessen Hilfe ich zum Herrn der Erde gelangen werde...>

Mit langsamen Schritten näherte es sich seinem Opfer. Der Dicke bekam nicht einmal ein leises Krächzen über die Lippen. Er rollte mit seinem Sessel so weit zurück, bis die Wand in seinem Rücken seiner <Flucht> ein abruptes Ende setzte. Schwer keuchend presste er seinen Rücken gegen das Leder. Irgendwann waren seine Stimmbänder wieder dazu in der Lage, ein leises Flüstern herauszupressen:

"Was willst Du von mir, Teufel?"

Statt zu antworten, machte es nur einen Sprung auf den Schreibtisch, lief dort einen weiteren Schritt und sprang auf der anderen Seite herunter. Nun stand es dem Dicken direkt gegenüber.

Der Mann hatte inzwischen jegliche Gesichtsfarbe verloren. Kalter Schweiß rann in strömen über sein Antlitz, und als es ihm auch noch eine krallenbewährte Hand entgegenstreckte, da versagte die Blasenmuskulatur des Mannes und er machte sich in die Hose.

Fast schon sanft berührte es die Stirn seines Gegenübers und tastete unter der Aufbringung all seiner Konzentration über den Geist des Mannes. Keine zwei Sekunden später hatte es schon den geistigen Widerstand des Dicken überwunden und besaß die volle Kontrolle über dessen Unterbewusstsein. Seine Gesichtszüge erschlafften sofort und sein Blick wurde leer und glasig. Er begann sogar ein wenig zu sabbern.

Von nun an musste es nicht mehr in der unmittelbaren Nähe des Mannes bleiben und konnte ihn trotzdem steuern wie eine willenlose Marionette. Sein Geist war schwach; wahrscheinlich besaß dieser Mann nicht halb so viel Selbstbewusstsein, wie es sonst immer den Anschein gehabt hatte.

Es zog sich zurück und verschmolz mit dem Schatten, den die Gardinen am Fenster boten. So wurde es für das menschliche Auge unsichtbar, aber dennoch befand es sich auch weiterhin in der Welt der Menschen.

Seine Marionette hob in einer langsamen, stockenden Bewegung den Arm und wischte mit dem Ärmel den Sabber vom Mundwinkel weg. Dann drückte der Mann einen Knopf auf der Sprechanlage, die vor ihm auf dem Schreibtisch stand und sprach in langsamer, monotoner Art, wie es wohl nur ein Schwachsinniger getan hätte, zu seiner Sekretärin:

"Holen Sie mir sofort Seigi Chiba herein."

Und als dieser Augenblicke später mit leicht verwirrtem Gesichtsausdruck und einem vorsichtigen "Guten Tag, Chef. Sie wünschen?" hereinkam, da breitete sich auch schon ansatzweise der leichte Geruch von Ammoniak im Zimmer aus. Doch es hatte nun wirklich besseres zu tun, als seiner Marionette erst neue Hosen anzuziehen.

"Herr Chiba!", so sprach der Dicke langsam, dessen Lippen, Zunge und Kiefer sehr ungelenk von ihm geführt wurden. "Ich habe eine wichtige Nachricht für Sie"...
 

Ein leises, aber dennoch markantes <Wumm> ließ Mamoru wissen, dass sein Onkel Seigi nun endlich zu Hause angekommen war und die Tür hinter sich ins Schloss drückte. Eine Sekunde später scholl auch seine Stimme durch die Wohnung:

"Ich bin wieder zu Hause!"

Es war inzwischen spät am Abend - ungewöhnlich spät sogar. Seigi war normalerweise um Stunden früher zu Hause. Es kam nur ab und an vor, dass er einige Überstunden hinlegen musste. Nun gut, er war ja jetzt immerhin zu Hause. Also kein Grund, sich Sorgen zu machen.

"Mittwoch... Mittwoch...", murmelte Mamoru, während er auf den Kalender starrte, der in seinem Zimmer an der Wand hing. "Heute ist Mittwoch. Das heißt... ich hab nur noch zwei Tage lang Schule. Dann sind ... Ferien, Ferien, Ferien!!!"

Er trällerte es leise vor sich hin, während sich ein zufriedenes Lächeln auf seinen Lippen breit machte. Er hatte keine wirkliche Vorstellung davon, was er in dieser Zeit unternehmen wollte. Wahrscheinlich würde er - wie schon so oft - mit Motoki herumhängen. Sie würden die Videospiele in der Spielhalle von Motokis Vater durchzocken oder vielleicht Motokis kleine Schwester Unazuki ärgern. Je nachdem, was gerade in greifbarer Nähe war.

Mamoru gähnte. Er fühlte sich schon den ganzen Tag wahnsinnig müde, und es wurde für ihn wirklich allmählich Zeit, ins Bett zu gehen. Zunächst packte er noch seine Schultasche für den morgigen - und zweitletzten - Schultag (allein dieser Gedanke ließ ihn wie ein Honigkuchenpferd grinsen) und dann verschwand er im Bad um sich die Zähne zu putzen. Und nur Minuten später ging er zurück auf sein Zimmer. Dort entledigte er sich zunächst seiner Socken und zog sich dann seinen Pullover aus, den er achtlos fallen ließ. Er war wirklich erschöpft und sehnte sich nach seinem Bett. Für Ordentlichkeit war in seinem übermüdeten Gehirn schon gar kein Platz mehr. Nur Sekunden darauf landete auch das Unterhemd neben dem Pullover am Fußboden. Das einzige Stück, mit dem er behutsam umging, war die Silberkette, sie er von seinem Hals löste. Er legte die Spieluhr und den Ehering seiner Mutter, die daran befestigt waren, vorsichtig auf seinen Nachttisch. Er griff nach dem Gürtel seiner Jeans um sie zu öffnen und hielt doch im letzten Moment inne, als ihm der Gedanke kam, dass er seinen Onkel Seigi für heute noch gar nicht begrüßt hatte und Mamoru ihm und Tante Kioku zumindest noch eine gute Nacht wünschen sollte.

So gähnte er also herzhaft, streckte sich ausführlich, wobei sein Rücken laut krachte, und tapste schlussendlich barfuss ins Wohnzimmer.

"Tante Kioku! Onkel Seigi! Ich wollt euch noch schnell Bescheid sagen, dass ich jetzt schlafen gehe. Gute Nacht!"

Die Beiden saßen auf der Couch, unterbrachen ihr Gespräch und blickten Mamoru entgegen.

"Mamoru...", fing Seigi an und schenkte ihm ein warmes, wenn auch müdes Lächeln. "...Ich hatte gehofft, Du hättest noch etwas Zeit heute. Es gibt nämlich eine wichtige Neuigkeit, die wir beide mit Dir zu besprechen haben."

<Ich hoffe mal, es ist nicht der Fall, dass Chikara schlussendlich doch gepetzt hat, dass ich ihn so in die Mangel genommen habe? Sähe ihm jedenfalls nicht ähnlich; er ist zwar dämlicher als zehn Meter Feldweg, aber er weiß, wann er die Klappe zu halten hat... Hoffe ich doch...>

"Ähm ... sicher. Warum auch nicht?", meinte Mamoru, hockte sich den beiden gegenüber in den Sessel und machte es sich im Schneidersitz bequem. "Worum geht's?"

"Wie Dir sicher aufgefallen ist", so begann Seigi, "hab ich heute sehr viel Zeit im Büro verbracht und bin ein gutes Stück später nach Hause gekommen als normal gewesen wäre. Und das hat einen besonderen Grund. Mein Chef hat sich heute sehr lange mit mir unterhalten. Es ... es ging um ein sehr wichtiges Thema ... ich weiß nicht, wie ich es Dir sagen soll ... es wird Dir bestimmt nicht sehr gefallen..."

"Ich würde sagen, spuck's einfach aus!", schlug Mamoru vor. Ihn beschlich allerdings ein leises Gefühl der Sorge. "Oder... Sag mir jetzt nicht, sie haben Dich ... gefeuert? Nein, oder?"

Seigi lächelte ihn warm an und schüttelte sanft den Kopf. Dennoch wirkte er ziemlich müde, als hätte er sich wirklich das Gehirn über etwas zermartert.

"Nein, mach Dir da mal keine Sorgen. Im Gegenteil! Mir wurde ... eine Art ... Beförderung angeboten..."

"Und was ist daran so schlimm?", fragte Mamoru dazwischen. Er mochte es nicht besonders, wenn man mit schlechten Neuigkeiten - welcher Art auch immer - nicht sofort auf den Punkt kam.

"...eine Beförderung in die Vereinigten Staaten von Amerika; nach Texas", beendete Seigi seinen Satz. Er lehnte sich zurück und seufzte, während er seinen Neffen dabei beobachtete, wie dieser sich den letzten Satz wieder und wieder durch sein Gehirn laufen ließ.

"Texas?", fragte Mamoru gedehnt, nachdem ihm nach einigen Sekunden klar wurde, was das bedeutete. "In den USA? Auf einem anderen Kontinent? Tja ... und wir? Tante Kioku und ich?"

"Ihr seid in diesem <Angebot> meiner Firma mit drin", erläuterte da sein Onkel. "Ich bekomme ein besseres Gehalt - wenn es auch nicht berauschend viel wird, aber immerhin besser - und ich ... wir bekommen ein Haus zur Verfügung gestellt..."

"Ein Haus?", echote Mamoru ungläubig. "Ein ganzes Haus? Nur für uns drei?"

Seigi nickte. "Es wäre auch für eine Schule für Dich gesorgt. Das wäre also absolut kein Problem. Das Grundstück soll angeblich groß sein und man braucht eine Weile, um in die nächste Stadt zu kommen. Rundherum stehen nur einige weitere Ranches. ...Wenn ich <rundherum> sage, dann meine ich einen Umkreis von mehreren Kilometern, wohlgemerkt."

Eine Weile herrschte Stille. Mamoru dachte darüber nach, was er da gerade gehört hatte. Er kratzte sich dabei an seiner entblößten Schulter. Ihm war noch immer nicht so recht klar, was er davon halten solle.

"Hast Du schon zugesagt?", fragte er nach.

"Das ist es ja gerade, was mir solches Kopfzerbrechen bereitet", stöhnte Seigi. "Man hat mir gar keine Entscheidung gelassen. Ich konnte entweder die neue Stelle annehmen oder ich wäre meinen Job losgeworden. Natürlich hab ich zugesagt; nach stundenlanger Debatte. Aber ich möchte euch beide nicht dazu zwingen, mit mir zu kommen. Ich schätze, es liegt jetzt an Dir, Mamoru."

"An mir? Wieso an mir?"

Nun endlich ergriff auch Kioku mal das Wort. In sanftem Ton erklärte sie ihm:

"Ich kann mich nach jedem von euch richten. Es wäre zwar schon schön, wenn wir beide Seigi begleiten würden, aber wenn Du Dich dagegen entscheidest, wäre ich selbstredend dazu bereit, hier zu bleiben, damit Du nicht ganz allein bist."

"Ich müsste meine ganzen Freunde hier zurücklassen...", grübelte Mamoru.

"Das ist uns bewusst", meinte Seigi. "Auf der anderen Seite könntest Du in Amerika natürlich neue Freunde finden. Du könntest die Chance auch nutzen und Dein Englisch verbessern."

"Ich glaube, Du hättest sowieso kaum Probleme, Dich in der Sprache zurecht zu finden", bestätigte auch Kioku. "Außerdem wäre es doch bestimmt eine interessante Lebenserfahrung für Dich."

"Und für wie lange?", wollte Mamoru wissen. Irgendwie fühlte er sich von Minute zu Minute unwohler. Jetzt nach Amerika reisen? Wo hier doch dank dem Schattenwesen und Jedyte gerade die Hölle loswar?

"Für mich natürlich länger", antwortete Seigi. "Jahre. Es ist eine richtige, feste Anstellung. Du könntest natürlich nur mal probeweise ein Jahr bleiben. Oder vielleicht auch nur ein halbes. Oder womöglich gefällt es Dir ja, und Du magst hinterher gar nicht mehr weg?"

"Amerika ist auch gar nicht mal so schlimm", erklärte Kioku. "Als Seigi und ich damals für einige Jahre in Boston gelebt haben, ging es uns auch fabelhaft!"

Mamoru nickte. Er hatte schon gar nicht mehr daran gedacht, dass die beiden eine ganze Zeit in den Vereinigten Staaten verbracht hatten, als er noch ein Kind gewesen war.

"Also, ich weiß ja nicht...", murmelte Mamoru.

"Ich weiß, das alles kommt etwas plötzlich für Dich", sagte sein Onkel, "und Du machst Dir sicher so Deine Gedanken. Aber Dir wird zumindest eine Wahl gelassen."

"Außerdem", warf Kioku ein, "wären wir in Amerika vielleicht etwas sicherer..."

Sie sprach nicht weiter und Mamoru horchte auf. "Was meinst Du?"

"Ach, Du hast bestimmt schon davon gehört", fuhr sie zögerlich fort. "In der letzten Zeit sind viele Leute krank geworden. Eigenartige Dinge gehen in der Stadt vor sich. Menschen, die sonst kerngesund sind brechen auf einmal zusammen, wachen erst Stunden oder Tage später wieder auf und faseln irgend ein Zeug, von wegen ein Schatten hätte sie angegriffen. Heute ist dieses Phänomen zum ersten Mal auch in Amerika aufgetreten, aber es beginnt sich ganz allmählich auf den verschiedensten Punkten der Welt auszubreiten. Doch am meisten betroffen ist Japan, speziell Tokyo. Ich bekomme allmählich Angst, weiter in dieser Stadt zu bleiben."

Mamoru starrte sie entsetzt an, nickte dann aber. Das Schattenwesen wanderte also auf der Welt herum? Oder gab es vielleicht sogar mehrere davon? Oder hatte womöglich Jedyte seine Hand im Spiel?

Wie man es auch drehen mochte, es war falsch. Würde er hier bleiben, um Jedyte und das schwarze Wesen zu bekämpfen, so riskierte er vielleicht viele Menschenleben hier. Andererseits, wenn er nach Amerika ging, würde die Kreatur ihm wahrscheinlich auch dorthin folgen. War denn überhaupt ein Flecken auf dieser Erde sicher?

Das größte Problem war, dass er noch immer nicht wusste, wer oder was das Schattenwesen war, und was es vorhatte.

"Mamoru...", sagte Kioku in leisem, sanften Ton. "...überleg doch mal. Vielleicht leidet Hikari ja genauso unter dieser seltsamen Krankheit. Die Ärzte wissen immer noch nicht, was das alles zu bedeuten hat und was es für Auswirkungen nach sich ziehen kann. Keiner weiß, ob es ansteckend ist. Oder wer alles davon betroffen sein könnte. Man sucht nach einem Schutzmittel, bislang aber ohne Erfolg."

Am liebsten hätte Mamoru nun hysterisch aufgelacht. Es gab kein Mittel gegen den lebenden Schatten. Keine Spritze, kein Gewehr und kein Gebet könnten dieses Wesen je vernichten.

Als er noch immer keinen Ton von sich gegeben hatte, ergriff Seigi wieder das Wort:

"Es ist klar, dass wir nicht unbedingt zu hundert Prozent geschützt sind, nur weil wir in eine andere Gegend ziehen. Aber es wäre immerhin einen Versuch wert. Mir wäre es ehrlich gesagt lieber, wenn ich meine Familie um mich hätte, damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist. Aber es ist nur ein Angebot, Mamoru. Schlussendlich entscheidest Du. Denk drüber nach."

"Und wie viel Zeit habe ich dafür?", fragte Mamoru leise.

"Leider nicht sehr lange." Seigi schüttelte betrübt den Kopf. "Ein paar Tage. Ich muss das so schnell wie nur irgend möglich wissen. Denn dementsprechend muss ich Dich in Amerika auf der Schule anmelden, die Reise muss geregelt werden, bald muss ich mit dem Packen anfangen... Auf mich kommt nun viel Arbeit zu. Spätestens bis Mitte April müssten wir fertig mit dem Umzug sein, damit Du nicht zu viel Unterricht verpasst. Du wirst Dich so oder so zuerst in der Schule zurechtfinden lernen müssen, bevor es richtig losgehen kann. In Amerika läuft die Schule anders ab als hier."

Mamoru gab keinen Ton von sich. Er hockte nur da und starrte vor sich hin, während in seinem Kopf ein wahrer Wirbelsturm von Gedanken brauste.

"Es tut mir wirklich Leid", flüsterte Seigi, "dass ich Dich jetzt so damit überfalle. Das alles muss wirklich schwer für Dich sein. Ich hätte Dir gerne etwas mehr Zeit dafür eingeräumt. Entschuldige bitte."

"Schon gut", wisperte Mamoru so leise, dass man ihn kaum verstand. "Es ist in Ordnung. Ich werde drüber nachdenken. Und Du kannst ja nichts dafür! Es wird schon eine Lösung geben. Ich gehe jetzt schlafen. Gute Nacht."

Sein Onkel und seine Tante wünschten ihm auch eine gute Nacht. Doch das registrierte er kaum.

Nach stundenlanger Debatte und einer immensen Überzeugungskraft, die eher seinen magischen als seinen rhetorischen Fähigkeiten zu verdanken waren, hatte es endlich bekommen, was es wollte. Seigi Chiba würde nach Amerika reisen, und wenn es sich jetzt noch geschickt anstellte, dann würde er auch den Herrn der Erde mitnehmen.

Der Geist des Ziels allerdings wurde vom Wächter der Träume, dem legendären Goldenen Kristall, beschützt. Dieser Umstand machte es unmöglich, das Bewusstsein des Herrn der Erde direkt anzugreifen. Das Ziel war also nicht ohne weiteres manipulierbar. Doch es wusste inzwischen die Barrieren zu knacken. Zwar konnte es dem Herrn der Erde nicht seinen Willen aufzwingen, wie das bei vielen gewöhnlichen Menschen möglich war, doch es musste nur kräftig im Unterbewusstsein des Ziels wühlen, um überzeugend zu sein. Wenn es den Herrn der Erde nur auf die rechte Fährte brachte, dann würde dieser den Weg von selbst beschreiten. Daran hatte es sich noch nie schwer getan.

Nachdem es sich stillschweigend wieder aus dem Geist des Dicken entfernt hatte und dabei penibel darauf achtete, keine unerwünschten Erinnerungen zurück zu lassen, zog es sich wieder in die Dimension der zeitlosen Finsternis zurück.

Das Tier war noch nicht vollkommen aus seinem langen Schlaf erwacht. Doch immer öfter durchfuhr ein Zucken seinen Körper, und seine Atmung ging nun regelmäßiger. Bald würde es dazu in der Lage sein, mit ihm zusammen in die Welt der Menschen zu treten. Hoffentlich war das Tier rechtzeitig wach.

Vorsichtig kniete es neben dem Tier nieder und beobachtete es eingehend, während seine krallenbewährten Finger über das schwere Fell strichen.

"Gerne würde ich Dir jetzt helfen", flüsterte es dem schlafenden Wesen zu. Die Düsternis saugte jedes einzelne Wort auf. "Doch ich brauche jetzt Kraft. Ich muss den Herrn der Erde lenken. Erst am nächsten Morgen kann ich mich wieder aufmachen und neue Energien für Dich beschaffen. Sei ohne Sorge, mein Kampfgefährte. Ich werde unseren Herrn und Meister kontaktieren. Wenn unsere Mission weiterhin gut verläuft, können wir vielleicht bald auf große Energien von ihm hoffen."

Das Tier rührte sich nicht. Dennoch hatte es das Gefühl, das Tier habe die Worte gehört und verstanden. Denn trotz der Jahrhunderte des todesähnlichen Tiefschlafes besaß das Tier in dieser Dimension annährend die selben Fähigkeiten wie es. Irgendwo im tiefsten Unterbewusstsein war das Tier wach und lauerte auf sein neues Leben jenseits der Finsternis.

Doch nun musste es seine Aufmerksamkeit wieder vom Tier ablenken. Denn es benötigte jetzt seine gesamte Konzentration für den Herrn der Erde.
 

"Amerika", murmelte Mamoru vor sich hin, als er sich nun endlich auch seine Jeans auszog. Er konnte es immer noch nicht fassen. Sein Onkel wollte ihn doch tatsächlich nach Amerika schleppen!

Amerika!

Die Überraschung - oder konnte man das schon als Schock bezeichnen? - saß tief in Mamorus Knochen. Doch wer würde anders reagieren, wenn er gerade erfahren hätte, dass urplötzlich etwas völlig Unerwartetes auf ihn zukam? Tausend Gedanken jagten ihm durch den Kopf während er sich seinen Pyjama anzog.

Die Entscheidung würde ihm schwer fallen, doch er musste sich bald darüber im Klaren sein, was er tun wollte.

Schon sehr bald!

Endlich im weichen Bett angekommen gähnte er erst mal müde. Er fühlte sich so abgekämpft wie selten zuvor in seinem Leben. Er musste sich auch nur ein paar Mal hin und her drehen, bis er eine gemütliche Position gefunden hatte und dann schlief er sofort ein.
 

In seinem Traum hatte er den Eindruck, als würde er laufen. Oder eher noch: er rannte. Er wusste selbst nicht genau, wohin.

Er wusste nur, was er an diesem dort finden würde: den Heiligen Silberkristall.

Er fühlte sich, als würde die Zeit vollkommen stehen bleiben. Sein Weg führte ihn durch absolute Dunkelheit. Alles, was er wahrnahm, war der schnelle Rhythmus seines jagenden Herzens. Ihm schien, als sei er schon seit Ewigkeiten gerannt.

Und irgendwann blieb er stehen.

Obwohl er sich nun nicht mehr bewegte, hatte es den Anschein, als verändere sich die Welt um ihn herum. Vor ihm, hinter ihm, neben ihm, unter und über ihm fuhr eine sonderbare Welt vorbei, die wie aus dem Mittelalter gerissen wirkte. In kürzester Zeit flogen Bilder an Mamorus Auge vorüber, als wäre er selbst der Wind, der durch dieses eigenartige, alte Land strich. Er sah einen Schmied, der gerade ein rot glühendes Hufeisen mit einem gewaltigen Hammer bearbeitete. Nur Sekundenbruchteile später schien es, als flöge Mamoru über eine gewaltige Wiese; eine von Menschenhand unberührte Natur. Und nur einen Augenblick danach sah er ein prunkvolles Schloss auf sich zurasen, vor dem eine handvoll Gaukler beeindruckende Kunststücke zeigten und von einigen mittelalterlich gewandeten Leuten bejubelt wurden. All diese Eindrücke - und noch viele mehr - stürmten auf Mamoru ein. Er hatte nie genug Zeit, sich wirklich auf das zu konzentrieren, was er da sah. Und dennoch beschlich ihn das leise Gefühl, als habe er das alles schon einmal gesehen ... vor langer, langer Zeit...

Diese ungewöhnliche Reise nahm in einem gigantischen Ballsaal ein Ende. Die gesamte Halle bestand aus weißem Marmor. Sie war bestimmt dreimal so groß wie ein Fußballplatz. Etliche Leute befanden sich in diesem Raum. Sie alle waren festlich gekleidet und trugen Masken über den Augen. Die meisten dieser Menschen tanzten zu einer langsamen Walzermusik. Es herrschte eine angenehme, friedliche Atmosphäre. Die Leute sahen sehr glücklich aus.

Plötzlich ging ein leises Raunen durch die Menge und alle drehten sich zu der gewaltigen Treppe am anderen Ende des Raumes um. Mamoru verstand nur einige getuschelte Wortfetzen.

"Seht nur!"

"Die Erbin des..."

"Das ist sie!"

"...wunderschön!"

"Dort! Dort kommt sie!"

"...des Mondes..."

"...wahrlich edel!"

"Ich habe gehört..."

"...Thronfolgerin des Silver Millennium..."

"Sie ist..."

"...angeblich soll sie..."

"...traumhaft schön!"

"...die Mondprinzessin..."

Mamoru traute seinen Ohren kaum.

"Eine Mondprinzessin?", äffte er ungläubig nach, während der Ausdruck purer Skepsis sein Gesicht zierte. Er fühlte sich irgendwie auf den Arm genommen. Das musste er sich aus der Nähe ansehen!

Er drängelte und quetschte sich durch die Menge, was einige Zeit in Anspruch nahm, und als er diese Mondprinzessin dann endlich sah, da blieb ihm schier die Spucke weg. Das war doch die Frau, die ihm Nacht für Nacht sagte, er solle nach dem Silberkristall suchen!

Sie war also eine Mondprinzessin!

<Na sieh mal einer an!>, staunte er. Er konnte sie auf die Entfernung immer noch nicht so gut sehen, wie er das gerne getan hätte. Er bekam nur eine Ahnung davon, wie wunderschön sie wohl sein musste. Sie drehte ihm den Rücken zu, doch ihre langen Haare, die zu zwei goldenen Zöpfen zusammengebunden waren, blieben unverkennbar. Sie war es definitiv!

<Ich muss ... näher ... ran!>

Doch leichter gedacht als getan, denn die Menschen um ihn herum schienen ganz ähnliches im Sinn zu haben. Alle hatten sie nur Augen für die wunderschöne Prinzessin.

Zwischen den Armen und Schultern der anderen Menschen konnte Mamoru sehen, wie sich jemand der Prinzessin näherte. Dieser Jemand schien ein junger Mann zu sein, doch mehr als einen schwarzen Smoking konnte Mamoru nicht erkennen. Der Mann machte einen ehrfurchtsvollen Knicks vor der Prinzessin, ergriff vorsichtig ihre Hand, hauchte ihr einen zärtlichen Handkuss auf und trotz dem Gemurmel der Leute hörte Mamoru sein Flüstern:

"Prinzessin, darf ich um diesen Tanz bitten?"

"Aber gerne doch", wisperte sie zurück. Allmählich ließ der Menschenandrang wieder nach und die Leute fuhren damit fort, zu tanzen und das Fest zu genießen. Die Prinzessin verschwand mit dem Mann auf der Tanzfläche.

<So ein Mist!>, fluchte Mamoru lautlos, während er sich auf die Zehenspitzen stellte, um über die anderen hinweg sehen zu können. Dennoch hatte er Mühe, die beiden Tanzenden im Auge zu behalten.

Das sollte sich jedoch bald ändern.

Mamoru blinzelte. Und als er seine Augen nur den Bruchteil einer Sekunde später wieder öffnete, war er selbst dieser Mann, der mit der Prinzessin tanzte. Zu seiner eigenen Überraschung konnte er das sogar ziemlich gut. Als hätte er das schon seit Ewigkeiten getan.

"Pri ... Prinzessin...", stammelte er etwas hilflos. Wie war er da nur schon wieder hinein geraten?

"Herr der Erde", wisperte die Mondprinzessin so leise, dass niemand sonst sie zu hören vermocht hätte. "Suche den Heiligen Silberkristall."

"Bin gerade dabei", kam es wie aus der Pistole geschossen. Und dann erst wurde ihm klar, was er da sagte. Er war doch gerade mit tanzen beschäftigt ... aber irgendwie war es zur gleichen Zeit die Wahrheit, dass er gerade am suchen war...

Mamoru war verwirrt. Urplötzlich wusste er nicht mehr, was um ihn herum geschah. Der Ballsaal, die Menschen, die Musik ... das alles verblasste. Zurück blieben nur er, die Mondprinzessin und tiefe Schwärze.

Die Mondprinzessin wirkte irgendwie geschockt. Sie stand einfach nur da und starrte ihn an. So, als wäre mit dem Ballsaal auch das Licht verblasst, sah Mamoru die Mondprinzessin nur noch als kaum erkennbaren Schatten. Sonderbarerweise konnte er sich plötzlich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern, das er gerade eben beim tanzen noch gesehen hatte.

Es war wie aus seinem Bewusstsein gelöscht. Ganz so, als habe diese Prinzessin niemals ein Gesicht besessen.

"Prinzessin", begann Mamoru zögerlich. Seine Verwirrung stieg ins Unermessliche. "Was ist auf einmal los? Warum ... Wie kann es sein, dass ich das Gefühl habe, zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Orten zu sein?"

Die Prinzessin war zunächst reglos. Sie schien zur Salzsäule erstarrt zu sein, als ob sie sich vor irgendetwas fürchten würde. Dann begann sie ganz leicht den Kopf zu schütteln. Und dann wisperte sie leise:

"Nein. ...Nein, das kann nicht sein. Das darfst Du nicht ... nicht jetzt, bitte!"

"Was darf ich nicht?", fragte Mamoru, nun vollkommen perplex. "Wovon..."

"Nein!", kreischte die Prinzessin, "Du darfst jetzt um Himmels Willen nicht aufwachen!"

"Was?", flüsterte er hilflos. "Aufwachen?"

Als er sich nun umsah, hatte sich seine Umgebung schlagartig geändert. Er stand in einem relativ weiten Raum. Das erste, was ihm auffiel, waren die glitzernden Glassplitter, die überall auf dem silbergrauen Teppichboden verteilt lagen. Glaskästen und Vitrinen waren aufgebrochen. Ohrringe, Halsketten, Perlen und Ringe lagen zusammen mit ihren Preisschildchen zwischen den Glassplittern. Von den Wänden hingen etwa ein halbes Dutzend völlig zerstörter Kameras. Und Mamorus Hand fühlte sich so schwer an.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass er eine ganze Reihe von Anhängern, Broschen und Ringen auf seinem weißen Handschuh liegen hatte. Des weiteren stellte er fest, dass er wieder diesen schwarzen Anzug mit dem weiten Umhang und der Maske trug. Der Zylinder stand auf dem Boden, die offene Seite nach oben, randvoll mit teurem Schmuck befüllt.

Mamoru fand das alles sehr eigenartig.

"Cool", meinte er darauf. "Okay. Das ist der mit Abstand abgefahrenste Traum, den ich je hatte. Respekt."

Dann sah er auf seine Handfläche runder, die vor Kristallen und Edelsteinen nur so funkelte.

"Aber der Silberkristall scheint hier nicht dabei zu sein", murmelte er. Er verstand zwar selbst nicht so recht, wie er jetzt so cool bleiben konnte, aber es war ihm auch ziemlich egal. War ja nur ein Traum.

Er stand noch einige Sekunden unschlüssig mitten in diesem Juweliergeschäft herum, bis er einen leichten, angenehmen Druck auf seinem Kopf spürte. Es fühlte sich fast so an, als würde sich eine warme Hand über sein Gehirn legen und ganz sanft eine Nervenbahn nach der anderen zudrücken, bis er das Gefühl für seinen Körper völlig verlor. Er taumelte auf seinen tauben Beinen einige Schritte vorwärts. Nahtlos vollzog sich der Übergang in die nächste eigenartige Welt seines Unterbewusstseins.

Diesmal landete er in einem Albtraum.

Er fand sich in einem Raum wieder, der von vollkommen schwarzer Farbe war. Der Fußboden war quadratisch, an jeder Seite etwa fünf Meter lang. Es gab keine Fenster, keine Tür, auch kein Mobiliar.

Mamoru rannte zu einer der Wände hin und hämmerte mit den Fäusten dagegen, doch die Mauer gab noch nicht einmal das dumpfe Pochen wider, das man von den Schlägen erwartet hätte. Als gäbe es hier keine Geräusche. Mamoru schrie nach Leibeskräften, doch es war ihm, als höre er seine Stimme nur leise in seinem Kopf, nicht aber in seinen Ohren. Dann warf er sich mit aller Wucht gegen die Wände, doch das brachte ihn nicht weiter.

Dann fiel Mamoru ein winziger Rinnsal auf, der sich in einer oberen Ecke des Raumes gebildet hatte und nun langsam an der Wand entlang floss. Die Flüssigkeit stellte sich beim näheren Hinsehen als relativ zähflüssig heraus und war von roter Farbe.

Blut!

Und es beließ sich nicht bei einem einzigen Rinnsal. Plötzlich quoll aus allen vier Kanten, die Decke und Wände mit einander verbanden, roter Saft. Wasserfällen gleich glitten sie an den Wänden herab und bildeten auf dem Boden immer größer werdende Pfützen, bis schließlich der ganze Boden bedeckt war. Und der Pegel stieg weiter an.

Entsetzt wich Mamoru zurück. Er presste seinen Rücken gegen eine der vier Wände, und das Blut ergoss sich über seine Schultern und über seinen Körper hinweg. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Mehr und mehr dunkles, rotes Blut strömte aus den Wänden hervor und die ekelhaft warme Brühe reichte Mamoru schon bis an die Knie.

Er spürte plötzlich einen leichten Ruck in seinem Rücken. Und dann wurde er vorwärts geschoben. Die Wände bewegten sich langsam auf einander zu. Das Blut stieg schneller und höher an, je mehr die Wände sich einander näherten.

<Ich will hier raus!>, dachte Mamoru entsetzt. Die wilde Verzweiflung packte ihn. Der Raum war derweil schon merklich geschrumpft und hatte dabei den Pegel der roten Flüssigkeit um einiges angehoben.

"Was geschieht hier bloß für eine Scheiße?", fluchte er wild herum während er seinen Rücken fest gegen die Wand presste und dabei versuchte, sich ihr entgegen zu stemmen. Doch die geheimnisvolle Kraft, die den Raum schrumpfen ließ, war viel stärker als er.

Dann schien es, als würde auf der ihm gegenüber liegenden Wand der Blutstrom allmählich abreißen. Es sah fast aus, als würde man einen roten Vorhang öffnen, um den Blick auf eine Theaterbühne freizugeben. Zum Vorschein kam wieder die Schwärze, die zuvor schon auf der Wand geherrscht hatte, doch nun schien es nicht nur eine flache Wand zu sein, sondern da war eine gewisse Tiefe zu erkennen; als würde man durch ein schwarzes Loch in eine Welt hinter der Mauer blicken. Zwei weiße Lichter hüpften auf der schwarzen Kulisse hin und her. Sie strahlten Mamoru direkt an. Geblendet und überrascht von diesem eigenartigen Schauspiel starrte er die Lichter fasziniert an; wie sie sich hin- und her bewegten und dabei immer schön im selben Abstand neben einander blieben. Er vergaß dabei sogar das Blut und den Raum um sich herum völlig. Es schien fast, als gäbe es das alles auf einmal gar nicht mehr; als sei es absolut unwichtig geworden.

Die Lichter wurden allmählich etwas größer, sie kamen offensichtlich auf Mamoru zu. Staunend blieb er einfach reglos stehen und richtete seinen Blick auch weiterhin starr auf das Leuchten.

Und dann begriff er endlich, was er da vor sich hatte.

Er machte einen gewaltigen Satz zur Seite und brachte sich gerade noch in Sicherheit, wobei er sich an der Bordsteinkante den Ellenbogen aufstieß.

Ein lautes "Hey, pass doch auf, Du Idiot!" erklang noch, dann war das Auto auch schon wieder vorbei gebraust.

Mamoru sah sich verwirrt um. Er kannte diese Gegend, er war nicht weit von zu Hause weg. Er besah sich seinen Ellenbogen. Dieser schmerzte leicht und blutete etwas. Der schwarze Anzug war am Ärmel weit auseinander gerissen. Mamoru hätte seine Wunde heilen können, doch irgendwie war er zu verwirrt dazu. Was zum Teufel war denn diese Nacht bloß los?

Er kratzte sich verständnislos am Kopf und lief los. Er wollte erst mal nach Hause und sich gründlich ausruhen. Er war so was von müde. Er wischte sich über die Augen und dabei verlor er aus Versehen die weiße Maske, die er im Gesicht trug. Er drehte sich um und bückte sich danach.

"Doofes Ding", murmelte er. "Gehst mir auf die Nerven."

Er warf die Maske in die nächstbeste Mülltonne. Nur wenige Schritte später war ihm wieder, als griffen warme Finger nach seinem Kopf.

"Ich will nicht", stöhnte er und presste seine Hände gegen seinen Schädel. Er achtete gar nicht auf den Schmerz, den sein aufgeschürfter Ellenbogen aussandte.

"Lass mich doch in Ruhe..."

Doch auch dieses Mal obsiegten die warmen Finger, die ihn zurück ins Traumreich führten. Doch in diesem Fall umgab ihn die Schwärze der Besinnungslosigkeit. Wenn Mamoru tatsächlich einen Traum hatte, so würde er sich später nicht mehr daran erinnern können.
 

"Wieso? Wieso nur?", fluchte es vor sich hin und hämmerte mit der Faust gegen den Boden. "Es hätte nicht passieren dürfen! Verdammt! Wieso? Warum muss der Herr der Erde gerade jetzt die Kraft finden, sich meinen geistigen Fähigkeiten zu widersetzen? Verdammt, er hat sein Leben aufs Spiel gesetzt! Er hätte fast die ganze Mission gefährdet!"

Dann kniete es sich aufrecht hin und beruhigte sich allmählich. Sich jetzt aufzuregen würde die Sache nicht besser machen.

"Der Morgen graut bereits in der Menschenwelt", stellte es fest. Es war betrübt. Es durfte dem Herrn der Erde nicht die Schuld zuschieben, sondern musste sie bei sich selbst suchen. Das Ziel war absolut unschuldig.

Die ganze Zeit über hatte es die Mächte des Herrn der Erde unterschätzt. Aber eigentlich hätte es wissen müssen, welche Kräfte der Goldene Kristall zu entfachen wusste. Wo es normal dessen Kräfte für sich nutzte, indem es sie dem Herrn der Erde stahl, da war nun die Macht des Goldenen Kristalls eher fehl am Platze und somit kontraproduktiv für die gesamte Mission.

Nun musste es herausfinden, welcher Schaden entstanden war. Eigentlich war es seine Idee gewesen, den Herrn der Erde in einem wunderschönen Traum davon zu überzeugen, dass es das Beste sei, diese Reise nach Amerika anzutreten. Nun konnte unter Umständen genau das Gegenteil eingetreten sein. Der Herr der Erde war sehr sensibel. Auf keinen Fall durfte man ihm zu sehr zusetzen. Es hoffte nur, dass es noch nicht zu spät war, und dass man - falls es nötig sein sollte - den Herrn der Erde doch noch umstimmen konnte.

Doch zuerst musste es für sich und seinen Kampfgefährten neue Energie besorgen.
 

Erschrocken riss Mamoru die Augen auf. Mit einem Ruck schnellte sein Oberkörper in die Senkrechte, während ein erstickter Schrei über seine Lippen fuhr.

"Kurzer, es ist alles in Ordnung!", meinte Kioku und legte beruhigend die Hand auf seine Schulter. Sie sah ihn mit sorgenvollem Blick an.

"Es ist alles okay, Kleiner. Es war nur ein Albtraum. Jetzt bist Du wach."

"Tante Kioku...", krächzte er. Seine Stimme war rau und er hatte leichte Halsschmerzen. "Was... was ist..."

Er lag in seinem Bett. Sein Pyjama war schweißnass. Die Haare klebten ihm widerlich auf der Stirn. Er war verwirrt und wusste nicht recht, wo er war. Er hatte Schwierigkeiten, Realität und Traum auseinander zu halten. Er fuhr sich über die Augen und versuchte, die Schrecken der Nacht fortzuwischen.

"Du musst anscheinend sehr schlecht geträumt haben", erklärte Kioku. "Ich hab Dich plötzlich schreien gehört. Ich hab versucht, Dich zu wecken, aber Du bist einfach nicht zu Dir gekommen. Du hast mir richtig Angst gemacht. Wie fühlst Du Dich?"

"Unendlich müde...", murmelte er leise. Sein Kopf dröhnte, sein Herz jagte, sein Körper fühlte sich heiß an, als wollte er von innen verglühen.

"Mamoru...", wisperte Kioku und sah ihm besorgt in die Augen. "Dieser Albtraum ... war das wegen Amerika? Hast Du vielleicht Angst vor der großen Reise?"

"Amerika...", echote Mamoru leise. "Weiß nicht... Angst... Ich glaube eher nicht..."

"Wenn Dich irgend etwas bedrückt, Mamoru, dann sag es mir bitte!", flehte sie.

"Nein", murmelte er und schüttelte leicht den Kopf. "Nein, es ist glaube ich nichts. Ich bin nur so wahnsinnig müde... Als ob..."

<Als ob ich die ganze Nacht lang durch die Stadt gezogen wäre...>

"...als ob ich die ganze Nacht kein Auge zugetan hätte...", beendete er seinen Satz.

"Hmmm...", machte seine Tante und dachte nach. Dann schenkte sie ihm ein trostspendendes Lächeln, wenn ihre Augen dabei auch irgendwie traurig blieben. "Geh erst mal duschen. Ich bereite solange das Frühstück vor. Beeil Dich, es wird Dir gut tun."

"Ja...", flüsterte er. "Ist vielleicht das Beste ... nach diesem eigenartigen Traum..."

Unter der Decke fuhr er sachte mit der Hand über seinen aufgeschürften Ellenbogen, wo sich inzwischen eine dickliche Kruste gebildet hatte...

Mamoru hatte fast den ganzen Morgen damit verbracht, mit Motoki zu diskutieren. Natürlich sind diese Gespräche in schöner Regelmäßigkeit durch den Unterricht unterbrochen worden, und so waren die beiden froh, dass die Schule nun aus war. Sie liefen durch die Stadt während sie weiter miteinander redeten.

Mamoru machte ein ziemlich betrübtes Gesicht. Er wusste noch immer nicht wirklich, was er davon halten sollte, nach Amerika zu reisen. Er war außerdem viel zu müde, um wirklich klar denken zu können. Das einzige, was ihn augenblicklich wach hielt, war die Angst, wieder einzuschlafen und zu träumen. Wenn er auch nur an die merkwürdigen Dinge dachte, die ihm in der vergangenen Nacht widerfahren waren, dann jagte ihm das eiskalte Schauer den Rücken hinunter. Er wusste noch nicht zu sagen, was an diesem abgedrehten Traum Wahrheit sein sollte und was nicht. Er hatte Motoki kein Sterbenswörtchen von seinem nächtlichen Abenteuer erzählt, aus Angst, der Freund könnte ihn für komplett durchgedreht halten. Und auch das nagte an ihm. Zwar wollte er es schon irgendwie zur Sprache bringen. Er wollte es verarbeiten. Doch irgendwie traute er sich nicht so recht, ein derart heikles Thema wie Albträume und Unterbewusstsein ausgerechnet mit einem Menschen wie Motoki auszudiskutieren. Und deswegen ließ er es auch bleiben.

"Mamoru! Hallo! Hörst Du mir überhaupt noch zu?"

"Was? Äh, na klar!"

"Wer's glaubt!", brummte Motoki. "Also was ist jetzt? Wie wirst Du Dich entscheiden? Fliegst Du nach Amerika?"

"Ich weiß nicht...", murmelte Mamoru und wischte sich über die Augen während er mit aller Macht ein Gähnen unterdrückte. "Was würdest Du denn tun?"

"Also ich..." Motoki dachte kurz nach. Dann legte er wieder sein berühmtes Grinsen auf. "Ich würde die Chance auf jeden Fall ergreifen. Ist doch cool! Einfach mal hier weg kommen, die Welt sehen, eine neue Kultur kennen lernen, den heißen Girlies beim Reiten zusehen..."

"Eine andere Antwort hätte ich von Dir nicht erwartet...", murmelte Mamoru.

"Ist doch nix Falsches dabei", antwortete Motoki schulterzuckend. "Und Du wolltest es ja unbedingt wissen. Aber jetzt mal ohne Flachs. Du solltest es auf jeden Fall mal ausprobieren. Is ja nich für ewig. Sie haben Dir ja angeboten, dass Du heim kannst, wann immer Du willst."

"Das wäre dann ein Großumzug! So was ist nicht an einem Tag gemacht!", warf Mamoru ein. "Und außerdem ... außerdem würde ich Dich vermissen. Ich würde alles hier schrecklich vermissen."

<Noch dazu gibt es hier etliche Ungereimtheiten, die ich zuerst aus dem Weg räumen muss>, schoss es ihm durch den Kopf.

"Okay", meinte darauf Motoki achselzuckend, "aber was außer mir hält Dich sonst hier?"

Mamoru musste keine Sekunde nachdenken. "Hikari."

"Wie konnte ich die bloß vergessen?", schnaubte Motoki leise. Darauf fing er sich einen Ellenbogenstoß in die Rippen.

"Red nicht so abfällig über sie!"

"Ich meine ja nur, dass andere Mütter auch schöne Töchter haben", rechtfertigte sich Motoki. "Was ist zum Beispiel mit den ganzen Briefen, die ich Dir letztens gebracht hab? War da denn gar nix Passendes dabei? Äh ... Mamoru?"

Mamoru war stehen geblieben und starrte nun geistesabwesend auf einen kleinen Laden.

"Hey! Mamoru! Was ist denn?", fragte Motoki.

"Warte hier, bin gleich wieder da...", murmelte der Herr der Erde. Nur eine halbe Minute später kam er wieder aus dem Geschäft heraus und steckte seine Nase in die Tageszeitung.

"Jetzt spuck endlich aus, was Du hast! Du gehst mir mit Deiner ewigen Maulfaulheit und Geheimniskrämerei gehörig auf den Sack", maulte Motoki. Dann warf er einen Blick auf die große Überschrift des Tages.

"Spektakulärer Einbruch", las er leise vor. "Juwelierladen von Unbekanntem überfallen; jedoch nicht ausgeraubt. ...Was soll der Mist? Mamoru? Interessiert Dich das?"

Statt zu antworten überflog Mamoru den Artikel in Windeseile. Es handelte sich um einen berühmten und sehr teuren Juwelier, der bekannt wurde, weil er erst vor kurzem mit der neuesten Technologie in Sachen Sicherheit aufgerüstet worden war. Dennoch fehlte jede Spur vom Täter. Keine Fingerabdrücke, keine Hinweise, nichts. Sämtliche Vitrinen sind des Nachts aufgebrochen worden und der gesamte Schmuck wurde durchsucht und wild durcheinander geworfen; aber es fehlte nicht ein einziges Stück. Die Polizei stand vor einem Rätsel.

<Es ist also wahr!>, dachte Mamoru entsetzt. <Das war nicht nur ein abgefahrener Traum ... das war Wirklichkeit! Ich bin da gewesen ... und habe nach dem Silberkristall gesucht! Aber ... wie ... wieso...>

Er konnte es sich nicht erklären. Schlafwandelte er etwa? Oder hatte es etwas mit diesem seltsamen Treffen mit der Mondprinzessin zu tun, die er im Traum gesehen hatte? Aber das war doch tatsächlich nur ein Traum gewesen ... oder? Für jede beantwortete Frage kamen hundert neue auf. Es war wie das berühmte, sprichwörtliche Fass ohne Boden.

Motoki schnippte mit den Fingern vor Mamorus Gesicht herum und rief immer wieder:

"Hallo! Aufwachen! Jemand zu Hause? Huhu! Erde an Raumschiff! Houston, wir haben ein Problem! Jetzt sag doch endlich mal wieder was! Hey!"

"Du kannst so penetrant und nervenaufreibend sein, hat Dir das schon mal jemand gesagt?", brummte Mamoru.

"Nee, hör ich zum ersten Mal", grinste Motoki. "Aber sag mal, hat man Deine Nase mit Zwei-Komponenten-Kleber an die Zeitung gekleistert, oder was is los?"

Mamoru sah seinen Freund nachdenklich an und zögerte kurz. Dann schüttelte er den Kopf, verstaute die Zeitung in seinem Schulranzen und meinte nur:

"Nichts von Bedeutung."

"Also, manchmal werd ich aus Dir echt nicht schlau", beschwerte sich Motoki. Dann liefen die beiden weiter nebeneinander her.

<Es tut mir echt Leid, Motoki. Aber es gibt gewisse Dinge, die darf ich selbst Dir einfach nicht sagen. Wenn Du nur das alles wüsstest, was ich weiß! Wie schön es doch ist, ein Ahnungsloser zu sein! Frei von den Sorgen und den bedrückenden Gedanken! Nein, es ist nicht nur für mich, sondern auch für Dich das Beste, wenn Du nichts von alledem weißt, mein Freund.>

"Sag mal, Mamoru", begann Motoki, "wo wir gerade bei abnormalen Ausbrüchen bei Dir reden..."

Mamoru warf ihm seinen finstersten Blick zu, doch daran störte sich Motoki nicht.

"...vor nicht allzu langer Zeit hast Du doch mal zu mir gesagt, Du würdest Dich irgendwie ... na ja ... beobachtet fühlen. Was ist eigentlich daraus geworden? Was ist mit dem parapsychologischen Schnickschnack, von dem Du erzählt hast?"

"Ach, das...", tat Mamoru es schulterzuckend ab. Er lächelte beschwichtigend. "War wohl bloß so ein Anflug von Paranoia. Mach Dir nichts draus, das kann jedem mal passieren."

"So harmlos hat es beim letzten Mal aber noch nicht geklungen...", meinte Motoki nachdenklich. "Du verschweigst mir was. Du kannst mir da nix vormachen! Ich kann mir zwar vorstellen, dass Du wegen der Sache mit Amerika ganz schön durch den Wind bist, aber das kann nicht der einzige Grund sein. Irgendwie bist Du in letzter Zeit komisch. Ich weiß auch nicht recht... Wenn was ist, dann sag's doch frei heraus! Ob Du's glaubst oder nich, aber ich kann auch mal ernsthaft sein."

Mamoru lachte auf. Irgendwie klang es unecht.

"Du und ernsthaft? Da gackern ja die Hühner! Nee, Du. Mach Dir da mal keinen Kopf. Mit mir ist alles in Butter. Echt wahr! Könnte nicht besser laufen!"

Motoki blieb stehen und sah ihn besorgt an. "Ich glaub Dir das aber nich. Du hängst nur noch mit Deinen Gedanken sonst wo rum, bloß nicht im Hier und Jetzt. Du bist so extrem schweigsam geworden - okay, so ein schwatzhaftes Wiener Waschweib bist Du ja auch noch nie gewesen, aber ... trotzdem ... Du weißt schon, wie ich das meine. Du bist total in Dich gekehrt und bekommst von Deiner Umgebung nur noch die Hälfte mit. Du bist nur noch mit gähnen beschäftigt und kannst kaum geradeaus gucken. Wenn ich Dich drauf anspreche, weichst Du aus. Irgendwas Außergewöhnliches muss vor wenigen Tagen stattgefunden haben, und ich will jetzt wissen, was es ist. Hat es irgendwas mit diesem Einbruch zu tun, von dem die Zeitung berichtet?"

"Wie kommst Du denn auf diesen Blödsinn?", fragte Mamoru. Er konnte ein Gähnen gerade noch zurückhalten. Er schüttelte leicht den Kopf, um wieder zu klaren Gedanken zu kommen. "Sehe ich aus wie jemand, der nichts Besseres zu tun hat, als irgendwo einzubrechen und das wertvolle Zeug liegen zu lassen? Ganz bestimmt nicht, mein lieber Freund."

"Also gut, also gut. Das kaufe ich Dir ja noch ab. Aber was ist mit dem Rest? Ich meine, da ist doch irgendwas, das Dich bedrückt. Ich will ... Dir doch nur helfen. Verstehst Du das denn nicht?"

Mamoru konnte Motokis traurigem Blick nicht mehr standhalten und starrte zu Boden, als stünde dort in großen, roten Buchstaben die Lösung geschrieben.

"Ach, Motoki...", flüsterte er. Er hatte die Hände in den Taschen seines Jacketts zu Fäusten geballt. Die Fingernägel gruben sich tief in sein Fleisch und die Knöchel liefen allmählich weiß an. Die Arme zitterten leicht. Er wusste wirklich so langsam nicht mehr, was er tun sollte. Er hatte vor nicht allzu langer Zeit gegen Jedyte, einen General aus dem Königreich des Dunklen, gekämpft. Er war immer wieder auf einen schwarzen Schatten getroffen, der ihm nachschlich und es offensichtlich auf seine Energie abgesehen hatte. Hikari war dessentwegen im Koma. Mamoru war als Herr und Krieger der Erde erwacht, spürte das Leid des Planeten wie sein eigenes und soll mithilfe des Goldenen Kristalls nach einem heiligen Silberkristall suchen, weil es ihm eine Mondprinzessin aus seinen Träumen befohlen hatte. Chaos, so weit das Auge zu blicken vermochte.

Und nun stand Motoki da, Mamorus bester Freund, und wollte ihn mit offenen Armen empfangen. Und Mamoru war nicht dazu in der Lage, auch nur ein Wort über all das Chaos zu verlieren, aus Angst vor den Konsequenzen. Fast als stünde eine meterdicke Mauer aus spiegelglattem Panzerglas zwischen ihm und seinem besten Freund. Mamoru konnte Motoki da nicht reinziehen. Es ging einfach nicht. Je weniger dieser Junge wusste, umso größer war die Chance, dass die bösen Mächte ihn in Frieden lassen würden. Es hatte schon Hikari erwischt - noch so einen Verlust konnte Mamoru beim besten Willen nicht verkraften.

Er seufzte leise.

"Natürlich verstehe ich Dich", erläuterte er nun endlich. "Ich weiß, dass Du mir helfen willst. Und das ist echt schwer in Ordnung von Dir. Aber Du kannst mir nun mal am besten helfen, indem Du mir nur zeigst, dass Du im Zweifelsfall für mich da bist. Wenn Du mir nur sagst, dass ich jederzeit auf Dich zählen kann, egal was kommt, dann hilfst Du mir so am allermeisten. Okay?"

"Natürlich bin ich immer für Dich da...", sagte Motoki. Er seufzte schwer. "Aber ich werde nicht mit Dir nach Amerika ziehen können. Das verstehst Du doch, gell? Und ich würde Dir gern zur Seite stehen ... solange ich das noch kann."

"Motoki..." Mamoru redete beruhigend auf seinen Freund ein. "...Du klingst fast so, als stünde schon fest, dass ich umziehe! Das ist doch noch gar nicht so! Und selbst wenn: Ich habe bestimmt nicht vor, ewig in den USA zu bleiben."

"Ja, das sagst Du jetzt noch..." Motoki sprach nicht weiter. Doch das war auch nicht nötig. Mamoru wusste, dass eine Trennung für beide schwer werden würde. Und Motoki machte es ihm im Moment nicht einfacher, sich für oder gegen Amerika zu entscheiden.

"Motoki...", flüsterte er leise. Er versuchte verzweifelt den dicken Klos in seinem Hals herunter zu schlucken.

"Es tut mir Leid, Mamoru", meinte Motoki plötzlich. Er trat langsam näher an Mamoru heran und lächelte ihn tapfer an. Nur seine Augen wirkten irgendwie noch immer sehr traurig. "Ich sollte Dich nich so unter Druck setzen. 'S is immer noch Deine Entscheidung, ob Du gehen willst oder nich. Ich hab bloß irgendwie Schiss, Dich zu verlieren. Kann doch sein, Du triffst da vielleicht wen, mit dem Du den Rest Deines Lebens verbringen willst oder so. Unmöglich isses nich, Hikari hin oder her. Ich würd Dich nur noch selten sehen ... vielleicht mal in irgendwelchen Ferien oder so. Und... und..."

"Motoki..."

"Nee, lass gut sein. Ich weiß, ich schweife schon wieder ab. Tut mir Leid. Ich bin schon wieder dabei, Dich zu beeinflussen. Ich wollt Dir sagen, dass ich Dich vermissen werd, wenn Du weg fährst. So, jetzt hab ich's gesagt. Aber ... was ich auch noch sagen wollt, und was mir eigentlich sogar das Wichtigste is: Ich will, dass Du in Amerika glücklich wirst. Ich will, dass Du einfach mal Dein Leben lebst, und in der Gegend herumreist, und viel siehst, und viel erlebst. Du sollst nich in diesem Loch hier versauern; Du hast echt was Bessres verdient. Morgen is unser letzter Schultag, und danach kann ich Dir gern mit Packen helfen. Wir zwei werden dann einfach noch so viel Zeit miteinander verbringen, wie wir eben noch haben. Es soll uns keiner vorwerfen, wir hätten nix versucht und unser Leben nur däumchendrehend abgesessen, findest Du nich auch?"

"...Motoki..." Mamoru war von dieser Rede absolut sprachlos. Er wusste beim besten Willen nicht, was er darauf antworten sollte. "...Motoki... Ich ... ich..."

Motoki schüttelte den Kopf, immer noch lächelnd. Er klopfte Mamoru auf die Schulter und meinte:

"Du musst jetzt nix sagen. Is schon gut. Du bist doch grad auf'm Weg ins Krankenhaus, gell? Bestell Hikari nen schönen Gruß von mir, machste, gell? Ich muss los; hab noch was Wichtiges zu erledigen. Wir sehen in morgen in der Schule. Ich wünsch Dir was! Und schlaf endlich mal ne Runde, siehst ja zum Fürchten aus! Also, bis dann!"

Er winkte noch und verschwand dann in der Menschenmenge.

"...Motoki...", flüsterte Mamoru noch ein letztes Mal. Es klang fast wie ein Abschied für immer.

Mit hängenden Schultern schlurfte er seines Weges. Was da gerade geschehen ist, war das mit Abstand selbstloseste Verhalten seitens Motoki gewesen, das er je erlebt hatte. War er wirklich dazu in der Lage, diesen Freund einfach zurück zu lassen, und sei es auch nur für ein Jahr?

In Gedanken versunken setzte Mamoru immer nur einen Schritt vor den anderen. Ganz automatisch, fast wie eine Maschine. Und ehe er es sich versah, hatte er das Krankenhaus auch schon erreicht. Er betrat Hikaris Zimmer und kam nah an sie heran. Ihre Atemzüge waren tief und gleichmäßig. Wie eine Göttin in einem verzauberten Schlaf lag sie da und regte sich kaum. Sie wirkte so zerbrechlich, so zart und lieblich; wie eine Porzellanpuppe. Wie eine Prinzessin aus einem uralten Märchen.

Wie Dornröschen.

Und Mamoru war ihr Prinz.

Zumindest kam ihm die ganze Situation so vor. Er trat noch etwas näher an ihr Bett heran, stützte die Arme auf dem weißen Laken ab, beugte sich langsam zu ihr runter und legte vorsichtig seine warmen Lippen auf ihre. Er hielt seine Augen geschlossen während er sie sanft küsste.

Und ganz wie das Vorbild aus dem Märchen von Dornröschen schlug Hikari ihre Augen auf, als er seinen Kopf wieder hob.

"Hikari?", fragte er ungläubig nach. "Du bist wach? Es ist ein Wunder!"

"Was...", stammelte sie, "was... was tust Du hier, Mamoru?"

Er lächelte glückselig. "Ich bin Dich jeden Tag besuchen gekommen. Ich habe Dich sehr vermisst. Es ist so großartig, dass Du jetzt endlich wieder wach bist! Ich habe so viel mit Dir zu bereden... Erst mal, wie fühlst Du Dich?"

"Ich weiß nicht..." Sie zuckte mit den Schultern. "In erster Linie bin ich zu Tode gelangweilt. In diesem Sauschuppen passiert ja nix."

"Äh, ... ja", machte Mamoru etwas perplex. "Genau. Also, Du hast ein paar Tage lang geschlafen..."

Sie unterbrach ihn:

"Heute ist doch Donnerstag, der 14.März?"

"Das ist richtig", bestätigte er verblüfft. "Woher weißt Du..."

"Ich bin schon heute Morgen aufgewacht", erklärte sie ohne große Umschweife.

"Ach so." Mamoru druckste etwas herum. Nun war Hikari also endlich wieder wach, und eigentlich sollte sie sich - seiner Meinung nach - noch etwas ausruhen von den Strapazen des Kampfes mit diesem eigenartigen Schattenwesen. Aber andererseits gab es da noch einen wichtigen Aspekt, den Mamoru unbedingt noch besprechen wollte. Doch wie erinnerte er sie vorsichtig daran, ohne gleich zu direkt zu sein?

"Ähm, Hikari... Als Du heute Morgen aufgewacht bist, da ... also ... da haben Dich die Leute hier doch bestimmt gefragt, was passiert ist, bevor Du Dein Bewusstsein verloren hast ... und ... na ja ... mich würde interessieren..."

"Ich habe ihnen gesagt, dass ich mich an den fraglichen Abend nicht mehr erinnern kann", erläuterte sie augenzwinkernd.

"Ach", machte er schwach lächelnd. "Das ist gut."

"Ja", meinte auch sie nickend. "Das hab ich gesagt. Aber, mein Freundchen, ich kann mich sehr wohl an so einiges erinnern. Wie war das, was ist zum Schluss mit diesem schwarzen Monster passiert? Ich hoffe doch sehr, Du hast es erledigt und Dich für mich gerächt?"

"Ähm ... also eigentlich..."

Sie hob anklagend die Augenbraue. "Etwa nicht?"

"Ich konnte..."

"Und so was nennt sich Mann!", schimpfte sie.

"Aber..."

"Nix aber! Ich muss mich auf Dich verlassen können! Ich brauche jemanden an meiner Seite, der mich beschützt! Was soll ich mit einem Nichtsnutz, der sich mit dem Feind verbündet und dann tatenlos zusieht, wie ich angegriffen werde?"

"Hikari...", flüsterte er hilflos. Mit so einem aggressiven Verhalten hatte er wahrlich nicht gerechnet. "Es ging nicht. Glaub mir, ich wollte Dich beschützen. Aber es ging alles so schnell, da..."

"Oh, ja! Dein guter Wille hat mir schon genug geholfen, vielen Dank!"

"Ich dachte, Du liebst mich...", murmelte er geknickt. Er stand sachte zitternd vor ihrem Bett und wusste momentan nicht ein noch aus.

"Denken ist Glückssache, schon mal was davon gehört?", zischte sie schnippisch.

"Was soll das heißen?", wisperte er tonlos. "War alles nur ein Spiel? ...Um Chikara eifersüchtig zu machen, oder so? Nur deshalb das alles?"

"Zunächst ja", gab sie zu. "Ich muss allerdings sagen, einige Deiner ... außergewöhnlichen Fähigkeiten haben mich ganz schön beeindruckt. Aber im Großen und Ganzen betrachtet ... was soll ich mit so einer Pleite wie Dir? Du warst doch nur übergangsweise für mich da. Eine Brücke, auf der ich herumtrampeln kann, bis sie mich in ein besseres Land führt. Und genau da bin ich auch angekommen."

Sie lachte herablassend. Mamoru kniff verzweifelt die Augen zu, als könne er so der Realität entgehen. Ihm tanzten schon bunte Pünktchen vor dem Blickfeld herum.

"Nein", flüsterte er. "Das - kann - nicht - wahr - sein... Du hast nicht ... nicht wirklich..."

"Oh, doch! Hast Du wirklich geglaubt, ich könnte mit Dir glücklich sein? Was hast Du mir denn zu bieten?", keifte sie.

"Immerhin die Herrschaft über einen ganzen Planeten", murmelte er leise, doch das schien sie nicht gehört zu haben.

Vorsichtig wurde die Tür geöffnet. Die Stimme eines jungen Mannes drang ins Zimmer:

"Hikari, bist Du wach?"

"Kaji-Schatz! Komm rein!", flötete Hikari fröhlich.

Besagter Kaji-Schatz trat ein. Es handelte sich um einen großen, breitschultrigen Kerl, möglicherweise Anfang Zwanzig, vielleicht aber auch etwas jünger, mit hellbraunen, kurzen Haaren und einigen Bartstoppeln am Kinn. Er trug den typischen weißen Anzug eines Krankenpflegers. Seine dunklen Augen leuchteten vor Lebenslust und er setzte ein spitzbübisches Grinsen auf. In seiner Hand hielt er ein Döschen mit Tabletten.

"Ich wollte Dir Deine Ration für heut Abend vorbeibringen", verkündete er. "Aber Du solltest sie erst nach dem Essen einnehmen."

Er stellte die kleine durchsichtige Plastikdose auf Hikaris Nachttisch ab, genau neben die Vase mit dem Strauß roter Rosen, die Mamoru am ersten Tag mitgebracht hatte, und die nun mit einer Schnelligkeit zu welken begonnen hatten, dass man ihnen dabei zusehen konnte. Doch keiner würdigte die Blumen auch nur eines Blickes.

"Mamoru", so wandte sich Hikari ihrem alten Gesprächspartner wieder zu, "das hier ist Kaji. Er ist der Sohn des Chefarztes hier. Der wollte von ihm, dass er mal als so ne Art Praktikant hier arbeitet. Seine Mutter ist Anwältin. Kaji ist bei mir gewesen, als ich heute aufgewacht bin. Er hat sich ... außergewöhnlich lieb um mich gekümmert. Gell, Kaji-Schatz? Kaji, das da ist Mamoru. Ein Klassenkamerad von mir."

<Klassenkamerad?>

Kaji kam langsam auf ihn zu.

<Ein Klassenkamerad? Nur ein...>

"Es freut mich,..."

<Klassenkamerad? Nicht mehr?...>

"...Dich kennen zu lernen, Mamoru!"

<Und dieser Lackaffe da...>

Kaji verneigte sich kurz vor Mamoru und grinste ihn dabei spitzbübisch an.

<...hat Dich mir weggenommen? Dieser selbstherrliche Schweinepriester?>

Mamoru machte einen gewaltigen Satz nach vorne. Mit einem wutentbrannten Kampfschrei stürzte er sich auf Kaji, und obwohl dieser gut und gern einen Kopf größer war, konnte er sich nicht wehren. Mamoru hatte viel zu schnell reagiert. Noch ehe Kaji auch nur ein Mal blinzeln konnte, lag er schon am Boden. Mamorus Hände hatten sich um seine Kehle geschlossen, drückten aber nicht zu sondern verharrten regungslos. Was Kaji nicht ahnen konnte war, dass Mamoru ihn dennoch sehr wohl angriff, wenn auch auf einer völlig anderen Ebene - er entzog ihm nämlich allmählich seine Energie.

"Mamoru!", kreischte Hikari entsetzt, die wohl eine Ahnung davon hatte, was der gerade tat. Oder vielleicht war sie einfach durch sein aggressives Verhalten geschockt. Jedenfalls schlug sie die weißen Decken zurück und arbeitete sich umständlich aus dem Bett heraus.

"Du - kannst - sie - nicht - haben...", murmelte Mamoru leise aber bedrohlich.

"Hey, ganz ruhig, Kumpel...", redete Kaji auf ihn ein. Dieser arme Ahnungslose wusste ja nicht, was genau Mamoru ihm da gerade antat. Er spürte nichts von der langsam aufkeimenden Müdigkeit, die über ihn kam. Für ihn sah es so aus, als hätte dieser Junge da über ihm zwar vor, sich mit ihm anzulegen, aber er schien diesbezüglich noch mit sich und seinem Gewissen zu ringen. Kaji wollte diesen Fremden nicht zu unüberlegtem Handeln reizen, deshalb blieb er selbst ruhig und versuchte auch nicht, sich zu wehren, so lange er sich nicht wirklich körperlich bedroht fühlte. Er hätte ja nun wirklich nicht ahnen können, dass der Junge über ihm nicht so hilflos war, wie er momentan vielleicht wirken mochte...

Mamoru derweil verfiel innerlich der Raserei. Schon sehr bald konnte er den Energiefluss nicht mehr kontrollieren, der zwischen ihm und diesem Kaji bestand. Mamoru schlug mit aller geistigen Macht zu und sog wie verrückt an der Lebensenergie des jungen Mannes unter ihm. Inzwischen hatte Hikari ihn am Kragen gepackt und versuchte nach Leibeskräften, ihn von ihrem Kaji-Schatz herunterzuzerren, doch ohne Erfolg. Mamoru haftete an ihm wie ein riesiger Magnet an einer gigantischen Eisenplatte.

Das Ganze wurde auch Kaji allmählich zu bunt. Mit langsamen Bewegungen fasste er an Mamorus Schulter und versuchte ihn sachte von sich herunter zu drücken. Es blieb bei dem Versuch. Er fühlte sich auf einmal zu müde, um sich zu wehren. Er hatte kaum seine Arme angehoben und schon musste er sie keuchend wieder sinken lassen, weil sie ihm auf einmal viel zu schwer schienen.

Immer weiter verfiel Mamorus Unterbewusstsein der unstillbaren Gier nach mehr Macht. Für ihn war es ein unsagbares Gefühl der Stärke, Kajis Energie zu besitzen. Je mehr umso besser. Und dennoch war da in ihm noch dieser winzige Funke, der leise in seinem Gehirn flüsterte:

"Hör auf; es reicht jetzt. Was Du auch tust, es wird Hikaris Entscheidung nicht ändern."

Mit Müh und Not riss Mamoru seine Finger von Kaji. Keuchend stand er auf. Hikari hatte ihn inzwischen losgelassen und starrte ihn nun aus schreckgeweiteten Augen an.

"Was ... bist ... Du...", flüsterte sie. Sie zitterte am ganzen Leib.

Mamoru funkelte sie mit eiskalten, zornigen Augen an.

"Als ob es Dich interessieren würde, was mit mir ist!", zischte er wütend. "Du bist so eine verlogene kleine Schlampe. Ich hätte gleich auf Motoki hören sollen. Verrecke doch in der Hölle! Und nimm Deinen Kaji und Deinen Chikara mit, und all die anderen, die Du noch mit Deinen Bambi-Augen verhext hast. Geh zum Teufel, wo Du hin gehörst."

Damit drehte er sich ruckartig um und verließ schnellen Schrittes das Gebäude. Er fühlte sich so hundsmiserabel und so gedemütigt wie wohl selten zuvor in seinem Leben. Er rannte einfach drauflos, die Richtung war ihm vollkommen egal. Er würde schon irgendwo ankommen. Seine Gedanken überschlugen sich. Er wusste nicht, was er fühlen sollte, was er tun sollte, wohin er gehen sollte. Er rannte einige Minuten lang bis er irgendwann atemlos auf einem einsamen Spielplatz ankam. Da erst kam er zu sich und bemerkte auch seine Umgebung wieder. Mit einem kurzen, wütenden Aufschrei schleuderte er seinen Schulranzen von sich und katapultierte ihn in den Dreck. Doch das war ihm nun auch egal. Seufzend hockte er sich auf die Schaukel und blieb dort mit eingefallenen Schultern sitzen. Er wippte nur leicht vor und zurück und versuchte wieder zu klarem Verstand zu kommen. Alles, was ihm jemals wirklich etwas bedeutet hatte, schien nun auf ewig verloren. Alles, außer...

"Motoki..."

Der Gedanke beruhigte ihn ein wenig. Mamoru war nicht völlig allein, und die Welt war auch noch nicht untergegangen. Seine Tante Kioku und sein Onkel Seigi waren ja auch noch für ihn da.

Er knöpfte sein Hemd etwas auf und holte die silberne Halskette heraus. Er griff nach der Spieluhr und öffnete sie. Leise tönte ihre Melodie über den kleinen, leeren Platz. Allmählich hörte sein Herz auf, wie verrückt von innen gegen seine Rippen zu hämmern. Er lauschte nur den sanften Tönen des kleinen Musikinstruments an seinem Hals. Es hörte sich fast an, als wollte die goldene Spieluhr ihm Mut zusprechen oder ihm ein uraltes Märchen aus einer längst vergangenen Zeit erzählen. Als Mamoru die Augen schloss, sich zu einer ruhigen Atmung zwang und so weiter den Klängen der Musik zuhörte, da war ihm, als sehe er vor seinem geistigen Auge eine wunderschöne aber völlig fremde Welt vor sich. Eine Welt, wo ein riesiges, traumhaftes Schloss inmitten eines gigantischen Rosengartens stand. Am Himmel funkelten etliche Sterne, und ein riesiger, blau-grün-weißer Ball stand hoch am Firmament - die Erde. Und im Schlosshof, umgeben von blühenden, roten Rosen, stand eine junge Frau mit langen, goldenen Zöpfen...

Mit einem Ruck öffnete Mamoru seine Augen wieder. Er wollte jetzt um keinen Preis vor sich hin träumen. Zu tief in seinen Knochen saß noch die Angst, wieder in einen grässlichen Albtraum zu verfallen. Und als seine Augen umherschweiften und sich in dieser ungewohnten Umgebung orientierten, da bemerkte er erst den gigantischen schwarzen Schatten, der mitten auf dem Spielplatz stand, seine Flügel weit ausgebreitet hatte und ihn regungslos anstarrte. Lange, dünne Dinge, deren nähere Beschreibung sich Mamorus Verstand entzog, schlängelten sich vom Schädel des Schattenwesens herunter und bewegten sich auf eine geisterhafte, unheimliche Weise im Wind. Das Wesen schien wieder etwas an Festigkeit zugenommen zu haben. Der schwarze Körper war nun alles andere als durchsichtig und er hatte auch schmale Fußspuren im Sand hinterlassen. Etwas, das vielleicht ein nachtschwarzes Gewandt sein mochte, wehte sanft im Wind hin und her. Das silberne Ding, das die Kreatur beim Kampf gegen Jedyte am rechten Unterarm getragen hatte, war im Moment nicht so deutlich zu sehen, aber Mamoru glaubte, die Umrisse davon erkennen zu können; ein schwarzes Ding auf schwarzem Untergrund. Der metallische Glanz war allerdings verschwunden. Das Wesen schien etwa so groß zu sein wie Mamoru, vielleicht war es auch wenige Zentimeter kleiner. Doch der Unterschied konnte nicht sehr groß sein. Nur die gigantischen Schwingen, die es weit über seinem Kopf ausgebreitet hatte, verliehen ihm etwas Bedrohliches.

"Sehe ich das recht", fragte Mamoru mit leiser Stimme, "dass Du auch weiterhin in meiner Nähe bleiben wirst?"

Die Kreatur regte sich nicht. Nur die langen, dünnen Stränge an ihrem Kopf - Mamoru bezeichnete sie innerlich als Tentakel - wogen sich leicht im Wind hin und her.

"Das nehme ich mal nicht als ein Nein", stellte der Herr der Erde fest. Auf einmal lächelte er sanft. "Mein einziger Trost im Augenblick ist, dass zumindest Du an meiner Seite bleiben wirst, wenn ich wegfahre."

Das Wesen legte seinen rabenschwarzen Kopf schief.

"Ja, Du hörst richtig. Ich werde wegfahren. Ich ziehe nach Amerika - mein Entschluss steht fest. Ich brauche etwas Abstand. Ich brauche etwas Zeit, um mich von einigen ... Umständen zu erholen. Ich denke, Amerika wird eine willkommene Abwechslung sein. Was denkst Du?"

Der Schatten richtete seinen Kopf wieder auf. Er zögerte etwas. Dann nickte er leicht.

Mamorus Lächeln wurde noch eine Spur sanfter.

"Halt still", flüsterte er. Er stieg von der Schaukel herunter und bewegte sich langsam auf das Wesen zu. "Ich will Dich mal aus der Nähe sehen. Wenn wir schon mit einander auskommen müssen, dann will ich wenigstens erfahren, mit wem ich es zu tun habe. Bleib ganz ruhig..."

Mamoru streckte dem Wesen den Arm entgegen, während er sich ihm näherte.

Das Schattengeschöpf machte einen kleinen Schritt zurück. Dann sah es den Herrn der Erde nachdenklich an und schüttelte den Kopf. Es machte noch einen Schritt zurück. Dann faltete es seine Flügel hinter seinem Rücken zusammen, drehte sich entgültig um und schritt von dannen. Es verschwand hinter einem Klettergerüst.

"Warte doch!", rief Mamoru und stürzte hinterher, doch die Schattenkreatur war verschwunden. Die Fußspuren im Sand führten plötzlich einfach nicht mehr weiter. Mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck griff Mamoru wieder nach der kleinen, goldenen Spieluhr an seiner Halskette. Seine Finger strichen sanft über die glatte Oberfläche des Schmuckstücks. Dann erst schloss er den Deckel und die Melodie verstummte. Der Herr der Erde verstaute das wertvolle Kleinod wieder unter seinem Hemd. Dann ging er zu seiner Schultasche, klopfte den Staub herunter und setzte sie wieder auf. Er machte sich auf den Weg nach Hause, um seiner Familie mitzuteilen, wofür er sich entschieden hatte.

"Amerika, ich komme", flüsterte er leise. Dann lächelte er wieder und korrigierte sich.

"Nein. ...Wir kommen."

Und das Schattenwesen in seinem Versteck hörte seine Worte.

Als es hörte, was der Herr der Erde sagte, da war es höchst zufrieden mit sich selbst. Es würde sich nun wieder eher auf die Mission als auf den Herrn der Erde konzentrieren können. Und so sammelte es seine Macht an, verließ die Dimension der zeitlosen Finsternis und betrat die Welt der Menschen, diesmal in einer Stadt im Osten von Australien, direkt an der Küste zum Pazifischen Ozean. Hier wollte es damit beginnen, die Energie zu sammeln, die für den weiteren Verlauf der Mission erforderlich sein würde.

Schon jetzt spürte es, wie sein Energielevel bisher angestiegen war. Es hatte in den letzten Tagen viel Zeit damit verbracht, Energie von überall auf der Welt heranzuschaffen. Inzwischen stand es kurz davor, mithilfe dieser Energie endlich wieder einen Körper aus fester Materie zu erschaffen; einen lebensfähigen, echten, warmen Körper aus Fleisch und Blut! Wie sehr sehnte es sich danach, endlich wieder zu leben, zu atmen und einen Herzschlag zu besitzen!

Unweit vor seinem Versteck im Schatten zwischen den Häusern schleppte eine Frau gerade an ihren Einkaufstüten. Trotz der Nachmittagshitze pfiff sie fröhlich ein Lied vor sich hin. Sie war allein.

Ein perfektes Opfer.

Es verharrte lautlos im Schatten, bis die Frau an ihm vorüber war. Als es dann aber einen Schritt vorwärts machte, hatte es für einen kurzen Moment vergessen, dass sein Körper schon beinahe vollkommen war und nun nicht mehr schwerelos über den Boden glitt. Sein Fuß knirschte leise im Sand. Die Frau schien wohl ein gutes Gehör zu haben. Erschrocken wandte sie sich um und fragte leise:

"Who's there?"

<Wer ist da?>

Und als sie es sah, das aufgrund seiner Schwingen sehr groß und bedrohlich wirkte, da stieß sie einen kurzen, spitzen Schrei aus.

Doch zu mehr war sie nicht mehr fähig.
 

Irgendwie fand Mamoru keine Lust, schon nach Hause zu gehen. Es war ihm lieber, noch ein wenig in der Stadt herumzustreunen (solange er noch eine Stadt in seiner unmittelbaren Nähe hatte) und zu warten, bis es Abend war. Sein Onkel Seigi würde wohl in wenigen Stunden von der Arbeit nach Hause kommen. Bis dahin wollte Mamoru die Zeit nutzen um etwas nachzudenken. Immerhin hatte er in den letzten Tagen und speziell in den letzten Stunden eine ganze Menge erlebt. Schon jetzt dachte er sich hundert Sachen aus, die er besser machen wollte, sobald er in Amerika war. Was davon er hinterher auch wirklich realisieren würde, war eine andere Frage.

Als er dann endlich zu Hause ankam, war es doch erheblich später, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Es begann allmählich richtig düster zu werden und die Straßenlaternen waren bereits vor einiger Zeit angesprungen.

"Ich bin wieder zu Hause!", tönte Mamoru den Flur entlang, während er sich die Schuhe auszog.

"Hey, Kurzer!", begrüßte ihn Kioku, die ihm schon entgegenkam. "Wo bist Du so lange gewesen? Ich hab Dir schon tausendmal gesagt, Du sollst Bescheid geben, wenn Du länger weg bleibst. Also wenn Du so weitermachst, dann dauert es nicht mehr lange, und ich fessele Dich auf irgend einem Stuhl fest. Dann weiß ich wenigstens, wo Du bist."

"Ja, ja", brummelte er vor sich hin. "Es tut mir Leid. Ist Onkel Seigi schon zu Hause?"

Kioku nickte. "Er sitzt gerade in der Küche und mampft sein Abendessen. Sag mal, hast Du nicht auch langsam Hunger?"

Mamoru verschwand geradewegs in seinem Zimmer. "Ja, ... ich komme gleich nach. Ziehe mich nur noch schnell um."

Er knöpfte sein Hemd auf und streifte es sich von den Schultern. Während er seinen Gürtel öffnete, ging er zum Kleiderschrank und suchte sich etwas heraus.

<Eigentlich ist es ja blödsinnig, was ich hier mache>, dachte er so bei sich. <Jetzt noch groß die normalen Klamotten anziehen, wo ich doch eh nachher ins Bett gehe.>

Er tat es trotzdem. Und wie er unter großer Kraftanstrengung seinen Kopf durch die obere Öffnung seines Pullovers zwängte und danach auch noch bemerkte, dass ihm die Ärmel allmählich etwas kurz waren, stellte er zufrieden fest: Er war wohl wieder um einiges gewachsen. Er würde wohl mit Tante Kioku zum Einkaufen gehen...

Dieser Gedanke behagte ihm mit einem Male überhaupt nicht mehr. Sie würde wahrscheinlich wieder die buntesten und peinlichsten Sachen raussuchen und sagen "Oh, ist das süß" und "probier das hier doch mal an". Dann würde er sich mit ihr streiten, weil sie Berge von Klamotten kaufen wollen würde, die er noch nicht mal im Dunklen anziehen wollte. Schlussendlich würden sie Stunden oder gar Tage mit shoppen verbringen, seine Tante würde ihn ein Duzend mal zur Weißglut treiben und er würde im Irrenhaus enden.

<Wenn ich es mir recht überlege, sollte ich es vielleicht doch noch etwas für mich behalten...>, dachte er mit grimmigem Gesichtsausdruck.

Schlussendlich, als er fertig war mit umziehen, verstaute er seine silberne Halskette unter seinem Pullover, zog seine Hausschuhe an und schlurfte in die Küche, wo er zuallererst nach seinen Tabletten griff, um etwas gegen das unangenehme Ziehen zu tun, dass wieder einmal seinen Bauch plagte. Sowohl sein Onkel als auch seine Tante saßen am Esstisch und stopften das Abendbrot in sich rein.

"Hier! Hol Dir!", bot Kioku an.

Mamoru nickte. Doch als er an den Tisch trat, hielt er noch mal inne.

"Tante Kioku, Onkel Seigi, ich hab euch beiden was zu verkünden."

"Ja?", sagte Seigi und lächelte ihn aufmunternd an. "Dann leg mal los."

Auch Mamoru lächelte jetzt als er bekannt gab:

"Ich habe mich entschieden. Ich ziehe mit euch nach Amerika."

Kurze Zeit herrschte angespannte Stille. Dann erhob sich Seigi, ging um den Tisch herum und umarmte Mamoru.

"Das freut mich", flüsterte er. "Es ist großartig, dass Du Dich so entschieden hast. Danke, Mamoru. Das finde ich ganz toll!"
 

Zu solch später Stunde wurde es immer schwerer für ihn ein Opfer zu finden. Doch es hatte sowieso nicht mehr sehr viel Energie nötig, um die Vollendung zu erreichen. Gerade eben noch war es wieder in die Dimension der zeitlosen Finsternis zurückgekehrt, um dem Tier etwas von seiner frisch gesammelten Energie abzugeben. Nun befand es sich schon wieder in der Welt der Menschen, auf der Suche nach neuer Energie. Sehr schnell war ein passendes Opfer gefunden: Ein alter, mufflig riechender Penner mit langem Bart lag im Park auf einer Bank und schnarchte, dass man es weithin noch hören konnte. Eigentlich besaßen solche Leute recht wenig Kraft, weil sie Tag für Tag hart um ihr Überleben kämpfen mussten, und außerdem waren sie gewöhnlich unter seiner Würde. Doch die Zeit drängte ihn und so war es nicht sehr wählerisch. Außerdem fehlte ihm nur noch ein geringes Maß an Energie, und jedes Quäntchen konnte womöglich von Bedeutung sein. Also legte es einen Finger an den Hals des Schlafenden und ließ ihm gerade noch die Kraft, die nötig war, den nächsten Tag zu überstehen.

Eine sonderbare Wandlung ging mit ihm vor. Wo gerade noch ein schwarzes Wesen von nicht näher erkennbarer Form mitten in der Dunkelheit des Parks gestanden hatte, das stand nun ein Körper, der Farbe und Dichte besaß, wie es das letzte Mal vor etwa tausend Jahren der Fall gewesen war. In gewisser Weise hatte dieser Körper etwas menschliches an sich. Es hatte die langen, muskulösen Beine und die schlanken Arme mit den filigranen Fingern eines Menschen. Doch in gewisser Weise war da andererseits etwas, das es eindeutig von den Menschen unterschied. Die gigantischen Schwingen, zum Beispiel, die aus seinen Schulterblättern heraus wuchsen. Diese gewisse Aura, die von seiner ganzen Erscheinung ausging. Oder die blasse Haut, die nur von dünnem Stoff bedeckt war.

Nach einigen ersten, tiefen Atemzügen fuhr es zunächst einmal mit den langen Fingern über das dunkle Holz der Parkbank. Endlich hatte es wieder ein richtiges Gefühl in den Fingerspitzen! Keine ewige, ungewisse Taubheit mehr! Es spürte allmählich die kühle Nachtluft um sich herum, und es begann damit, die Gravitation des Planeten endlich wieder im vollen Ausmaß zu spüren. Behutsam legte es einen Finger an seinen Hals und fühlte das gleichmäßige Pulsieren eines lebenden Herzens. Nach langer, sehr langer Zeit floss wieder rotes Blut durch seinen Körper. Welch ein erhebendes Gefühl! Es fühlte auch einen leichten Schmerz, als es seine Hand wieder zurückzog und sich ungelenk mit seinen langen, scharfen Fingernägeln eine längliche Wunde in die Haut riss. Doch daran störte es sich nicht im Geringsten. Binnen weniger Sekunden war der Riss wieder verheilt.

Hinter ihm erscholl ein leises Klatschen; der Beifall einer einzelnen Person. Nicht frenetisch, eher mit einem leicht zynischen Klang und langsamem Rhythmus.

"Na, sieh mal einer an", ertönte die Stimme eines jungen Mannes hinter ihm. "Du besitzt doch tatsächlich noch Deine alte Macht. Oder sollte ich besser sagen: Du besitzt wieder Deine alte Macht?"

Langsam wandte es sich der Quelle dieser Stimme zu. Es sah sich einem hochgewachsenen Kerl gegenüber, mit extrem hellen, blonden, sehr kurzen Haaren und einem sauberrasierten Bart. Seine dunklen Augen im stark gebräunten Gesicht funkelten ungewöhnlich in der sonst so düsteren Umgebung. Der Mann trug eine Art Uniform, wie man sie vielleicht zu besonderen Anlässen im Militär tragen mochte; von hellblauer Farbe und mit goldenen Kettchen verziert, die horizontal über die Brust hinweg gespannt waren.

"Ich kenne Dich", sprach es langsam. Dies war das erste Mal seit etwa tausend Jahren, seit es wieder eigene Stimmbänder besaß und sie auch einsetze. Die Stimme klang rau. "Dein Name ist Amethysyte. Im Königreich des Dunklen bist Du der Repräsentant für Australien. Du hast mich wiedererkannt?"

"Natürlich", antwortete Amethysyte im amüsierten Unterton. "Selbstredend wäre ich dazu nicht in der Lage gewesen, hätte mir Meister Neflyte nicht erzählt, dass Du Dich mit Jedyte angelegt hast. Das hat in unseren Reihen großes Aufsehen erregt. Auch Deine Aktionen, mit denen Du den Menschen die Energie stiehlst, sind nicht unentdeckt geblieben. Und als ich gemerkt habe, dass in meinem Teil dieser Welt etwas nicht so ganz in Ordnung ist, da habe ich mir gleich gedacht, dass Du dahinterstecken musst. Sag mal, was bezweckst Du damit eigentlich? Das alte Königreich des Silbermondes ist vernichtet. Das Dunkle Königreich wird zu neuer Macht auferstehen. Was spielst Du in diesem Spiel für eine Rolle?"

"Ich habe Dir nicht Rede und Antwort zu stehen, Amethysyte!", giftete es ihn an. "Du und ich, wir haben uns seit tausend Jahren nichts mehr zu sagen. Wir mögen damals vielleicht auf der selben Seite gekämpft haben, aber dann..."

Die Hände zu Fäusten geballt stand es da und sprach nicht mehr weiter.

"Bitte?", erkundigte sich Amethysyte. Das selbstsichere Lächeln war von seinen Lippen verschwunden. "Wovon redest Du..."

Doch er bekam nicht mehr die Zeit, seine Frage auszusprechen.

"Oh, doch. Du weißt es nur nicht. Aber Du und ich, wir kämpften dereinst für die gleichen Ziele."

"Tatsächlich?", machte Amethysyte. Das selbstsichere Lächeln kehrte wieder auf seine Lippen zurück. Er fuhr mit der Hand über seinen Bart und zwirbelte ein wenig die Spitze an seinem Kinn. "So was. Und nun bist Du also wieder aktiv, reist in der Weltgeschichte herum und raubst den Menschen ihre Energie. Die Frage stellt sich nur: Für welche Seite tust Du es? Für welches Ziel?"

"Ich könnte es Dir erklären." Es lächelte bitter. "Aber ich denke, in Deiner jetzigen Verfassung würdest Du es ja doch nicht verstehen. Die Macht, die über Dich herrscht, blendet Dich zu sehr."

"Hmmm." Der Herr von Australien machte ein nachdenkliches Gesicht. Nach einer Weile antwortete er:

"Ich verstehe eines sehr gut: Solltest Du gegen uns agieren, wird Dir das nicht gut bekommen. Niemand kann das Königreich des Dunklen aufhalten. Wenn Du allerdings für uns arbeiten würdest..." Er lachte auf. Es klang irgendwie kalt. "Du und ich, wir tun doch so oder so das Gleiche. Wir sammeln Energie. Doch das Königreich des Dunklen tut nützliche Sachen damit. Die ganze Erde wird uns gehören und von Dunkelheit erfüllt werden. Reizt Dich nicht auch der Glanz der absoluten Macht? Kämpfe für unsere Seite! Und auch Du sollst Anteil haben am Ergebnis!"

Ein leises Kichern kam über seine Lippen. Es ließ sich auf der Bank neben dem Penner nieder und starrte sein Gegenüber an.

"Sag mir, Amethysyte, wessen Idee ist es eigentlich, mich zu so was zu überreden? Kam etwa Neflyte auf diesen glorreichen Gedanken? Weiß Deine Königin davon? Denn so, wie ich sie einschätze, wird Königin Perilia wohl etwas dagegen haben, wenn ich plötzlich unter ihr stehen wollte ... wo es mir damals doch beinahe gelungen war, Kunzyte auszulöschen..."

"Aber...", versuchte der Herr Australiens einzuwerfen, doch es sprach ungerührt weiter:

"...und außerdem ... selbst, wenn wir nun die selben Ziele hätten, so bin und bleibe ich doch ein Einzelgänger. Es gibt nur einen, der über mir steht. ...Und dann gibt es da noch etwas, was mich davon abhält, unter den euren zu weilen: Kunzyte war es, der mich damals in diesem höllischen Gefängnis eingesperrt hat. Liefere ihn mir aus, und Du wirst seine zerfetzte Leiche in alle Winde verstreut finden. Hab ich mich klar ausgedrückt?"

Amethysyte wich einen Meter zurück und knurrte boshaft.

"Du wagst es, so über Lord Kunzyte zu reden??? Vielleicht war es doch ein Fehler, Dich zu fragen. Vergiss es. Ich habe nie ein Wort an Dich verloren, abgemacht? Nur eines noch: Verschwinde aus meinem Land! Sollte ich Dich hier noch ein mal erwischen, drehe ich Dir den Hals rum!"

"Du willst mir drohen?" Es kicherte amüsiert. "Dass ich nicht lache! Auch, wenn meine Macht noch nicht den alten Stand wieder erreicht hat, so vermag ich Dich dennoch allemal fertig zu machen! Du gehörst immerhin nicht zum Stand der Prinzen der vier Winde! Du bist nur ein einfacher Soldat, dem man ein Stück Land gab, damit er brav auch weiterhin das tut, was man von ihm verlangt. Jeder Hund, der unter der Sohle seines Herren kriecht, ist besser dran als Du! Du bist nichts als ein Diener. Ein niederer Speichellecker. Du stehst in Deinem Ansehen kaum über den Monstern und Dämonen, die Dein Königreich für seine Ziele so bereitwillig opfert. Du hältst Dich für wichtig? Den Tag möchte ich erleben, an dem sich Deine Königin für Dein Wohl entscheidet und es über das Wohl der Prinzen der vier Winde setzt! Verschwinde aus meinem Blickfeld, Du Wurm! Oder ich werde Dich zertreten!"

"Das wirst Du bereuen!", kreischte Amethysyte. Doch dann verschwand er wieder im Basislager des Königreichs des Dunklen. Es bliebt lachend alleine zurück in der Finsternis der Nacht.
 

"Verdammt noch mal, halt still!", schimpfte Kioku.

"Vergiss es! Darauf kannst Du lange warten!", fauchte Mamoru und wich noch einen Schritt zurück.

Er hatte es nicht wirklich lange geschafft, vor seiner Tante geheim zu halten, dass ihm sogar ein ganzer Berg von Klamotten inzwischen nicht mehr passte. Und Kioku, das Alpha-Weibchen des Hauses, hatte beschlossen, am nächsten Tag zum Shoppen zu gehen. Und da zum einen Kiokus Wort dem Gesetz gleichbedeutend war und besagter nächster Tag nun angebrochen war, hatte Kioku ihren Neffen nach dem Unterricht von der Schule abgeholt und seitdem waren die Beiden seit anderthalb Stunden unterwegs, von Geschäft zu Geschäft laufend.

Mamoru hatte an und für sich nichts dagegen, dass Kioku ihm neue Sachen kaufte. Aber musste er deshalb gleich mitkommen? Na gut, auf der anderen Seite hatte er sie so davon abhalten können, diesen Pullover mit diesem süßen Bärenkopf vorne drauf zu kaufen... Warum konnte er nicht einfach nur etwas aussuchen, es kaufen und damit war die Geschichte fertig?

Nein, stattdessen hatte er jedes einzelne Teil anprobieren müssen. Und seine Tante gab sich erst zufrieden, wenn sie überall dran herum gerüttelt hatte, mit ihren Fingern in jede noch so kleine Ritze gefahren war und mit kritischem Blick jeden Zentimeter gemustert hatte.

Und genau das war es, was dem Herrn der Erde allmählich zuviel wurde.

"Stell Dich nicht so an", meckerte Kioku. "Es wird keine Hose gekauft, die Dir nicht passt."

"Mir passt bloß nicht, dass Du mich behandelst wie ein kleines Kind!", giftete Mamoru zurück.

Er war mittlerweile müde und grantig. Ihm war eigentlich fast egal, was er auf dem Leib trug, solange es ihn nur warm hielt. Doch Kioku war noch putzmunter und hatte die Energie, noch viele weitere Stunden lang durch die Läden zu stiefeln.

<Diese Energie könnte man ihr locker-lässig abnehmen>, dachte Mamoru grimmig, aber diese Idee setzte er dann doch nicht in die Tat um.

"Wenn Du jetzt brav bist", schnurrte Kioku mit einem Zwinkern, "dann gehe ich nachher mit Dir ins Café, um Dein gutes Zeugnis zu feiern. Du kannst so viel Schokoladenkuchen haben, wie Du essen kannst. Na, ist das ein Angebot?"

<...>

"Schokoladenkuchen, sagtest Du?"

Dieses eine Wort reichte völlig aus, um sein Denkvermögen und seine schlechte Laune mit einem Mal wegzuwischen.

"Einverstanden!"
 

Es dauerte doch eine ganze Weile, bis Mamoru zu seinem wohlverdienten Schokoladenkuchen kam. Er verdrückte tatsächlich einige Portionen davon, und Kioku vertrieb sich die Zeit damit, in einer Zeitung herumzublättern, die sie für Seigi gekauft hatte.

"Krieg ich auch nen Teil?", fragte Mamoru und deutete auf die neuesten Nachrichten.

"Klar doch."

Mamoru beugte sich über den Tisch und griff nach dem nächstbesten Artikel, den er in die Hand bekam.

"Mal sehen...", murmelte er und überflog die Überschriften.

Irgendwas mit Politik...

Irgendwas mit Wirtschaft...

Noch was mit Politik...

Langweilig...

Langweilig...

Noch langweiliger...

"Was?", murmelte Mamoru verstört, "Dreiköpfiges Schaf heiratet außerirdischen Yeti-Klon? Was ist das hier denn für ne Zeitung, bitteschön?"

Politik...

Politik...

Wieder Wirtschaft...

Am langweiligsten...

Leere Versprechungen...

"Hmmm?", machte Mamoru und seine Augen blieben an einem Artikel kleben.

"Was ist denn?", fragte Kioku und sah von ihrem Teil der Zeitung auf.

Er legte die Zeitung auf den Tisch und wies auf den Bericht, den er soeben entdeckt hatte.

"Ach", machte Kioku. "Schon wieder so eine Reportage über diese merkwürdige Krankheit. Anscheinend breitet es sich über die ganze Welt aus, dass Leute einfach umkippen und dann wirres Zeug reden, wenn sie wieder zu Bewusstsein kommen. ...Du machst Dir Sorgen deswegen, was, Kurzer?"

Der Kurze zuckte mit den Schultern.

"Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll", gestand er.

"Mach Dir mal keinen Kopf." Beruhigend klopfte Kioku ihm auf die Schulter. "Es ist anscheinend nichts wirklich Schlimmes. Bisher ist noch keiner daran gestorben. Ich denke, im Moment sollten Dich wirklich andere Dinge interessieren."

<Wenn Du wüsstest, was ich weiß!>, dachte Mamoru. Und dabei wusste auch er so gut wie gar nichts. Er seufzte auf. Aber was sollte er tun? Was konnte er schon ausrichten in dieser Schlacht, in der er den Gegner nicht mal richtig kannte?

"Kurzer...", sagte Kioku, "halt mal grad still, Du hast da anscheinend ein paar Krümel am Kinn hängen..."

Sie wischte ein paar Mal über besagte Stelle hinweg und zog dann verwirrt die Augenbrauen zusammen. "Himmel, was hast Du da nur? Das geht ja gar nicht ab!"

"Tante Kioku!", entrüstete sich Mamoru. "Das ist ein Bart!"

"Bitte?", fragte Kioku erstaunt nach. "Was soll das sein?"

"Ein Bart!"

"Was denn, dieser Flaum?", prustete Kioku los. Sie verfiel bald in meckerndes Lachen. "Was willst Du damit machen, den Fliegen die Augen auspieksen? Also, dafür ist das da aber nicht dick genug!"

"Was willst Du denn damit sagen?", maulte Mamoru vor sich hin.

"Kurzer ... mal ehrlich ... das, was Du da im Gesicht hast, das haben andere, die sich nen Vollbart wachsen lassen wollen, schon nach drei Stunden erreicht, und nicht erst nach drei Tagen!"

"Du bist gemein", beschwerte er sich nuschelnd.

"Die ganze Welt ist groß und gemein", antwortete Kioku schulterzuckend. "Ich schlage vor, wir gehen jetzt heim, Du machst Dir diesen rudimentären Mikro-Urwald ab und suchst Dir dann ein anderes Hobby, einverstanden?"

"Pöh!"

"Glaub mir, Kleiner, Du würdest Dich wundern!", prophezeite Kioku. "Was meinst Du wohl, was Du für Probleme kriegst, wenn Du das nächste Mal Schnupfen hast? Das ist was echt Ekliges, mein Kurzer. Du weißt ja, dass Dein Vater Keibi einen Oberlippenbart hatte. Er hat mir regelmäßig was vorgejammert, wenn er sich schnäuzen musste. Er hat zwar immer gesagt, das Ding käme ab, aber dran gehalten hat er sich nie. Ich rate Dir: Fang gar nicht erst damit an. Und jetzt komm. Es wird Zeit, nach Hause zu gehen."
 

Nach dem Treffen mit Amethysyte kehrte es zufrieden lächelnd wieder in die Dimension der zeitlosen Finsternis zurück, um sich wieder um das Tier zu kümmern, das immer noch in tiefem Schlummer gefangen war.

"Sieh mich an", flüsterte es leise. "Ich habe wieder einen lebensfähigen Körper! ...Bitte, mach Deine Augen auf und sieh mich an! ...Bitte..."

Doch das Tier war zu tief im Schlaf versunken.

"...Ist schon gut...", wisperte es in die Stille hinein. "Ich weiß, Du kannst noch nicht. Ich bitte Dich nur darum, so bald als möglich zu erwachen. Bitte..."

Es kniete neben dem Tier nieder.

Es legte seine Hände auf das Fell des Tieres und übergab ihm seine Kraft. Allmählich spürte es, wie sein Körper wieder an wertvoller Lebensenergie verlor. Doch das musste nun sein. Es wollte nicht ohne seinen alten Partner in dieser neuen Welt der gegenwärtigen Zeit gegen die uralten Feinde kämpfen. Es fühlte die langsam aufkeimende Müdigkeit in sich aufsteigen, je mehr Kraft es an das Tier abgab. Die Energie von gewöhnlichen Menschen reichte nun mal nicht aus für den gigantischen Bedarf, der von ihm und von dem Tier gedeckt werden musste.

Plötzlich fuhr ein Zucken durch den Leib des Tieres. Es bewegte sich unter immer ungleichmäßigeren und schwereren Atemzügen. Das weiche Fell über der Brust weitete sich aus und fiel wieder zusammen mit jedem Atemstoß.

Und dann hob das Tier ein Augenlid. Zum ersten Mal seit tausend Jahren erwachte es aus seinem tiefen Schlaf.

Es schlug die Hände vor dem Mund zusammen.

"Du bist wach", flüsterte es fassungslos. "Du bist endlich vollends erwacht! Wie geht es Dir? Beweg Dich nicht, bleib noch liegen. Schone Dich noch. Sammele Energie, damit Dein neu erwachtes Bewusstsein schon bald einen neuen Körper erschaffen kann, der auch in der Welt der Menschen zu leben imstande ist. Oh, wie sehr ich mich freue, zu sehen, dass Du wohlauf bist! Du hast mir so sehr an meiner Seite gefehlt!"

Das Tier hob schwerfällig den Kopf und nickte ihm zu. Dann legte sich das Tier wieder flach hin und ruhte sich aus.

Auch ihm war es so ergangen, vor ungefähr zehn Jahren, nach Menschenzeit berechnet, die sich für ihn allerdings sehr viel länger angefühlt hatten. Zu diesem Zeitpunkt war sein Bewusstsein in dieser Dimension erwacht. Eingeschlossen in einem materielosen Körper, der nicht wirklich existiert. Nach langem Kampf im Alptraum der Unendlichkeit war es damals endlich in dieser Dimension der zeitlosen Finsternis erwacht, und konnte unter großer Anstrengung von hier aus in die Welt der Menschen reisen; als konturloser Wind, als Alptraum, als Schrecken in der Nacht. Zehn geschlagene Jahre hatte es gebraucht, um heute zum ersten Mal nach eintausend Jahren seinen Körper neu zu materialisieren.

Und auch das Tier, das bis zu diesem Zeitpunkt geschlafen hatte, war endlich in dieser Zwischendimension zwischen dem Tod und der Welt der Menschen erwacht. Bald würde es auch die letzte Hürde nehmen und sich einen Körper beschaffen; denn das Tier benötigte dazu nicht annährend so viel Energie, wie es nötig gehabt hatte, um diesen Schritt in die Welt der Menschen zu tun.

Von nun an waren beide nicht mehr auf die Dimension der zeitlosen Finsternis angewiesen. Wenn sie ständig neue Energie beschafften, konnten sie durchaus in der Welt der Menschen weiterexistieren.

Alles, was sie brauchten, um diesen letzten Schritt in die Freiheit tun zu können, war Energie ... viel Energie.

"Ich bitte Dich, Herr und Meister, gib uns Deine Macht, damit wir dieses Gefängnis endlich verlassen können", betete es in die Stille hinein.

Auch das Tier öffnete die Lippen, doch es brachte noch keinen Ton heraus.

"Bleib ruhig", flüsterte es dem Tier zu. "Ich weiß, woher wir genug Energie bekommen werden. Doch Du wirst Dich noch ein paar Tage gedulden müssen, mein Partner. Bis dahin werden wir mit der Energie der gewöhnlichen Menschen auskommen müssen. Doch dann, wenn die Zeit gekommen ist, bin ich mir sicher, dass der Herr und Meister uns genügend Energie zukommen lassen wird."
 

Inzwischen waren einige Tage vergangen.

Tage, in denen vieles vorbereitet wurde.

Tage, in denen vieles geregelt wurde.

Tage, in denen viele wichtige Einkäufe getätigt wurden.

Tage, in denen viele wichtige Entscheidungen getroffen wurden.

Tage der Neugierde auf die Zukunft.

Aber auch Tage der Ungewissheit und des Zweifels.

Und irgendwann war der eine Tag da...

Der letzte Tag vor der Abreise.

Die Wohnung war nicht mehr wiederzuerkennen. Überall standen Umzugskartons herum, und Taschen, und Koffer... Einiges von dem Zeug war schon in Amerika angekommen, einiges war wohl gerade unterwegs, einiges würde erst später nachkommen. Seigis Firma kümmerte sich um den gesamten Ablauf des Umzuges. Nur das Packen hatte die Familie Chiba selbst übernommen, zusammen mit der tatkräftigen Unterstützung von Motoki. Der wollte auch am Flughafen sein und Abschied nehmen...

Doch das alles fand erst am nächsten Tag statt. Mamoru vermochte seine Gedanken kaum unter Kontrolle zu bringen. Er zog sich seinen Schlafanzug an und legte sich mit einem leisen Seufzer ins Bett. Er war müde wie selten zuvor in seinem Leben und hatte schon fast den ganzen Abend lang leichte Kopfschmerzen. Alles, was er sich wünschte, war eine lange, erholsame Nacht für den langen, höchstwahrscheinlich weniger erholsamen Flug morgen.

Doch so müde er auch war und so sehr er sich auch hin und her drehte, um einen gemütlichen Platz zu finden, er konnte einfach nicht einschlafen. Tausend Gedanken kreisten in seinem Kopf umher. An erster Stelle stand die Frage:

<Ist das richtig, was ich hier tue? Wäre es nicht doch besser, zu bleiben?>

Mamoru drehte sich zu seinem Nachttisch um und tastete blind nach seiner silbernen Halskette. Er strich sanft mit den Fingern an den Konturen der Spieluhr entlang. Das kleine, sternförmige Schmuckstück schmiegte sich so perfekt an seine Handfläche an, als sei sie nur dafür gemacht. Der Herr der Erde fuhr über den runden Deckel und öffnete ihn endlich. Ein sanftes, blaues Licht erstrahlte aus dem Inneren und leise erklang die Melodie der goldenen Spieluhr. Bei diesen wunderschönen Tönen spürte Mamoru, wie sein Herz etwas schneller schlug. Er war selbst immer wieder aufs Neue beeindruckt, welche Macht das kleine Schmuckstück über seinen Körper zu haben schien.

Die Melodie erklang auch weiterhin leise, als er von der Spieluhr abließ und seine Aufmerksamkeit dem silbernen Ring widmete, der ebenfalls an dieser Halskette befestigt war. Das rosafarbene, etwa fingernagelgroße Herz aus Rosenquarz schimmerte leicht in dem sanften Licht, das aus der Spieluhr heraus leuchtete, solange die Melodie noch spielte. Die winzigen, silbernen Drähte, aus denen der Ring bestand, glitzerten, als sie den Glanz der Spieluhr reflektierten und in Mamorus Zimmer verstreuten.

Der Herr der Erde öffnete vorsichtig die Halskette und streifte den Ring herunter. Er legte die Kette samt der Spieluhr wieder auf seinem Nachttisch ab und drehte dann den Ring zwischen seinen Fingern hin und her, während er ihn eingehend betrachtete. Dann steckte er sich den Ring an den Ringfinger seiner linken Hand. Er saß ein wenig locker, aber er passte noch. Mamoru besaß die langen, schlanken Finger seiner Mutter. Und das, obwohl er die meisten seiner Gene von seinem Vater geerbt hatte. Besonders Tante Kioku bezeichnete ihn immer als ein Abziehbildchen seines Vaters.

Er strich sanft über den Ehering seiner Mutter und lächelte dabei. Ihm war jedes Mal aufs Neue, als gebe ihm dieser Ring Kraft. Genau das Gleiche galt auch für die Spieluhr. Ohne diese beiden wertvollen Schmuckstücke wäre er in der letzten Zeit wohl so manches Mal verzweifelt.

Sachte zog er sich den Ring vom Finger, fädelte ihn wieder auf die Kette und schloss dann den silbernen Verschluss, damit seine beiden kostbarsten Stücke nicht verloren gehen konnten.

Er fuhr noch ein letztes Mal sanft mit den Fingerspitzen über die Spieluhr und schloss die Augen, während er der Melodie lauschte. Mit einem Seufzen schloss er den Deckel, die Musik verstummte, und er öffnete die Augen wieder.

Sein Kopf ruckte herum.

<War da nicht was in der Dunkelheit?>

Seine Finger tasteten nach dem Schalter seiner Nachttischlampe. Er war sich sicher, gerade eben, als das Licht seiner Spieluhr geleuchtet hatte, war da noch nichts gewesen. Seine Fingerkuppen fanden endlich den Lichtschalter und legten ihn um. Mamoru erschrak zutiefst, als da plötzlich mitten in seinem Zimmer eine schwarze Gestalt mit schwarzen Flügeln stand, den Kopf in seine Richtung gewandt.

"Du hier?", fragte Mamoru verängstigt. Sein Herz jagte in seiner Brust und hämmerte schmerzhaft in seinen Rippen. "Was willst Du?"

Das schwarze Wesen erhob langsam den rechten Arm, streckte ihn aus und wies mit dem Finger auf Mamoru.

"Was, mich willst Du? Was soll..."

Das Schattenwesen schüttelte den Kopf. Es trat einige Schritte auf Mamoru zu, streckte erneut den Arm aus und berührte mit einer seiner langen, scharfen Krallen Mamorus Brust, genau über dem viel zu schnell klopfenden Herzen.

Der Junge wurde ganz blass, als der Schatten ihm so nahe kam. Er wich ängstlich zurück und drückte sich tiefer in sein Kissen hinein. Doch irgendwann begriff er.

"Du willst ... die Energie des Goldenen Kristalls, hab ich Recht?"

Das Wesen zog seinen Arm wieder zurück und nickte. Dann streckte es dem Herrn der Erde die offene Handfläche hin, als wolle es sagen gib ihn mir.

"Warum?"

Die Kreatur der Finsternis legte den Kopf schief.

"Okay, okay, ich weiß. Du kannst nicht reden."

Mamoru seufzte auf. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Tür, die auf den Gang hinaus führte.

"Ich willige ein. Aber Du lässt dafür meinen Onkel und meine Tante in Frieden, ja? Die haben damit nichts zu tun!"

Das Wesen nickte und hob ihm fordernd seine Hand etwas näher entgegen.

Mamoru schloss die Augen, hob beide Hände an seine Brust und flüsterte leise:

"Macht des Goldenen Kristalls..."

Zuerst erschien ein goldenes Licht zwischen seinen Händen. Dann formte sich allmählich ein fast faustgroßes Gebilde heraus. Schließlich hielt der Herr der Erde den Goldenen Kristall in den Händen. Zögerlich streckte er dem Wesen den Kristall hin.

"Du wirst mich doch nicht sterben lassen, oder?", wisperte er tonlos.

Das Wesen ergriff den Kristall und entzog ihm die Energie. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis Mamoru bewusstlos zurücksackte und reglos auf dem weichen Kissen liegen blieb. Er bekam gar nicht mehr mit, wie der Körper des Wesens an Materie und Farbe zunahm und im goldenen Licht des Kristalls strahlte. Es legte den nun schwächer scheinenden Kristall auf Mamorus Brust zurück, wo er verschwand.

"Ich brauche Dich noch, Herr der Erde", flüsterte die Kreatur. Dann deckte sie Mamoru behutsam zu, löschte das Licht und verschwand wieder.

Nun endlich besaß es die nötige Kraft, in einem lebenden Körper in der Welt der Menschen zu existieren, und die Energie würde auch noch für ein paar Wochen reichen, obwohl es dem Tier so viel davon abgegeben hatte, dass auch das Tier einen Körper aus fester Materie formen konnte um ebenso in der Menschenwelt bestehen zu können. Alles schien perfekt.

"Dies ist das letzte Mal, da wir die Dimension der zeitlosen Finsternis zu Gesicht bekommen, mein treuer Partner", sprach es.

Das Tier neben ihm nickte mit einem leichten Lächeln. Es konnte seine Worte hören, obwohl es in der Stille der zeitlosen Finsternis keine Akustik gab. Das Tier konnte tief in sich spüren, dass es diese Worte mit den Lippen formte.

"Solange wir nicht versagen", gab das Tier zu bedenken.

"Hab keine Sorge", beruhigte es seinen uralten Gefährten. "Ich werde zu verhindern wissen, dass es so weit kommt. Wenn es knapp wird, können wir immer noch auf die Kraft der Menschen zurückgreifen."

Wieder schlich sich der sanfte Hauch eines Lächelns auf die dünnen Lippen des Tieres, als es antwortete:

"Davor musst Du weitaus mehr Angst haben als ich. Sowie ich durch dieses Tor trete und diese unsägliche Hölle verlasse, bin ich nie mehr auf diese lebensfeindliche Welt angewiesen. Doch Du solltest auf Dich Acht geben, solange Du den Kristall noch nicht gefunden hast. Ohne ihn wirst Du nie mehr wirklich in die Welt der Menschen gehören, wie Du es dereinst getan hast. Du wärst nur ein energiesaugender Schatten, nicht mehr. Vielleicht müsstest Du wieder hier her zurückkehren, wenn Du weiter existieren willst."

"Erinnere mich nicht daran", seufzte es. "Und vertrau mir ... ich werde den Kristall schon bald finden. Ich habe schon eine Spur zu ihm entdeckt. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, wo genau ich nach ihm suchen muss, aber lange kann es nicht mehr dauern, bis ich ihn in meinen Händen halte."

Dann fuhr es in einer beruhigenden Geste über das schwere Fell des Tieres. "Bist Du bereit, zum ersten Mal nach tausend Jahren wieder Sonnenlicht zu sehen, alter Freund?"

Das Tier nickte. "Ich kann es kaum erwarten."

Die Dimension der zeitlosen Finsternis war viele Jahrhunderte lang ihrer beider Zuhause gewesen - der einzige Zufluchtsort, den sie hatten; wo sie überleben konnten. Dennoch haben sie die endlose Stille und die Finsternis gehasst, die sie umschlossen gehalten hatten, für einen Zeitraum, der ihnen wie Ewigkeiten erschienen war. So verschwendeten sie nun keine Zeit damit, diesem Gefängnis Lebewohl zu sagen.

Als sie endlich in die Welt der Menschen hinaus schritten, zum ersten Mal in ihren neuen Körpern, die speziell für den Aufenthalt hier geschaffen waren, da mussten sie sich zuerst eine neue Identität anlegen. Das Tier besaß nicht die Macht dazu, einen Platz in dieser fremden Welt zu erzwingen. Doch es hatte schon sehr bald eine passende Bleibe gefunden. Es streckte sachte seine geistigen Fühler aus und fand schon bald ein schwächliches, menschliches Opfer, dessen Erinnerungen es zu manipulieren vermochte.

Ihrer beider neues Leben begann...
 

Geistesabwesend starrte Mamoru zum Fenster des großen Flugzeugs hinaus. Der riesige, tiefblaue Pazifik unter ihm interessierte ihn schon lange nicht mehr. War ja doch nur Wasser, Wasser, und noch mehr Wasser. Der Herr der Erde richtete seine Aufmerksamkeit vielmehr auf seine Erinnerung. Er hing mit den Gedanken am Morgen dieses Tages fest. Als seine Tante ihn aus den Federn geholt hatte, war er fast noch müder gewesen als am Abend zuvor. Er wusste nicht zu sagen, ob er auch diese Nacht damit verbracht hatte, im Schlaf umherzustreifen und nach dem Silberkristall zu suchen, oder ob ihn der Energieverlust so fertig machte, den er dem Schattenwesen einen Abend vorher zu verdanken hatte. Jedenfalls war er schon nach kurzer Zeit mit seinem Onkel, seiner Tante, Motoki und dessen Vater zum Flughafen aufgebrochen. Herr Furuhata hatte sich freundlicherweise bereiterklärt, die Familie Chiba an den Tokyo Airport zu fahren. Es hatte ein großes Wiedersehen von Motoki gegeben, und Mamoru war keineswegs entgangen, dass sein Freund sich hastig eine Träne aus dem Augenwinkel gewischt hatte. Er hatte dann so getan, als hätte er es nicht bemerkt.

"Ich wünsch Dir alles Gute!" Die Worte des besten Freundes hallten noch immer in Mamorus Ohren nach.

Für ihn sollte nun also ein neuer Lebensabschnitt eintreten. Ein Neuanfang. Ein völlig anderes Dasein in einer völlig anderen Welt.

"Ich will hier raus!", jammerte er leise und resigniert vor sich hin.

"Kneifen gilt nun nicht mehr, Sportsfreund!", antwortete Kioku mit einem Augenzwinkern. Sie saß neben Mamoru und stupste ihn nun leicht mit dem Ellenbogen an. Seigi saß eine Reihe weiter hinten. Der Platz neben ihm war leer.

Seigi hatte sich abgeschnallt. Nun stand er auf, beugte er sich etwas vor und streckte seinen Kopf zwischen den Sitzen hervor um Mamoru zu fragen:

"Wie fühlst Du Dich?"

Der Neffe zuckte mit den Schultern.

"Ich bin müde", antwortete er wahrheitsgemäß.

Seigi nickte. "Dann schlaf ruhig noch ne Runde. Es dauert noch ein ganzes Stück bis wir ankommen. Aber wenn ich Dir einen Tipp geben darf: Stell jetzt schon mal Deine Uhr um. In Texas ist es gerade 18 Uhr des gestrigen Tages."

"Wow, wir machen ne Zeitreise. Cool", bemerkte Mamoru in leicht sarkastischem Unterton, während er an seiner Armbanduhr herumhantierte.

"Freu Dich nicht zu früh", meinte sein Onkel mit schelmischem Grinsen. "Wir werden mehr als einen halben Tag nur mit Fliegen beschäftigt sein. Das ist kein Pappenstil und zehrt ganz schön an den Nerven. Wenn ich mich nicht verrechnet habe, müssten wir frühmorgens irgendwann ankommen. Es ist besser, wenn Du dann für den restlichen Tag ausgeruht bist. Es wird viel zu sehen geben!"

"Onkel Seigi", murmelte Mamoru leise, "ich hab ein wenig Angst vor dem, was nun alles kommen kann. Was, wenn ich einfach nicht zurechtkomme?"

"Mamoru..." Seigi lächelte ihn warm an und legte beruhigend seine Hand auf die Schulter seines Neffen. "...Es wird alles gut. Wir beide, Kioku und ich, wir sind ja bei Dir. Wir passen schon auf, dass Du keine Schwierigkeiten bekommst. Außerdem ... ich hab ja auch Angst. Ich werd mich jetzt an viele neue Umstände gewöhnen müssen..."

"Du hast auch Angst?", fragte Mamoru erstaunt.

Seigi nickte.

"Ich bin auch nicht perfekt", erklärte er. "Der Umzug hat uns alle in der vergangenen Zeit viel Kraft gekostet; und das Schwerste kommt ja erst noch. Aber sieh es doch mal von der Seite: Da draußen wartet das Abenteuer! Eine neue Herausforderung für jeden von uns! Gerade die Vereinigten Staaten sind berühmt für ihre Vielfältigkeit! Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten! ...Vielleicht war es so eine Art ... Schicksal ... das etwas Besonderes mit uns vorhat. Aber was auch immer kommen mag, Mamoru, wir sind eine Familie und werden zusammenhalten! Bestimmt!"

Mamoru seufzte. Er legte seine Hand auf Seigis Hand, die noch immer auf der Schulter des Herrn der Erde lag. "Danke, Onkel Seigi."

"Kein Problem." Seigi setzte sich wieder und griff nach seiner Zeitschrift.

"Und was immer kommen mag", schnurrte Kioku und tätschelte Mamorus Wange, "ich werde meinen kleinen, süßen Butzel-Dutzel-Liebling beschützen! Komm an meine Brust! Ich werde jedes Steinchen aus Deinem Weg räumen, damit Du nicht stolperst!"

"Tante Kioku!", fauchte er und wich zurück, soweit dies sein Sitz zuließ. "Lass das!"

<Erwachsene können so grausam sein!>

Als Kioku ihn dann endlich in Ruhe ließ, verschränkte er trotzig die Arme vor der Brust und starrte schlecht gelaunt nach draußen. Dann rutschte er unruhig auf seinem Sitz hin und her. Er kratzte sich am Kinn. Dann versuchte er, eine gemütlichere Position in seinem Sitz zu finden. Er schnallte sich ab und spielte mit dem Sicherheitsgurt herum. Er sah auf seine Armbanduhr. Er trommelte auf der Armlehne herum. Leise seufzte er. Dann drehte er sich auf seinem Sitz um, sah über seine Lehne hinweg und fragte seinen Onkel:

"Wie lange noch?"

"Aber Mamoru", lachte Seigi, "wir fliegen doch erst seit etwa einer Stunde!"

Sein Neffe schaute ihn entsetzt an.

"Ich überlebe das nicht! Das dauert mir zu lange!"

"Tu mir den Gefallen und benimm Dich Deinem Alter entsprechend", bat Seigi und nahm dabei nicht den Blick aus seiner Zeitschrift.

Mamoru zog eine sauere Schnute, setzte sich wieder richtig hin und fuhr damit fort, weiter aus dem Fenster zu starren, während er beleidigt vor sich hin brummelte.

Er hasste es, wenn Dinge ins richtige Licht gerückt wurden.

Mamoru suchte seine Taschen ab, zog dann seinen Schlüsselbund hervor und inspizierte jeden Schlüssel einzeln. Als er damit fertig war, tat er genau das gleiche noch mal. Dann steckte er die Schlüssel wieder weg. Er öffnete die Schnürsenkel an seinen Schuhen und band sie wieder sauber und ordentlich zu. Dann trommelte er wieder nervös auf der Armlehne herum.

"Mir ist langweilig!", verkündete er.

"Ach, echt? Is mir gar nicht aufgefallen", brummte seine Tante.

"Was soll ich tun?", wollte ihr Neffe wissen. "Mach mal nen Vorschlag."

"Zieh Schuhe und Socken aus und spiel mit den Zehen."

"Ganz bestimmt nicht!"

Er spielte an seiner Armbanduhr herum. Dann zupfte er einige Stäubchen von seinem Hemd. Als nächstes friemelte er an seiner silbernen Halskette herum, jedoch ohne sie dabei zum Vorschein zu bringen. Er seufzte tief. Dann fuhr er sich durch seine dichten, schwarzen Haare. Er pfiff leise ein Lied vor sich hin. Danach streckte er sich und gähnte. Daraufhin beobachtete er eine Weile die anderen Passagiere in seiner unmittelbaren Nähe. Dann wandte er sich seiner Tante wieder zu:

"Mach einen besseren Vorschlag!"

Diese rollte entnervt mit den Augen. Dann setzte sie ihr diabolischstes Grinsen auf, lehnte sich zu Mamoru rüber und sagte:

"Lass Dir doch einen Bart wachsen! Dann bist Du für lange Zeit beschäftigt!"

Mamoru schnappte empört nach Luft.

"Du bist grausam..."

"Ich weiß", antwortete Kioku und der Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde noch etwas kälter. "Ist mein Hobby."

Mamoru drehte sich wieder auf seinem Sitz um.

"Onkel Seigi! Tante Kioku ist gemein zu mir!"

"Mamoru...", stöhnte sein Onkel, "...bitte ... bitte, bitte, benimm Dich Deinem Alter entsprechend."

"...Aber ... aber...", machte der Herr der Erde noch. Dann brach sein Widerstand völlig. Er hockte sich wieder richtig hin und schmollte. Und diesmal brachte er es sogar fertig, zwei ganze Stunden lang keinen Piepton mehr von sich zu geben.

<Diese Reise fängt ja großartig an.>

Doch dann, endlich, nach geraumer Zeit, drehte er sich wieder seinem Onkel zu und sagte im beschämt leisen Ton:

"Kann ich auch was zu lesen haben, bitte?"

"Aber sicher doch!"

Seigi griff wahllos nach einer von den vielen Zeitungen, die er auf den freien Sitz neben sich gelegt hatte und überreichte sie Mamoru.

"Danke schön."

Der Junge überflog also gelangweilt die Überschriften der Zeitung, auf der Suche nach irgendwas Interessantem. Doch da gab es nicht viel.

Politik...

Noch mal Politik...

Eine Umfrage...

Irgendwas mit den Steuern...

Langweilig...

Und dann blieb Mamorus Blick an einer besonderen Überschrift haften:

"Dreiköpfiges Schaf trennt sich wieder von außerirdischem Yeti-Klon - was geschieht nun mit den dreihundert Kindern?"

"Also ... langsam mach ich mir Sorgen um diese Welt...", murmelte der Herr der Erde leise. Nun gut, schlussendlich fand er doch noch einige Artikel, die ihn interessierten. Er vertrieb sich einige weitere Stunden mit Lesen.

Zwischenzeitlich wurde ein Essen serviert. Mamoru rechnete sich aus, dass dies nach japanischer Zeit ein Mittag- und nach amerikanischer Zeit ein Abendessen war - sogar ein Spätimbiss, um genau zu sein. Doch so sehr er auch herumrechnete, er bekam einfach nicht raus, ob er bei der Ankunft in Texas einen Tag verloren oder dazubekommen hätte, würde er in Nullzeit reisen. Das Rechnen mit Zeitzonen erwies sich als schwieriger, als er hätte ahnen können. Da steckte er doch lieber wieder seine Nase in die Zeitung.

Es dauerte nicht allzu lange, da sank die Zeitung allmählich haltlos auf sein Gesicht zu und blieb schließlich drauf liegen. Als Kioku die Ecken der Blätter leicht anhob und neugierig einen Blick unter die Zeitung warf, da sah sie, dass ihr Neffe endlich seelenruhig schlief. Sie grinste zufrieden und ließ die Zeitung wieder auf sein Gesicht sinken. Seigi würde sich schon nicht daran stören, dass ein paar Seiten leicht angesabbert wurden.

Als Mamoru viele Stunden später seine schweren Augenlider wieder hob, die Zeitung von seinem Gesicht nahm und sich verwirrt umblickte, saß Kioku nicht mehr neben ihm. Sie hatte sich wohl irgendwann nach hinten zu Seigi gesetzt und die Zeit damit verbracht, sich leise mit ihm über wer-weiß-was zu unterhalten.

Der erste Gedanke, der ihm kam, als er erwachte, war:

<Irgendwas an meinem Traum war komisch.>

Er gähnte erst mal ausführlich, reckte seine Glieder, drehte sich nach hinten und murmelte verschlafen:

"Wo sind wir?"

"Na, ausgeschlafen?", begrüßte ihn Seigi. "Wir sind schon seit einiger Zeit über dem Festland. Ich schätze, bis zur Landung ist es nicht mehr lange. Ich hätte Dich sowieso jetzt geweckt."

Mamoru nickte, rieb sich den Schlaf aus den Augen, erhob sich aus seinem Sitz und schlurfte gemächlich zur Toilette. Und gerade, als er wieder zurückkam, hörte er die Durchsage, die Passagiere mögen sich doch bitte auf die Landung vorbereiten.

<Na, das nenn ich pünktlich.>

Er setzte sich hin und schnallte sich an.
 

Als die drei am Flughafen auf ihre Koffer warteten hatte Mamoru nichts Besseres zu tun als sich umzusehen und nachzudenken. Draußen war wohl vor nicht allzu langer Zeit die Sonne aufgegangen. Dennoch war am Flughafen eine Menge Betrieb. Etliche hundert Leute liefen herum, unterhielten sich, suchten bestimmte Orte, liefen in diverse Shops oder in die Bäckerei, rannten zu ihrem Gate oder saßen wartend in der Gegend herum. Anscheinend waren etliche verschiedene Kulturen zu finden. Schilder wurden in vielen Sprachen übersetzt. Ein lautes Gemurmel, bestehend aus unzähligen verschiedenen Sprachen, hallte durch die Luft.

Mamoru betrachtete das alles mehr oder weniger mit Interesse. Er konnte es sich selbst nicht erklären. Eigentlich hätte er aufgeregt herumhüpfen müssen wie ein kleines Kind.

Genau das tat Kioku.

Doch Mamoru fühlte sich irgendwie immer noch total verpennt. Und noch immer spukte der Gedanke in seinem Kopf herum, dass ihm etwas Bestimmtes hätte auffallen müssen. Doch er kam nicht drauf. Etwas war diesmal an seinem Traum anders gewesen ... aber was bloß? ... Was bloß...

Seigi fischte gerade einen weiteren Koffer vom langen Fließband herunter. Nur einer fehlte noch. Doch das interessierte Mamoru bei weitem nicht. Er richtete seine Aufmerksamkeit mit einem Mal auf zwei dunkelhäutige Männer, die ganz in der Nähe standen und sich unterhielten. Vermutlich Araber, Mamoru war sich aber nicht ganz sicher. Die beiden bemerkten Mamoru gar nicht. Sie standen nur rum und redeten. Und dennoch war da etwas, das dem Herrn der Erde seltsam vorkam. Nur was? Was um Himmels Willen war so besonders an den beiden? Doch so sehr Mamoru grübelte, er kam einfach nicht darauf.

"Ich hab den letzten Koffer!", tönte Seigi freudig. "Mamoru, kommst Du? Wir gehen weiter."

"Ja", sagte Mamoru geistesabwesend. Er packte seinen Koffer, den sein Onkel direkt neben ihm abgestellt hatte, und lief ein paar Schritte hinter seinem Onkel und seiner Tante her, ohne dabei aber den Blick von den beiden Männern abzuwenden. Was war nur so besonders an ihnen?

Und als Mamoru an ihnen vorbeilief und ihnen af diese Weise etwas näher kam, da konnte er die Worte deutlicher hören, die der eine Mann sagte.

"Wahad ... Ithnani ... Thalatha ... Arbaa..."

Und er verstand sie. Obwohl die Sätze in Arabisch waren.

<Eins ... zwei ... drei ... vier...>

Der Kerl zählte nach, ob er all seine Koffer zusammenhatte!

Mit einem Ruck blieb Mamoru stehen. Er kam nicht umhin, die beiden Typen mit offenem Mund anzustarren. Er konnte es absolut nicht fassen. Er konnte Arabisch verstehen! ...Und nicht nur das!

Jetzt erst fiel es ihm auf. Natürlich waren die meisten Leute hier das, was man als einen typischen Amerikaner bezeichnen konnte, und Mamoru hatte sich nicht daran gestört, dass er dieses Englisch verstand; er hatte es immerhin in der Schule gelernt. Doch nun fiel ihm auf, dass er dieses Ausmaß an Vokabular nie und nimmer in der verhältnismäßig kurzen Zeit hätte lernen können. Auch verschiedene Dialekte waren ihm auf Anhieb geläufig. Und von alledem abgesehen konnte Mamoru auch all die anderen Sprachen verstehen, die um ihn herum durch die Luft flogen: egal ob es sich dabei um Deutsch, Spanisch, Chinesisch, oder Griechisch handelte. Verdammt noch mal, er verstand sogar die handvoll christlicher Priester, die sich anscheinend zufällig getroffen haben, und eine aufgeregte Diskussion angefangen hatten, wobei sie sich gelegentlich des lateinischen Idioms bedienten.

Mamoru konnte es absolut nicht fassen, aber er als Herr der Erde war dazu in der Lage, all die Sprachen dieses Planeten zu verstehen; auch wenn diese schon seit zweitausend Jahren nicht mehr aktuell waren! Es hätte ihn nicht gewundert, wenn er diese Sprachen auch lesen und schreiben konnte, ohne es zuvor geahnt zu haben.

Einer der Araber riss ihn aus seinen Gedanken und quatschte ihn ziemlich unwirsch an, warum er denn so glotze. Selbstredend tat er das in arabischer Sprache.

"Afwan!"

<Entschuldigung!>, gab Mamoru von sich, in einem derart perfekten Arabisch, dass diesem Mann die Kinnlade herunterfiel. Mit einem hastigen "Ilal-li'qa", <auf Wiedersehen>, und einer leichten, eigentlich eher typisch japanischen Verbeugung verabschiedete sich der Herr der Erde und wandte sich seinem Onkel Seigi zu. Die beiden Männer blieben reglos und vor Schrecken stumm zurück.

"Mamoru! Was treibst Du denn da die ganze Zeit? Komm endlich!", rief ihm seine Tante entgegen.

Als er die beiden dann eingeholt hatte, strich ihm Kioku eine Haarsträhne aus dem Gesicht und fragte besorgt:

"Ist was? Du siehst urplötzlich so blass aus..."

"Nein, es ist nichts", antwortete Mamoru eine Spur zu hastig.

Kioku schaute ihren Neffen etwas skeptisch von der Seite an. Doch sie sagte nichts mehr.

Seigi traf auch schon ziemlich bald auf den kleinen, etwas dicklichen Japaner, den seine Firma geschickt hatte um die Familie abzuholen. Dieser Mann hatte irgendwie einen nervösen Tick. Er konnte keine Sekunde ruhig stehen bleiben, trippelte ständig von einem Fuß auf den andren, gestikulierte ohne Unterlass mit seinen kurzen Wurstfingern herum und war vor Euphorie schier nicht zu bremsen.

Er war auf anderen Gebieten ebenso wenig zu bremsen, wie Mamoru nur etwas später feststellte, denn dieser hibbelige Kerl fuhr Auto wie eine gesenkte Sau. Dem Herrn der Erde kam dumpf die Frage in den Sinn, wie es dieser dauernervöse Mensch geschafft hatte, sich so eine Wampe zuzulegen. Jeder Wackeldackel, der in einem Auto auf einer von Schlaglöchern nur so übersäten Straße mitfuhr, musste vor Neid erblassen, so viel zappelte der Dicke herum. Er erläuterte während der Fahrt hier was und dort was, doch Mamoru hörte schon lange nicht mehr hin. Er war in seinen Gedanken mit völlig anderen Sachen beschäftigt.

Er hatte eine absolut neue Seite an sich entdeckt. Der Herr der Erde beherrschte alle Sprachen der Erde. Gehörten Blindenschrift und die Gebärdensprache der Stummen und Tauben eigentlich auch dazu? Bei Gelegenheit würde Mamoru das auch noch testen. Aber es gab noch einen ganz besonderen Aspekt, über den er im Stillen grübelte. Er war inzwischen darauf gekommen, was genau es gewesen war, das ihn vorhin noch an seinem Traum gestört hatte.

Es war das erste Mal seit zehn Jahren gewesen, dass er nicht von der Mondprinzessin geträumt hatte.

Was zum Teufel hatte das jetzt schon wieder zu bedeuten?

Während Mamoru in seinen Gedanken versunken war, raste die texanische Landschaft an ihm vorüber. Weideland mit kräftigem, grünem Gras wechselte sich dauernd ab mit staubigen, trockenen Gebieten, wo nur einzelne braune Büschel herumstanden. Dann und wann fuhren sie durch kleine Städtchen, die man eigentlich gar nicht als Stadt bezeichnen konnte, sondern die praktisch nur aus einer handvoll Gebäuden bestand. Für jemanden aus Tokyo war das gar nichts. Dann kamen in schönem Wechsel wieder Felder, Koppeln und jede Menge Nichts.

"Der nächstgelegene Ort, Orendaham, befindet sich nur wenige Meilen entfernt von hier. Man kann es gar nicht verfehlen ... oder aber man fährt in eine völlig falsche Richtung", gab der Dicke am Steuer zum Besten. "Wir werden allerdings drum herum fahren. Dann kommen wir schneller an. Es ist jetzt nicht mehr weit. Nur noch ein paar Minuten und wir kommen an der SilverStar-Ranch an."

"Und was sollen wir da?", brummelte Mamoru vor sich hin.

"Das wird unser neues Zuhause", erklärte Kioku, die neben ihm auf der Rückbank des alten, zerbeulten Wagens saß.

"Wie jetzt...", meinte Mamoru und wandte sich ihr zu. Mit einem Schlag war sein Interesse geweckt. "...Wir besitzen eine Ranch? Eine richtige, echte Ranch?"

"Scheint so", bestätigte Kioku nickend.

Nun drückte Mamoru seine Nase an der Fensterscheibe platt, und es störte ihn auch nicht mehr allzu sonderlich, dass eben diese Scheibe sowohl von innen als auch von außen wohl schon seit Monaten nicht mehr saubergemacht worden war. Dies war nun mal eine recht staubige Gegend, da waren etwas Wasser und Seife schon sehr schnell ziemlich machtlos.

Irgendwann erschien auf der rechten Seite der Straße ein hohes Tor, bestehend aus drei Holzstämmen, wo oben am Querbalken ein großes, ebenfalls hölzernes Schild hing mit der weißen Aufschrift: <SilverStar-Ranch>.

Der Dicke fuhr in die staubige Einfahrt ein, vorbei an einem leicht rostzerfressenen Briefkasten und fuhr weiter, und weiter, immer weiter.

Und dann kam der Gebäudekomplex in Sicht.

Die Straße führte auf einen riesigen Hof. Vor dem Auto erstreckte sich ein längliches Holzhaus, bestehend aus zwei direkt aneinander gebauten Teilen. Man konnte auch sagen: ein großes Haupthaus und ein etwas kleineres Nebenhaus waren Seite an Seite neben einander gebaut worden. Eine überdachte Veranda war längs der gesamten vorderen Seite gebaut, sodass man auch im Regen trockenen Fußes von einem Haus zum andren gehen konnte. Vor jedem dieser beiden Eingänge führte jeweils eine Treppe auf die Veranda hinauf. Säulen aus Holz stützten das Dach über der Veranda ab.

Das Haupthaus ragte zwei Stockwerke hoch empor und auch im Dach waren Fenster eingelassen. Das Nebenhaus hingegen, war nur ein Stockwerk hoch und hatte ein zu niedriges Dach, als dass man dort hätte aufrecht stehen können.

Stand man vor den beiden Hauselementen und sah man direkt auf das Haupthaus, so hatte man einige Meter zu seiner linken Hand ein längliches, relativ niedriges Gebäude, das man vielleicht als einen Schuppen ansehen könnte. Rechter Hand war da eine Menge Staub. Nur auf einem kleinen Platz stand ein Wasserhahn mit Gartenschlauch, und rund herum wuchsen einige Grasbüschel.

"Fantastisch", staunte Seigi.

"Schnuckelig", rief Kioku entzückt aus.

"Ähm...", machte Mamoru auf der Suche nach einer Gefühlregung, "...einsam und verlassen?"

"Ach, Mamoru!", schimpfte seine Tante. "Du wirst Dich schon noch daran gewöhnen. Ich bin mir sicher, das hier ist eine herrlich ruhige Gegend. Wer braucht schon Videospielhallen und laute Discos und Stau auf den Straßen alle zwei Meter ein Kaugummi auf dem Asphalt?"

Mamoru brummelte etwas vor sich hin. Doch daran störte sich seine Tante nicht.

"Hinter dem Haus ist der ideale Platz, um einen Garten anzulegen", erklärte der Dicke, der seit der Abfahrt am Flughafen nicht ein Mal Luft geholt hatte. "Im hinteren Teil des Stalltraktes befindet sich ein abgesonderter Bereich, der als Garage genutzt werden kann. Ein Wagen steht schon bereit, ein großzügiges Geschenk der Firma. Des weiteren..."

Bla, bla, bla.

"Wir bekommen einfach so einen Wagen?", fragte Mamoru seinen Onkel.

Dieser zuckte mit den Schultern. "Es hat fast den Anschein, als hätten die hier tüchtige Mitarbeiter wirklich sehr dringend nötig..."

"Bis jetzt", so fuhr der Dicke ungerührt fort, "haben wir sämtliche Kartons und Möbel, die bislang eingeliefert worden sind, im Stall gelagert. Wir hatten ja keine Ahnung, wie die Zimmer im Einzelnen eingerichtet werden sollen. Sie haben etwa eine Stunde Zeit, das Haus zu besichtigen und erste Pläne zu machen, dann werden einige Arbeiter und Handwerker hier eintreffen, um Ihre Wünsche zu Ihrer Zufriedenheit zu erfüllen. Bis heute Abend dürfte alles bereit sein für Ihre erste Nacht in diesem wunderbaren Texas. Hier..."

Er verschwand kurz im Wagen und holte diverse Dinge heraus.

"...sind die Schlüssel für das Haupthaus, der Schlüssel für das Nebenhaus, für den Stall, für die Garage und für den Wagen. Dazu noch alle wichtigen Papiere, Dokumente und Formulare. Alles, was ich jetzt noch brauche, sind Ihre Unterschriften, Herr Chiba, und zwar hier, hier und hier..."

Er wies mit seinen Stummelfingern auf die Stellen, hielt Seigi einen Kugelschreiber hin und erklärte noch den Weg in das kleine Städtchen Orendaham.

"Noch irgendwelche Fragen?"

Der Dicke verstummte zum ersten Mal seit Mamoru ihm begegnet war und blickte die dreiköpfige Familie erwartungsvoll an. Es wurde schon fast bedrückend still.

"Sind da auch Pferde im Stall?", fragte Mamoru eher beiläufig.

Der Dicke verneinte. "Der Vorbesitzer hatte einige Pferde besessen. Doch nun befindet sich keines mehr auf dieser Ranch. Es wäre allerdings kein Problem, Tiere und Pfleger zu besorgen, wenn es Ihnen beliebt. Ein Pferd ist an Orten wie diesem ein beliebtes Fortbewegungsmittel."

"Ja", brummte Mamoru leise, "für Leute, die auch reiten können..."

"Die Telefonleitungen, der Strom, fließend Wasser, Fernsehanschluss und was nicht noch alles dazu gehört, liegt bereits", erklärte der Dicke weiter. "Dann würde ich mal einen guten Aufenthalt hier wünschen und mich zurückziehen, wenn's recht ist. Ich denke, ich habe nichts vergessen. Wie gesagt, die Arbeiter sind in einer Stunde zur Stelle..."

Er sah kurz auf seine Armbanduhr.

"...oh, sogar etwas weniger als eine Stunde. Wie die Zeit vergeht... Alles Gute! Und wenn etwas ist, Herr Chiba, ich habe Ihnen Adresse und Telefonnummer Ihres neuen Arbeitsplatzes aufgeschrieben. Ist unter den Notizen, die Sie nun erhalten haben. Auf Wiedersehen!"

Damit setzte er sich in sein Auto, wendete langsam, tuckerte einige Meter vor sich hin, gab in einiger Entfernung Vollgas und verschwand dann hinter einer dichten, roten Staubwolke.

"Tja...", machte Seigi, "...dann woll'n wir doch mal einen Blick riskieren, was?"

Darauf zückte er den passenden Schlüssel, hob seinen Koffer aus dem Staub und trat auf das Haupthaus zu.

Das ganze Grundstück, so erklärte Seigi, war an und für sich recht alt, hatte aber ziemlich oft den Besitzer gewechselt. Der letzte Bewohner schließlich musste es schon nach nicht allzu langer Zeit verkaufen, weil er in Geldnot steckte. Seigis Firma hatte die Ranch dann schlussendlich aufgekauft. Und nicht nur sie - seit kurzem befanden sich so einige Grundstücke im Besitz des Konzerns. Sie waren aber anscheinend in schöner Regelmäßigkeit über das Land verstreut - eben abhängig davon, wo eine Immobilie zu verkaufen gewesen war.

Es hatte den Anschein, als wolle die Firma auch noch in andere Länder expandieren, und offensichtlich war ihr kein Geld zu teuer, um zum einen die besten Angestellten dafür einzusetzen, und es ihnen zum andren so angenehm wie möglich zu machen. Die SilverStar-Ranch war komplett renoviert worden. Sie hatte allerdings dadurch nichts von ihrem etwas altertümlichen Flair verloren. Es war eher so, dass die Moderne, die in diesen Gebäuden steckte, gut verborgen wurde. Im Klartext hieß das beispielsweise relativ schalldichte und gut wärmeisolierende Wände mit altmodisch anmutender Holzverkleidung; oder perfekt in der Wand versteckte Kabel oder Rohre, die nicht das geringste Geräusch von sich gaben und nirgendwo hervorragten, wo es nicht absolut notwendig war. Und die Garage, die im hinteren Teil des ehemaligen Stalls eingelassen war, hatte ein elektrisches Tor mit Fernbedienung.

Die beiden einzigen Ausnahmen, wo man es mit der strickten Trennung zwischen Moderne und Altertum nicht so genau nahm, waren die beiden Küchen - eine im Haupthaus und eine im kleinen Nebengebäude - die mit allem nur erdenklichen Schnickschnack ausgerüstet waren, was nicht wirklich in diese "Cowboy und Indianer" Atmosphäre passte. Doch all diese Gerätschaften - dazu gehörten beispielsweise diese typischen, riesigen, zweitürigen, amerikanischen Kühlschränke mit Eismaschine, oder die modernen, elektrischen Herde, und noch so Manches mehr - erhöhten den Lebensstandart ungemein.

Nachdem die Besichtigung des Haupthauses abgeschlossen war, sahen sich Mamoru, Seigi und Kioku das etwas kleinere Nebengebäude an, das Seite an Seite an das Haupthaus angebaut war. Es führte allerdings keine Tür direkt vom Inneren des einen Gebäudes in das andere, sondern man musste erst nach draußen gehen, über die Veranda hinweg, zum jeweils anderen Haus. Das Nebenhaus besaß auch einen eigenen Haustürschlüssel.

"Etwas umständlich, nicht wahr?", fragte Mamoru leicht skeptisch, als Seigi mit eben diesem Schlüssel im passenden Schloss herumhantierte.

"Geduld, Geduld", mahnte der Onkel mit sanftem Lächeln.

Die Tür schwang auf, ohne jegliches Geräusch von sich zu geben. Das Nebengebäude besaß nur dieses eine, niedrige Stockwerk mit den vier Zimmern, und es war schnell besichtigt.

Mamoru fuhr mit leichtem Desinteresse mit den Augen über die kahlen Wände und den sauberen, hölzernen Fußboden und fragte in leicht gelangweiltem Unterton:

"Hey, Onkel Seigi. Schon ne Idee, was das hier werden soll?"

"Oh, ja", antwortete der prompt. "Ich hab sogar ne ziemlich genaue Vorstellung davon."

Und damit überreichte er Mamoru den Schlüssel.

Dieser starrte auf das kleine, kühle Stück Metall in seiner Hand und meinte:

"Ich steh mal wieder auf der Leitung. Hilf mir mal."

Und seine Tante half ihm auf die Sprünge. Sie wies mit einer weit ausholenden Geste in die Küche und sagte:

"Das alles hier, Mamoru, soll nun Dein Reich werden. Deine persönliche, kleine Wohnung."

Es vergingen einige Sekunden. Und noch ein paar Sekunden. Bald wurde eine Minute draus. Und dann fragte Mamoru verblüfft:

"...mein...?..."

"Ganz recht." Seigi nickte ihm zu. "Kioku und ich, wir würden gerne testen, wie gut Du schon alleine zurecht kommst. Diese Umgebung ist geradezu perfekt dafür. Nur Du allein besitzt einen Schlüssel für diese vier Wände. Und Du bekommst einen Schlüssel für unser großes Haus. Doch wir können Dich nur besuchen, wenn Du damit einverstanden bist und uns einlässt. Du besitzt die Verantwortung für das alles. Dazu gehören solche Sachen wie Ordnung, Essen kochen, Wäsche machen oder einkaufen. Du kannst Dir Deine Zeit diesbezüglich selbst einteilen. Aber ich gebe Dir den guten Rat, nicht alles einfach schleifen zu lassen. Wenn Du ein Problem hast, sind wir ja in unmittelbarer Nähe und selbstredend Tag und Nacht für Dich da. Kioku sagte mir, sie hat Dir schon das eine oder andere Kochrezept beigebracht, sodass ich sicher sein kann, dass Du mir nicht schon in der ersten Woche verhungerst. Es ist nur ein Test, Mamoru. Wenn Du Schwierigkeiten hast, musst Du nicht verbissen darum kämpfen, uns irgendwas beweisen zu wollen. Aber es ist, wie ich finde, eine grandiose Gelegenheit für beide Seiten - also sowohl für Dich, als auch für uns beide - zu sehen, was schon möglich ist und wo es noch ein wenig hakt. Ich freue mich, wenn Du uns beide besuchst. Aber ich bin auch stolz, wenn ich sehe, dass Du hier gut zurecht kommst. Na, dann würde ich mal sagen: viel Spaß in Deinem eigenen, neuen Zuhause!"

Mamoru stand da wie Ochs vorm Berge, schaute ziemlich bedröppelt aus der Wäsche und wusste nicht recht, ob er lieber wahnsinnig wütend werden oder jauchzend herumhopsen sollte. Er entschied sich für das Erste.

"Tante Kioku", sagte er in drohendem Ton und zog eine Grimasse. "Du hast davon gewusst?"

Sie grinste. "Die Welt da draußen ist groß, gefährlich und gemein, das weißt Du ja schon. Nimm's mir nicht krumm, Kurzer, aber ich durfte Dir kein Sterbenswörtchen verraten. Sollte doch ne Überraschung werden. Das haben Seigi und ich beim Umbau dieses Hauses extra so bestellt. Ursprünglich waren diese beiden Gebäude mal ein Haus gewesen, durch eine Tür im Inneren miteinander verbunden. Diese Tür wurde zugemauert und eine extra Haustür wurde hier vorne eingesetzt, und auch die Küche ist neu. Ich hab ja sonst nichts über dieses Grundstück erfahren, Kleiner. Nur soviel, dass die Möglichkeit bestand, Dir ein abgesondertes Reich einzurichten. Freust Du Dich?"

"Ob ich mich freue?" Mamoru druckste etwas in der Gegend herum und zog eine Grimasse.

"Das ist nicht der richtige Ausdruck..." Er zuckte mit den Schultern. "Wohl eher..."

Auf einmal grinste er.

"Ich finde es saugeil. Absolut extrem cool!"

"...sau...geil...", wiederholte Seigi langsam und verzog das Gesicht zu einer fast schmerzverzerrt anmutenden Fratze. Dieser Begriff wollte nicht recht in seinen Wortschatz passen. Aber er sagte einfach mal nichts dazu. Alles was er sagte war:

"Okay. Ich schätze mal, die Arbeiter, die uns hier beim Einziehen helfen sollen, müssten bald da sein. Ich schlage vor, wir gehen raus und erwarten sie. Ich hab ja schon grob im Kopf, was wo hin soll. Im Zweifelsfall können wir ja auch im Nachhinein noch was umstellen... ach, was! Ich denke mal wieder viel zu weit. Also, kommt ihr beiden Hübschen?"

Tatsächlich waren die Handwerker, Arbeiter und Möbelpacker sehr pünktlich da. Kaum angekommen, nahmen sie nur die knappen Instruktionen von Seigi entgegen und begannen sofort mit der knochenschweren Arbeit.

Das Untergeschoss des Haupthauses bestand aus einem riesigen Raum, der eindeutig als Wohnzimmer gedacht war, und von dem ein langer Flur abging, der in eine geräumige Küche, ein relativ kleines Bad und in ein kleines Zimmer führte, das Seigi unbedingt in sein Büro verwandeln wollte. Am Ende des Flurs befand sich die Treppe in das darüber gelegene Stockwerk. Dort befand sich ganz in der Nähe der Treppe ein großes Zimmer, das Seigi und Kioku sofort als ihr Schlafzimmer in Beschlag nahmen. Außerdem waren in diesem Stock noch ein großes Badezimmer gelegen, und einige Räume, die wahrscheinlich im Laufe der Zeit als Bibliothek, Gästezimmer, Rumpelkammer oder Ähnliches verwendet werden würden. Doch in absehbarer Zeit würden diese Räume wohl vorerst leer stehen. Ganz oben, direkt unter dem Dach, lag ein einziger, großer Raum, der sehr viel Platz bot, und wo man wohl auch ganz gut leben konnte. Einigen Elementen des Zimmers, wie zum Beispiel den Fenstern, sah man an, dass sie neu waren. Sie waren im Nachhinein eingesetzt worden. Wahrscheinlich hatte der vorherige Besitzer diesen Ort nur als eine Art Lager gebraucht, und nun, nach einer gründlichen Renovierung der gesamten Ranch, war dies zu einem Zimmer geworden, das durchaus bewohnbar war. Das Dach war auch in einer stattlichen Höhe angebracht worden, sodass man fast überall aufrecht stehen konnte.

Das Nebenhaus bot nicht ganz so viel Platz, aber es war dennoch weit mehr als genug. Der Eingang führte direkt in eine gemütliche, etwas kleiner geratene Küche. Von dort aus führte ein kurzer Flur in drei weitere Richtungen: zum ersten in ein kleineres Zimmer, das nun Mamorus Schlafzimmer werden sollte. Zum zweiten in ein recht bescheidenes Bad. Und zum dritten in einen - im Gegensatz zum Rest des Nebenhauses - recht großen, sehr hellen Raum, der nun eine Art persönliches Wohnzimmer für Mamoru werden sollte. In gewisser Weise begrüßte der Herr der Erde diese halbe Pseudo-Abgeschiedenheit. Endlich mal Ruhe und Frieden...

Na ja, bis zu dieser Ruhe und diesem Frieden konnte es noch lange hin sein. Immerhin war die Familie gerade erst angekommen. Mamoru kannte die Gegend noch nicht, wusste noch nicht was für Leute hier in der Nähe wohnen würden, musste sich noch darauf umstellen, dass dies hier eine völlig andere Zeitzone war und so weiter. Und im Augenblick war er noch damit beschäftigt, seine Sachen aus dem Schuppen (der früher mal ein Stall gewesen war) in sein persönliches Domizil zu tragen. Die meisten der Arbeiter waren schon wieder auf dem Weg nach Hause oder wohin auch immer. Wer konnte es ihnen verübeln? Schließlich hatten sie ihre Arbeit getan, die Möbel standen an Ort und Stelle, das Einräumen der kleineren Gegenstände gehörte nicht mehr wirklich in ihr Aufgabengebiet und außerdem war es inzwischen am Spätnachmittag, wenn man das nicht schon <früher Abend> nennen konnte.

Es war drückend heiß. Eine Temperatur, die Mamoru in Japan zu dieser Jahreszeit noch nicht gewohnt war. Der Schweiß lief ihm schon seit Stunden in Strömen den Rücken herunter. Er plagte sich an einem Karton ab, worin sich - laut Aufschrift - ein großer Teil seiner Bücher befand. Die Kiste war auch entsprechend schwer. Der laue Wind, der eine Menge Staub und den Geruch von trockenem Gras herüberwehte, kühlte ihn bei seiner Arbeit wirklich nicht sonderlich ab. Im Gegenteil. Er heizte den Herrn der Erde eher noch mehr auf.

<Amerika, das Land der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten>, so sagte man immer.

"Und trotzdem muss ich hier Schuften wie ein Packesel", ächzte und schimpfte Mamoru vor sich hin, während er verzweifelt versuchte, den schweren Karton durch den Staub zu schleifen. Er wollte sich besser nicht ausmalen, wie er sein brandneues Eigenheim direkt mit dem Wischmop werde bearbeiten müssen. Auf Putzen hatte er jetzt wirklich keinen Bock, auch wenn ihm sein Onkel noch vor wenigen Stunden groß und breit erklärt hatte, er habe jetzt die Verantwortung.

"Kinderarbeit ist doch verboten", maulte der Herr der Erde, doch seine Klage blieb ungehört. "Das hier kann man ja schon als Sklaverei durchgehen lassen."

Er zerrte den Karton noch bis zur Veranda.

Die drei Holzstufen kam er schon nicht mehr rauf.

"In Zukunft kommen nur noch fünf Bücher auf einmal in einen Karton", keuchte er, "und auf keinen Fall mehr."

Er hockte sich auf die unterste Stufe der Treppe und stützte einen Ellenbogen auf dem Karton ab, während er in schnellem Takt ein- und ausatmete. Er fühlte sich nach der ganzen Schufterei total erschöpft. Stöhnend drehte er sich auf der Treppe herum und stellte seine lang ausgestreckten Beine seitlich an der Treppe herab auf den Boden. Somit drehte er sich der sengenden Sonne zu, die sich mehr und mehr dem Westen näherte.

Er bemerkte, wie sich ein dunkler Schatten über den Karton legte. In der flirrenden Hitze der immer tiefer sinkenden Sonne wurde der Schatten verzerrt und wirkte auf unheimliche Weise groß und mächtig.

<Das ... ist doch nicht...>

Mamorus Kopf ruckte nach oben und seine vor Erschrecken aufgerissenen Augen starrten sein Gegenüber an. Der Herr der Erde erkannte im ersten Moment nur pechschwarze Konturen vor einem blendend hellen Hintergrund. Dieser Jemand kam auf ihn zu, und alles, was Mamoru erkennen konnte, waren scheinbar viel zu lange Arme, noch viel längere Beine und ein fast kreisrunder, viel zu riesig geratener Kopf.

Und als der Fremde heran war, schaute Mamoru noch mal ganz genau hin.

"Hey, Kleener!", sprach eine tiefe Männerstimme zu ihm. "Siehst aus, als würd'st Hilfe brauchen. Soll ich ma' 'n Stück hier anpacken?"

Es war der mit Abstand breiteste texanische Dialekt, der Mamoru untergekommen war. Die Arbeiter, die über den Tag hinweg hier gewesen waren, hatten sich noch um ein relativ anständiges Amerikanisch bemüht. Doch das hier war der absolute Gipfel. Es war in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit gesprochen, hatte rein gar nichts mehr mit dem Englisch zu tun, das Mamoru in der Schule gelernt hatte, und klang auch noch so, als hätte dieser Kerl einen ganzen Sack voll glühend heißer Kartoffeln im Mund.

Und dennoch konnte der Herr der Erde die Worte mit viel Mühe identifizieren.

"Öh ... ja", brachte er auf Englisch hervor, "das wäre sehr nett."

Er hörte von diesem Typ einige schmatzende Geräusche, als würde der Kerl offenen Mundes auf einem Kaugummi herumkauen. Er zögerte. Anscheinend klang Mamorus Oxford-Englisch in seinen Ohren ebenso abstrakt wie das texanische Gemurmel gerade im Umkehrschluss für Mamoru geklungen hatte. Dann zuckte der Typ mit den Schultern, packte den Karton an und hob ihn spielend leicht auf die Veranda herauf.

Jetzt erst stand Mamoru auf und ging ein paar Schritte um den Kerl herum, um nicht mehr von der Sonne geblendet zu werden. Und nun endlich konnte er den jungen Mann richtig mustern. Was gerade noch wie ein riesiger, blasenförmiger Kopf ausgesehen hatte, entpuppte sich als ein ziemlich schräg sitzender Cowboyhut. Der Mann mochte etwa zwanzig Jahre alt sein. Unter Umständen auch etwas jünger. Er war gut und gern einen ganzen Kopf größer als Mamoru, und die Cowboystiefel an seinen Füßen gaben ihm einige zusätzliche Zentimeter. Das Gesicht war hart und kantig, und das Kinn war voll von dunkelbraunen Bartstoppeln. Langes Haar in ebendieser Farbe schaute unter dem Hut hervor, wurde etwa in Schulterhöhe von einem Gummi zusammengebunden und verlief bis hinunter an das Gesäß. Das Auffälligste an diesem Kerl waren die wachen, wasserblauen Augen, die irgendwie spitzbübisch zu grinsen schienen. Ungeniert ließ er die Lippen offen, während er weiterhin einen Kaugummi mit seinen Kauleisten bearbeitete. Er streckte die Hand aus.

"Howdy", so grüßte er, "ich bin Rick."

Mamoru deutete eine Verbeugung an - aus reiner Gewohnheit, natürlich - kam dann eine Sekunde später darauf, dass er nicht zu Hause war und beeilte sich, Ricks Hand zu ergreifen.

"Freut mich. Mein Name ist Mamoru."

Wieder zögerte der Andere ganz kurz. Dann gab er einen grunzenden Laut von sich, zog endlich seine Hand wieder zurück und ließ seine Hände in die Taschen seiner Jeans gleiten.

"Wat meinst, soll ich ma' bisschen unter die Arme greifen?"

"...Ähm...", machte Mamoru verunsichert.

"Ach so", machte der Andre und klatschte sich mit der Hand, die er wieder aus der Tasche zog, gegen die Stirn. "Hast ja null Ahnung, wer ich bin! Also, pass ma' auf. Ich bin von der nächsten Ranch, bisschen weiter im Westen. Die Mustang-Ranch. Hab mitbekommen, dass hier wer einzieht heut. Fand's interessant. Dacht', ich müsst' ma' vorbeischauen. Wennste ma' wat brauchst, schau einfach ma' vorbei. Bei uns is immer Full House, wennde verstehst. Wennde Bock hast, könn'wer nachher ma' bisschen zu mir rüber, dann stell ich Dir die Andren vor. Aber ich schätz ma', wir sollten erst gucken, dass wer das Zeuch hier ordentlich verstauen."

<Na, hoffentlich verstauen wir es ordentlicher, als Deine Grammatik schließen lässt>, dachte Mamoru entsetzt, während er sich die Worte noch mal durch die inneren Ohren gehen ließ, um zu überprüfen, ob er diesen Wasserfall an Worten wirklich korrekt verstanden hatte.

Rick grinste.

"Pack wer's an, wa?", meinte er. "Spuck mer uns in de Hände, wa?"

"Nein, bitte nicht!", rief Mamoru entsetzt aus.

Rick lachte. "War nich wörtlich gemeint, brauchst keine Angst ham. Sach mir nur, wo der Kram hin soll."

Damit hob er den Karton hoch und blickte Mamoru erwartungsvoll an.

Rick war für Mamoru wirklich eine große Hilfe. Gemeinsam brauchten die beiden nicht lange, bis sämtliche Kartons in Mamorus neuem Zuhause untergebracht und die wichtigsten Gegenstände an Ort und Stelle verstaut waren.

"Wat'n'dat?", fragte Rick und zog den Stoffwolf aus einer der Kisten.

Der Herr der Erde packte das Spielzeug, setzte es auf dem Bett ab, verschränkte dann die Arme vor der Brust und warf Rick einen warnenden Blick zu.

"Wenn Du es wagen solltest, meine Ôkami-haha noch ein Mal anzurühren..."

"Schon verstanden", antwortete Rick. Er grinste breit. Dann piekste er den Stoffwolf demonstrativ in die Seite, drehte sich rum und ging zur Tür raus. "Kommste?"

"Bodenlose Frechheit", schimpfte Mamoru auf Japanisch vor sich hin. Und dann rief er auf Englisch:

"Wohin denn?"

"You'll see."

<Wirst schon sehen.>

Die Sporen an seinen Stiefeln klirrten deutlich hörbar in langsamem Takt, als er durch den kurzen Flur schritt.

"Warte, ich komme!", brüllte Mamoru. Er versteckte Ôkami-haha vorsichtshalber unter seiner Bettdecke - man weiß ja nie, was noch kommen mag - und sauste hinter seinem etwas seltsam geratenen Nachbarn hinterher. Er kam kaum einen Schritt zur Tür raus und knallte schon mit ihm zusammen.

"Hey, hey", machte Rick. "Beruhig Dich ma'. Ihr verdammten Großstädter seid doch alle gleich. Hektik und Panik, wat Andres kennt ihr doch nich. Weißte, hier bei uns kann man die Sachen auch cool angehen. Bleib einfach locker, der Rest kommt von ganz allein, verstehste?"

Er wartete erst gar keine Antwort ab. Er steckte die Daumen beider Hände oben in den Gürtel und lief - auch weiterhin unüberhörbar laut - Kaugummi kauend die Treppe hinunter und durch den Staub des großen Vorhofes.

"Wohin gehst Du denn jetzt?", beharrte Mamoru und dackelte ihm nach.

Rick lachte. "Hast nich zugehört, wa? Null Panik, das hier wird keine Entführung. Bleib cool und lass Dich einfach überraschen. Let's go."

<Lass uns gehen.>

Einige Schritt später bemerkte Mamoru, dass ein Pferd an einem Metallknauf am Stall festgebunden war. Höchstwahrscheinlich Ricks Pferd; diese Ranch hier besaß ja keine eigenen Tiere.

"Siehste den?", fragte Rick und wies mit ausgestrecktem Arm auf das fuchsfarbene Pferd, während er breitbeinig darauf zulief. "Det is ein Prachtkerl, wa? Sein Name is Elvis."

Verdutzt blieb Mamoru stehen und starrte Rick offenen Mundes an.

"Elvis?", brachte er hervor. "Wie kann man ein Pferd nur Elvis nennen?"

Rick lachte wieder auf. Er blieb nun endlich stehen und wandte sich Mamoru zu. Das Grinsen in seinem Gesicht schien so selbstverständlich zu sein wie die Kleider auf seinem Leib.

"Ach, weißte", antwortete er in amüsiertem Ton, "jeden Morgen, wenn ich zu'm innen Stall geh, dann wiehert er mir entgegen, und ich schwöre, det klingt wie <Love Me Tender>. Musste gehört ham! Det is der Hammer, sach ich Dir."

Elvis - das Pferd, nicht der Sänger - war ziemlich stattlich. Das Fell war dunkel, ebenso wie die Mähne und der Schweif. Der Rücken des Tieres war sogar etwas höher gelegen als Mamorus Augen. Der Sattel ließ es noch mal etwas größer wirken.

"Das ist ein Quarter Horse", erklärte Rick und lehnte den Ellenbogen auf den Sattel. Immerhin war der junge Mann noch groß genug, ebendiesen Sattel locker zu erreichen. Mamoru hätte dabei schon eine ziemlich peinliche Figur abgegeben, wie er sich vorstellte.

"Von der Sorte wirste noch öfter hier welche sehen", erläuterte Rick weiter. "Die Tiere eignen sich fast für alles. Mit denen kannste jeden Scheiß machen, Du verstehst. Hopp, steig auf."

Klein-Mamoru stand nun also neben diesem Fleischkoloss von einem Gaul, starrte abwechselnd das Tier neben sich und den jungen Mann vor sich an, machte dabei ein Gesicht, als zweifle er gewaltig an Ricks Verstand (was der Realität ziemlich nahe kam) und brachte es dann irgendwann fertig, den Kopf zu schütteln.

"Nie und nimmer."

"Wat, nie und nimmer?", grölte Rick. "Hier gibt's kein nie und nimmer nich! Hoch mit Dir!"

"Auf keinen Fall!", wehrte Mamoru verzweifelt ab. "Ich kann doch gar nicht reiten!"

Rick lachte amüsiert. "Dann musste's lernen. Jeder hier kann reiten. Scheiße, Mann, hier gibt es weit mehr Leute, die reiten können, als solche, die's Lesen und Schreiben beherrschen! Wennde nich auf'm Gaul hockst, dann lachen Dich schon bald die ganzen kleinen Gören aus. Ich hör den Hohn jetz schon bis hier!"

"A-aber ... aber ... aber..."

"Hier gibt's kein aber nich", wehrte Rick ab. "Steig auf, oder Du bereust's. Früher oder später."

"Da komm ich doch gar nicht hoch", jammerte Mamoru kleinlaut.

"Ach, red kein Käse!", meinte der Cowboy, nicht ohne Spott in der Stimme. "Schon ma' auf nem Irish Draught gesessen? Mann, die Viecher ham nen Stockmaß von nicht ganz zwei Yards! ... Wart ma' ... bei euch wird in Metern gemessen, wa? Öhm ... etwa ein Meter, dreiundsiebzig Zentimeter, wenn ich's richtig rechne. Stockmaß! Also nur bis zum Widerrist gemessen. Ohne den Kopf. Oder haste schon von der Rasse <Hunter> gehört, Stockmaß bis ein Meter dreiundachtzig! Und auf die hohen Rösser kommen die passenden Reiter ja auch hoch. Dagegen is mein kleiner Pseudo-Superstar hier 'n echter Winzling. Elvis hat nen Stockmaß von umgerechnet ... eins fünfundfünfzig."

"Das kannst Du so schnell umrechnen?"

Rick grinste wieder so breit. "Ich bin nich so dämlich, wie ich vielleicht ausseh. Also, wat is nu?"

"Ohne Leiter?", gab Mamoru zu bedenken.

"Stell Dich nich so an! Ich helf Dir ja rauf", bot Rick an.

"Na, ich weiß nicht", meinte der Herr der Erde. Er trat etwas zurück und machte einige Schritte um Elvis herum, bis er recht unsanft an der Schulter gepackt und zurückgerissen wurde.

"Erstens", so erklärte Rick, "hält man sich nicht so dicht am hinteren Teil von nem Gaul auf. Okay, Elvis is 'n ganz Lieber. Mich hat er noch kein einziges Mal erwischt. Aber das könnt auch dran liegen, dass ich ihm dazu einfach keine Gelegenheit geb. Also geh in Zukunft weit außen rum, wenn Du schon hinter nem Pferd vorbei musst. Und zweitens steigt man sowieso immer von links in den Sattel. Also vom Tier aus gesehen links."

Damit verflocht er seine Finger ineinander, ging ein wenig in die Knie und bot Mamoru damit eine Räuberleiter an.

"Ach, na schön", seufzte Mamoru. Er stellte seinen linken Fuß in die provisorische Leiter, hielt sich mit einer Hand an Ricks Schulter, mit der anderen am Sattelhorn fest und sprang mit dem andren Fuß vom Boden ab. Während Rick ihn hoch wuchtete, schwang Mamoru das rechte Bein über den Sattel und währe beinahe auf der anderen Seite wieder runter gefallen, hätte er sich nicht mit aller Kraft am Sattelhorn festgeklammert.

"Die hier brauchste nich", erklärte Rick, packte sich kurzerhand den Steigbügel und legte ihn vor dem Sattel über den Hals des Pferdes. Er trat auf die andere Seite und tat das Selbe mit dem anderen. Dann löste er den Knoten, mit dem Elvis an dem Metallpfeiler festgemacht war und führte das Pferd.

"Und Du willst die ganze Zeit laufen?", erkundigte sich Mamoru.

Rick lachte auf. "Es is nich weit."

"Dann hätte ich ja auch gerade laufen können. Wie komme ich hier überhaupt hinterher runter? Ich werd bestimmt auf der Fresse landen...", beschwerte sich Mamoru.

"Kleener", meinte Rick und sah den Herrn der Erde mit einem breiten Grinsen an, "Du klingst wie 'n Weibstück."

Dann war für lange Zeit Ruhe.

Rick führte Elvis durch eine Menge Staub. Nur einzelne, recht trockene Grasbüschel standen hier und da in der Gegend herum. Von der SilverStar-Ranch aus waren es nur ein paar Meter bis zu einem hölzernen Zaun im Westen, wo Rick einige der lockeren Holzplanken so weit in ihrem Gestell zur Seite schob, damit Elvis mit seinem Reiter gut durchpasste, dann legte der Cowboy die hölzernen Stangen wieder richtig in ihre Verankerungen und schloss so den Zaun wieder. Den Spuren nach zu urteilen, die sich inzwischen im Boden festgetreten hatten, wurden die Pferde gewöhnlich dazu angetrieben, über diese Stelle einfach hinweg zu springen. Doch das schien Rick seinem neuen Freund nicht zuzutrauen - zum Glück. Von der anderen Seite des Zaunes aus allerdings war es mehr als ein halber Kilometer bis zu den Gebäuden der Mustang-Ranch. Wenige Minuten vor dem Ziel fing Mamoru dann doch wieder an zu mosern:

"Wie konntest Du mich nur dazu bringen, mich auf dieses riesige Monster zu setzen? Von hier oben sieht es ja noch viel größer aus!"

"Du kannst Dich anstellen!", stellte Rick fest. "Det da is doch nur ein leichtes Pferd, und kein schwerer Kaltblüter! Tu nich so, als würd'st auf nem Haflinger hocken! Wer ham vor allem leichte Pferde, und noch ne handvoll Ponys. Aber auf denen wirste mich nich antreffen. Ich brauch nen richtigen Gaul unterm Arsch. Apropos Gaul unterm Arsch: Du machst Dich ganz gut ... dafür, dass Du noch nie im Sattel gesessen bist. Machst die Bewegungen gut mit. Weißte wat? Du kommst nu einfach jeden Tach, und ich bring Dir's Reiten bei."

Er wartete gar nicht erst auf eine Antwort. Genau genommen war das auch gar keine Frage, sondern mehr eine von vornherein beschlossene Sache. Mamoru sparte sich auch jeglichen Kommentar. Im Moment war er nicht in der Lage, Forderungen zu stellen. Damit würde er erst wieder beginnen, sobald er festen Boden unter sich hatte...

Die Mustang-Ranch sah im Großen und Ganzen nicht viel anders aus als die SilverStar-Ranch. Die Gebäude waren auch hier mit Holzfassaden versehen, wenn sie auch etwas ... <gebraucht> wirkten. Diesem Grundstück merkte man sein Alter an. Hier und da war der eine oder andere Holzscheit gesplittert oder wies ein paar Löcher auf. Doch insgesamt umhüllte eine angenehme Atmosphäre diese Ranch. Es wirkte auf den ersten Blick gemütlich und ruhig; fast schon ein Stück zu einsam und zurückgezogen, dachte dieser <verdammte Großstädter> - wie Rick es ausgedrückt hätte - in Mamoru. Doch einen wirklich auffälligen Unterschied zu seinem neuen Zuhause gab es doch: Die Größe des Grundstücks. Wo man von jedem Punkt der SilverStar-Ranch die hölzerne Umzäunung sehen konnte, da musste man hier schon ein gutes Stück des Weges gehen, um an die nächste Begrenzung zu kommen.

"Auf geht's, Du Held", sagte Rick, als er das Pferd zum Stehen gebracht hatte. "Runter kommt man immer. Also hopp."

Mamoru blieb sitzen. Weil er zu perplex war, um zu reagieren.

"Bitte?", entrüstete er sich irgendwann. "Ich breche mir ja alle Knochen!"

Rick drehte ihm demonstrativ den Rücken zu, und murmelte so laut, dass Mamoru es auf jeden Fall noch hören konnte:

"Weichei! Weichei! Weichei!..."

Mamoru knurrte vor sich hin. Und gerade, als er seinen Oberkörper etwas weiter nach vorne lehnte, um sich mit Schwung aus dem Sattel zu katapultieren, da hielt er noch mal inne, als Rick - noch immer mit dem Rücken zu ihm gewandt - sagte:

"Abgestiegen wird auf der selben Seite wie aufgestiegen - links!"

Das Knurren wiederholte sich. Dann stützte sich Mamoru vorne am Sattel ab, holte abermals Schwung, hob das Bein gekonnt über die Kruppe des Tieres hinweg und landete - sein Gewicht mit den Knien abfedernd - im Staub.

"Bravo", lobte Rick, der Mamoru schlussendlich doch noch zugesehen hatte und ihm nun anerkennend zunickte. "Wart kurz hier, Kleener, ich bring Elvis grad innen Stall. Der Gute hat Feierabend für heut."

Gesagt, getan. Während Rick sein Pferd in den Stall brachte und es umsorgte, sah sich Mamoru etwas auf dem Gelände um. Und just in diesem Moment gab es so Einiges zu sehen. Zunächst spürte Mamoru ein leichtes Vibrieren im Boden und hörte ein dumpfes, monotones, langsam anschwellendes Geräusch. Und als er hinter dem Stall hervortrat, sah er auch, was dieses Geräusch verursachte. Etwa ein Dutzend Cowboys ritten pfeifend und schnalzend neben einer Herde von Rindern her. Mamorus ungeübte Augen vermochten beim besten Willen nicht zu schätzen, wie viele Tiere es sein konnten. Für ihn waren es einfach nur wahnsinnig viele. Sie wirbelten eine mächtige, dunkle Staubwolke auf, die sich langsam mit dem immer rötlicher werdenden Himmel vermischte. Das Tor zu einem weiten Gatter wurde geöffnet und die Herde stürmte regelrecht auf den riesigen, eingezäunten Platz ein. Und als endlich auch das letzte Tier sicher drinnen war, wurde das Tor wieder verschlossen. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis sich der Staub vollends legen würde.

"Na, Kleener, wat sagste?", so ertönte Ricks Stimme hinter Mamoru.

"Ein wahrlich atemberaubendes Schauspiel", antwortete dieser begeistert.

"Ach, die Jugend von heute, verdammt", fluchte Rick. "Als ich noch in Deinem Alter war, hab ich schlicht und ergreifend <cool> gesagt. Aber det scheint ja jetz nimmer in zu sein, wa? Scheiß drauf. Es is echt passend, dass die Jungs grad jetz heimkommen. Ich stell Dir ma' direkt Tony vor. Hopp."

Rick ging breitbeinig voran.

"Hey, Rick", rief Mamoru, "ich bin kein Pferd. Brauchst nicht andauernd <hopp> zu mir zu sagen!"

Doch das hörte der Cowboy gar nicht. Er ignorierte Mamorus Worte geflissentlich. Stattdessen winkte er jemandem zu und brüllte ein lautes "Howdy!", während er weiter auf diesen Jemand zuging. Endlich folgte Mamoru ihm.

Auf die Beiden kam ein Typ auf einem großen Palomino zugeritten. Die sonst so goldene Fellfarbe war an manchen Stellen mit dickem, dunkelbraunem Matsch versehen und eine unansehnliche Staubschicht hatte sich in der Mähne verfangen. Dennoch schnaubte das Pferd fröhlich vor sich hin und schüttelte den Kopf etwas hin und her. Sein Reiter war ebenso verschmutzt. Das rotkarierte Hemd starrte schier vor Dreck und roch selbst aus der Entfernung recht penetrant nach Tier und Schweiß. Aus dem Cowboyhut, der tief im Gesicht saß, ragten lange Haare, die eine ähnliche dunkelbraune Farbe hatten wie die von Rick, wenn auch bei diesem Reiter anscheinend ein leichter Rotstich in der untergehenden Sonne glänzte. Die Haare waren nicht ganz so lang wie bei Rick, sie gingen nur bis knapp an die unterste Rippe, aber auch sie waren hinten zusammengebunden. Der Typ brachte sein großes Pferd genau vor den beiden Kerlen zum stehen.

"Hi, Tony!", grüßte Rick nochmals und klopfte den kräftigen Hals des Tieres, während er zum Reiter hochblickte. "Tony, schau ma', wen ich hier hab! Den Kleenen hab ich vorhin aufgegabelt. Det is der ... der ... uhm ... det is ... is ... äh ... det is unser neuer Nachbar, isser det."

Er erntete einen leichten Ellenbogenstoß von Mamoru. Dieser trat nun vor, dachte sogar dieses Mal sofort daran, seine Hand hoch zu reichen und meinte lachend:

"Hallo, Tony. Freut mich, Dich kennen zu lernen. Dein neuer Nachbar hat sogar einen Namen. Ich heiße Mamoru."

Mit der einen Hand ergriff Tony Mamorus Hand, mit der anderen wurde in der selben Bewegung der Hut nach oben geschoben - und zum Vorschein kam ein lachendes, staubiges ... Mädchengesicht.

"Freut mich ebenso", sagte sie, "ich bin Antonia Taylor. Nenn mich Tony, das tut jeder hier."

Damit ließ sie seine Hand wieder los.

"Öhm ... okay", machte Mamoru, der etwas verblüfft in das ungewohnt weibliche Gesicht seines Gegenübers starrte. Zwei kurze, braun-rote Haarsträhnen hingen ihr in den Augen, doch daran schien sie sich nicht zu stören. In gewisser Weise weckte das an ihr einen wachen, frechen Eindruck, der sie irgendwie interessant machte. Sie konnte gut und gern in Mamorus Alter sein.

"Yo, Ricky", so wandte sie sich dem Cowboy zu, "wie lange kennt ihr zwei beiden Hübschen euch schon?"

Rick zuckte lässig mit den Schultern und kaute erst einige Male auf seinem Kaugummi herum, ehe er antwortete:

"Seit grad eben. Hab festgestellt, das Greenhorn kann nicht mal reiten. Aber daran will ich schnell wat ändern. Übrigens ... könntest Du'n nachher Heim bringen? Elvis is für heut fix und alle."

"Kein Problem", nickte Tony. "Aber ich werd Diablo trotzdem erst im Stall unterbringen. Yo, Mamoru! Lust, mitzukommen? Du könntest mir etwas helfen, wenn Du magst."

Noch ehe der Herr der Erde wirklich antworten konnte, fiel Rick grinsend ein:

"Pack den doch nich so mit Samthandschuhen an. Der muss noch früh genug lernen, dasses Leben hier draußen hart und ungemütlich is, wa? Det macht dem nix aus, wenner ma' bisschen mit anpacken muss, wa? Hört ma', ihr Zwei, ich muss grad noch mal rein gehen. Ich brauch aber nich lang. Hab nur schnell wat zu tun. Amüsiert euch, ich komm gleich wieder."

Damit drehte er sich um und verschwand. Breitbeinig und mit klirrenden Sporen lief er auf das große Gebäude inmitten des riesigen Grundstücks zu, während um ihn herum noch einige Männer arbeiteten.

"Gehören die ganzen Leute hier zur Ranch?", fragte Mamoru staunend.

"Klar doch", antwortete Tony. Sie war inzwischen abgestiegen und führte ihren Palomino-Hengst Diablo zum Stall rüber. "Aber nur die wenigsten von ihnen wohnen richtig hier. In ein paar Stunden werden sich die Meisten auf den Weg zu ihren Familien nach Orendaham machen. Der Rest bezieht dieses kleinere Gebäude dort im Südwesten."

Sie wies mit ausgestrecktem Arm auf ein Haus, das vielleicht nur doppelt so groß war, wie Mamorus kleines Häuschen.

Mamoru stapfte Tony hinterher in den Stall, wo es angenehm kühl war. Er betrachtete staunend die ganzen Boxen mit den Pferden, während er Tony weiterhin zuhörte.

"Alleine könnten wir uns nie um all die Tiere hier kümmern. Neben den Rindern und Pferden gibt es hier auch noch ein paar ... kleinere ... ähm ... Mitbewohner..."

Und einer dieser <Mitbewohner> zischte gerade mit einem ohrenbetäubenden Krächzen nahe an Mamorus Gesicht vorbei, drehte eine kleine Runde im Stall und hockte sich dann auf das offene Tor einer Box. Es handelte sich um eine große Krähe, die Mamoru aus kleinen, intelligenten, nachtschwarzen Augen heraus taxierte. Sie öffnete den Schnabel, ließ erneut ein Krächzen ertönen und legte den Kopf schief.

"Hast Du mich erschreckt", stöhnte Mamoru und presste rein reflexartig die rechte Hand gegen sein Herz.

"Das tut mir Leid!", ertönte eine Mädchenstimme aus dem hinteren Teil des Stalles. Eine junge Indianerin kam angerannt. Das lange, pechschwarze Haar flatterte im Fahrtwind hinter ihr. So ziemlich das Erste, was Mamoru an ihr auffiel, waren die schwarzen Augen. Sie waren so extrem dunkel, dass Mamoru die Pupillen nicht erkennen konnte. Diese Augen besaßen eine Tiefe, als könne man darin versinken. Und sie erweckten irgend etwas tief im Inneren des Herrn der Erde ... so was wie ... Erkennen ... als habe er diese unendliche Schwärze schon einmal gesehen...

Das Mädchen mochte etwa genauso alt sein wie er und Tony. Ihre Brust hob und senkte sich im schnellen Takt ihrer Atemzüge, als sie neben der Krähe stehen blieb.

"Bleib ganz ruhig, Apollo", redete sie auf das Tier ein. "Kein Grund, sich aufzuregen..."

Die Krähe krächzte wieder, breitete die weiten Flügel aus, erhob sich in die Luft und landete schließlich auf der Schulter der jungen Indianerin, deren Jacke offensichtlich mit dickem Leder ausgestattet war, das vor den scharfen Krallen des Vogels schützte. Kratzspuren auf der Jacke bewiesen, dass es wohl völlig normal war, dass die Krähe Apollo dort saß.

Nun wandte sich das Mädchen Mamoru zu und kam ihm etwas näher.

"Ist Dir etwas passiert?", fragte sie besorgt nach.

Diese Augen... Verdammt, Mamoru kannte diese Augen. Aber woher? Woher bloß? Das Gesicht der jungen Indianerin wirkte zart und irgendwie klein, ganz abgesehen von diesen riesigen, nachtschwarzen Augen, die noch dunkler zu sein schienen als die Federn des Vogels auf ihrer Schulter. Die so schon sehr dünnen Lippen waren zu einem blutleeren Strich zusammengepresst. Eine steile Falte hatte sich zwischen den schwarzen Augenbrauen gebildet. Das kleine Stupsnäschen in ihrem Gesicht ließ sie etwas jünger erscheinen, als sie eigentlich war. Überhaupt war sie eine zierliche Person, und alles an ihr hatte etwas Feingliedriges und Zerbrechliches an sich.

Nur diese Augen waren etwas Kraftvolles, voll Temperament und voll wildem Geist ... aber irgendwie erinnerten diese Augen Mamoru an tief empfundenen Schmerz und ungekannte Pein. Als würde dieses Mädchen ein düsteres Geheimnis mit sich tragen, das vielleicht das Schicksal der ganzen Welt bedeuten konnte...

"Was ist mit Dir?", fragte es. "Du siehst so blass aus. Setz Dich einfach mal hin. Komm her ... ganz langsam ... langsam... Hast Dich sehr erschrocken, was? Geht's?"

Sie führte ihn zu einem Strohballen, und ganz so, als habe er keinen eigenen Willen mehr, setzte er sich wortlos und konnte nur noch in diese unsagbar dunklen Augen starren, die ihn magisch anzuziehen schienen.

"Ja", brachte er dann endlich hervor. "Mir geht es gut ... glaube ich. Danke. ...Danke, es geht schon."

"Meine Güte, es tut mir so wahnsinnig Leid", entschuldigte sich die Indianerin. "Apollo ist sonst ein ganz Lieber, aber er ist sehr misstrauisch gegen Fremde. Er denkt immer, er muss mich vor Allem und Jedem beschützen. Hat er Dich erwischt?"

Mamoru fuhr sich über die Wange und stellte fest, dass er sich wohl nichts getan hatte. Er schüttelte den Kopf.

Auch Tony kam nun an. Sie hatte sich zuerst um ihren Hengst Diablo kümmern und ihn festbinden müssen. Die Aktion mit der Krähe war so schnell vonstatten gegangen, dass sie gar nicht eher reagieren konnte.

"Siehst jedenfalls unverletzt aus", stellte sie fest. Dann wandte sie sich dem Indianermädchen zu. "Übrigens: Das hier ist unser neuer Nachbar."

Das Mädchen versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen, wenn es auch ein wenig gequält wirkte.

"Mein Name ist Fala. Fala Dreaming Tear. Und ich kann gar nicht oft genug sagen, wie Leid es mir tut..."

"Schon gut, schon gut", winkte der Herr der Erde ab. "Mach Dir nichts draus, Du kannst doch nichts dafür. Und mein Name ist Mamoru. Mamoru Chiba. Ein ungewöhnliches Haustier hast Du da, Fala."

Fala lächelte ihre Krähe an.

"Ungewöhnlich? Findest Du? Also ... ich denke, Apollo passt ausgezeichnet zu mir. Der Name <Fala> bedeutet übersetzt <Die Krähe>. Mein Schicksal ist mit diesen starken und klugen Tieren verbunden. Sie führen zur Brücke ins Jenseits und bewachen die verstorbenen Geister unserer Vorfahren."

"Und sein Name lautet Apollo, weil irgend einer Deiner Vorfahren Grieche war?", scherzte Mamoru. Er hatte sich inzwischen beruhigt.

Auch Fala ging es sichtlich besser. Sie lachte auf und erklärte:

"Aber nein! Ich habe ihn nach dem Sonnengott benannt, weil die Sonne ein wichtiges Symbol unseres Volkes ist. Übrigens, siehst Du diesen Appaloosa dort drüben?"

Sie wies mit ausgestrecktem Arm in den Stall hinein. In der Stallgasse stand schräg hinter Diablo ein kleineres Pferd, mit weißem Fell und etlichen kleinen, braunen Tupfen. Auch die Haut um das Maul war gesprenkelt. Die Ohren hatte es interessiert nach vorne gerichtet.

"Das dort", so fuhr Fala fort, "ist Meine Stute Nolcha. Der Name <Nolcha> kommt aus dem Indianischen und bedeutet <Die Sonne>. Ist sie nicht wunderhübsch?"

Mamoru nickte. Er bekam langsam so eine Ahnung, dass ihm pferdetechnisch noch so Einiges bevorstand, wenn er sich weiterhin in Gesellschaft dieser Pferdenarren aufhalten sollte. Doch daran störte er sich nicht; im Gegenteil. Irgendwie fühlte er sich in dieser ungewohnten Umgebung wohl. Ja, vielleicht - so konnte er sich gut vorstellen - würde er selbst auch bald ein anderes Bild von diesen großen und schönen Tieren haben. Er fühlte sich beinahe, als sei er längst mit den Pferden vertraut.

"Weißt Du was?", meinte Mamoru zu Fala und lächelte dabei. "Bei uns in Japan ist die Sonne auch etwas sehr Wichtiges. Es wird das <Land der aufgehenden Sonne> genannt. Der rote Punkt auf unserer Fahne soll die Sonne darstellen."

Fala lächelte ihn warm an. "Dann haben wir wohl schon eine Menge gemeinsam, was?"

"Nee, wie süß! Da ham sich zwo gefunden, wa?", ertönte Ricks Stimme aus dem großen Stalltor.

"Ricky, Du bist etwa so taktvoll wie ein Maulesel im Maisfeld", seufzte Tony kopfschüttelnd.

"Nix gegen Maulesel!", lachte Rick. "Wo is eigentlich Elly? Ich hab se schon lang nimmer gesehen. Die wird sich doch nich verlaufen ham, wa?"

"Mach Dir da mal keinen Kopf", antwortete Tony. "Ich glaub, sie hat irgendwas gesagt, sie müsse noch schnell nach Orendaham. Frag mich nicht, wieso."

Rick kaute auf seinem Kaugummi herum und schob sich den Cowboyhut etwas weiter in den Nacken.

"Jetz noch? Is doch schon zu spät! Bald isses dunkel, die Sonne steht schon scheiß tief."

Darauf zuckte Tony nur mit den Schultern.

"Wer ist Elly?", fragte Mamoru, doch das schien Rick überhört zu haben.

"Mann, Mann, Mann", fluchte der Cowboy vor sich hin. "Weiber, Weiber. Wenn ihr Gabriel nachher inner Dunkelheit über'n Scheißdreck stolpert und sich die Haxen bricht, is det nich mein Bier, wa? Ich geh se nich suchen, dass det ma' klar is."

"Elly kann auf sich aufpassen", meinte Tony dazu nur.

"Wer is Elly?", versuchte Mamoru es noch einmal.

"Wirst sie noch früh genug kennen lernen", antwortete Fala mit verbissenem Gesichtsausdruck. Ihre Miene verfinsterte sich zusehends. Es war nicht zu übersehen, dass sie von Elly - wer das auch immer sein mochte - nicht allzu viel hielt.

"Machst Du Dir denn keine Sorgen?", fragte sie Tony.

"Ich hab Besseres zu tun. Guten Tag!", verabschiedete sich Fala und stapfte davon.

"Hey!", rief ihr Rick hinterher. "Um Deinen Gaul werd ich mich aber nich kümmern! Das tust Du nachher gefälligst selber!"

"Elly und Fala haben keinen guten Start gehabt", erklärte Tony nun endlich Mamoru. "Elly arbeitet nämlich auch hier, weißt Du? Aber irgendwie ... ich weiß auch nicht. Die Chemie stimmt einfach nicht."

"Vergiss es", gab auch Rick seinen Senf dazu. "Kannst se auch später noch treffen, da kommste gar nich dran vorbei, wa? Hopp, Kleener. Wir geh'n noch ne Runde rein und genehmigen uns 'n Bierchen."

"Ähm", machte Mamoru, "lieber nicht. Ich trinke nicht. Und außerdem muss ich auch wieder nach Hause. Die Anderen machen sich vielleicht schon Gedanken, wo ich stecke. Aber Danke für das Angebot."

"Was soll det heißen, Du trinkst nich? Oh, Junge. Du musst noch verdammt viel lernen. Hier kann es scheiß heiß werden. Nix löscht 'n Durst besser als 'n kühles, frisches Bier! Aber Du musst's ja wissen, wa? Tony? Bringste det Greenhorn in seine Heia?"

Mamoru knurrte wieder beleidigt und Tony kicherte amüsiert.

"Na, klar doch!"

"Gut! Bis denne, Kleener. See ya later."

<Ich seh Dich später wieder.>

Damit verschwand auch Rick.

Tony wandte sich um, griff sich ein Tuch, fuhr damit grob über den Sattel, um ihn vom gröbsten Schmutz zu befreien, löste dann den Knoten aus den Zügeln, wo sie Diablo festgebunden hatte, und führte ihn zum Stall raus.

"Kommst Du?"

Mamoru folgte ihr, trat aus dem Gebäude - und dann fiel ihm etwas auf.

"Moment mal ... Diablo ist ja noch größer als Elvis!!!"

"Du hast es erfasst", antwortete Tony. "Also, kommst Du endlich?"

Mit diesen Worten setzte sie ihren linken Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel hoch.

Mamoru setzte sich endlich in Bewegung. "Na denn, auf geht's."

"Nee, nee, so nicht", sagte Tony schmunzelnd. "Du wirst hier nicht zu Fuß nebenher laufen. Komm hoch! Du sitzt hinten."

Sie holte den Fuß wieder aus dem Steigbügel, rutschte so weit es ging auf dem Sattel nach vorne und machte ihm so viel Platz wie es nur möglich war.

"Ich ... halte das ... für keine ... gute Idee", stotterte Mamoru und hob abwehrend die Hände in die Luft.

Das Lächeln auf Tonys Lippen blieb, wenn es auch merklich erkaltete. Und als sie ihm dann ein scharfes "Sofort!" zuzischte, beeilte sich der Herr der Erde, der Aufforderung nachzukommen. Tony machte ihm vorne am Sattel genug Platz, damit er sich festhalten konnte. Dann setzte er den Fuß in den Steigbügel, nahm Schwung, zog sich nach oben und ließ sich schlussendlich im Sattel nieder. Er überließ Tony die Steigbügel, legte seine Arme vorsichtig um ihre Hüften und dann konnte der Ritt losgehen.

Durch das dünne Hemd hindurch konnten Mamorus Finger die stark ausgeprägte Bauchmuskulatur von Tony ertasten. Sie war ein schlankes Mädchen, zierlich und dabei doch muskulös. Es war lange her, dass Mamoru das letzte Mal einem Mädchen so nahe gekommen war. Er fühlte die sanften, schwingenden Bewegungen ihres Beckens zwischen seinen Schenkeln und eine wohltuende Wärme breitete sich allmählich in seinem Körper aus. Er fühlte, wie sich ihre Schultern gegen seine Brust lehnten. Rein instinktiv zog er sie noch etwas näher an sich heran...

"Häng doch nicht im Sattel wie ein Sack Kartoffeln!", mahnte ihn Tony.

"Hä? Was? Wie?", schreckte er hoch. Die Schamesröte stieg ihm ins Gesicht, was Tony natürlich nicht sehen konnte, da sie ihm den Rücken zukehrte. Er fühlte sich so richtig schön ertappt.

"Na, Du hängst auf mir drauf, als hättest Du keine eigene Wirbelsäule. Brust raus, Schultern zurück, halt den Rücken gerade!", erklärte Tony.

"Ach so", nuschelte er. Er versuchte, ihre Worte zu befolgen, ohne wirklich zu wissen, ob das, was er da tat, so auch wirklich richtig war. Aber er würde es ja früh genug lernen. Er sollte ja - wie Rick gesagt hatte - nun Reiten lernen. Ach ja, Rick...

"Tony ... nimm's nicht persönlich, aber Du hast Dir da echt einen komischen Freund angelacht. Lustiger Typ, echt. Aber manchmal... Na ja, Du verstehst."

Tony lachte amüsiert. "Du meinst Ricky? Er ist nicht mein Freund."

"Nicht?", fragte Mamoru interessiert nach.

"Nein. Er ist mein großer Bruder. Frederick Taylor."

"Frederick?"

"Ja", erklärte Tony. "Alle nennen ihn Rick. Nur Mommy nicht. Sie ruft ihn meistens Freddy. Das regt ihn jedes Mal furchtbar auf. Also solltest Du das bleiben lassen."

"Hmmm ... mal sehen."

Was Tony jetzt natürlich nicht sehen konnte, war das überaus diabolische Grinsen, das sich auf Mamorus Lippen breitgemacht hatte. Aber obwohl sie es nicht sah, konnte sie es offensichtlich spüren.

"Ich rate Dir wirklich! Lass es! Zu Deinem eigenen Wohl!"

"Schon gut, schon gut."

Dann lächelte er.

"Weißt Du was, Tony? Ich bin froh, dass zumindest Du Dir die Mühe machst, schön langsam mit mir zu reden. Und Fala auch. Ich hatte schon Angst, jeder hier hätte so eine schnelle Zunge und einen so wahnsinnig breiten Dialekt wie Rick."

Tony lachte auf. "Rick ist eben ein Unikum!"

"Ja, das ist er wohl", bestätigte der Herr der Erde leise.

Als sie an der SilverStar-Ranch ankamen, war es schon gut dunkel geworden. Tony ließ ihn schon einige Meter vor dem eigentlichen Hof absteigen. Sie verabschiedeten sich und Tony spornte Diablo zu einem Affenzahn an. Beide verschwanden in einer großen, dunklen Staubwolke.

Als Mamoru die Veranda betrat, saß da Kioku auf einem Stuhl. Sie hatte wahrscheinlich eine ganze Weile auf ihn gewartet.

"Na, Du kleiner Rumtreiber? Wo warst Du so lange? Kannst nicht mal sagen, wohin es Dich verschlägt! Die Welt da draußen ist groß und gefährlich, das weißt Du doch! Also?"

"Wie war das mit eigener Wohnung, und Eigenverantwortung, und ich-bin-auf-dem-Weg-zum-Erwachsenwerden?", maulte Mamoru. "Ich hab die Nachbarn kennen gelernt. Nette Leute, ehrlich! Du hättest das sehen sollen! Die haben ganz viele Tiere!"

"Ja", antwortete Kioku naserümpfend, "ist nicht zu überriechen. Ich würde vorschlagen, Du gehst gleich mal die Dusche in Deiner neuen Wohnung einweihen, Kleiner, Du stinkst nach Pferd, das ist ne wahre Pracht."

<Fehlt nur noch, dass sie hopp sagt...>, dachte Mamoru.

"Was gibt's zu essen?", fragte er laut.

Seine Tante grinste ihn auf die bösartigste Art und Weise an, zu der ein Mensch in der Lage war.

"Also, mein großer Mister Eigenverantwortung, was es in Deinem Haushalt zu essen gibt, weiß ich nicht. Ich jedenfalls hatte ein fantastisches Abendessen. Ich hab Dir etwas Brot und Käse in Deine Küche gelegt. Was Du großartig daraus zauberst, ist Deine Angelegenheit."

"Gute Nacht", brummte er und verschwand in seinem kleinen Häuschen.

Es entstand eine schwarze Wolke, die sich nur schwerlich vom Dunkel des riesigen Thronsaales abhob, und aus dieser Wolke trat ein Mann mit dunkelbraunen, leicht gewellten Haaren, die ihm locker über die Schultern fielen. Der Mann trat noch einige Schritte vor, wobei seine schweren Stiefel auf dem steinernen Boden klackernde Geräusche machten, die laut in der Stille des Raumes nachhallten. Dann kniete er nieder. Die schwarze Wolke hinter ihm war längst wieder verschwunden.

"Königin Perilia", sagte der Mann in die Stille hinein, "Ihr habt nach mir gerufen?"

"So ist es, Neflyte", bestätigte die Königin. Ihr finsterer Blick war auf das Zepter gerichtet, das vor ihr mitten in der Luft schwebte. Die violetten Nebel in der Kugel oben auf diesem silbernen Stab waberten unstet umher in ihrem gläsernen Gefängnis. Königin Perilia richtete ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Kugel; dennoch sprach sie weiter zu Neflyte:

"Du hast mir schon lange keine menschliche Energie mehr gebracht, Neflyte. Unsere große Herrscherin wartet auf ihr erneutes Erwachen, und Du trödelst nur herum!"

Ihre Stimme war bitterkalt und schneidend wie der Wind, der an der Erdoberfläche weit über dem Thronsaal über den Nordpol pfiff.

Eingeschüchtert und mit gesenktem Haupt zog sich Neflyte einige Zentimeter auf Knien rutschend zurück, ehe er antwortete:

"Vergebt mir, meine Königin, doch ich war damit beschäftigt, Jedyte zur Seite zu stehen. Dieser unbekannte Krieger, der ihn vor nicht allzu langer Zeit angegriffen hat..."

"NEFLYTE!", donnerte die zornige Stimme der ungeduldigen Königin über den düsteren Saal hinweg.

"Mei... M... Meine Königin?"

"Es ist nicht Deine Aufgabe, Dich um Jedyte zu kümmern!", brüllte Königin Perilia. Zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs hob sie ihre Augen von der Kugel auf ihrem Zepter.

"Jedyte kann sich alleine mit diesen Krieger beschäftigen! Du, Neflyte ... Du sorgst in erster Linie dafür, dass unserer großen Herrscherin auch weiterhin unbegrenzte Mengen an Energie zufließen, HAST DU MICH VERSTANDEN?"

"Ja, meine Königin."

"Das will ich für Dich hoffen. Sag mir, Neflyte, Du hast mir vor wenigen Tagen berichtet, Du hättest einen neuen Plan geschmiedet, um den Menschen ihre Energie rauben zu können. Ist alles vorbereitet?"

"So ist es, meine Königin." Neflyte traute sich endlich wieder, seinen Blick vom Boden zu heben und ihn auf seine Herrin zu richten. Diese hatte ihre Augen schon wieder auf die Kugel gebannt.

"Ich habe meinen treuen Diener Amethysyte losgeschickt, der sich um die Sache kümmern wird", fuhr Neflyte fort. "Wir haben gemeinsam einen Ort gefunden, der für unser Vorhaben wie geschaffen ist. Ein kleines Städtchen namens Orendaham, das in meinem Einflussgebiet, den Vereinigten Staaten von Amerika, liegt. Diese Stadt ist uns besonders wegen ihrem Namen aufgefallen. Das Wort <Orenda> stammt aus einem indianischen Dialekt und bedeutet soviel wie <magische Kraft>. Und tatsächlich haben wir in unmittelbarer Nähe der Umgebung ein ungewöhnlich hohes Maß an Energie orten können. Doch wir brauchen Zeit, um die genaue Position bestimmen zu können. Bis dahin kann ich Euch, Königin Perilia, aber schon die Energie der gewöhnlichen Menschen des Ortes zusichern. Die Leute dort leben einfach. Sie sind harte Arbeit gewöhnt und besitzen somit viel Lebenskraft, die ich ihnen durch einen Trick entziehen werde. Ich verspreche Euch, Ihr werdet hoch zufrieden sein, meine Königin."

"Ausgezeichnet, Neflyte", antwortete die Herrin des Königreichs des Dunklen. Ihre Finger glitten in gleichmäßigem Takt an der Kugel ihres Zepters vorbei, das vor ihr schwebte. Ein kleines Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. "Geh jetzt. Und kümmere Dich in Zukunft gefälligst nur noch um die Aufgaben, die Dir auch zugeteilt wurden."

"Natürlich, seid dessen versichert. Ich bin Neflyte, der zweite Prinz der vier Himmel. Ich repräsentiere die Vereinigten Staaten von Amerika in unsrem Dunklen Königreich. Ich bin Euer treuester Diener, und ewig dazu bereit, für Euch und für unsere Mission mein Leben zu lassen."

"Es wäre das Beste für Dich, wenn Du Dich auch wirklich an Deine Worte hältst, Neflyte", riet ihm Königin Perilia. "Denn unzuverlässige Diener kann ich nicht brauchen. Doch die, die mir treu ergeben sind, werden reich von unserer großen Herrscherin belohnt werden, dessen sei Dir gewiss. Du darfst jetzt gehen, Neflyte."

"Ergebens, meine Königin."

Damit machte Neflyte noch einmal eine tiefe Verbeugung. Daraufhin drehte er sich um und verschwand wieder in einer schwarzen Wolke.
 

"Hab Hunger! Will Frühstück!", meldete Mamoru, als er das Haupthaus betrat, quer durch das Wohnzimmer lief und in der riesigen Küche landete. "Und diesmal werde ich mich nicht nur mit etwas Brot und Käse zufrieden geben!"

Seigi, der am Tisch saß, stellte seine Kaffeetasse ab, lächelte seinen Neffen an und meinte:

"Guten Morgen, Mamoru. Endlich ausgeschlafen?"

"Guten Morgen. Kein Stück." Der Herr der Erde ließ sich auf einen der Stühle plumpsen und seufzte schwer. "Hab fast die ganze Nacht kein Auge zugetan, und jetzt bin ich toter als todmüde."

Er gähnte und rieb sich die Augen.

"Verständlich", nickte Seigi und sah auf seine Armbanduhr. "Zuhause wären wir jetzt erst ins Bett gegangen. In ein paar Tagen hast Du Dich umgewöhnt."

Mamoru blickte ihn aus kleinen Augen schweigend an, ehe er fragte:

"Und wie könnt ihr Beiden so putzmunter sein?"

Kioku trug gerade Geschirr für Mamoru auf den Tisch, zwinkerte ihm zu und antwortete:

"Kaffee kann Wunder bewirken! Guten Morgen, Kurzer!"

"Guten Morgen, Tante Kioku. Was steht heute auf dem Programm?"

"Wir fahren nach Orendaham", erklärte Seigi und schlürfte wieder an seiner Tasse herum.

"Orendaham?" Mamoru griff nach seinem Glas, füllte es mit Orangensaft und trank.

Kioku nickte. "Wir haben nur noch wenige Lebensmittel, die wir von zu Hause mitgebracht haben. Praktisch die letzten Reste, die wir in Japan nicht mehr schnell genug verbrauchen konnten vor dem Umzug. Tja ... jetzt ist es an der Zeit, dass wir uns an unser neues Zuhause gewöhnen. Das bedeutet für uns eine gewaltige Umstellung, besonders was die Lebensmittel betrifft. Aber ich hab gehört, von Bohnen, Speck und T-Bone-Steaks soll man auch wunderbar leben können."

"Hier wird es ja wohl auch andere Sachen geben, oder?", meinte Mamoru.

"Klar doch", antwortete Seigi. "Du kannst Dir selbstverständlich selbst aussuchen, was Du für Dich alles brauchst. Von nun an sollst Du über ein festgelegtes monatliches Budget verfügen, von dem Du Deinen Haushalt finanzierst. Überleg Dir also gut, wofür Du das Geld ausgibst."

"Ja, ja", winkte Mamoru ab. "Lass uns das nachher klären."

Nun stand ihm erst mal ein ausgiebiges Frühstück bevor. Alles andere war vorerst zweitrangig. Und während er wie ein ausgehungerter Bär alles in sich reinstopfte, was er kriegen konnte, erzählte er davon, was er am gestrigen Abend auf der benachbarten Mustang-Ranch alles gesehen hatte.
 

Gesenkten Hauptes und mit langsamen, leisen Schritten betrat Jaspisyte den kleinen Raum mit den nachtschwarzen Wänden.

"Meister Jedyte, Ihr habt nach mir verlangt?"

"Das habe ich durchaus", antwortete Jedyte verbissen, während er nicht einen Blick von den Landkarten hob, die in wildem Chaos auf dem steinernen Schreibtisch ausgebreitet waren.

"Meister, ich erwarte Eure Befehle", meinte Jaspisyte, und obwohl sein Herr ihm den Rücken zukehrte, machte der Soldat einen demütigen Knicks, weil die Etikette dies von ihm verlangte. "Ich bin jederzeit bereit, abzureisen, und diesen Krieger ausfindig zu machen, der Euch..."

"SCHWEIG!", herrschte Jedyte ihn an, ohne ihn indes eines Blickes zu würdigen.

"Ja, Meister", machte Jaspisyte kleinlaut. Er wartete.

Jedyte ließ sich Zeit damit, die Karten vor ihm zu studieren. Er setzte seinen Zeigefinger auf einige Punkte, und an diesen Stellen erschienen rote Kreuze auf den Karten. Die Papiere waren jetzt schon übersät von roten und schwarzen Kreuzen oder Kreisen. Leise murmelte Jedyte einige Worte vor sich hin, und der Soldat hinter ihm verstand nur wenige Fetzen.

"Hier ... oder hier ... werd den Mistkerl schon finden! Wo hat der sich nur verkrochen ... kann nicht wahr sein ... wenn ich den erwische! ... wie kann der es wagen ... büßen..."

Dann ließ er mit einem Seufzer von seinen Karten ab und wandte sich endlich Jaspisyte zu, der geduldig gewartet hatte.

"Jaspisyte, ich habe Dich rufen lassen, weil ich einen Auftrag für Dich habe. Die Situation ist folgende: Zum einen ist es für unser Königreich momentan das Wichtigste, neue Energie ranzuschaffen. Doch zum anderen werden wir überall auf der Welt mit unseren alten Feinden konfrontiert, die allmählich aus ihrem langen Schlaf erwachen. Die Königin wünscht, dass ich mich mit letzterem Problem befasse. Zumindest vorerst. Doch solange ich damit beschäftigt bin, gegen die Sailorkrieger vorzugehen, kann ich mich nicht auch um meine anderen Pflichten kümmern. Deshalb wirst Du eine zeitlang Neflyte unterstellt werden. Du wirst ihm und Amethysyte ebenso treu ergeben sein, wie Du es mir gegenüber bist, hast Du verstanden?"

"Ich bitte um Vergebung, Meister, aber wäre es nicht effizienter, wenn ich Euch zur Seite stehen würde? Ich könnte..."

"Du wagst es, meine Befehle zu übergehen, meine Befehlsgewalt in Frage zu stellen und meine Strategien zu kritisieren???", brüllte ihn Jedyte mit voller Lautstärke an.

"Meister ... Nein, natürlich nicht. Ich bitte um Vergebung...", hauchte Jaspisyte. Zu mehr war er nicht mehr in der Lage. Verstört richtete er seinen Blick auf den Boden und wandte das Gesicht ab.

"Das will ich auch hoffen!", fauchte Jedyte. "Ich schätze, Du weißt, was Einem bei Hochverrat blüht!" Lange Zeit maß er seinen Untergebenen mit finsterem Blick. Er konnte auch jetzt, nach langer, langer Zeit, noch nicht glauben, dass jemand wie dieser junge Mann, der da vor ihm stand, Soldat werden konnte. Alles an Jaspisyte war weich und sanft. Man konnte sein Gesicht schon als makellos bezeichnen. Fast wie bei einem Mädchen. Nur eine lange, dicke Strähne des sonst so kurzgeschnittenen, tiefschwarzen Haares auf seinem Schädel hing vorne herab und verdeckte beinahe seine gesamte linke Gesichtshälfte.

"Ich würde vorschlagen, Du machst Dich jetzt an Deine Arbeit. Melde Dich bei Neflyte und mach mir keine Schande. Arbeite hart für unsere Mission. Wir werden viel Energie benötigen, um die Macht unseres Königreichs zu festigen und unsere große Herrscherin wieder zu erwecken. Wir werden nicht eher ruhen, bis wir diese Welt in Dunkelheit gehüllt haben."

Für Jedyte war das Thema nun beendet. Er drehte sich herum und widmete seine Konzentration wieder seinen Karten.

Jaspisyte allerdings zögerte. Unsicher wandte er den Kopf zur Tür, zu seinem Meister, zur Tür und wieder zu seinem Meister zurück.

"Was gibt es denn noch?", fragte Jedyte unwirsch.

"Verzeiht, Meister, aber erlaubt Ihr mir, eine Frage zu stellen?"

Jedyte machte einen Wink mit der Hand und bedeutete so seinem Adjutanten zu sprechen.

"Meister, ich verstehe nicht, warum es unser Ziel ist, die Erde in Dunkelheit zu versetzen..."

Mit einem Ruck wandte sich Jedyte seinem Untertanen wieder zu und starrte ihn verblüfft an. "Du zweifelst an unseren Zielen?"

"Nein, Meister, ehrlich nicht!", rechtfertigte sich Jaspisyte. "Das ist es nicht. Zweifeln ist nicht das richtige Wort. Es ist nur ... ich verstehe es nicht. Was ist Sinn und Zweck des Ganzen? Das Leben auf dieser Erde braucht Licht und Luft, damit es gedeihen kann. Nimmt man ihm das Licht, so verdorrt es, gleich einer Blume ohne Wasser und ohne Sonne. Was sollen wir mit einem kalten, harten Planeten ohne Leben? Weswegen sollten wir über das Nichts herrschen? ...Wie kann man herrschen ... wenn es nichts gibt ... über das man herrschen könnte?"

Mit fragendem Blick aus den hübschen, grünen Augen schaute Jaspisyte seinen Meister an und wartete auf eine Antwort. Und nach eben dieser suchte Jedyte nun fieberhaft. Er wusste, ein falsches Wort zu diesem zarten Persönchen konnte alles zunichte machen.

"Nun ja ... ja, Du hast natürlich Recht. Ohne das Licht vergeht das Leben auf diesem Planeten. Es ist nur so, dass ... schau, Jaspisyte. Das Leben dort draußen ist hart und von Gewalt beherrscht. Der Starke frisst den Schwachen. Die Tiere bringen sich gegenseitig um. Was dort draußen existiert sind nichts weiter als stupide Lebensformen, deren Sinn und Zweck es ist, Tod und Vernichtung zu säen. Wir hingegen streben nach Perfektion. Die Dunkelheit wird sich über die Welt legen und das Leben vernichten, um so eine neue Evolution in Gang zu bringen. Das Dunkle Königreich wird dann die perfekten Lebewesen erschaffen ... mächtige Kreaturen, denen nichts und niemand etwas anhaben kann. Die Krone der Schöpfung, verstehst Du? Wir werden die Welt besser machen, als sie je gewesen ist!"

"Aber ... aber ... ich finde die Welt schön ... so wie sie jetzt ist...", stammelte der Adjutant verwirrt.

"Jaspisyte...", meinte Jedyte in versöhnlichem Ton und legte seine Hand auf die tiefschwarze Mauer seines Zimmers. "Was fühlst Du, wenn Du diese Wände siehst?"

"Meister ... ich verstehe nicht ... was soll ich fühlen?"

"Fühlst Du Dich nicht ... zu Hause?", fragte Jedyte.

Der Soldat nickte. "Oh, doch! Natürlich fühle ich mich zu Hause! Aber ich verstehe immer noch nicht..."

"Die Dunkelheit ist Deine Heimat", erklärte der Meister. "Seit einer Ewigkeit lebst Du hier, und es geht Dir doch gut! Oder fehlt es Dir an irgend etwas?"

Jaspisyte zögerte lange. Sehr lange. Und dann traute er sich doch, seine Gedanken laut auszusprechen:

"Meister ... ich bitte Euch, mich jetzt nicht für einen Narren zu halten, aber ... ich habe ... Geschichten gehört ... bei den Menschen ... Geschichten über ... Liebe..."

"Liebe! Papperlapapp! Vergiss das Gesülze sofort wieder!", zischte Jedyte erbost.

"Aber..."

"Kein Aber! Die Liebe der Menschen wird absolut überbewertet. Sie ist sinnlos! Sie ist nutzlos! Sie ist überflüssig! Sie macht aus einem Soldaten ein Weichei! Wenn die Dunkelheit erst mal ein neues Zeitalter hereingebracht hat, dann ist Schluss mit diesem Gewäsch! Ein für alle Mal!"

"...Jawohl, Meister. Ich habe verstanden."

"Gut."

Jedyte seufzte auf. Vorerst hatte er es geschafft, seinen Adjutanten zum Schweigen zu bringen. Die Frage war nur, wie lange dieser Zustand bleiben würde. Jaspisyte war anders, als alle Anderen. Irgend etwas an seiner Denkweise unterschied ihn von all den anderen Soldaten des Dunklen Königreichs, und es machte Jedyte halb wahnsinnig, dass er dies regelmäßig ausbaden durfte.

"Jedyte, Du solltest nicht zu grob mit Deinem Schützling umgehen, finde ich", so erklang eine Stimme im kleinen Raum. Kurz darauf erschien ein Mann, der auch eine Generalsuniform wie Jedyte trug. Die langen, weißen Haare fielen locker über den ebenso weißen Umhang, der sich um seine Schultern zog.

"Seid gegrüßt, Lord Kunzyte." Mit diesen Worten verneigte sich Adjutant Jaspisyte.

"Kunzyte ... was willst Du denn hier?", meinte Jedyte in gelangweiltem Ton.

"Es gibt einige Dinge, die ich mit Dir besprechen muss, Jedyte", erwiderte Kunzyte mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. Mit seinem Blick auf Jaspisyte gewandt meinte er:

"Es gibt aber einen Punkt, den Du vorhin angesprochen hast, bei dem ich Dir widersprechen muss, Jedyte, mein Bester. Liebe ist nicht überflüssig. Im Gegenteil. Liebe ist etwas, das man an sich reißt. Sie kann einem das Gefühl von Macht verleihen. Man muss die Liebe richtig einzusetzen wissen, dann kann man Vieles erreichen. Besonders, wenn Dein Gegner die Menschen sind. Zwinge die Liebe. Nutze sie aus und mach Dir diejenigen, die Liebe empfinden, gefügig. Sie werden Dir aus der Hand fressen. Das solltest Du Dir merken, Adjutant."

"Ja, Lord Kunzyte. Ich danke Euch für Euren Rat."

"Jaspisyte", meinte Jedyte und wedelte mit seiner Hand vor sich hin und her. "Du darfst jetzt gehen. Na, los, verschwinde. Wir haben hier jetzt wichtige Sachen zu tun!"

"Danke sehr", antwortete Jaspisyte. Er machte eine verabschiedende Verbeugung vor dem obersten General.

"Lord Kunzyte."

Dann verbeugte er sich zum Abschiedsgruß vor Jedyte.

"Meister Jedyte..." Und leise fügte er noch hinzu: "...Vater..."

Jedytes Blick verfinsterte sich von einer Sekunde auf die andere. Er holte aus und verpasste dem Adjutanten eine schallende Ohrfeige mit dem Handrücken. Ein leises Stöhnen glitt über Jaspisytes Lippen, als er rückwärts torkelte und sich die Wange hielt.

"Maße Dich nicht noch einmal an, mich so zu nennen!", donnerte Jedyte wutentbrannt. "Du bist immer noch ein Soldat im Dienst, und so lange das der Fall ist, hast Du mich mit meinem Rang zu titulieren, IST DAS KLAR???"

Jaspisytes Lippen zitterten unkontrolliert und seine Augen füllten sich mit Tränen, während er einen verzweifelten Blick auf seinen Vater warf.

"ICH HABE GEFRAGT, OB DAS KLAR IST! ANTWORTE, ADJUTANT!", brüllte Jedyte.

"...Ja...", wisperte Jaspisyte. "Verzeihung, Meister..."

"GEH MIR AUS DEN AUGEN!"

"Ich bitte um Vergebung, Meister...", krächzte Jaspisyte mit brechender Stimme. Dann verschwand er durch ein schwarzes Loch, das kurzzeitig in der Wand erschien.

"Ich habe gehört, Du hast ihn zu Neflyte und seiner Mission abkommandiert...?", meinte Kunzyte, während er noch auf den Punkt an der Wand starrte, wo bis gerade eben noch ein Raum-Tor gewesen war.

"Ja, und???", herrschte ihn Jedyte an. Sein Zorn hatte sich längst noch nicht gelegt.

"Jedyte, ich hoffe, Dir ist klar, Du kannst zwar eine räumliche Barriere zwischen euch aufbauen. Doch was Du auch tust, er wird immer Dein Sohn bleiben. Mag ja sein, dass Du das nicht so empfindest. Ich schätze, für die Frau, die ihn geboren hat, empfindest Du auch nicht anders. Sie war für Dich ein Stück Fleisch, ein Abenteuer, eine einmalige Sache. Dein persönliches Spielzeug. Vielleicht erklärt das auch Deine eigenartige Einstellung zum Thema Liebe. Aber ich sage Dir, Du solltest ... oder Du kannst Deinen Jungen nicht leugnen. ...Er hat Deine Augen..."

"Ich weiß, dass er meine Augen hat!", regte sich Jedyte auf. "Aber das ist auch alles, was er von mir bekam! Es gibt nichts, nichts und wieder nichts, was uns verbindet, außer unserer Treue zu unserem Königreich. Und selbst da scheint es, als ob mein wertes Fleisch und Blut mir in den Rücken fallen wolle!"

Kunzyte schüttelte den Kopf. "Der Knabe hat Potential. Er besteht aus rohem Ton, den Du zu einer großartigen Form machen könntest, wenn Du nur die Geduld dazu hättest."

"Willst Du Dich vielleicht mit töpfern beschäftigen?", giftete Jedyte. Dann atmete er tief durch. "Ich kann nur hoffen, dass Neflyte ihn eine Weile beschäftigen kann. Ich will ihn loswerden. Wenn er mir nur nicht andauernd in die Quere käme! Wie eine lästige Klette oder ein Blutegel. Und dann auch noch mein Adjutant..."

"Ach, Jedyte...", seufzte Kunzyte kopfschüttelnd. "Deswegen kannst Du morgen auch noch Zeter und Mordio schreien. Doch jetzt haben wir erst mal Wichtigeres zu tun..."
 

Orendaham erwies sich als ein - wie Kioku es nannte - schnuckeliges, kleines Städtchen; noch nicht mal groß genug, um sich darin verlaufen zu können. Im Prinzip war jeder zweite Laden ein Pub, ein Laden für Reiterzubehör oder ein Geschäft für Cowboyhüte und -stiefel. Dazwischen drängelten sich diverse Drugstores, Lebensmittelläden, eine Tankstelle am Rande der Stadt, ein kleiner Bahnhof, eine Post, zwei Kirchen, eine ganze Reihe von Wohnhäusern und eine Apotheke. Es gab durchaus noch andere Gebäude, aber die waren kaum nennenswert.

Die Straßen waren staubig und qualitativ nur minderwertig asphaltiert; zudem noch durchsetzt von Schlaglöchern.

Selbst jetzt am Vormittag, wo die Sonne noch nicht im Zenit stand, war es bereits tierisch heiß. Mamoru sah nur eine einzige, streunende Katze, die in Windeseile über die Straße rannte, um auf der anderen Seite ein schattiges Plätzchen zu finden.

Es waren auch kaum Menschen zu sehen. Hier und da standen einige zerbeulte und angerostete Chevrolets herum, man sah das eine oder andere völlig verschwitzte Pferd, das an eisernen oder hölzernen Gestängen festgebunden dastand und sich in jedes noch so kleine Stückchen Schatten quetschte. Nur wenige, recht karge Bäume standen am Straßenrand des sonst so trocknen und staubigen Ortes. Krähen hockten in den Ästen oder flogen über die Dächer der Häuser hinweg.

"Ich schlage vor, zu aller erst kümmern wir uns um Proviant, was?", meinte Seigi und parkte den Wagen vor einem der Geschäfte.

Mamoru stieg aus, sah sich misstrauisch um und meinte:

"Krieg ich da auch nen Colt, nen Gaul, Stiefel und nen Hut?"

"Sei nicht albern", mahnte ihn seine Tante.

"Ich meine das ernst", grinste Mamoru sie an, "schließlich ist die Welt da draußen groß und gemein und gefährlich, oder etwa nicht?"

Er bekam darauf keine Antwort.

Es vergingen Stunden ehe die Drei alles zusammen hatten, was sie brauchten. Es ging dabei ja nicht nur um die Lebensmittel, sondern insgesamt um die diversen, kleinen Dinge, die der Alltag so brauchte. Und außerdem mit eingerechnet war die Zeit, die man zum Mittagessen in einem der kleinen Lokale der Stadt brauchte.

Schlussendlich - der Wagen war inzwischen vollgeladen mit Einkäufen und der Nachmittag war bereits in vollem Gange - hatten Seigi und Kioku noch etwas auf dem Rathaus zu tun. Klärung irgendwelcher Formalitäten - bla, bla, bla.

Dem Herrn der Erde war das zu langweilig. Mamoru setzte sich draußen in den Schatten eines Baumes und sah der flirrenden, heißen Luft zu, wie sie alles, was nur ein paar Meter weiter weg war, zu einem unförmigen, wabernden Farbklecks machte. Gelegentlich zog er ein Taschentuch aus der Hosentasche und fuhr sich über die Stirn, damit der Schweiß nicht seine Augen verklebte. Seine Lippen waren bereits trocken und spröde, und allmählich spürte er ein leichtes Kratzen im Hals; fast so, als hätte er eine Menge Sand verschluckt.

Er warf einen kurzen, prüfenden Blick auf das Rathaus. Dort rührte sich einfach nichts.

<Wie lange wollen die noch da drin bleiben?>, fragte er sich zum hundertsten Mal. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es in dieser kleinen Stadt so viele Leute gab, dass der Betrieb im Rathaus zum Stocken kommen könnte. Die meisten Leute waren um diese Uhrzeit sowieso am Arbeiten, wahrscheinlich zum größten Teil außerhalb der Stadt in irgendwelchen Farms und Ranches. Oder sie saßen zu Hause vor dem Ventilator und würden sich erst wieder nach draußen trauen, wenn es Abend war und die Temperatur auf ein annehmbares Maß gesunken wäre.

Mamoru kramte seine Halskette unter seinem Hemd hervor und öffnete den Deckel der Spieluhr. Ihre sanfte Melodie schaffte es wieder einmal, auf fast schon magische Weise sofort ein Lächeln auf die Lippen des Herrn der Erde zu zaubern. In sanftem, blauem Licht drehte sich der kleine, goldene Sichelmond im Inneren der Spieluhr.

Einen Moment lang schloss Mamoru seine Augen und lauschte dem sanften Klang der Melodie. So lange, bis ihn eine Stimme aus seinen Gedanken riss:

"Hey, das ist wunderschön."

Mit einem erschreckten Keuchen sprang er auf, drehte sich herum und sah in das Gesicht einer Jugendlichen, das von einem großen Cowboyhut umrahmt wurde. Dieses Gesicht wirkte schon im ersten Moment freundlich, wenn es jetzt auch einen etwas besorgten Ausdruck annahm.

"Hab ich Dich arg erschreckt? Entschuldige bitte, das wollte ich nicht. Ich hab nur noch nie etwas so Schönes gehört wie die Melodie gerade eben, und mich hat brennend interessiert, wo sie herkam."

Kurz nahm sie ihren Hut ab, um sich Luft zuzufächern. Die dunkelblonden, nicht ganz schulterlangen Haare mit den leichten Wellen klebten ihr an der Stirn fest. Sie musterte Mamoru kurz von oben bis unten und stellte dann fest:

"Du bist neu hier, was? Ich bin Dir noch nie begegnet."

Mamoru hatte inzwischen die Spieluhr wieder zugeklappt und unter seinem Hemd verstaut. Jetzt nickte er dem Mädchen zu.

"Ja, ich bin gestern auf die SilverStar-Ranch gezogen. Mein Name is Mamoru."

"Freut mich", antwortete sie, "ich bin Elyzabeth."

Sie sprach ihren Namen auf eine etwas eigenwillige Art und Weise aus. Bei ihr klang es wie <Ilaisabeth>, wobei sie die beiden Silben <Ilai> besonders betonte, und das Wort mit stimmhaftem <s> und dem typisch englischen hinten dran aussprach. Wahrscheinlich war sie sehr stolz darauf, dass ihr Name ein wenig aus der Rolle fiel, und Mamoru hatte den Eindruck, dass es wohl das Beste sei, ihren Namen nach ihren Wünschen auszusprechen.

Ihr Name...

Und da kam es Mamoru auf einen Schlag in den Sinn.

"Moment mal ... bist Du Elly von der Mustang-Ranch?"

"Jep, genau richtig", bestätigte sie verblüfft. "Woher weißt Du das?"

Mamoru grinste breit. "Ich hab gestern Rick, Tony und Fala kennen gelernt. Rick hat mir von Dir erzählt. Na ja ... nicht wirklich erzählt ... er sprach einfach von Deiner Existenz. Tja ... ich schätze, er hatte Recht, als er sagte, ich würde nicht drum rum kommen, Dich kennen zu lernen."

Nun nahm Mamoru sich auch mal etwas Zeit, Elly einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Sie war ein paar Zentimeter kleiner als er, doch höchstwahrscheinlich waren beide so ziemlich gleich alt. Sie hatte intensive, dunkelgrüne Augen. Doch manchmal war es Mamoru, als würden sie ab und zu ganz leicht bläulich schimmern; je nachdem, wie die Sonnenstrahlen einfielen. Sie hatte recht kräftige Wangen, die ihr Gesicht etwas breit wirken ließen. Doch sie hatte auf Mamoru irgendwie eine gute Ausstrahlung. Ihm war, als würde er in ihren Augen eine besondere Freude lesen und ihr freundliches Lächeln war absolut echt und wirkte auf natürliche Weise richtig glücklich.

Dem Herrn der Erde fiel das Halstuch auf, das sie trug. Es war weiß mit schwarzen Karos. Es sah schon ein wenig staubig, angerissen und mitgenommen aus, aber es erweckte irgendwie einen leicht kindlichen Eindruck an ihr.

"Hey, Mamoru", meinte Elyzabeth da gerade, "soll ich Dir meine beiden Kerls vorstellen?"

"Deine ... Kerls?", fragte der Angesprochene erstaunt nach.

"Yau. Meine Kerls." Damit steckte sie Zeigefinger und Daumen ihrer rechten Hand in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus.

Mamoru wusste weder, was er erwarten sollte, noch aus welcher Richtung die <Kerls> kommen würden. Und so erschrak er doch auf recht derbe Weise, als er plötzlich schräg hinter sich im Augenwinkel eine schnelle Bewegung sah. Noch ehe er seinen Kopf wirklich in die Richtung hätte drehen können, spürte er schon einen derben Stoß in seiner Magengegend. Und kurz darauf sah er nur noch einen großen, dunklen, dreieckigen Kopf mit langen Zähnen vor sich. Und noch bevor der Herr der Erde hätte Luft holen können, um einen Schreckensschrei auszustoßen, da schleckte auch schon eine lange, gut feuchte Zunge über sein Gesicht.

Irgendwie schaffte es Mamoru, seine Arme hochzureißen, um sich des unsanften Gewaschenwerdens zu erwehren. Und als er dann endlich das Etwas halbwegs von sich herunterbugsiert hatte, sah er erst wirklich, was das denn genau war: Ein ausgewachsener Wolf von schwarzer und silberner Fellfarbe stand mit seinen riesigen Pfoten halbwegs auf ihm und hechelte und sabberte was das Zeug hielt.

Elly lachte amüsiert. "Darf ich vorstellen: Das ist mein guter Terra. Keine Angst. Der beißt zwar manchmal, aber meistens nur in sein Futter."

"Solange er nicht glaubt, dass ich sein Futter bin...", brummte Mamoru und arbeitete sich wieder auf die Beine. Noch als er sich den Staub aus den Klamotten klopfte bemerkte er, dass sich neben ihm ein weiteres Tier aufgestellt hatte; diesmal ein ziemlich stattliches Pferd von brauner Farbe. Die Beine waren sehr dunkel, ebenso wie Mähne und Schweif. Das einzig Helle war ein weißes, sternförmiges Abzeichen auf seiner Stirn.

"Und das hier", so fuhr das Mädchen mit der Vorstellung fort, "ist mein Gabriel, ein Peruanischer Paso. Ganz ein Hübscher, nicht wahr?"

Sie klopfte liebevoll den Hals des Pferdes und strahlte Mamoru dann an.

"Sind die Beiden nicht ne Wucht?"

"Im wahrsten Sinne des Wortes", grummelte Mamoru und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Sabber aus dem Gesicht. "Ich habe ja schon mitbekommen, dass es auf der Mustang-Ranch so einige Tiere gibt, aber mit einem zahmen Wolf hätte ich nun wirklich nicht gerechnet. ...Na ja ... mit einer zahmen Krähe aber auch nicht..."

"Ach, Du kennst Apollo schon?", meinte Elyzabeth mit schnippischem Grinsen. Anscheinend konnte sie sich gut vorstellen, wie der erste Kontakt mit dem Vogel verlaufen war. Und sie traf mit ihrem Gedankengang mitten ins Schwarze.

"Ja", antwortete der Herr der Erde, "ich habe tatsächlich schon mit ihm ... Bekanntschaft gemacht. Gibt es bei euch noch ein paar Tiere, denen ich noch über den Weg laufen werde? Nur, damit ich schon mal vorgewarnt bin. Vielleicht ein paar Pinguine? Affen? Flamingos? Oder Haifische?"

Sein Gegenüber lachte vergnügt und erklärte dann:

"Abgesehen von einigen Pferden und Ponys, den Rindern, der Krähe und dem Wolf gibt es da nur noch die beiden Katzen. Eine weiße Kätzin namens Laura und ein schwarzer Kater mit Namen Arthur. Aber die beiden sind meistens unterwegs. Mäusejagd. Ich schätze, denen wirst Du eher selten begegnen. ...Ach, übrigens, was tust Du eigentlich hier? Siehst nicht unbedingt schwer beschäftigt aus..."

Mamoru drehte sich um und wies auf das Rathaus. "Mein Onkel Seigi und meine Tante Kioku sind seit ner Ewigkeit da drin und tun weiß-der-Teufel-was. Ich wundere mich auch schon, wo die bleiben. Und was ist mit Dir? Rick hat sich gestern aufgeregt, dass Du Dich anscheinend nicht früh genug zu Hause gemeldet hast. Was treibst Du denn hier so?"

Elyzabeth nahm ihren Hut ab, strich sich eine dunkelblonde Haarsträhne aus dem Gesicht, setzte den Hut wieder auf und antwortete erst dann:

"Ich hab mich nur ein wenig kundig gemacht. Hier in Orendaham hat ein neuer Laden aufgemacht. Eine Bar, wie's aussieht. Ich hab die Sache aber bisher nur von weitem betrachtet. Von außen. War noch nicht drinnen."

Sie kniete sich nieder und streichelte dem Wolf über den Kopf. Terra gab daraufhin einige hohe, fiepende Laute von sich und schaute andauernd zwischen seiner Herrin und Mamoru hin und her.

"Wieso bist Du nicht rein gegangen?", erkundigte sich Mamoru, während er sich im Stillen fragte, wieso der Wolf in diesem dicken Fell nicht schon längstens in dieser Hitze eingegangen war.

"Ich weiß nicht", antwortete sie und zuckte mit den Schultern. "Ich komm mir blöd vor, wenn ich alleine da rein gehen sollte. Aber ... wieso kommst Du nicht einfach mit?"
 

Der Raum war klein, weiß und absolut leer. Ein Unwissender hätte sich gefragt, welchen Sinn es denn überhaupt hätte, außen an der Tür das kleine, goldfarbene Schild mit der Aufschrift <PRIVAT> zu befestigen. Aber so leer dieser Raum auch war, so nützlich und sogar notwendig war er auch. Genau in diesem Moment, zum Beispiel, tauchten der General Neflyte und der junge Adjutant Jaspisyte darin auf wie aus dem Nichts. Beide hatten ihre Uniformen abgelegt und waren wie Zivilisten aus der Welt der Menschen gekleidet. Sie verließen den kleinen, weißen Raum, der nur dazu da war, unerkannt zwischen Orendaham und dem Basislager des Königreichs des Dunklen hin und her zu reisen.

Die beiden durchschritten eine riesige Küche, wo emsig etliche Dämonen und Teufel arbeiteten, die sich als Menschen getarnt hatten. Natürlich erkannten sie ihre Meister und verneigten sich vor ihnen, ehe sie mit ihrem arbeitsamen Treiben fortfuhren.

Neflyte bedeutete dem Adjutanten mit einer unwilligen Handbewegung, er solle stehen bleiben und hier auf ihn warten. Dann stapfte er allein weiter. Er betrat das eigentliche Lokal, das in einer sehr angenehmen Atmosphäre gehalten war. Irgendwie düster - und zugleich durch geschickt gesetzte Lichtpunkte sehr interessant. Der Boden war mit schwarzem Obsidian ausgelegt. Gläserne, hohle Säulen waren gleichmäßig im großen Raum verteilt, gefüllt mit winzigen, lapislazulifarbenen Kieseln, die von unten beleuchtet waren und einen gedämpften, blauen Schimmer durch den Raum wabern ließen. Auf den türkisfarbenen Tischen brannten Kerzen mit grünem oder blauem Wachs. Stark heruntergedimmte Lampen an den silberfarbenen, matt glänzenden Wänden strahlten sanftes, bläuliches Licht aus, ohne indes den Raum wirklich zu erhellen. Im Großen und Ganzen reichte die Beleuchtung aus, um noch genug zu erkennen und doch gleichzeitig ein Gefühl von Behaglichkeit zu verleihen.

Nach Neflytes Geschmack war dies die perfekte Kombination aus der Dunkelheit, die sein Königreich repräsentierte, und dem verhassten Licht, das die Menschen so anhimmelten. Doch ohne dieses Licht würde wohl oder übel jegliche Kundschaft ausbleiben.

Zumindest der Name der Bar drückte das aus, was hier allgegenwärtig zu finden war und dieses Lokal zu einem besonderen Lokal machen sollte:

<Tenebrae>.

Die Dunkelheit.

Neflyte richtete seine Schritte gezielt auf den jungen Mann, der hinter der Theke stand und sich ganz offensichtlich zu Tode langweilte. Momentan war absolut nichts los. Erst jetzt hob der Soldat aus dem Königreich des Dunklen müde seinen Blick und realisierte Neflyte. Daraufhin straffte sich der Mann sofort, machte einen schnellen Knicks und grüßte mit den Worten:

"Meister Neflyte..."

"Schon gut, Amethysyte. Läuft alles nach Plan?"

"Bis jetzt, ja, mein Meister. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass es noch ein wenig an Kundschaft mangelt. Doch um dieses Problem will ich mich so bald als möglich kümmern", versicherte der Herr von Australien.

"Das willst Du wirklich?", fragte Neflyte amüsiert nach. "Und dafür auf Dein faules Herumsitzen verzichten?"

"Vergebung, mein Meister..."

Neflyte winkte ab. "Lass es gut sein. Ich weiß, dass aller Anfang schwer ist. Ich hab da was für Dich. Eine neue ... Aushilfskraft, wenn man so haben will. Komm mit."

Wortlos folgte Amethysyte seinem Herren und sofort wurde sein Platz von einem der Dämonen in Menschengestalt eingenommen. Für den doch eher unwahrscheinlichen Fall, dass sich ein menschliches Wesen hierher verlaufen könnte, um nach dem Weg zur Tankstelle zu fragen oder weil er dringend mal musste. Eigentlich rechnete Amethysyte nicht wirklich damit, dass Kundschaft im eigentlichen Sinne so schnell hier auftauchen würde.

Leider.

Gerade, als die beiden die Küche betraten, sahen sie Jaspisyte, der sich ein Glas, gefüllt mit einer weißen Flüssigkeit, von einem Tablett runternahm, das ihm von einem der Teufel entgegengehalten wurde.

"Vielen herzlichen Dank! Das ist sehr nett von Dir."

Und noch während er trank meinte der Teufel ein untertäniges "Ich stehe gern zu Diensten."

Neflyte und Amethysyte standen eigentlich nur in der Tür und beglotzten sich die Szene.

"Vielen ... herzlichen ... Dank?", echote Amethysyte ungläubig. "Sehr ... nett?"

Neflyte seufzte und fasste sich an die Stirn. "Gehört der echt zu uns?"

"Ist das da ... Milch?", stellte Amethysyte fest.

"So ist es", nickte ihm Jaspisyte zu. "Wer will noch?"

"Nein, wirklich nicht", kam es von Neflyte und Amethysyte wie aus einem Munde.

"Meister", so wandte sich der Herr von Australien Neflyte zu, "soll ... der da ... etwa meine rechte Hand werden?"

"Du hast es erfasst", antwortete der Herr der Vereinigten Staaten grinsend. "Ich wünsche euch beiden noch viel Spaß. Man sieht sich."

Neflyte hatte den Raum schon durchquert und seine Hand auf die Klinke der Tür zum kleinen <Reisezimmer> gelegt, als Amethysyte noch ein letztes, aufbäumendes "Aber... aber..." von sich gab.

"Wird schon schief gehen", meinte Neflyte.

Amethysyte stand nur offenen Mundes da, während Jaspisyte einen Knicks andeutete und zum Abschied "General Neflyte..." sagte.

Und dann war der zweite der Prinzen der vier Winde auch schon verschwunden.

Gut gelaunt wandte sich Jaspisyte seinem neuen Partner zu und meinte:

"Was tun wir als erstes?"

"Als erstes wirst Du mal dieses Grinsen aus Deinem Gesicht radieren, SONST TU ICH ES!", giftete Amethysyte und seufzte schwer. Er ließ sich auf einem Hocker nieder und schüttelte den Kopf.

"Hey, hey, so miesepetrig drauf heute?", meinte der Herr der Antarktis. "Welche Laus ist Dir denn über die Leber gelaufen?"

"Frag nicht so blöd, Du natürlich!", keifte Amethysyte. "Womit hab ich das nur verdient? An meiner Seite kämpft ein milchtrinkendes Weichei für das Wohlergehen unseres gesamten Königreiches! Nur, dass Du es weißt: Erwarte keine Nettigkeiten von mir!"

Dann stutzte er und sah sich Jaspisyte etwas genauer an. "Ist Deine Lippe geschwollen?"

Automatisch fuhr sich Jaspisyte über sein Kinn und schlagartig war seine gute Laune wie weggeblasen. Er zupfte etwas an der langen Haarsträhne in seinem Gesicht herum, bis sie seinen Mund einigermaßen verdeckte und sagte dann leise:

"Ich habe nur... Es gab ... eine Meinungsverschiedenheit. Wirklich absolut nichts von Bedeutung."

Amethysyte konnte nur den Kopf schütteln. "Sag mal, wie alt bist Du eigentlich? Man sollte ja erwarten können, dass Du Dich wie ein Erwachsener zur Wehr setzt. Gerade als Adjutant! Aber nicht mal das schaffst Du, Milchbubi."

"Ich sage doch, es tut nicht zur Sache", murmelte Jaspisyte. Er konnte immer noch nicht verstehen, wie sein Vater nur so kaltherzig zu ihm sein konnte. Alles, was er verlangte, war ein wenig Zuneigung.

Jedytes Worte gingen ihm durch den Kopf.

"Du bist immer noch ein Soldat im Dienst, und so lange das der Fall ist, hast Du mich mit meinem Rang zu titulieren, IST DAS KLAR???"

Das Dumme war nur ... im Königreich des Dunklen Soldat zu sein, das war ein Full-Time-Job. Jaspisyte hatte demnach nie die Möglichkeit, mit Jedyte umzugehen wie mit einem Vater.

Er seufzte schwer und nippte wieder an seinem Glas Milch.

"Hallo! Hörst Du mir überhaupt noch zu?" Mit diesen Worten piekste Amethysyte ihn in die Seite.

"Was?", machte er erschrocken und fuhr herum. "Tut mir ehrlich Leid, Amethysyte, ich hab Dir gerade nicht zugehört. Bitte, verzeih..."

Der andere Adjutant winkte ab. "Von Dir kann ich wohl nichts Besseres erwarten, was? Also noch mal: Wir müssen uns in die Welt der Menschen integrieren. Das heißt, wir brauchen auch menschliche Namen. Du wirst Jan heißen, und ich bin Adam. Kapiert?"

"Kapiert", antwortete Jaspisyte ... oder Jan ... und fragte daraufhin:

"Und wie sieht es mit dem Nachnamen aus?"

"Nachnamen?"

"Ja, die Menschen haben auch Nachnamen."

"Öhm..." Der Herr von Australien dachte kurz nach. "Smith."

"Smith?"

"Smith. Ist glaube ich ein häufiger Name. Ja, Smith", antwortete Amethysyte.

"Wir beide?"

"Wie meinst Du das denn?"

"Na ja", führte Jaspisyte aus, "entweder wir haben verschiedene Nachnamen oder wir gehören zu einer Familie."

"Ach... verflucht", schimpfte Amethysyte, "dann bist Du einfach ausnahmsweise mein jüngerer Bruder. Wir wollen den Menschen nur die Energie nehmen. Wir müssen ihnen nicht gleich eine ganze Lebensgeschichte auftischen. Es sind nur Menschen, verdammt. Wenn sie zu aufdringlich werden, nutze Deine dunklen Fähigkeiten, um sie abzuwimmeln."

"Ich ... manipuliere nicht gerne ... in anderer Leute Gedanken herum...", stammelte Jaspisyte. "Dann komme ich mir so schäbig vor ... als würde ich in Privatsachen herumschnüffeln..."

Der Herr von Australien grinste ihn nur an und meinte herausfordernd:

"Du kannst natürlich auch einfach die ganze Angelegenheit sausen lassen und vor die Bar ein großes Schild stellen mit der Aufschrift: <Wir würden gerne auffliegen! Wir sind vom Königreich des Dunklen, wollen die Menschheit vernichten und brauchen dafür eure Energie! Bitte tötet uns!>"

Jaspisyte senkte betreten den Kopf. "Du hast ja Recht."

"Na also, geht doch", seufzte Amethysyte. "Und in Zukunft überlässt Du das Denken lieber mir, verstanden?"

Der jüngere Adjutant nickte.

Amethysyte fuhr sich mit der Hand durch das kurze, blonde Haar. Dann zwang er sich zu einem Grinsen und meinte:

"Wir sollten uns nun um unsere Arbeit kümmern ... Jan."

Darauf zog er eine Schublade in einem der niedrigen Schränkchen auf, und einige Dutzend durchsichtiger, kleiner Kristalle kamen zum Vorschein.

"Diese Kristalle entziehen den Menschen ihre Energie, sobald sie berührt werden. Wir müssen jedes Glas und überhaupt jedes Stück Geschirr mit diesen Kristallen versehen. Na los, hilf mir."

"Also gut", meinte Jaspisyte. Er griff mit der einen Hand nach einem Glas und mit der anderen nach einem Kristall. Er fügte die beiden Gegenstände zusammen, und sowie sie sich berührten, wurde der Kristall vom Glas aufgenommen, als wäre das Glas plötzlich flüssig geworden. Dann verschmolzen die beiden Dinge untrennbar mit einander und das Glas rund um den Kristall wurde wieder fest.

"Legen wir los ... Adam", grinste Jaspisyte.
 

"Aber ... wieso kommst Du nicht einfach mit?" Elyzabeth sah ihn mit einem begeisterten Strahlen in den Augen an.

"Hmmm", machte Mamoru. "Ich weiß nicht..."

Er warf einen Blick über die Schulter und sah das Rathaus an. Er grübelte kurz und kratzte sich nachdenklich an der Stirn.

"Weißt Du ... irgendwie würde ich ja schon gerne ... aber ... ich glaube, es wäre nicht fair von mir, wenn ich jetzt einfach ohne ein Wort verschwinden würde. Mein Onkel und meine Tante werden bestimmt bald wieder da raus kommen ... das hoffe ich doch ... und wenn ich dann spurlos verschwunden bin, machen sie sich bestimmt Sorgen."

"Na und?", antwortete Elly. Sie grinste ihn spitzbübisch an. "Die beiden haben Dich ja auch schon eine ganze Weile allein hier hängen lassen. Wir gehen nur grad was trinken und kommen direkt wieder hier her. Was sagst Du?"

Mamoru lächelte und schüttelte den Kopf. "Später vielleicht."

Das Mädchen seufzte und zuckte mit den Schultern. "Da kann man nichts machen."

Sie stieg in ihren Sattel und wendete das Pferd. Dann wandte sie sich Mamoru noch einmal zu.

"Kommst Du heute noch auf die Mustang-Ranch? Ich würd mich freuen!"

"Ja", meinte Mamoru, noch immer lächelnd. "Das würd ich sehr gern. Wenn ich nicht vorher hier verrotte."

Elly lachte. "Also, bis dann!"

Darauf trieb sie ihren Peruanischen Paso an. Gabriel sprengte im Galopp davon und der Wolf Terra jagte in atemberaubendem Tempo hinterher.

"Ein einmaliges Gespann", murmelte Mamoru. Er konnte es sich nicht wirklich erklären, aber jetzt, nach diesem etwas eigenartigen Treffen, fühlte er sich schlicht und ergreifend glücklich und zufrieden.

Auf der SilverStar-Ranch angekommen hopste Mamoru erst mal aus dem Auto in die flirrende, heiße Luft hinein. Es fühlte sich an wie dir sprichwörtliche Faust aufs Auge. Am liebsten hätte er sich direkt wieder in den klimatisierten Wagen gesetzt, doch dort konnte er ja schlecht ewig bleiben. Er ging also die paar Schritte zum Kofferraum, öffnete ihn und holte eine Tüte mit Lebensmitteln heraus, die er nun für seinen kleinen, persönlichen Haushalt brauchte. Er glaubte, von Ferne das leise Schnauben eines Pferdes zu hören. Unweigerlich fing er an zu grinsen. Mamoru würde sich gleich auf den Weg zur Mustang-Ranch machen. Er würde nur vorher schnell die Einkäufe forträumen.

Sein Onkel und seine Tante trugen ihre Sachen in das Haupthaus, während der junge Herr der Erde die Tür zu seinem Häuschen aufstieß. Er stellte die Tüte vorerst auf dem Tisch mitten in der Küche ab.

"Scheiße, Mann, Du has ja echt kein Bier hier, wa? Is ja 'n Beschiss."

Erschrocken drehte Mamoru sich um. Rick trat aus dem Flur und lehnte seine Schulter gegen den Türrahmen, der Küche und Flur miteinander verband.

"Rick! Teufel noch mal, erschreck mich nicht so! Mein armes Herz! ... Was tust Du überhaupt hier?"

"Dich abholen", grinste Rick. Er hatte mal wieder einen Kaugummi zwischen den Zähnen. "Ich hab Dir doch gesagt, Kleener, ich würd Dir heut 's Reiten beibringen."

"Schön und gut", antwortete Mamoru, dessen Herz sich allmählich wieder beruhigte. "Aber was tust Du hier drin? Wie bist Du hier rein gekommen?"

Der Cowboy zuckte mit den Schultern. "Du hast nich abgeschlossen."

Der Junge nickte verstehend. "In Zukunft."

Rick kaute eine Runde auf seinem Kaugummi herum und antwortete dann:

"Lass es. Weit und breit schließt hier keiner ab, und Du wirst nich der Erste sein, klar? Glaub mir, 's is praktischer, offen zu lassen. Dann biste schneller drin oder draußen."

"Ja, aber ich bin damit dummerweise nicht der Einzige", brummte Mamoru. "Ich hab keine Lust, mitten in der Nacht von einem Einbrecher aufgeschreckt zu werden. Oder noch schlimmer: von Dir."

Rick schnippte vorne von unten gegen die Hutkrempe, sodass ihm sein Cowboyhut ein wenig in den Nacken hopste. Dann sah er gemütlich dabei zu, wie Mamoru sich für jedes Ding, das er aus der Tüte holte, ein Plätzchen zum Verstauen suchte.

"Sag mal, Rick", meinte der Herr der Erde etwas spitz, "willst Du Dich nicht vielleicht ein wenig ... nützlich machen?"

"Von Wollen kann keine Rede nicht sein, wa? Worum geht's denn?"

Mamoru dachte noch einen Augenblick über Ricks doppelte Verneinung nach und tat sie dann mit einem Schulterzucken ab. Danach packte er Rick am Ärmel und schleifte ihn nach draußen, wo der Rest seiner Familie weitere Tüten aus dem Kofferraum des Wagens wuchtete. Kioku und Seigi blickten überrascht auf, als sie den Fremden sahen, den ihr Neffe im Schlepptau hatte.

"Rick", so fing Mamoru an, "das hier sind meine Tante Kioku und mein Onkel Seigi."

Rick hob zum Gruß seinen Hut etwas an und sagte: "Ma'am ... Sir ... mein Name is Rick. Ich bin drüben von der Mustang-Ranch. Freut mich!"

"Ja, ja, was auch immer", meinte Mamoru und zog Rick vollends zum Auto. "Lass Dir zeigen, welche Tüten mir sind, und dann trägst Du die rein, kapiert?"

Damit drehte er sich auch schon wieder herum und stolzierte geradewegs auf das Nebenhaus zu.

"Momentchen mal, junger Mann", rief ihm seine Tante nach. "So geht das aber nicht! Einfach den Gast hier zum Arbeiten einspannen! Wo gibt's denn so was?" Sie achtete darauf, es im schönsten Englisch zu sagen, damit besagter Gast auch mitbekam, worum es ging.

"Jepp, die Jugend von heute", pflichtete er bei und veränderte den Sitz seines Cowboyhutes ein wenig. "Faul bis zum Anschlag, wa? Kann nich einen Schlag allein tun, der Kleene."

"Ganz meine Meinung", machte Kioku wieder weiter. "Der Kurze sollte wirklich ein bisschen Eigenverantwortung tragen!"

"Tante Kioku!", beschwerte sich der Herr der Erde empört, "jetzt fall mir nicht in den Rücken!"

"Und ich dachte, ich hätte Dich zu Anstand und Manieren erzogen!", fuhr sie ungerührt fort. "Und was sehe ich jetzt hier vor mir? Einen Sklaventreiber! Jawohl! Aber, Rick, mein Lieber, Du lässt Dich doch nicht von ihm einspannen, oder?"

"Nich ohne 'n angemessenes Bitte und Danke", nickte Rick und kaute genüsslich seinen Kaugummi weiter.

Seigi hatte sich derweil eine der Einkaufstüten geschnappt um sie reinzutragen. Wie er an Mamoru vorüber ging flüsterte er leise:

"Da hinten haben sich Zwei gesucht und gefunden, was?"

"Scheint so", seufzte Mamoru völlig resigniert. "Das ist eine Verschwörung! Eine Intrige!"

Dann drehte er sich um, ließ seine Tante und seinen Nachbarn lautstark weiterlästern und fuhr damit fort, die Einkaufstüte auf seinem Küchentisch fertig auszuräumen. Nur einen winzigen Augenblick später stapfte Rick mit zwei Tüten in den Armen in die Küche, stellte sie ab und grinste.

"Ich bin ja nich so, wa?"
 

Nicht lange darauf saß Mamoru wieder auf Ricks Quarter Horse Elvis. Mit dem Gemoser und Gezeter hatte er diesmal erst gar nicht angefangen. Stattdessen nahm er sich jetzt mal die Zeit, sich die Gegend vom Sattel aus anzusehen. Gut, außer ziemlich viel Staub und vereinzelten, dürren Sträuchern gab es praktisch nichts zu sehen, aber vom Rücken eines Pferdes aus sah die Welt irgendwie ganz anders aus.

"Hier hat's schon seit ner Ewigkeit nich mehr geregnet", erklärte Rick gerade, der seinen Elvis an den Zügeln hinter sich her führte. Er richtete seinen Blick in den Himmel, wobei sein Hut wunderbar vor den hellen Sonnenstrahlen schützte.

"Sieht nich so aus, als würd sich det so flott ändern, wa? Ob Du's glaubst oder nich, aber hier kann auch alles total grün sein. Vor 'n paar Jahren hat's hier auch bisschen Schnee gegeben, is aber eher selten, wa? 'S is hier eher so ne warme Gegend. Wasses hier grad an Pflanzen gibt, is eher künstlich bewässert. Wat willste sonst tun? 'S Vieh braucht halt wat zum futtern. Ich wünsch Dir, dassde hier ma' so'n richtigen Sauregen miterlebst, dann stehen hier wahnsinns Wiesen rum. 'S is der pure Hammer."

Rick schob wieder die losen Holzbalken im Zaun zur Seite und ließ Elvis durchtreten, ehe er das Geländer wieder verschloss.

"Normalerweise", so meinte er schmunzelnd, "können unsre Gäule locker hier drüber springen. Ich hoffe, es dauert nich mehr lang, bis ich Dir det auch zumuten kann, Kleener."

"Ich heiße Mamoru", beharrte der Herr der Erde.

Rick nickte. "Schreib ich mir bei Gelegenheit auf. Weißte, den früheren Besitzer von der SilverStar-Ranch ham wer auch oft besucht. 'N netter Kerl. Leider hat er ne Menge Mist gebaut. Hatte 'n riesen Berg Schulden. Hatte ganz schön Pech. Aber 'n bisschen war er auch selbst Schuld, wa? 'S is nich gut gelaufen mit der Ranch unter seiner Verwaltung. Hat gemeint, er würd wat von seinen Verlusten wettmachen, wenn er wat vom Land verkauft. An und für sich ne gute Idee. Aber er hat's übertrieben. Er hat irgendwann so viele Stücke vom Gut verkauft, dass der Rest nich mehr gereicht hat, um echten Gewinn damit zu erzielen. Als er die jämmerlichen Reste verkauft hat, war das Land, auf dem das Haus jetzt steht, praktisch nix mehr wert, wa? Wat soll ne Ranch ohne Land? Kein Platz für Vieh, und anbauen kann man da auch nix drauf. Ich hab schon echt gedacht, da zieht nie mehr wer ein. Und dann kam so'n feiner Pinkel vorbei, so'n Fuzzi. Keine zwei Wochen später seid ihr hier. ...Seid det nur ihr drei, oder sind da noch mehr?"

"Nein, nur mein Onkel, meine Tante und ich."

"Ah, ja. Und ihr tut hier ... wat?"

"In erster Linie ... wohnen", antwortete Mamoru grinsend. "Onkel Seigi ist hier her nach Amerika versetzt worden, von seiner Firma. Besserer Job, besserer Lohn ... Du weißt schon. Ich glaube, es bedeutet ihm wirklich viel, hier zu sein. Er und Tante Kioku haben früher schon mal ein paar Jahre in den Vereinigten Staaten verbracht, allerdings in Boston, Massachusetts. Damals war ich noch ein ganz kleines Kind. Ich erinnere mich gar nicht mehr daran. Nun fängt hier für uns ein neues Leben an, wie's aussieht. Ich werde wohl bald meine neue Schule kennen lernen ... müssen."

"Große Umstellungen erfordern ne Menge Mut", stellte Rick nickend fest. Er fuhr Elvis ein wenig über die Nase. Es war nun nicht mehr weit, man konnte die Gebäude der Mustang-Ranch schon gut sehen. Schweigend führte Rick sein braunes Quarter Horse weiter.

"Rick? Sag mal, was tun eigentlich Elly und Fala hier auf der Ranch?"

"Die beiden...", Rick lachte schon beim bloßen Gedanken auf. "Haste schon gemerkt, dass die zwo Weibsen nich miteinander können? Da hat schon von Anfang an wat inner Luft gelegen. Die zwei arbeiten auf der Ranch. Falas Eltern sind schon lange tot, soweit ich weiß. Ihre blinde Großmutter wohnt in Orendaham. Fala bringt praktisch das Geld rein, damit's ihrer Grandma gut geht. Und Elly ... ich weiß nich viel über se. Anscheinend sind ihr ihre Eltern auf'n Sack gegangen. Se is zusammen mit ihrem Terra von Daheim ausgerissen. Sie wohnt bei uns, weil se sonst nix hat, wo se hin könnt. Se ruft auch nie zu Haus an oder schreibt Briefe. Muss sich schwer mit den Eltern gezofft ham, wennde mich fragst. Se hat sich inzwischen gut bei uns eingelebt, find ich, abgesehen von den Stänkereien, die se sich mit Fala leistet."

"Fala ... sie hat irgendwie was an sich, finde ich...", murmelte Mamoru nachdenklich.

"Wie meinen?", fragte der Cowboy.

"Na ja ... ich weiß nicht...", versuchte der Herr der Erde zu erklären. "Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, da hatte ich das Gefühl, irgend was an ihr sei besonders. Sie hat ... so eine..."

"Mystische Ausstrahlung?", beendete Rick den Satz ohne Mamoru dabei anzusehen.

"Ja, genau. ...Was hat es damit auf sich?"

"Det kann ich Dir so nich erklären, Kleener..."

"Ich heiße Mamoru."

"...Du musst Fala einfach kennen lernen", fuhr Rick ungerührt fort. "Ich weiß ja auch nich, wie ich's beschreiben soll. Manchmal ... kann se ... so gewisse Dinge..."

"Was?"

"Musste selber feststellen", meinte Rick mit breitem Grinsen. Er kaute weiter auf seinem Kaugummi herum, während er Elvis auf den Innenhof des Guts führte. "Absteigen."

Als Mamoru wieder auf festem Boden stand, baute sich Rick grinsend vor ihm auf.

"Links oder rechts?"

Mamoru schaute ihn verwirrt an und wartete darauf, dass noch irgend eine Zusatzinformation käme.

Doch da kam nichts.

"Was willst Du von mir?", fragte er deshalb vorsichtig.

"Such Dir wat aus, links oder rechts? Sach einfach eins davon."

"Öhm, pffft ... links."

"Okay."

Rick drehte sich herum, rief einen Mann herbei, der gerade irgendwas an der Stalltür reparierte, drückte ihm Elvis' Zügel in die Hand und gab Instruktion, das Pferd in den Stall zu bringen und sich um es zu kümmern. Dann legte er Mamoru die Hand auf die Schultern und meinte "Komm mit". Darauf schob er ihn auf das größte Gebäude der Mustang-Ranch zu.

"Wohin?"

"Du hast soeben beschlossen, dass wer hiermit anfangen", erklärte Rick. Mehr sagte er nicht dazu.

Die Beiden betraten das Haus. Drinnen war es etwas staubig und ein wenig chaotisch, aber im Großen und Ganzen sehr gemütlich. Mamoru hatte kaum Zeit, sich die Einrichtung groß anzusehen. Er wurde durch das Wohnzimmer hindurch, den Flur entlang bis in eine recht große Küche geschoben, wo eine Frau gerade Essen kochte. Im ersten Moment sah Mamoru nur ihren Rücken, über den langes, rotes Haar wallte, das einen leichten honigfarbenen Schimmer hatte.

"Mommy?", fragte Rick und die Frau drehte sich überrascht zu ihm um, obwohl das Getrampel und insbesondere Ricks klirrende Sporen an seinen Stiefeln auf dem Weg hier her eigentlich kaum zu überhören gewesen sein konnten.

Die Frau war sehr hübsch. Sie war vielleicht Anfang Vierzig. Einige Fältchen in ihrem Gesicht und der Blick aus ihren grünen, irgendwie traurigen Augen zeigten klar, dass sie es in ihrem Leben nicht unbedingt immer leicht gehabt hatte. Dennoch war da eine ungezügelte Lebenskraft, die in ihrem Lächeln verborgen lag und sich in ihren Blick eingebrannt hatte. Sie war dünn, man konnte sie fast schon als hager bezeichnen. Die Gesichtszüge waren hart und markant; das einzige, was das Ganze dann doch noch ein wenig abrundete, war die kleine, zierliche Nase in ihrem Gesicht.

"Freddy, Schätzchen, Du hast Besuch mitgebracht?"

"Nenn mich nicht Freddy und nenn mich nicht Schätzchen", knurrte Frederick. "Und det hier is der Kleene, von dem ich Dir gestern erzählt hab."

"Nenn mich nicht Kleiner", grinste der Herr der Erde. "Mein Name ist Mamoru, freut mich sehr, Misses Taylor." Er und die Frau gaben sich die Hand.

"Du kannst mich Mary nennen", stellte Freddys und Tonys Mommy sich vor. "Möchtest Du gern zum Abendessen bleiben?"

Eine Sekunde lang dachte Mamoru darüber nach. Er hatte die Wahl zwischen einem einsamen Essen, das mit viel Arbeit verbunden war und der höchstwahrscheinlich leckeren Kost dieser netten Dame in der Gesellschaft seiner neuen Freunde. Wenn er die Einladung annehmen würde, und Kioku fände heraus, dass er sich um seine Arbeit drückte, dann würde sie ihn mit Freuden einen Kopf kürzer machen.

Und er war doch schon so kurz.

"Vielen Dank für die freundliche Einladung, aber..."

"Er bleibt gern", beendete Rick den Satz grinsend.

"Aber ich..."

"Zu spät. Jetzt kannstes Dir nimmer anders überlegen, Kleener."

"Aber ich hab doch gar nicht..."

"Hau dem 'n ordentliches Stück Fleisch in de Pfanne, Mommy. Und wir hauen jetzt ab, ham noch wat zu erledigen. Bis nachher!"

Damit schob Rick Mamoru wieder nach draußen.

"Was sollte das?", zischte der Herr der Erde. "Ich darf ja wohl noch selbst entscheiden, was ich tue und was nicht!"

"Shit happens", antwortete der Cowboy.

<Scheiße passiert.>

"Why does shit always happen to me?", replizierte darauf der Herr der Erde spitz.

<Warum passiert diese Scheiße immer nur mir?>

Rick lachte darauf amüsiert.

"Kleener", sagte er, "ich glaub, wir zwei werden noch prima Freunde!"

Er bugsierte Mamoru nach draußen, wo sich inzwischen Tony und Fala vor das Haus gesetzt hatten und Rick nun mit erwartungsvollen Blicken ansahen.

"Ist es jetzt soweit?", fragte Tony, und eine gewisse Spannung schwang in ihrer Stimme mit.

"Jepp", antwortete Rick, "es is soweit."

"Was ist wie weit?", fragte Mamoru skeptisch. Irgendwie spürte er, was auch immer jetzt kommen mochte, es würde ihm nicht gefallen.

Rick, der ihm ein paar Schritte voraus gelaufen war, blieb nun stehen, drehte sich um und legte seine Hände auf Mamorus Schultern.

"Du erinnerst Dich an vorhin, Kleener? Die Sache mit links oder rechts?"

"Ich heiße Mamoru. Und klar erinnere ich mich. Was weiter?"

Rick grinste. "Jetzt kommt rechts. Folge mir."

Er stapfte breitbeinig und mit klirrenden Sporen voraus, Mamoru hinterdrein, und in kurzem Abstand folgten auch Tony und Fala, die vom Boden aufgestanden waren. Tony grinste von einem Ohr zum andren. Gemeinsam gingen die vier in den Stall. Rick führte den jungen Herrn der Erde die Stallgasse entlang bis zu einer Box etwa in der Mitte.

Und mit den Worten "Guck, da!" zeigte er in die Box hinein, wo ein kleineres Pferd drin stand. Das Fell war irgendwie beigefarben, Mähne und Schweif waren weißblond. Um den Hals des Tieres war eine fette blaue Schleife gebunden. Das Pferd hob den Kopf an, richtete seine Ohren nach vorne und schnaubte leise.

"Ähm", machte Mamoru mangels eines besseren Kommentars. "Das ist ... ein Pferd."

"Um genau zu sein", führte Rick aus, "isser mit seiner Größe von nem Meter zweiundvierzig kein Pferd, sondern 'n Pony, obwohl er von den Proportionen her eher als Pferd angesehen werden könnte. Er ist ein Galiceno. Sein Name lautet Hyperion und er is'n Wallach."

"...ein...", stammelte Mamoru fragend.

"Ein kastrierter Hengst", antwortete Tony wie aus der Pistole geschossen. "Das macht ihn ruhiger im Vergleich zu anderen Hengsten."

"Der Arme", murmelte er.

"War mir klar, dass Du das so siehst", antwortete Antonia grinsend.

"Geh doch mal zu ihm", bot Rick an und öffnete die Box einen Spalt breit.

Mamoru zögerte.

Aber nur ganz kurz.

Dann trat er zu dem Falben in die Box. Er klopfte Hyperions Hals und fuhr ihm mit der Hand über die warmen, weichen Nüstern.

"Was soll die Schleife an seinem Hals?", fragte er.

Die beiden Taylors grinsten bis zum äußersten Anschlag und selbst Fala schmunzelte ein wenig. Sie war es schließlich, die ihm erklärte:

"Wir möchten gern, dass Du Hyperion reitest."

Es vergingen einige Sekunden.

Sekunden, in denen Ricks Grinsen - oh, Wunder! - sogar noch etwas breiter wurde.

Und dann brachte Mamoru schließlich hervor:

"Ich?"

Allgemeines Nicken antwortete.

"Aber ... ich kann doch ... gar nicht..."

"Deswegen bring ich's Dir heut bei, Kleener."

Mit diesen Worten stieß Rick das Tor der Box ganz auf. Dann griff er nach dem Gebilde am Kopf des Pferdes, das aus mehreren Schlaufen aus anscheinend extrem solidem Stoff bestand.

"Det hier nennt man Halfter", erklärte er. "So was trägt 'n Pferd, solang es in der Box steht. Zum einen isses gemütlich für det Tier, zum andren hat der Mensch wat zum Festhalten, wenn's drauf ankommt. Hier, halt ma'."

Mamoru gehorchte und Rick ließ das Halfter los.

"So, Kleener, und nu lauf einfach mal raus. Hyperion wird Dir schon folgen."

Gesagt, getan. Es war viel einfacher, als Mamoru zunächst befürchtet hatte. Er führte das Pferd zur Stallgasse raus und dann nach draußen vor den Stall, wo einige sehr dicke Seile mit eisernen Haken an der Hauswand befestigt waren. Rick trottete ihm gutgelaunt nach und Fala suchte sich bald wieder ein gemütliches Plätzchen etwas abseits, wo sie sich niederließ.

Und während Rick Mamoru zeigte, wie der das Pferd richtig an einem der Seile festzumachen hatte, führte Tony Elvis nach draußen und band ihn ein Stück neben Hyperion fest. Dann setzte sie sich auch neben Fala.

"Okay, Kleener", meinte Rick und entfernte zunächst einmal die Schleife vom Hals des Pferdes. Dass der Herr der Erde wieder einwarf, sein Name sei Mamoru, überhörte er geflissentlich. "Nu könn wer mit'm Unterricht anfangen, wa? Also, ma' sehn. Det Ganze nennt sich <Pferd>. ...Oder <Gaul> ... manchmal auch <oller Klepper>, aber det tut hier jetzt nich zur Sache..."

"Rick", meinte Mamoru in versöhnlichem Ton und klopfte seinem Freund auf die Schulter, "wenn Du grad irgend ein Problem hast, dann sag das ruhig. Wir können über alles reden, wenn es Dir danach besser geht..."

Er erntete jubilierendes Lachen und frenetischen Applaus von den beiden Mädchen hinter ihm. Rick guckte einen Moment lang dumm aus der Wäsche, aber dann stimmte er in das Lachen der anderen mit ein.

"Willst nen Highspeed-Crashkurs, wa? Gut, dann komm wer nu also zu den interessanteren Teilen..."

Er zeigte Mamoru die verschiedenen Werkzeuge und Gegenstände, die beim Umgang mit Pferden wichtig sind. Er nannte die wichtigsten Begrifflichkeiten und zeigte, wie man sich um das Fell, die Hufe, und ganz allgemein um das Pferd kümmerte. Er machte es an seinem Elvis vor, und Mamoru tat es ihm an Hyperion gleich. Auf diese Weise wurden dem Quarter Horse und dem Galiceno Sattel und Trense angelegt. Elvis blieb allerdings noch für einige weitere Minuten festgebunden, während sich Mamoru schon in Hyperions Sattel schwang und lernte, die Länge der Steigbügel richtig einzustellen. Darauf folgten dann die endlosen Erklärungen, in welcher Haltung man zu sitzen hatte und welche Bewegungen seitens Mamoru was beim Pferd bewirkten.

Tony und Fala hockten daneben und sahen dem Treiben gespannt zu. Wo sie wohl anfangs das eine oder andere Missgeschick erwartet hatten, wurden sie schwer enttäuscht. Mamoru konnte Ricks Instruktionen so präzise befolgen, al hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als auf einem Pferd zu sitzen. Inzwischen waren die beiden Mädchen nur noch begeistert am staunen. Sie beobachteten das Ganze fast schon mit wissenschaftlichem Interesse. Doch im Gegensatz zu Tony, die immer mal wieder einen eigenen Kommentar abgab, blieb Fala die ganze Zeit über absolut still. Mamoru warf immer wieder kurze, prüfende Blicke in ihre Richtung. Die Art und Weise, wie sie ihn beobachtete war ... unbeschreiblich. Ihr Gesicht hatte den gleichen, taxierenden Ausdruck, wie ihre Krähe Apollo, die in den dorren Ästen eines nahe gelegenen Baumes saß und den Herrn der Erde nicht eine Sekunde aus den kleinen, intelligenten, schwarzen Augen ließ. Falas Verhalten erweckte in Mamoru fast den Eindruck, als würde sie ihn schon ewig kennen und etwas ganz Bestimmtes von ihm erwarten. Konnte das sein? Er spürte, wie ihm ein eiskalter Schauer den Rücken hinablief. Ihre Augen ... ihre pechschwarzen, großen Augen ... verdammt, wieso hatten sie so eine starke, magische Anziehungskraft auf ihn?

"Howdy", tönte ihnen eine Stimme entgegen. Gabriel kam angeschossen, mit Elly auf dem Rücken, Terra im Schlepptau und eine riesige Staubwolke hinter sich herziehend. Das Mädchen ritt einen großen Bogen um die anderen herum. Ihre Bewegungen auf dem großen, dunkelbraunen Pferd waren dabei sehr weich und graziös, fast als würde sie nicht wirklich im Sattel sitzen sondern eine Winzigkeit darüber hinwegschweben. Mamoru beobachtete sie fasziniert.

"Se kann reiten wie'n Engel, wa?", raunte Rick ihm grinsend zu, als hätte er den Blick des Herrn der Erde bemerkt und ein wenig überinterpretiert. Mamoru bekam darauf einen leicht rötlichen Schimmer auf den Wangen, ließ die Worte des Cowboys aber unkommentiert. In ihm ging nicht das vor, was Rick glauben mochte. Aber niemand hätte den jungen Amerikaner vom Gegenteil überzeugen können, das war klar.

Elyzabeth brachte ihren Peruanischen Paso aus dem vollen Galopp heraus zum Stehen und kurze Zeit waren alle Anwesenden in Staub eingehüllt, der unangenehm im Hals kratzte und zum Husten verlockte.

"Tut mir Leid", meinte Elly keuchend. "Ich habe wohl ein wenig übertrieben. Das nächste Mal bin ich vorsichtiger."

"Wenn mein Apollo Dich erwischt, wird es kein nächstes Mal geben", knurrte Fala so leise, dass Mamoru es gerade noch verstehen konnte. Elly allerdings schien es nicht mehr gehört zu haben.

"Hab ich was verpasst?", fragte sie und stieg von Gabriel ab. Ihr Wolf Terra hechelte mit heraushängender Zunge und hüpfte in der Gegend herum.

"Noch nich viel", erläuterte Rick. "Wer ham ja erst angefangen."

"Hey", zog Mamoru die Aufmerksamkeit des Cowboys auf sich, "willst Du aus meinem Reitunterricht ein Großereignis machen?"

"Det isses schon längst", grinste Rick.

Elyzabeth befestigte Gabriel an einem der Seile neben Elvis und hockte sich neben Tony auf den Boden. Sie lächelte selig. "Na, Rick, dann zeig mal, wie viel Potential Du als Lehrer so zu bieten hast."

So konnte der wirklich interessante Teil des Unterrichts losgehen. Die ersten paar Minuten verbrachte Mamoru im Prinzip damit, Hyperion einige Meter weit im Schritt gehen zu lassen und ihn dann wieder anzuhalten. Dann wieder ein paar Meter im Schritt und wieder anhalten. Gehen - anhalten - gehen - anhalten. Rick ließ ihm eine Menge Zeit, sich mit Hyperion anzufreunden. Er baute aus einigen Eimern einen kleinen Slalomkurs auf, oder er ließ den Herrn der Erde das Auf- und Absitzen üben, und er korrigierte hin und wieder Mamorus Haltung, wobei Tony lachend einwarf, Rick würde sich selbst nicht annährend daran halten, sondern immer so gemütlich auf seinem Elvis hocken wie auf einem Fernsehsessel.

Irgendwann traute Rick seinem Schüler dann auch das Traben, später sogar den Galopp zu. Er habe gar nicht erwartet, so viel Talent vorzufinden, gestand er Mamoru gegenüber anerkennend. Der Angesprochene grinste daraufhin wie ein Schneekönig. Er hätte selbst nie erwartet, ein solches Händchen für Pferde und fürs Reiten zu haben, aber dennoch war es so. Schon irgendwie eigenartig.

Praktisch als eine Art Abschluss machten Mamoru auf Hyperion, Rick auf Elvis und Elly auf Gabriel noch einen kurzen Abstecher in die Wildnis. Genaugenommen entfernten sie sich nur für eine Viertelstunde aus der unmittelbaren Nähe der Gebäude der Mustang-Ranch, aber für Mamoru war dies schon ein kleiner Riesenerfolg. Sie kamen pünktlich wieder auf den Hof zurück um Ricks Mutter Mary zu hören, die zum Abendessen rief. Doch zuvor musste <der Kleene> noch eine sehr wichtige Regel lernen:

Zuerst wird das Pferd versorgt, und dann der Reiter.
 


 

[Nachwort des Autors]
 

Tut mir ehrlich Leid, dass ich letzte Woche nichts abgeliefert habe, aber um die Weihnachtszeit hatte ich einfach wahnsinnig viel um die Ohren!

;] *zwinkaa*

Ich wünsche all meinen Lesern allerdings einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Schöne Grüße!
 

Draco

Irgendwie fühlte Mamoru sich so glücklich und zufrieden wie lange nicht mehr in seinem Leben. Zwar war er total verdreckt, verschwitzt, staubig und roch nach Pferd, aber es störte ihn kein bisschen. Im Gegenteil. Dafür, dass er erst seit kurzer Zeit hier her nach Texas gezogen war, ging es ihm wirklich klasse und er hatte sich wahnsinnig schnell eingelebt.

Er hatte immerhin gerade erst seine ersten Reitstunden gehabt, auf die er wahrlich stolz sein konnte. Nachdem er <sein> neues Pferd Hyperion versorgt hatte, war er mit seinen neuen Freunden im Haupthaus der Mustang-Ranch verschwunden, um ein deftiges Abendessen nach texanischer Art zu genießen. Ricks und Tonys Mutter Mary war eine hervorragende Köchin. Obwohl sich Mamoru insgeheim doch eher für seine Tante entschieden hätte, wenn es drauf angekommen wäre ... aber die verlangte ja nun von ihm, in Zukunft alles selbst zu machen...

Es wurde erzählt, es wurde gelacht, und vor allem wurde gegessen. Mamoru hätte nie erwarten können, dass eine einzige Mahlzeit so reichhaltig sein konnte. Pappsatt schob er den halbvollen Teller von sich und schaute zufrieden in die Runde. Kaum zu glauben, aber alle Andren konnten noch kräftig in sich rein schaufeln.

Mamoru fühlte sich so wohl. Tony, Rick, Fala, Elly, Mary, der Wolf Terra und selbst die Krähe Apollo, die am offenen Fenster auf dem Fensterbrett saß und ihn ohne Unterlass beobachtete, gaben Mamoru das Gefühl, er würde sie schon lange kennen und sie wären auf ewig beste Freunde. Nur ... irgendwas ... oder irgendwer ... fehlte...

Seit der Ankunft in Amerika vermisste Mamoru, auf Schritt und Tritt von dunklen Schatten und huschenden Bewegungen verfolgt zu werden. Wo mochte das Schattenwesen abgeblieben sein? Er hatte gedacht, es wolle ihm auch auf diesen Kontinent folgen?

Gedankenverloren stützte er seinen Kopf auf seiner Hand ab. Sein Blick landete genau in Falas unglaublich schwarzen Augen. Seit ihrer ersten Begegnung gestern im Stall war sie ihm nicht mehr so nahe gekommen. Und dort hatte das Licht der untergehenden Sonne nicht unbedingt dazu beigetragen, sie einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Doch selbst jetzt, auf die Nähe hin, und unter der hellen Lampe in der Küche, konnte er in diesem tiefen Schwarz keine Pupille ausmachen. Irgendwie fühlte er sich komisch, wenn er in ihre Augen sah. Es fiel ihm jedes Mal sehr schwer zu sagen, ob sie ihn nun ansah, oder an ihm vorbei schaute.
 

Anscheinend hatte der Herr der Erde noch nicht gemerkt, dass es sehr wohl noch in seiner Nähe war. Doch nun, wo es einen Körper aus Fleisch trug, konnte es sich unerkannt in der Welt der Menschen bewegen. Wahrlich, es wurde von diesen unwissenden Sterblichen wie einer der ihren angesehen. Es hatte die Erinnerung der Anderen ein wenig manipuliert. Sie glaubten nun, ihn schon länger zu kennen, als dies eigentlich der Wahrheit entsprach. Das Einzige, das ihn stutzig machte, war die Tatsache, dass es bei einigen Menschen sofort mit der Suggestion Erfolg hatte, und bei anderen fast seine ganze Energie verbraucht hatte, um sein Ziel zu erreichen.

Es hob seinen Blick vom Teller und versuchte, den Herrn der Erde unbemerkt zu beobachten. Dieser schien mit seinen Gedanken momentan ganz woanders zu sein. Doch woran immer er gerade denken mochte, es schien ihn glücklich zu machen. Und es freute sich mit ihm.

Es hatte nun also erfolgreich seine Aufgabe bewältigt, den Herrn der Erde nach Amerika zu bringen. Das hatte für ihn zwei große Vorteile: Der Herr der Erde war so vorerst aus Jedytes Einflussgebiet verschwunden, und der General aus dem Königreich des Dunklen würde Schwierigkeiten haben, ihn hier zu finden und sich für seine Niederlage zu rächen. Und außerdem konnte es sich nun auf seine Suche konzentrieren: die Suche nach dem Kristall, der seine Waffe ICTUS vervollkommnen würde. Es spürte, dass er hier irgendwo sein musste. Aber wo? Es schien, als käme die Energie, die ihm so vertraut war, nicht aus einem differenzierbaren Punkt, sondern sei mehr oder weniger allgegenwärtig. Die Macht dieses Kristalls war so groß, dass sie in weitem Umkreis gleichmäßig stark zu spüren war, und sich erst in weiter Ferne allmählich verlor. Aber er war hier! Soviel war sicher. Doch wo sollte es ihn suchen? Befand er sich im Besitz einer Person? Womöglich einer Person, die seine wahre Macht nicht kannte? Oder mochte das gute Stück irgendwo unter Tonnen von Sand begraben sein?

Hoffentlich nicht.

Allmählich drängte die Zeit. Es vermochte nicht zu sagen, wie lange es noch dauern mochte, bis die Feinde ihre Truppen beisammen hatten. Es wusste nur eines: Es musste nun mit doppelter Wachsamkeit bei der Sache sein. Es musste den Kristall finden und zur gleichen Zeit Acht geben, dass dem Herren der Erde nichts geschah. Und wenn die Suche zu lange dauerte, und es durch einen gewaltigen Energieverlust wieder an Materie verlieren sollte, dann konnte der Herr der Erde womöglich die einzige Rettung bedeuten. Seine Kraft konnte verhindern, dass es wieder in den Tiefen der zeitlosen Finsternis versank.

Beide waren auf einander angewiesen.

Nur wusste das die eine Seite noch nicht...

Einzig das Tier an seiner Seite konnte in stillen, einsamen Stunden Trost und Kraft spenden, denn das Tier war nicht so sehr von auswärtigen Energiequellen abhängig wie es. Auch das Tier würde eines Tages vor dem Herrn der Erde sein wahres Gesicht zeigen müssen. Doch - so glaubte es zumindest - dazu war der Herr der Erde noch nicht ganz bereit.

So hieß es also weiterhin hoffen, und suchen, und warten...
 

"Ey, Kleener! Fala!", grölte Rick plötzlich in die Runde. "Wo habt ihr zwo Hübschen eure Augen? Und ich sach noch, da ham sich zwo gesucht und gefunden, wa? Guckt ma', wie rot der wird! Putzig!" Er klopfte sich auf den Schenkel und lachte sich einen.

"Rick!", rief Mamoru aus. Ihn war das alles furchtbar peinlich. "Es ist nicht so wie Du denkst! Ich ... ich hab nur ... ich hab doch bloß ... ähm ... ich hab doch gar nichts gemacht! Ehrlich! Ich würde doch nie mit ihr ... ähm, ich meine ... nicht falsch verstehen, Fala, gell? Ich meine ja nur ... ich ... ich..."

Er hob abwehrend die Hände in die Höhe und wusste beim besten Willen nicht, wohin er schauen sollte. Irgendwann ließ er seine Hände wieder sinken und starrte betreten mit hochrotem Kopf zu Boden. Das amüsierte Rick umso mehr.

"Frederick!", schimpfte Mary. "Lass den armen Jungen doch in Ruhe!"

Mamoru lächelte sie dankbar an. "Ist schon gut."

"Gar nichts ist gut", fuhr sie fort. "Freddy! Lass ihn doch gucken, wohin er will!"

"Aber ich sag doch, ich hab gar nicht...", warf Mamoru ein.

"Das", so stellte Tony fest, "waren so irgendwie die falschen Worte, Mom."

Daraufhin redeten alle zur gleichen Zeit wild durcheinander. Einzig Fala und Elyzabeth hielten sich da fein raus.

Erst, als Apollo mit einem Krächzen seine pechschwarzen Flügel ausbreitete, sich in die Luft erhob und nur knapp über den Köpfen der Anwesenden hinwegflog, schließlich auf Falas Schulter landete und dort nochmals einen kurzen Schrei ausstieß, verstummten alle. Mit einem zufriedenen Lächeln kraulte die junge Indianerin ihr Tier im Nacken.

"Brav, Apollo. Warst auch der Ansicht, dass es zu laut geworden ist, was? Du bist hier der Einzige, der mich versteht."

Beeindruckt verfolgte Mamoru das Schauspiel. "Fala? Darf ich Dir mal eine Frage stellen?"

"Sicher!" Sie lächelte geheimnisvoll, als wüsste sie schon, was als nächstes kommen würde.

"Wie kommt man eigentlich zu einer zahmen Krähe?"

"Die Antwort ist ganz einfach", meinte sie ruhig. "Apollo kam zu mir."

"...Ehrlich?", fragte Mamoru verblüfft nach einer kurzen Pause. "Wie denn?"

Fala hatte wieder diesen ernsten Gesichtsausdruck, den Mamoru so oft an ihr sah. Als sei sie es nicht gewohnt, zu lächeln.

Als sei sie es nicht gewohnt, einfach glücklich zu sein...

"Er kam angeflogen und landete neben mir. Er sah mich aus seinen schönen, schwarzen Augen an, und ich erwiderte seinen Blick. Dann gab ich ihm etwas Brot. Und seitdem weicht er nicht mehr von meiner Seite. Ich kann es nicht erklären. Es ist fast, als seien wir unser Leben lang auf der Suche nach einander gewesen. Die Krähen waren von jeher meine Schutztiere. Man nannte mich Fala, <Die Krähe>. Es soll wohl mein Schicksal sein, meinen Weg Seite an Seite mit diesen Tieren zu gehen."

"Eine schöne Geschichte", meinte Mamoru lächelnd und stützte seinen Kopf in seine Hände.

"Sie ist wahr", sagte Fala mit Nachdruck.

"Ich glaube Dir ja!", antwortete er. "Und wie ist das bei Dir und Terra gewesen, Elyzabeth?"

Elly lächelte sanft. Sie zwinkerte ihn an und erzählte mit monotoner Stimme:

"Er kam angeflogen, landete neben mir und schaute mich an..."

Tony kicherte vergnügt und Rick lachte hemmungslos.

"Ja, klar doch!", meinte er.

Fala warf Elyzabeth nur einen bösen Blick zu, sagte aber kein Wort.

"Aber es war so", beharrte Elyzabeth. Sie lachte kurz auf. Dann wurde sie ebenso ernst wie Fala es gerade noch gewesen war. Eigentlich - so fand Mamoru - waren sich die beiden doch ziemlich ähnlich. Er verstand nicht so recht, warum die beiden nicht mit einander auskamen.

"Hey, jetzt erzähl ma' richtig", forderte Rick. "Ich weiß nämlich auch noch nich, wie det zustande gekommen is."

Elly nickte ruhig.

"Terra kam tatsächlich angeflogen. Oder eher angefallen. Er war auf einem Felsen herumgeklettert. Ich schätze, er ist abgerutscht. Jedenfalls landete er schwer verletzt zu meinen Füßen. Ich habe ihn versorgt und mich um ihn gekümmert. Er hat sich mir gegenüber auch gar nicht feindlich benommen. Ich glaube eher, er hatte mehr Angst vor mir als ich vor ihm. Als er wieder laufen konnte, ist er erst mal auf Abstand gegangen. Doch allmählich hat er sich mehr und mehr an mich heran getraut. So sind wir nach und nach zu Freunden geworden. Ich weiß nicht, was mit seinem Rudel war. Jedenfalls bin ja ich jetzt für ihn da. Gell, Süßer?"

Terra lag neben dem Tisch und schaute sie aus großen, dunklen Augen an. Dann gähnte er und legte seinen Kopf auf seine Pfoten.

"Er weiß det bloß nich zu schätzen, wa?", lachte Rick.

"Sieht so aus", murmelte sie bestätigend. Dann stützte sie ihre Ellenbogen auf dem Tisch auf. "Leute, was machen wir heute noch? Ich persönlich würd ja Orendaham vorschlagen. Wir könnten schön unsren Spaß haben. Was meint ihr?"

Darauf warf Tony ein:

"Ja, ich hab gehört, da hat was Neues aufgemacht. Ich glaub, ne Bar oder weiß-der-Kuckuck-was. Der Name lautet <Tenebrae>. Also, es würde mich ja schon reizen, da mal nen Blick reinzuwerfen. Wollen wir?"

"Tenebrae...", murmelte Fala nachdenklich und fuhr dabei mit den Fingern sanft über Apollos Gefieder. "Der Name kommt mir eigenartig vor..."

"Wieso eigenartig?", fragte Rick nach.

Mamoru antwortete an ihrer statt:

"Das Wort <Tenebrae> stammt aus dem Lateinischen und bedeutet soviel wie <Dunkelheit, Finsternis, Düsternis>, oder auch <Dämmerung, Nacht, Blindheit, dunkler Ort, Unklarheit> und all so was."

Die anderen warfen sich alarmierte Blicke zu. Plötzlich lag eine Spannung in der Luft, als würden die Anwesenden etwas wissen, das Mamoru nicht wusste. Als würden sie in diese Übersetzung etwas Ungeahntes hineininterpretieren können.

"Dunkelheit?", fragte Tony mit finstrem Gesichtsausdruck nach. "Was meint ihr, Leute, könnte das bedeuten, dass ... na, ihr wisst schon."

"Du meinst...?", fing Fala einen Satz an, warf dann einen flüchtigen Blick auf Mamoru und biss sich dann auf die Lippe.

"Ihr wisst, was ich meine?", fragte Tony und sah in die Runde.

"Jepp", antwortete Rick mit einem Nicken. "Ich weiß, wasde meinst. Deine Befürchtung is ... dieser Ort ... is'n Puff."

Fala und Tony klatschten sich zur gleichen Zeit seufzend gegen die Stirn.

"Hoffnungslos", sagten sie im Duett.

"Tschuldigung", meldete sich Mamoru zu Wort, "aber was soll es sonst sein?"

"MÄNNER!", antworteten die beiden jungen Frauen zugleich in herablassendem Ton.

"Ja ... WAS DENN SONST??? Ein Totengräber? Eine Firma für Sonnenschirme? Oder für Rollläden? Oder ein Laden, wo man Tinte kaufen kann? Oder Sonnenbrillen? Oder Vampirartikel? ...Dunkelheit ... was kann man damit noch assoziieren? Vielleicht ne Dunkelkammer, wo man Fotos entwickelt?"

Mamoru schaute nachdenklich drein.

"Also...", meinte Tony staunend, "Fantasie hast Du ja..."

Dann wandte sie sich Fala wieder zu. "Sicher, dass Du ein mieses Gefühl bei der Sache hast? Wie macht sich das bemerkbar? Kannst Du das mal etwas näher beschreiben?"

"Ähm", machte Mamoru, "was ist los?"

Rick erklärte es ihm:

"Manchma' kann Fala ... nu ja ... die Zukunft ... im Voraus erahnen. Wenn se meint, det se 'n mieses Gefühl hat, dann kann's sein, wer komm' hin und einer rutscht aus und landet aufer Fresse, wa?"

Darauf schenkte Tony ihm ein zuckersüßes Lächeln. "Brüderchen, Du kannst Dich ja so gewählt ausdrücken!"

Rick grinste. Dann zog er einen Kaugummi aus seiner Hosentasche, entfernte das Papierchen und steckte sich die Süßigkeit in den Mund.

"Nun ja", so meldete sich Fala endlich wieder zu Wort, "so ganz sicher bin ich mir da auch nicht. Es ist nur ... ich gebe es ungern zu, aber es ist wie Rick gesagt hat. Kann sein, es ist nur was Banales. Kann aber auch sein, da wird was Großartiges noch kommen. Und ob es großartig gut oder großartig schlecht ist, weiß ich nicht. Es muss auch nicht unbedingt sein, dass es heute der Fall ist. Vielleicht nächste Woche. Vielleicht nächsten Monat. Oder vielleicht nächste Stunde, wer weiß das schon? Aber ... ich kann es nicht erklären ... allein der Name macht mich schon nervös. Auch ohne die Übersetzung zu kennen wäre ich misstrauisch."

"Wat schlägste also vor?", erkundigte sich Rick kaugummikauend.

Fala dachte kurz nach. "Ich sage, wir reiten hin und sehen uns die Sache mal aus der Nähe an. Wenn's gefährlich wird, hauen wir ab."

"...falls wer dann noch abhau'n können, wa?", warf Rick ein. Trotzdem war er derjenige, der zuerst aufstand. Er streckte sich, bis seine Gelenke knackten. Dann sagte er:

"Okay, Leute. Wer nich wagt, der nich gewinnt, wa? Kleener, Du kommst mit."

"Und wann soll ich, Deiner Meinung nach, wieder zu Hause erscheinen?", fragte Mamoru in skeptischem Ton nach.

Rick zwinkerte ihm zu. "Ich kann mich erinnern an irgend wat von wegen <eigenes Zuhause> und <Selbstständigkeit> oder so. Deine Alten müssen lernen, dassde allmählich erwachsen wirst und nu ma' jetzt anfängst, inner Gegend herumzuziehen, wa? Also mach Dir ma' keinen Kopf, Kleener. Wenn wat is, ich steh grade."

"Ob Du dafür grade stehst oder nicht, wird meiner Tante recht egal sein. Und mein Name ist immer noch Mamoru..."

"Dann zieh doch hier ein", bot der Cowboy an.

Erst herrschte Stille im Raum. Alle, wirklich alle starrten Rick aus großen Augen an.

"Meinst Du das ernst?", fragte der Herr der Erde.

"Absolut", meinte Rick. "Platz is jedenfalls da."

Mamoru seufzte nachdenklich. Schließlich antwortete er:

"Ich bin eigentlich ganz froh, dass ich den Umzugsstress endlich hinter mir hab. Und ich weiß nicht so recht, ob das nicht vielleicht ne Nummer zu groß für mich ist, hier in so 'ne Art Riesen-WG einzuziehen. Danke für das Angebot, aber ... vielleicht später einmal, ja?"

Mamoru lächelte ihn dankbar an.

"Na gut", meinte Rick nickend. "Ich erinner Dich nochma' dran, wa? Okay, Leute. Dann würd ich ma' sagen: Schwingen wer uns in die Sättel!"

"YEAH!", grölten alle als Antwort. "AUF GEHT'S!"

"Aber zuerst", warf Tony ein, "geh ich noch aufs Klo."

"Ich geh mir die Haare kämmen", verkündete Elly.

"Ich muss Apollo noch schnell füttern", erklärte Fala.

"Und ich geh mir ne andere Unterhose anziehen", meinte Rick.

Alle starrten ihn an.

Er zuckte mit den Schultern und zwinkerte.

"Vielleicht isses ja doch 'n Puff! Dann kann ich ja da nich erscheinen wie's letzte Dreckschwein!"

"...Also ... Freddy ... wirklich! ...Schäm Dich!", sagte Mary augenrollend.

Nein, Freddy schämte sich nicht. Er lachte bloß. Und Mamoru kam nicht umhin, mit ihm zu lachen. Und bald stimmte jeder ein.

Rick meinte noch zu Mamoru:

"Geh schon mal in den Stall und bereite Deinen Hyperion vor. Wir kommen dann nach."

Und damit verschwanden alle in verschiedene Richtungen. Einzig Mary blieb kopfschüttelnd zurück und wandte sich seufzend dem Abwasch zu.

"Was hab ich da in die Welt gesetzt?", stöhnte sie leise.

Doch das hörte schon keiner mehr.
 

Das Geschöpf, nicht Mensch, noch Gott, aber den Menschen nicht unähnlich, trat eilig aus der Welt der Menschen. Das schwarze Gewand flatterte um die Beine dieses außergewöhnlichen Wesens. Raschen Schrittes lief die Person durch uralte Ruinen, weitaus älter als die Menschheit selbst. Zerbröckelte Mauern aus weißem Marmor säumten die Straßen, ebenso wie verfallene Tempel, Säulen, Häuser und Statuetten. Diese uralte Stadt des gefallenen Reiches lebte schon lange nicht mehr. Seit dem großen Krieg war alles hier der Verwüstung anheim gefallen. Nur wenige Gebäude waren noch als das zu erkennen, was sie einst gewesen waren.

Nur ein Bereich dieser gigantischen, uralten Stadt war einigermaßen intakt geblieben. Im Zentrum dieses magisch geschützten Areals stand der gigantische, schwarze Palast aus Obsidian, der einst, vor langer Zeit, das Zentrum der Welt gewesen war. Hoch oben, auf dem höchsten Turm, war aus weißem Marmor, der aus dem ganzen Schwarz deutlich herausstach, das alte, königliche Wappen eingelassen:

Das Symbol der Erde.

Ein gleichförmiges Kreuz, dessen abwärts weisender Balken am unteren Ende mit einem Kreis verbunden war, der wiederum die gleiche Größe wie das Kreuz hatte.

Doch das Geschöpf richtete die Schritte nicht auf diesen alten Palast zu, sondern drehte kurz zuvor ab und kam schließlich zu einem großen Tempel ganz in der Nähe des Palastes. Über dem Eingang des Gebäudes war eine große, runde Sonne aus Gold angebracht, deren ebenfalls goldene Strahlen in alle Richtungen rings um das metallisch glänzende Rund herum wiesen.

Das Wesen betrat den Tempel mit schwer keuchendem Atem. Im Inneren des Gebäudes, vor einem langen, weißen Obelisken, kniete ein junger Mann. Seine Haare waren ebenso weiß wie der Marmor, aus dem der Tempel bestand. Auch die Uniform des Mannes war von weißer Farbe. Schon bald erhob er sich aus seiner knienden Haltung und drehte sich zu der Person in Schwarz um. Er lächelte ein wenig. Doch er tat es auf eine Art und Weise, die deutlich zeigte, dass er große Kenntnis vom Bösen und von etlichen uralten Geheimnissen dieser Welt besaß, und sich große Sorgen machte wegen all dem, was noch kommen mochte.

"Du bist zurück gekehrt", stellte er fest. "Du warst lange nicht mehr hier."

Er und das Wesen umarmten sich.

"Ich kann auch nicht lange bleiben", gestand die Person, die nun die Kapuze ihres weiten, schwarzen Gewandes zurückschlug. "Die Menschen werden sich bald fragen, wo ich bleibe."

Die Mänaden, die wunderschönen, treuen Dienerinnen dieses geheiligten Ortes, die sich bislang noch im Verborgenen gehalten hatten, traten nun heran und grüßten das Geschöpf untertänig. Dann brachte eine von ihnen einen goldenen Kelch mit süßem Nektar und überreichte ihn der in Schwarz gehüllten Person. Diese nahm dankend an und trank einige Schlucke.

Derweil verschwand das Lächeln wieder aus dem Gesicht des Mannes und tiefe Falten der Sorge traten auf seine Stirn.

"Hast Du ihn gefunden?", fragte er.

Das Geschöpf nahm den Becher von den Lippen und schüttelte den Kopf. Dann hielt es inne und zog die Augenbrauen zusammen. Es zuckte mit den Schultern, sagte "vielleicht", und trank weiter.

"Vielleicht?", der Mann hob skeptisch eine Augenbraue an. "Du weißt, dass das hier kein Spiel ist, Eos. Bleib bitte ernsthaft. Hast Du ihn gefunden oder nicht?"

"Ich bin mir noch nicht ganz sicher", antwortete die Person, die mit dem Namen Eos angesprochen worden ist. "Ich muss es ganz genau wissen. Ich will ... ich kann nicht riskieren, mich zu irren."

"Der Kristall?", fragte der Mann nach.

"Reagiert nicht auf ihn", antwortete Eos. Sie gab den leeren Becher wieder zurück, und die Mänade verschwand damit. "Aber das muss nichts heißen. Wir können nicht sicher sein, dass das <Herz der Erde> ein Indikator dafür ist, dass ich ein Mitglied der alten Königsfamilie vor mir habe. Es war nur eine Idee. Wer garantiert, dass es auf diese Weise klappt? ...Aber ich habe immerhin ein eigenartiges Gefühl..."

Der Mann nickte verstehend.

"Wir sollten uns beeilen, und unseren Prinzen bald finden", antwortete er. "Allmählich wird der Feind übermächtig. Ich befürchte, wir werden nicht mehr genug Zeit finden, all unsre alten Truppen wieder zu erwecken, ehe die erste Großoffensive unserer Gegner gestartet wird."

Er legte seine Hand auf den weißen Obelisken, vor dem er gerade noch gekniet hatte.

"Ich werde weiterhin hier am Gebetsturm bleiben. Wir brauchen jetzt jeden Beistand, den wir kriegen können. Du, Eos, musst zurück in die Welt der Menschen. Finde heraus, ob der Junge, den Du gefunden hast, der Auserwählte ist. Finde ihn und erwecke ihn."

"Ich werde mein Bestes tun", antwortete Eos leise. Sie wandte den Blick ab und seufzte betrübt.

Der Mann kam ihr einen Schritt näher und legte tröstend seine Arme um sie.

"Ich weiß, dass es schwer für Dich ist", sagte er. "Ich verlange sehr viel von Dir. Ich verlange, dass Du Deinem Schicksal entgegen trittst ... und Du kennst Dein Schicksal bereits. ...Es tut mir so Leid für Dich..."

"Oh, Helios", schluchzte sie, "mein Bruder!"

Doch sie nahm sich zusammen, so gut sie es nur konnte. Sie wischte sich hastig durch die Augen und versuchte, tapfer zu lächeln.

"Ich tue es für die Rettung der Welt", flüsterte sie. "Und für unseren Prinzen. Und für unser geliebtes, altes Reich Elysion."

"So ist es gut", ermutigte sie Helios. "Steig auf den Pegasus, er trägt Dich zurück in die Welt der Menschen. Er wartet bereits draußen auf Dich. Ich werde für Dich beten. Und ich werde dafür beten, dass Du den Herren der Erde bald finden wirst. Ich bin sicher, Du wirst ihn erkennen. Du wirst seine Macht spüren, wenn er sie einsetzt. Und jetzt geh. Und hüte den Kristall! Wir wissen nicht, wer alles danach strebt, ihn in seinen Besitz zu bringen!"

"Ich werde wachsam sein, ich verspreche es!"

Damit verabschiedete sich Eos von ihrem Bruder. Helios sah ihr nach, bis sie aus dem Tempel verschwunden war. Dann kniete er wieder vor dem weißen, marmornen Obelisken nieder und betete.

Eos trat aus dem Sonnentempel und sah den Pegasus auf der Straße stehen. Das weiße Pferd mit den gefiederten, weißen Flügeln und dem golden schimmernden Horn auf der Stirn sah ihr bereits geduldig entgegen.

Eos trat zu ihm, fuhr ihm sanft über das weiche Fell und flüsterte:

"Du, treuer Pegasus, wirst Dein Schicksal bald mit dem meines Bruders verbinden müssen. Doch das darf ich ihm noch nicht sagen. Niemand sollte zu viel von seiner Zukunft wissen. Nur mir wird manchmal dank des Lichts der Sonne ein kleines Stück der Zukunft erhellt. Denn ich bin Eos, die Tochter des Sonnenkönigs Sol, Priesterin der Sonne, Herrin über die Sonnenfinsternis, über die Schatten und über die schwarze Seite des Lichtes. Ich bin die Hüterin über all das, über das mein Bruder Helios, als die weiße Seite des Lichtes, nicht wachen kann. Ich bin nicht Mensch, noch Gott, und doch heilig."

Damit schwang sie sich auf den Rücken des sagenumwobenen Wesens und flog auf ihm davon, über das alte, zerstörte Atlantis hinweg, das einst die prachtvolle Hauptstadt der Welt Elysion gewesen war, bis in die Welt der Menschen hinein.
 

Als die anderen endlich in den Stall kamen, war Mamoru gerade damit beschäftigt, seinem Galiceno Hyperion die Trense anzulegen.

"Howdy!", grüßte er. Für die Anderen war das wie das Kommando zum Loslachen.

"Kleener", grölte Rick lauthals, "Du wirst eines Tages noch 'n richtiger Cowboy werden, ich seh's schon kommen. Allerdings..."

Er kratzte sich an seinem stoppeligen Kinn.

"...was Dir noch fehlt, is det passende Outfit. Du brauchst 'n Hut und 'n Paar Stiefel samt Sporen, und dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus, wa?"

"Dafür bräuchte ich aber eine gewaltige finanzielle Subvention", überlegte Mamoru schmunzelnd.

"Ich mach Dir det Angebot gern nochma', Kleener", meinte Rick grinsend. "Zieh hier aufe Ranch, dann kannste hier auch arbeiten. Und ich muss Dich nich dauernd morgens holen und abends wieder abliefern."

"Nett gemeint, Rick, aber gönn mir noch etwas Zeit zum Nachdenken, ja? Bitte."

Damit wandte sich Mamoru wieder dem Pferd zu und schloss die Schnallen an den ledernen Riemen des Zaumzeugs.

Er führte Hyperion nach draußen, stieg auf und gewöhnte sich allmählich wieder an den Sattel, während er darauf wartete, dass die Anderen ihre Pferde sattelten. Irgendwie fühlte es sich für ihn schon recht eigenartig an, auf einem Pferd zu sitzen. Es war ein Gefühl bislang ungeahnter Geborgenheit und Vertrautheit.

Nach und nach traten seine Freunde aus dem Stall: Erst Fala mit Nolcha, dann Elly mit Gabriel, dann Tony mit Diablo, und zum Schluss Rick mit Elvis. Gemeinsam ritten sie dann vom Gut, der Kleinstadt Orendaham entgegen. Terra und Apollo blieben ausnahmsweise auf der Ranch zurück.

"Wir sind wie die Musketiere!", stellte Tony fest. "Nur halt zu fünft ... und ohne Degen!"

Darauf fügte Elyzabeth bissig hinzu:

"Und ohne Zusammenhalt ... gell, Fala?"

Die Indianerin strafte sie mit einer bitterbösen Miene, gab allerdings keinen Kommentar ab.

"Hey, ihr Beiden, kein Streit!", ging Mamoru sofort dazwischen.

Elyzabeth und Fala sahen ihn an. Fala schaute zu ihm rüber, als sei sie überrascht und wolle sein nächstes Handeln abwarten; als hätte sie nicht erwartet, von ihm verteidigt zu werden. Doch Elly ... Elly bedachte ihn mit einem Blick, den der junge Herr der Erde beim besten Willen nicht zu deuten wusste. So etwas wie ... maßlose Enttäuschung? ... darüber, dass er auf Falas Seite stand. Ihr trauriger Blick bohrte sich in Bruchteilen einer Sekunde tief in sein Herz und hinterließ eine Reue, als habe er einen jahrelangen Freund geschlagen. Es tat ihm mit einem Male unendlich Leid.

Elly wandte dann ihren Kopf wieder nach vorne und trieb ihren Peruanischen Paso etwas stärker zur Eile. Den Rest des Weges ritt sie einige Dutzend Meter vor der Gruppe. Mamoru wäre gern zu ihr aufgeschlossen, um mit ihr zu reden, aber er hielt es im Moment für besser, wenn sie mal ihre Ruhe hatte.

Schlussendlich also erreichten sie Orendaham und somit auch ihr eigentliches Ziel: die neu eröffnete Bar mit dem etwas außergewöhnlichen Namen <Tenebrae>.

Elyzabeth war bereits abgestiegen. Sie stand annährend reglos vor dem steinernen Gebäude und musterte es ohne jegliche Gefühlsregung auf dem Gesicht. Fast wie zur Statue erstarrt stand sie da im Halbdunkel des zu Ende gehenden Tages. Mamoru liefen bei diesem Anblick eiskalte Schauer den Rücken runter. Es war fast so, als stünde dort ein Feldherr, der sich ehrfürchtig das Schlachtfeld ansieht, ehe es am nächsten Tag um den großen Kampf zwischen Leben und Tod ginge.

<Meine Fresse, was red ich da? Ist doch bloß ne Bar!>, dachte Mamoru so bei sich und schüttelte leicht den Kopf, um seine Gedanken wieder unter Kontrolle zu bringen. <Immerhin>, so dachte er weiter, <scheint sie sich wieder gefangen zu haben. Sie ist jetzt bestimmt nicht mehr sauer.>

Er und die Anderen stiegen von den Pferden ab und banden die Zügel an einer eisernen Halterung fest, an der auch eine Tränke für die Tiere bereit stand.

Dann betraten sie gemeinsam die <Tenebrae>.

Jaspisyte hörte aus dem Eingangsbereich ein Geräusch. Das Stampfen von Schritten und das leise Klirren von Sporen. Konnte es etwa sein, dass...

Er fingerte etwas an seinem Anzug herum und zupfte sich die lange, dicke, schwarze Haarsträhne in seinem Gesicht zurecht. Kaum zu glauben, endlich Gäste! Womöglich bedeutete das ein gutes Zeichen für die Tenebrae!

Er und sein Partner Amethysyte haben lange Zeit damit zugebracht, sämtliche Gebrauchsgegenstände der Bar mit den winzigen, energiesaugenden Kristallen auszustatten, und nun war diese Arbeit endlich getan. Jaspisyte hatte schon Angst, sich langweilen zu müssen. Doch wenn das Geschäft jetzt zu laufen beginnen würde, konnte er sich auf jede Menge Arbeit gefasst machen.

Allein die Idee machte ihm Spaß. So konnte er die Menschen dieser Welt beobachten. Vielleicht konnte er so wieder ein paar Geschichten hören!

Diese eigenartige Rasse der gewöhnlichen, sterblichen Menschen fesselte ihn! Er war fasziniert von ihren Eigenheiten und von ihrer Art und Weise, mit einander umzugehen. Unter Umständen, so hoffte er zumindest, konnte er hier wertvolle Dinge lernen, und sie an die andren Soldaten aus dem Königreich des Dunklen weitergeben! Schon so lange träumte er davon, in seinem Zuhause in einer angenehmeren Atmosphäre zu leben, wo man sich nicht gegenseitig betrog und belog!

Neugierig und mit einem strahlenden Lächeln sah er seinen Gästen entgegen. Fünf junge Leute, auf dem Weg, erwachsen zu werden. Jaspisytes erster Kontakt zu Menschen seit Langem. Er war aufgeregt.

Er lief zu ihnen hin und nickte ihnen zu. Jetzt musste er sich nur noch daran erinnern, was er alles sagen musste. Amethysyte hatte ihm eingeschärft, auf seine Worte zu achten. Das war wichtig, um nicht sofort am ersten Tag hier in der Welt der Menschen aufzufliegen. Er würde es sich nicht verzeihen können, wenn das Königreich des Dunklen wegen seiner Schusseligkeit wieder auf die Tenebrae verzichten müsste. Also atmete er tief ein und ratterte den Text runter, den Amethysyte ihm eingetrichtert hatte:

"Hallo! Guten Abend und herzlich willkommen in der Tenebrae! Mein Name ist Jan Smith. Ich werde heute Abend Ihr Kellner sein. Einen Tisch für fünf Personen? Wenn Sie mir bitte folgen wollen..."

Er führte sie an einen freien Tisch, der sechs Leuten Platz geboten hätte. Er wartete geduldig, bis seine Gäste sich gesetzt hatten und fragte dann höflich:

"Darf ich Ihnen die Karte anbieten?"

Es antwortete ihm ein großer Kerl, anscheinend der Älteste unter den Anwesenden:

"Nee, Du. Ich denk, wir wissen alle, wat wer zu trinken ham woll'n, wa?"

"Schön! Was darf ich Ihnen also bringen?"

"Bier."

"Bier."

"Bier."

"Bier."

"Cola."

Eine Sekunde lang war Jaspisyte verwirrt. Eigentlich war dies ein etwas gehobeneres Etablissement, eine Bar, die in erster Linie vom Verkauf von Cocktails und Speisen lebte, so zumindest die Grundidee. Nichtsdestotrotz nickte er dann seinen Gästen zu und verschwand kurz darauf in der Küche. Das eigentliche Ziel war ja nicht das Geld, sondern die Energie dieser Menschen.

"Amethysyte!", flüsterte er aufgeregt. "Es sind welche da! Wir haben es geschafft! Das ist so toll, toll, toll!"

"Halt die Luft an", sagte Amethysyte in gereiztem Ton. Nur, weil nun eine handvoll Leute da draußen saß, hieß das noch lange nicht, dass damit alles erledigt wäre. "Schau lieber zu, dass Du keinen Mist baust. Ich hab keine Lust, als Depp dazustehen, falls Du die ganze Sache versaust!"

"Mach Dir da mal keine Gedanken", winkte Jaspisyte ab. "Ich hab alles im Griff."

Zu einem der Dämonen sagte er:

"Vier mal Bier und eine Cola, bitte!"

"Bier und Cola? Und ich soll Dir glauben, dass Du alles im Griff hast?", fragte Amethysyte nach und schüttelte den Kopf. "Klingt nicht gerade nach dem Geschäft unsres Lebens."

"Aller Anfang ist schwer", antwortete Jaspisyte zwinkernd. Dann bereitete er schon mal ein Tablett vor, auf das der Dämon dann die bestellten Getränke stellte.
 

"Cola?", fragte Rick ungläubig nach, als der Kellner gegangen war. "Wat'n'dat'n? Kleener, Du musst echt noch viel lernen, fürcht ich."

"Was denn, was denn?", fragte Mamoru unschuldig nach. "Das hier sieht mir aus wie ein etwas teurerer Schuppen. Da ist Bier auch nicht unbedingt das, was man bestellen sollte. Ich glaube, die Leute hier leben von Cocktails, Champagner und all so'n Kram. Da ist Cola noch das annehmbarste nonalkoholische Getränk, das man bestellen sollte. Sonst fühlen sich die Leute hier ja verarscht!"

"Rick", warf Elyzabeth ein, "Mamoru hat Recht. Das alles hier hat nicht unbedingt das Ambiente eines Biergartens."

"Dann passt's doch nich in unser Städtchen", maulte Rick und stützte seinen Ellenbogen auf den Tisch. "Die Leute, die hier wohnen, ham doch alle nich die große Kohle. Und diejenigen, auf die det doch zutrifft, die hocken sich doch in ihre Nobelkarossen und fahren in die nächstgrößre Stadt. Oder se wohnen erst gar nich in dem Kaff hier."

"Den Eindruck habe ich auch so langsam", meinte der Kellner, der gerade mit einem Tablett ankam und die Getränke abstellte. "Seit der Eröffnung sind Sie die ersten Gäste hier. Ehrlich gesagt, hab ich mir das alles etwas anders vorgestellt."

"Etwas einfacher?", fragte Rick nach.

Der Typ, der sich mit dem Namen Jan vorgestellt hatte, zuckte mit den Schultern und sagte:

"Ja."

"Tja, Mann, dann mach's doch einfacher."

"Bitte?" Jan sah ihn etwas ratlos an.

"Wie ich gesacht hab", führte Rick aus. "Mach alles hier bisschen einfacher. Ich mein, das Licht und die Steinchen und die Farben und so ... det is ja alles schön und gut, aber ... gebt den ollen Leuten hier det, wat se gewohnt sind. Ich hab ja keinen Schimmer, was es hier zu futtern gibt, aber am besten macht sich wat, det die Leute hier schon ewig kennen. Steaks und so wat. Und Deinen Anzug da ... ich mein, det is schon 'n Prachtstück, und so, schaut auch nich schlecht aus, und so, aber ... an nem Ort wie dem hier steckst Dir so'n Ding echt besser innen A..."

"Was mein Bruder damit ausdrücken will", fiel ihm Tony schnell ins Wort, "ist, dass es etwas ... nun ja ..."

"...befremdlich aussieht, an einem Ort wie diesem, wenn man gekleidet ist, als habe man etwas Geld zuviel in der Tasche gehabt beim Einkauf", beendete Elyzabeth den Satz mit spitzer Zunge.

"Mit anderen Worten", so griff Fala auf, "Westernklamotten passen besser in den Wilden Westen."

Ein euphorisches Glänzen breitete sich in Jans Augen aus. Oder zumindest in seinem rechten - sein linkes Auge war von einer langen, schwarzen Haarsträhne verdeckt, genau wie seine restliche linke Gesichtshälfte.

"Also ... Sie ... Sie meinen ... meine Herrschaften, das halte ich für eine großartige Idee von Ihnen! Meine Hochachtung!...Ich weiß gar nicht ... was ich dazu sagen soll..."

"Nich so förmlich, Junge, sonst machst Dir noch inde Hosen, wa? Mein Name is Rick. Wie wär's, hock Dich doch ne Runde zu uns."

Mamoru rollte mit den Augen. Er konnte sich nicht entsinnen, wann dieser Bursche Rick angeboten hat, ihn auf so derbe Weise anzusprechen. Mamoru selbst wäre niemals so offen und - man konnte sagen - fast schon kindlich auf einen Fremden zugegangen. Doch diesen Jan schien das nicht zu stören, im Gegenteil. Er setzte ein fröhliches Lächeln auf und schien es sogar zu genießen, dass man mit ihm umsprang, als würde man sich schon ewig kennen.

Nun gut, auch Tony, Fala, Elly und Mamoru stellten sich namentlich vor. Es wäre ja auch doof gewesen, sich jetzt noch weiterhin so überförmlich anreden zu lassen.

"Hol Dir doch auch wat zum trinken und setz Dich!", bot Rick Jan grinsend an. "Ein Platz is ja noch frei hier, wa? Auf geht's, Junge, gib Dir nen verdammten Ruck."

Mamoru zupfte ihn am Ärmel und machte ihn darauf aufmerksam, dass der <Junge> auch einen Namen hatte und Jan hieß. Doch das war dem Cowboy völlig jucke.

Jan wusste ein paar Sekunden nicht was er sagen sollte. Man merkte ihm an seiner langsam aufsteigenden Hibbeligkeit an, dass seine Enthusiasmus allmählich ins Unermessliche wuchs.

"Sie ... ähm ... ihr ... ihr könntet auch meinen Bruder kennen lernen, wenn ihr wollt! Er und ich leiten dieses Geschäft gemeinsam. Wenn es euch interessiert, ich kann ihn holen! Soll ich?"

"Logo!", grölte Rick. Für ihn schien das alles wie eine spontane Party zu sein. Er war in seinem Element. Und die anderen mussten mitziehen, ob es ihnen passte, oder nicht. Sie wurden erst gar nicht gefragt.

Mit den Worten "das alles ist so toll!" verschwand Jan wieder in der Küche.

Nur Sekunden später lehnte sich Tony Fala entgegen und flüsterte ihr zu, dass es nur die am Tisch Sitzenden hören konnten:

"Na, fühlst Du schon etwas Außergewöhnliches?"

"Das Einzige, was ich momentan fühle, ist Müdigkeit", stellte die junge Indianerin fest. "Ich kann auch nicht wirklich erklären, was das zu bedeuten hat. Aber ich sagte ja schon: Es ist nicht sicher gesagt, dass heute etwas passieren muss!"

"Ja", meinte Mamoru und rieb sich in den Augen. "Ich fühl mich aber auch ganz schön geschlaucht. Heut war ein langer Tag, findet ihr nicht?"

"Ziemlich", antwortete Tony. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und streckte die Arme in die Höhe. "Aber ich muss zugeben: es gefällt mir hier. Wirklich total gemütlich. Könnt öfter hier erscheinen."
 

Amethysyte kontrollierte den etwa faustgroßen, durchsichtigen Steuerkristall, der die fließenden Energien des Gebäudes überwachte und die abgezapfte Kraft dieser dummen Menschen direkt in das Basislager des Königreichs des Dunklen leitete. Die Energie floss langsam, aber stetig. Genau das war die Strategie: Nimm den Menschen ihre Kraft; aber immer so wenig, dass sie es nicht merken und auch nicht zu müde werden, doch auf der anderen Seite so viel, dass unterm Strich immer noch große Mengen gewonnen werden können. Amethysyte musste den Kristall etwas nachjustieren; der Gehalt der absorbierten Energie war zu hoch. Der Adjutant aus dem Dunklen Königreich konnte nicht riskieren, dass er seine Gäste zu früh wieder vertrieb, weil sie den Besuch als zu ermüdend empfanden, um sich wohl fühlen zu können.

Er schwächte den Energiefluss um einige Grade ab und lächelte zufrieden.

"Vielleicht ist es doch keine schlechte Idee gewesen, Jaspisyte einzuspannen", überlegte er leise. "Der Kerl braucht nicht mal zu schauspielern. Er benimmt sich ja so schon, als sei er einer von diesen dummen Menschen."

Und als sei das genau das Stichwort gewesen, tauchte Jaspisyte auf. Er wirkte aufgeregt, fast schon euphorisch.

"Amethysyte!", flüsterte er, und seine Stimme überschlug sich fast vor Spannung. "Komm mit, ich stell Dir die Leute da draußen vor! Sie wollen Dich unbedingt kennen lernen."

"Das beruht nicht auf Gegenseitigkeit, Du Stresser", brummte Amethysyte.

"Aber Du musst sie einfach kennen lernen!", beharrte der jüngere Adjutant. Er grinste siegesgewiss. "Denn immerhin sind das Deine Kunden. Ein guter Eindruck ist wichtig für das Geschäft. Schleim Dich bei ihnen ein, sei nett, der Rest ergibt sich von selbst. Sie werden in der Welt der Menschen Werbung für uns machen! Mundpropaganda nennt sich so was! Das wird umso mehr von ihnen anlocken, und dann holen wir uns ihre Energie! Ja? Bitte, bitte, bitte! Nun komm schon!"

Eine Sekunde lang glotzte Amethysyte blöd. Diese Sekunde war genau die Zeit, in der er geglaubt hatte, einem echten Soldaten aus dem Dunklen Königreich gegenüber zu stehen. Nur leider blieb es bei der einen Sekunde. Denn eine Sekunde danach wurde ihm schon klar, Jaspisyte wollte ihn nur mit einem Trick überreden. Dennoch fügte er sich.

"Also gut, na schön", seufzte er. "Wenn es Dich glücklich macht. Hauptsache, Du gehst mir damit später nicht auf den Keks, Du kleines, nervtötendes Kind!"

Mehr oder auch weniger willig ließ er sich vom jüngeren Adjutanten bei der Hand packen und <entführen>. Immerhin hatte Jaspisyte gerade eben noch einige wahre Worte gesprochen - wenn sie auch einen anderen Zweck erfüllen sollten. Aber es war tatsächlich wichtig, sich den Menschen zu präsentieren. Als sie durch die Küche in Richtung Lokal liefen, wurden sie wieder zu Jan und Adam Smith...
 

Inzwischen hatten Mamoru und seine neue Truppe schon einige Themenwechsel hinter sich. Und allmählich breitete sich bei allen das wohlige, träge machende Gefühl der Behaglichkeit und der Müdigkeit aus; nicht zuletzt, weil vier von den fünf Leuten schon ihr Bierchen gezwitschert hatten.

Die große, weiße Tür zur Küche schwang endlich auf und Jan kehrte zurück. Er zog einen Mann hinter sich her, der wohl Mitte oder Ende zwanzig sein mochte; jedenfalls etwas älter als Jan. Mit seinen extrem hellen, Blonden Haaren und dem sauberen Bartschnitt wirkte er irgendwie eher wie einer dieser überkandidelten Modedesigner, die sich für etwas Besseres hielten. Nur aufgrund seines Outfits sah man ihm den Kellner an. Auch sein Gesichtsausdruck wirkte in den ersten Sekunden irgendwie herablassend auf Mamoru. Doch schon bald zeigte sich, dass der Typ auch lächeln konnte. Er senkte kurz sein Haupt zur Begrüßung und stellte sich dann vor:

"Ich wünsche einen guten Abend. Mein Name ist Adam Smith, und ich heiße Sie herzlich willkommen in der Tenebrae."

"Tja, Leute", meinte Jan mit einem Grinsen. "Das ist mein großer Bruder. Er ist zwar meistens ziemlich trocken und langweilig, aber man kann ganz gut mit ihm leben. So was kennt ihr bestimmt auch."

Blitzschnell drehte sich Adam zu Jan und zischte ihn an:

"Jas ... Jan! Wie redest Du mit unseren Gästen?!"

"Aber sie selbst haben es mir doch angeboten...", verteidigte sich der Jüngere. Doch das ignorierte Adam vorerst.

"Ich bitte Sie inständig darum, meinem dummen, kleinen Bruder zu vergeben. Er weiß es nicht besser. Hat keine Ahnung von der Welt..."

Rick winkte ab.

"Det is wie der Junge..."

"Er heißt Jan", fiel ihm Mamoru ins Wort.

"...gesacht hat, wa? Wir ham keen Bock nich auf so'n überhöflichen Scheißdreck. Gilt auch für Dich, Großer. Ich bin Rick. Det sind meine Schwester Tony, die Fala, die Elly und der Kleene."

"Ich heiße Mamoru!!!", beharrte der Herr der Erde mit finstrer Miene.

"Und ich heiße Elyzabeth!!!", regte sich Elly auf.

"Aber se ham nix dagegen, wemma se Kleener und Elly nennt..."

"HABEN WIR DOCH!", kam es wie aus einem Mund.

"Ricky, vielleicht solltest Du das tatsächlich besser bleiben lassen...", schlug Tony vor.

"Ja, genau", grinste Mamoru, "Rickyboy."

"Kleener, det is keene so gute Idee, meine Grenzen zu testen...", grummelte der Angesprochene.

"Was wäre Dir dann lieber?" Mamoru war so richtig schön gehässig in Fahrt. "Freddyboy?"

So schnell, dass das menschliche Auge die Bewegung kaum wahrnehmen konnte, griff Rick quer über den Tisch, packte den Herrn der Erde am Kragen und zog ihn an sich heran. Seine Augen blitzten vor Wut.

"Wat haste gesacht?"

"Nichts", ächzte Mamoru. "Gar nichts."

"Dann is ja gut. Ich hoff, det bleibt bei diesem nix."

"Rick, lass ihn los", forderte Fala leicht entnervt. "Du brauchst Dich gar nicht wundern, wenn Du irgendwann die Retourkutsche bekommst, wenn Du denkst, Du könntest Dir alles rausnehmen."

Rick ließ derweil Mamoru wieder los, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und grinste schon wieder fröhlich.

"Ich will bloß klarstelln, det ich mir nich allen Scheiß bieten lass."

Jan und Adam, die sich das Ganze schweigend und mehr oder weniger entsetzt angesehen hatten, fingen sich nun allmählich wieder. Kurze Auseinandersetzung, klarer Sieger, alles wieder im Lot.

Die beiden zogen sich nun Stühle heran und setzten sich zu ihren Gästen an den Tisch.

Auch Mamoru hatte sich schon wieder erholt und führte nun das Gespräch fort:

"Wie kürzt man eigentlich Fala ab? Fa? Fal? La? ...Oder ist Fala schon eine Abkürzung?"

Sie bedachte ihn mit einem Blick, den man wohl kleinen, dummen Kindern schenkte, die fragten, ob der Storch tatsächlich die Babys brachte. "Fala ist und bleibt der vollständige Name."

"Tschuldigung", meinte er kleinlaut und zog den Kopf ein.

Fala winkte ab. "Geht schon klar."

Dann wandte er sich Elly zu.

"Du bist so still, Elyzabeth. Sag doch auch mal was."

"Ich denke gerade nach."

"Worüber?"

"Wie man Deinen Namen am passendsten abkürzen könnte."

"Gar nicht."

"Doch, möglicherweise schon...", überlegte sie. "Vielleicht Moru?"

"Oh ... nein ... bitte nicht."

Fala lächelte ihn an und meinte: "Ich finde die Idee süß. Warum nicht Moru?"

"Das hat einen ganz einfachen Grund...", erläuterte er, "...das japanische Wort <moru> bedeutet - zum Beispiel bei einem Schiff - <leck geschlagen sein>. Das deckt sich ja so überhaupt nicht mit der originalen Bedeutung. <Mamoru> heißt nämlich übersetzt <beschützen>. Ich halte diese Sache mit der Abkürzung für eine schier grausame Idee. Bleiben wir beim Original."

"Oder bei <der Kleene>!", grölte Rick lauthals. Er lachte und klopfte sich auf den Schenkel.

Jan kicherte leise. Er schien sich in dieser illustren Runde königlich zu amüsieren. Adam hingegen saß stocksteif auf seinem Stuhl und wusste ganz offensichtlich nicht so recht, was er tun solle. Er musterte seine Gäste, und bemühte sich, es möglichst unbemerkt zu tun. Er fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut. Es schien fast, als sei etwas ganz und gar nicht so, wie es geplant war.
 

Irgendwas an diesen beiden Fremden war merkwürdig, das war ihm von Anfang an aufgefallen.

Aber was bloß?

Sie waren einfach nur Menschen. Es war sich sicher, ihnen niemals begegnet zu sein. Und doch bestand da das beklemmende Gefühl, sie seit sehr langer Zeit kennen zu müssen.

Seltsam.

Extrem vorsichtig öffnete es seinen Geist und tastete nach dem Bewusstsein desjenigen, der sich als Adam vorgestellt hatte. Es hatte den Eindruck, als könnte er gefährlich werden für die gesamte Mission. Doch mit den schwachen Mitteln, derer es sich momentan bediente, konnte es die geistige Barriere zu diesem Mann nicht knacken. Und momentan konnte es nicht riskieren, mehr Kraft für dieses Vorhaben aufzuwenden. Denn ab einem gewissen Punkt wäre es nicht mehr geheim geblieben. Ab einem gewissen Punkt hätte auch ein Normalsterblicher gespürt, dass etwas anders war. Die Menschen mochten schwach und unwissend sein, doch ihre Instinkte, wenn auch uralt und längst verkümmert, waren noch existent. Und einigermaßen funktionstüchtig.

So sehr es sich auch anstrengte, und so vorsichtig es auch war, es konnte nicht in das Innere des Bewusstseins dieses Mannes eindringen. Doch auf der anderen Seite spürte es weder eine nennenswerte Aktion zur Verteidigung, noch einen Gegenangriff auf geistiger Ebene. Es schien, als würde Adam nichts von der psychischen Offensive bemerken. Als wüsste er gar nicht, dass es so etwas gab. Woher sollte er das auch wissen, er war doch nur ein Mensch? Aber etwas schien ihn dennoch zu beschützen. Durchaus gab es einige Normalsterbliche, die schlicht und ergreifend nicht leicht angreifbar waren. Dann kamen viele Faktoren zusammen, die den Körper gemeinsam stärkten und beschützen: Diese Leute waren rundum gesund, kräftig und besaßen Kondition, Selbstbewusstsein und Konzentration bis zum Abwinken. Schwache geistige Angriffe wurden da ebenso leicht hinweggefegt wie Bakterien, die in den Körper eindringen wollten.

Und anscheinend war es gerade wieder auf einen solchen starken Menschen gestoßen. So was nannte sich Künstlerpech. Da konnte man leider nichts anderes machen als aufgeben.

Es zog seine geistigen Fühler wieder zurück und errichtete eine Barriere um die eigene Welt des Bewusstseins. Es schirmte sich ab, um für einen möglichen, plötzlichen Angriff gewappnet zu sein.

Es war enttäuscht. Eigentlich hatte es mehr erwartet. Nun hatte es keine andere Wahl, als sich für heute zurückzuziehen. Immerhin war es auf einer wichtigen Mission; was kümmerten da ein paar wertlose Menschen?

Alles, was wirklich zählte war er:

Der Herr der Erde.

Und seine Energien.
 

Irgendwann, nach einigen Stunden des Gesprächs und des Trinkens, verabschiedeten sich die fünf Freunde wieder von der Tenebrae. Es war schon mitten in der Nacht, als sie sich auf ihre Pferde schwangen und in Richtung Heimat ritten.

Doch sie hatten Glück. Der Mond schien hell über ihnen und die Sterne flackerten am Himmel, wie Mamoru es nur selten zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Nur leider hatte er wenig Zeit, sich das alles anzuschauen. In erster Linie musste er sich auf sein Pferd Hyperion konzentrieren. Das Gelände war alles andere als eben, und der noch unerfahrene Reiter wollte nicht riskieren, dass sein Pferd stolperte und es für die beiden ein unsanftes Ende gab.

Dennoch war es ein erhebendes Gefühl, durch die doch sehr kühle Nachtluft zu reiten, in dieser für Mamoru noch sehr fremdartigen Welt. Es roch nach trocknem Gras und nach Abenteuer. Er seufzte zufrieden.

Nach der Ankunft auf der Mustang-Ranch, nachdem er seinen Hyperion versorgt hatte und nachdem Tony ihn auf ihrem Diablo nach Hause auf die SilverStar-Ranch gebracht hatte, sank er glücklich und unsäglich müde in sein Bett.

Und er träumte von einer Mondprinzessin, die auf einem schneeweißen Pferd ritt, und ihn daran erinnerte, den Heiligen Silberkristall zu suchen...

Jaspisyte öffnete ein Raum-Tor in Amethysytes Arbeitszimmer, trat hindurch und fragte gut gelaunt:

"Stör ich?"

"Aber immer doch!", kam giftig die Antwort. "Was willst Du?"

"Nur Bescheid sagen", meldete der jüngere Adjutant. "Wir müssen bald wieder in die Menschenwelt aufbrechen und die Tenebrae öffnen."

Er ließ sich in einen der beiden weichen Sessel plumpsen, schlug die Beine übereinander, lehnte sich seufzend zurück und sah Amethysyte in freudiger Erwartung an.

Dieser hingegen sah nur sehr kurz von seinem Schreibtisch auf, rümpfte beim Anblick seines Partners angeekelt die Nase und steckte ebendiese wieder in irgendwelche Papiere, die ausgebreitet vor ihm lagen.

"Hab noch was zu tun", erklärte er knapp.

"Kann warten", erläuterte Jaspisyte ebenso knapp. "Wir haben noch viel vor heute."

"Ja?", fragte Amethysyte desinteressiert, ohne Jedytes Adjutanten nur eines Blickes zu würdigen. "Und was wäre das?"

Jaspisyte räkelte sich auf dem weichen, schwarzen Samtüberzug des Sessels herum und suchte nach einer noch gemütlicheren Position. Dann erst antwortete er mit:

"Umräumen."

Amethysyte, der gerade eine Notiz auf einem der Papiere vermerkte, hielt inne, und zum ersten Mal an diesem Tag sah er Jaspisyte länger als nur einige Herzschläge lang an.

"Wie bitte?"

"Na, umräumen! Das haben wir vor."

"Warum weiß ich davon nichts?"

"Du erinnerst Dich noch an die Menschen von gestern?", fragte Jaspisyte.

"Klar tu ich das", brummelte der etwas ältere Adjutant. "Das waren immerhin die einzigen Gäste, die wir je hatten. Vielleicht auch die einzigen, die wir je haben werden. Worauf willst Du hinaus?"

"Dieser eine ... Rick ... der hat einen ganz tollen Vorschlag gemacht", schwärmte Jaspisyte vor. "Und ich bin mir sicher, wenn wir das durchziehen, dann können wir uns bald vor Kunden nicht mehr retten! Er meinte, wir sollen alles etwas einfacher machen. Ich drücke es mal mit meinen Worten aus: Wir sollten uns etwas an das Volk anpassen! Unser Angebot vergrößern! Bier, und Steaks, und Kaffee, und ... und ... Du weißt schon ... gewöhnliche Dinge! Nicht zu extravagant!"

"Ich will Dein ach so schönes Luftschloss nicht sofort wieder einreißen", antwortete Amethysyte, was er mit seinen Worten nichtsdestotrotz tat, "aber die Strategie besteht ja eigentlich darin, viele Leute anzulocken, gerade weil wir etwas extravaganter sind."

"Schon", fiel ihm Jaspisyte ins Wort, "aber ich sage ja gar nicht, dass wir eine Hundertachtziggradwendung brauchen. Meine Idee ist folgende: Tagsüber, wenn die Leute zum Beispiel Mittagspause haben oder so, da hat die Tenebrae offen für das gewöhnliche Volk, also Sandwiches und Bier, oder so. Wir machen da nur nicht mehr so ne düstere Stimmung, sondern sorgen für etwas Licht und Westernflair in der Bude. Dann schließen wir für vielleicht zehn Minuten oder ne halbe Stunde, damit wir wieder ein wenig umräumen können, und dann ... vielleicht so ab 19 Uhr rum ... sind wir das schicke Lokal, wo man fein ausgehen kann, und was halt etwas ganz Besonderes bietet. Eben die Tenebrae, wie wir sie jetzt kennen. Wir besorgen halt für den Tag noch ein paar Elemente dazu ... Cowboyklamotten, oder irgendwas für die Innendekoration. Irgend ein Zeug, das man schnell anbringen und wieder wegräumen kann. Ich sage Dir, das wird einschlagen wie eine Bombe. Was sagst Du?"

Aufgeregt sah er Amethysyte an. Dieser ließ sich das alles ein paar Mal durch den Kopf gehen und antwortete dann vorsichtig:

"Weißt Du was? Das klingt so was von dermaßen verrückt, dass es vielleicht sogar klappen könnte..."

"Sag ich doch", rief Jaspisyte triumphierend aus. "Vertrau mir, Du wirst zufrieden sein. Ich kenne mich mit den Menschen inzwischen ziemlich gut aus!"

"Ja, das hab ich gemerkt. Sag mal, bist Du von Sinnen, Dich so einfach mit den Menschen anzufreunden? Und wenn unsre Mission dadurch auffliegt? Was dann? Was willst Du tun, wenn die Menschen bemerken, dass wir kein menschliches Privatleben besitzen, und aus dieser Welt verschwinden, sobald die Tenebrae schließt?"

"Das wird nicht passieren", prophezeite der Jüngere. "Du wirst sehen. Ich hab die Lage voll im Griff."

"Da bin ich aber beruhigt", keifte Amethysyte sarkastisch. "Kann ich jetzt vielleicht weiterarbeiten, wenn's genehm ist?"

Doch noch ehe Jaspisyte etwas entgegnen konnte, entstand ein dichter, schwarzer Nebel mitten im Raum, aus dem zwei Männerstimmen gleichzeitig antworteten:

"Und wenn nicht?"

Der Nebel lichtete sich binnen Sekunden und zwei weitere Adjutanten standen im Raum.

"Karneolyte, Sardonyxyte...", grüßte Amethysyte. Seine Stimmung sank immer weiter. "Was wollt ihr denn hier?"

Karneolyte und Sardonyxyte waren eineiige Zwillinge. Doch sie waren so verschieden, wie das bei Zwillingen nur irgend möglich war. Karneolyte war der Adjutant von Prinz Zoisyte und zugleich Herr von Afrika. Sein feuerrotes Haar ringelte sich in winzigen Löckchen auf seinem Kopf und als Koteletten an beiden Seiten seines grinsenden Gesichtes hinunter. Seine hellblaue Adjutantenuniform war mit grünen Streifen verziert, um seine Zugehörigkeit zu Zoisyte zu symbolisieren. Er war eher ein Mann der Worte als der Taten.

Ganz anders als sein Bruder Sardonyxyte. Er war der Adjutant von Prinz Kunzyte, und er machte mit seinen Feinden lieber kurzen Prozess als lange rumzufackeln, was seine muskulösen Arme eindeutig bewiesen. Sein Kopf war kahlgeschoren. Nur ein feuerroter, gelockter Ziegenbart spross aus seinem Kinn und hörte nur knapp unterhalb seines Adamsapfels auf. Er als Herr von Südamerika trug dunkelblaue Streifen auf der sonst hellblauen Uniform, und er war der einzige Adjutant, der einen langen, weißen Umhang tragen durfte, der ihm um die Schultern hing und an seinem Rücken entlang flatterte. Seine Miene war eiskalt und ohne jede Gefühlsregung. Er hielt seine Arme vor der Brust verschränkt.

Es war Karneolyte, der schließlich antwortete:

"Was wir hier wollen? Och, nur nach dem Rechten sehen. Uns ist zu Ohren gekommen, dass ihr beiden in der Welt der Menschen nicht sehr erfolgreich seid. Königin Perilia hat sich etwas mehr von eurem Unterfangen versprochen. Wo bleiben denn die Unmengen an Energien, hm?"

"Sind auf dem Weg!", flötete Jaspisyte gut gelaunt drauflos.

"Willst Du wohl die Klappe halten?", fuhr Amethysyte ihn an. "Halt Dich da raus, Würmchen, das hier ist Männersache."

"Aber...", begehrte der Jüngste auf. Dann blieb er aber doch still auf dem Sessel sitzen und starrte zu Boden.

Amethysyte wandte sich wieder Karneolyte zu und knurrte:

"Was geht es Dich an, wie weit wir sind? Du solltest Dich lieber um Deinen Dreck kümmern, finde ich."

"Amüsant, amüsant", lachte der Angesprochene. "Du reagierst wie eine Kobra, der man auf den Schwanz getreten hat. Du fühlst Dich durch mich ganz schön in die Ecke gedrängt, was? Woran liegt das bloß?"

"Du..."

Doch bevor Amethysyte seine Beleidigung aussprechen konnte, meldete sich Sardonyxyte zu Wort.

"Kein Streit, ihr Beiden. Mein Bruder und ich, wir sind eigentlich nur hier, um zu sagen, dass wir unsere eigenen Befehle haben. Und ihr solltet uns dabei nicht in die Quere kommen. Wir müssen dummerweise in euer Einsatzgebiet."

Als er nicht weitersprach fragte Amethysyte nach:

"Und was heißt das für den Kleinen und mich jetzt?"

Karneolyte erklärte es ihm:

"Was mein Bruder so kurz und prägnant zum Ausdruck gebracht hat, soll für euch beiden Volltrottel folgendes heißen: Man wird euch bestimmt gesagt haben, dass das kleine Städtchen Orendaham ein außergewöhnliches Energiemuster aufweist. Nun ist es meinem Meister Zoisyte gelungen, eine Maschine zu entwickeln, mit der man Energieströme vor Ort messen kann. Er nennt es ein <Energindikat>. Das ist die Abkürzung für <Energie-Indikator>. Dieses Ding wird uns helfen, herauszufinden, was genau diese Energie verursacht, und wo dieses etwas zu finden ist. Wir werden nun also Orendaham und Umgebung absuchen, bis wir wissen, woran wir gerade sind, und ob die Quelle dieser Kraft gefährlich für uns sein könnte. Oder ob wir sie für uns nutzen können. Und ihr beiden werdet solange wie geplant fortfahren mit euren Spielchen. Besorgt Energie von den Menschen und lasst sie unserer großen Herrscherin zukommen. Den Rest erledigen wir. Ist euch alles klar, oder soll ich den Plan für euch zwei Hohlbirnen noch mal ganz langsam sagen?"

"Wer ist hier eine Hohlbirne?", knurrte Amethysyte.

"Wir haben es verstanden", meinte Jaspisyte trocken, ohne seinen Blick vom Boden zu heben.

Karneolyte sah dies mit Genuss. "Du könntest von dem Kleinen noch ne Menge lernen, Amethysyte. Besonders, was den Respekt Älteren gegenüber angeht."

"Ich hab kein Interesse, so ein Speichellecker zu werden", zischte Amethysyte. "Und jetzt raus! Alle beide! Jaspisyte und ich, wir müssen uns noch um diverse Dinge kümmern."

Wieder entstand der schwarze Nebel im Raum. Er hüllte die beiden ältesten Adjutanten ein. Sie verschwanden beide; Karneolyte lachend, und Sardonyxyte mit grimmigem Gesicht.
 

Schon als er müde seine Arme hob und sich den Schlaf aus den Augen rieb, wusste Mamoru mit schmerzhafter Sicherheit: Er hatte gewaltigen Muskelkater vom vielen gestrigen Reiten. Einige Augenblicke lag er regungslos im Bett und dachte allen ernstes daran, sich einfach umzudrehen und weiter zu schlafen. Aber er konnte ja unmöglich den ganzen lieben langen Tag schlafend verbringen. Ächzend hievte er sich also schlussendlich doch aus dem Bett und schlurfte in sein Badezimmer. Und als er dann etwas später in seiner Küche beim Frühstück saß, klopfte es an der Tür.

"Komm rein, es ist offen!"

Seigi erschien grinsend und sah seinen Neffen zufrieden an.

"Guten Morgen. Na, kommst Du gut zurecht?"

"Prima", kam die Antwort.

Seigi setzte sich zu ihm an den Tisch. "Sag mal, wo treibst Du Dich eigentlich den ganzen Tag lang herum? Dich sieht man ja kaum noch."

"Ich erlebe jede Menge Sachen mit den Nachbarn. Das sind so nette Leute..."

Seigi lächelte. "Es freut mich, dass Du jemanden gefunden hast, mit dem Du Deine Zeit verbringen kannst. Was machst Du denn heute noch so?"

Sein Neffe zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Ich vermute, Rick wird sich heute im Laufe des Tages wieder hier blicken lassen. Bis dahin hab ich noch ein paar Sachen in den Umzugskartons, für die ich bisher noch keinen Platz gefunden habe. Ich finde schon irgendwas, womit ich mich beschäftigen kann."

"Okay", antwortete Seigi nickend. "Wenn Dir doch mal langweilig wird, Kioku und ich freuen uns immer über Deine Anwesenheit. Aber, ... sag mal ... ich wollte mal fragen, wie geht es Dir eigentlich körperlich? Ich meine, Du hattest in der letzten Zeit doch diese Bauchschmerzen. Ist das besser geworden?"

Mamoru lächelte zuversichtlich und gab Auskunft:

"Mir geht es schon viel besser. Ich kann mich eigentlich nur noch selten beklagen. Und ich hab das Gefühl, ich wär schon ein Stück größer geworden." Er grinste stolz. Wenn es so gut weiter ging, konnte er Rick vielleicht bald den <Kleenen> austreiben...

"Das freut mich", erwiderte Seigi. Er setzte gerade dazu an, noch etwas zu sagen, als die Tür aufflog.

"Moin, Kleener. ...Oh, 'n Morgen, Sir! Sach ma', Kleener, Du bist noch am frühstücken? Scheiße, bist Du lahm. Mach hin, Kleener, der Unterricht geht heut weiter!"

"Guten Morgen, Rick", grüßte Seigi und machte dabei ein überraschtes Gesicht. "Was für ein Unterricht?"

"Ach", winkte Mamoru ab, als sei das alles nichts Besonderes, "Rick bringt mir das Reiten bei, seit Gestern schon."

"Jepp", bestätigte Rick und schob seinen Cowboyhut aus der Stirn. "Und der Kleene macht sich bis jetzt verdammt gut. Aber damit er nich auser Übung kommt..."

Er sah Mamoru grinsend an.

"...sollte er nu besser mitkommen und üben, wa?"

"Das klingt ja großartig, Mamoru!", freute sich Seigi.

"Ja, ja, komm wieder runter", beruhigte ihn Mamoru. "Heute ist es etwas unpassend, Rick, ich hab tierisch..."

"...Muskelkater?", beendete Rick den Satz und nickte. "Dacht ich mir. Hab ich gar nich anders erwartet. Weißte wat, Kleener? Det is mir schnurz-piep-egal. Det gehört einfach dazu. Det beste gegen Muskelkater is, sich zu bewegen. 'N Waschlappen kann nie 'n echter Cowboy nich werden, wa? Ich hab Dir Deinen Hyperion hier her mitgebracht. Steht draußen am Stall. Werd ma' fertig hier und dann kommste nach, kapiert? Ich reit mit Elvis schon ma' aufe Mustang-Ranch zurück, wa? Ich wart dann da auf Dich. Lass Dir nich zu viel Zeit, Kleener, sonst werd ich ungemütlich."

Damit drehte er sich rum und mit klirrenden Sporen verließ er das Haus wieder.

"Ein ... ähm ... sehr einzigartiger Kerl, was?", fragte Seigi und schaute Rick hinterher.

"So kann man das auch ausdrücken", brummelte Mamoru. Seelenruhig frühstückte er weiter. Er unterhielt sich noch eine Weile mit seinem Onkel, räumte dann ächzend und stöhnend den Tisch ab, verfluchte dabei immer wieder seinen Muskelkater und Rick, und schließlich, nachdem er sich von Seigi verabschiedet hatte, ging er nach draußen, band Hyperion los und ritt mit ihm in Richtung Mustang-Ranch.
 

"Nichts als Sand und Staub", stellte Karneolyte fest, als er sich umsah. "Bist Du sicher, dass wir hier richtig sind?"

"Kein Zweifel", brummte Sardonyxyte. "Der Energindikat schlägt voll aus."

Er sah auf seine rechte Hand, auf der ein Gebilde lag, das man auf den ersten Blick für einen flachen, handtellergroßen, matt glänzenden, schwarzen Stein halten konnte. Auf den zweiten Blick fielen einem die bunten Knöpfe auf, die auf dem Gerät befestigt waren. Das Display am oberen Ende zeigte eine dünne, giftgrüne Linie, die wie auf einem Oszillograph ausschlug. Und sie schlug heftig aus.

"Allerdings", so deutete Sardonyxyte skeptisch an, "ist dieses Ding zu ungenau. Es ist fast so, als sei die Menge an Energie überall gleichhoch. Normal müsste sie in der Nähe der Quelle am höchsten sein und dann gleichmäßig abnehmen. Da stimmt doch was nicht..."

Er schlug ein par Mal mit der linken Hand seitlich gegen das Gerät, das daraufhin gefährlich zu knirschen begann.

"Vielleicht wäre es doch das Beste, wenn Du mir die Handhabung dieses Gerätes überlassen würdest...", bot Karneolyte an.

"Ach, mach doch, was Du willst, verdammt noch mal!", fluchte Sardonyxyte und warf das Gerät vor die Füße seines Bruders. Der hob es kopfschüttelnd auf und drückte probehalber auf ein paar Knöpfe.

"Das Ding ist eben nicht von Meister Zoisyte getestet worden", gab er zu bedenken. "Wenn es kaputt ist, dann muss er einfach nochmals schauen, ob er es nicht vielleicht richten kann."

Karneolyte programmierte an dem Energindikat noch ein wenig herum, bis er zu dem Schluss kam, dass es einfach nichts brachte. Er zuckte mit den Schultern und sagte:

"Okay, lassen wir es gut sein für heute. Ich sage dem Meister Bescheid, dass er sich das Ding hier noch mal anschaut. Sammeln wir die Dämonen wieder ein, die wir als Wachen aufgestellt haben und kehren zurück."

"Warte", sagte Sardonyxyte und starrte in eine bestimmte Richtung. "Da ist wer..."

"Na und? Was weiter?", fragte Karneolyte. Er zeigte sich wenig beeindruckt. "Wir ziehen hier doch jetzt sowieso ab."

"Nein, ich weiß da was Besseres...", meinte Sardonyxyte. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass er grinste. "Wir sollten nicht mit leeren Händen zurückkehren, findest Du nicht? Prinz Zoisyte und Meister Kunzyte werden sicher begeistert sein, wenn sie sehen, dass wir mitdenken, und jede Energie stehlen, die wir nur kriegen können."

Und damit gab er einem der Dämonen den Befehl, dem Fremden die Energie zu entnehmen.

"Brüderchen, Du bist genial", lobte Karneolyte.

"Nenn mich nicht so", giftete Sardonyxyte, nun wieder in seiner gewohnten, mürrischen Stimmung. Beide verschwanden mit den restlichen Dämonen im Basislager des Königreichs des Dunklen.
 

Mamoru wusste nicht recht, wie er sich im Sattel halten sollte. Jede einzelne Bewegung wurde zur Qual.

"Wieso kann man nicht einfach einen schönen, weichen Fernsehsessel auf so ein Pferd binden?", jammerte er seufzend. Die Welt war nun mal, wie Kioku immer sagte, groß, gefährlich und vor allem gemein.

Hyperion hob seinen Kopf an und spitzte die Ohren. Er blieb einfach stehen, Mamorus Befehle, weiter zu laufen, missachtend.

"Was ist denn nun schon wieder?", ärgerte sich der Herr der Erde. Dann hörte er neben sich ein Rascheln. Neugierig sah er herunter. Da bewegte sich doch irgendetwas im Boden...

Hyperion wieherte plötzlich los, bäumte sich auf und schlug mit den Vorderhufen aus. Im selben Moment brach aus dem Sand eine gelblich-braune Hand an einem unförmigen, viel zu lang geratenen Arm, packte den Herrn der Erde und riss ihn aus dem Sattel. Hyperion galoppierte davon, während Mamoru hart auf dem Boden aufkam. Neben ihm türmten sich Sand und Erde auf, zu einer hässlichen Kreatur, mit nur annährend menschlichen Proportionen...

Ein Dämon!

Mamoru lag am Boden und schaute mit vor Schrecken weit aufgerissenen Augen zu, wie diese hässliche Kreatur geradezu aus der Erde herauswuchs und immer weiter an Form annahm. Die teuflische Gestalt war wohl etwas größer als Mamoru. Ihre Beine schienen nicht wirklich ein unteres Ende zu haben, sondern verliefen einfach im Sand. Der Körper schien ständig in fließender Bewegung zu sein und erweckte den Eindruck, als sei er sehr weich und formbar. Etwa so wie Treibsand. Mamoru vermutete schon auf den ersten Blick, dass er keinen großen Wiederstand verspüren würde, wenn er den Gegner mit bloßen Fäusten angreifen wollte. Aus dem oberen Teil des Körpers wuchsen zwei Arme heraus, die ebenso wenig einen festen Eindruck machten wie der Rest vom Körper. Ohne einen Hals ging der Körper in einen sandigen Hügel über, der wohl den Kopf darstellen sollte. Das nur sehr bedingt als menschlich zu bezeichnende Gesicht hingegen war wie aus einem Felsen herausgemeißelt, also ganz offensichtlich mit mehr Festigkeit als alle anderen Körperteile.

Das Steingesicht grinste. Man konnte die scharfen, steinernen Zähne hinter den Lippen erahnen.

"Du schwächlicher Mensch", lachte der Dämon. Seine Stimme klang tief und irgendwie metallisch, wie aus einem uralten Science-Fiction-Film über Roboter. "Sobald ich Deine Energie besitze, werde ich Dich töten!"

<Scheiße, was mache ich jetzt nur?>, dachte Mamoru fieberhaft. Eigentlich gab es für ihn nur zwei Möglichkeiten: siegen oder sterben. Und er hatte eigentlich nicht vor, kampflos aufzugeben.

Er ließ seinen Gegner keinen Moment aus den Augen, während er sich am Boden abstützte und langsam aufstand. Oder besser gesagt: Er wollte aufstehen. Doch dann erinnerte ihn sein Rücken auf schmerzhafte Weise an seinen Muskelkater. Er biss die Zähne zusammen und sank wieder zu Boden zurück.

Der Dämon erleichterte ihm das Aufstehen auf reichlich unsanfte Art und Weise: Er fuhr den sandigen Arm auf die etwa doppelte Länge aus, umklammerte Mamorus Körper damit, hob ihn ruckartig in die Höhe und grinste erst mal breit. Für ihn war das alles nur ein Spiel.

"Wie gefällt Dir das, Menschenkind?"

Mamoru wand sich hin und her und antwortete dabei trotzig:

"Ich bin kein Kind! Und Du tätest besser daran, mich loszulassen!"

"Oder sonst was?", lachte das Monster.

Und es hatte dummerweise Recht. Mamoru war wirklich nicht in der Lage, groß etwas auszurichten. Zumindest nicht in seiner derzeitigen Lage.

<Wenn ich zumindest wieder diesen Kampfanzug mit dem verzauberten Stock hätte>, dachte der Herr der Erde so bei sich. Selbst, wenn das bedeuten müsste, dass er sich im Nachhinein nicht mehr an das Kampfgeschehen erinnern könnte, so war ihm das doch etliche Male lieber, als hilflos zu Tode gequetscht zu werden. Oder was dieser Dämon auch immer mit ihm vorhatte.

Das Dumme war nur, dass Mamoru nie wirklich begriffen hatte, wie er in brenzligen Situationen an diesen Anzug herankam. Das brachte ihm jetzt einige Schwierigkeiten.

Mamoru schaffte es irgendwie, seine Arme aus der Umklammerung zu befreien. Doch als er sich abstützte, um auch den restlichen Körper aus dem weichen Sand zu ziehen, sanken seine Hände wieder in die nachgiebige Substanz ein. Bis sie einen Widerstand spürten. Anscheinend bestand nur die obere Schicht mit einer Dicke von ungefähr zehn Zentimetern aus Sand; darunter war etwas, das ungefähr die Konsistenz von feuchtem Erdboden hatte und sich auch so anfühlte. Das Monster hatte also so eine Art Brunnen um Mamorus Körper errichtet - eine Röhre aus Erde, innen als auch außen mit einer Schicht lockeren Sandes überzogen - aus der sich der Herr der Erde nun unter großer Kraftanstrengung herauszog. Der Dämon beobachtete es und ließ es grinsend geschehen. Anscheinend war dieses Monster sich seiner Sache verdammt sicher. Als Mamoru wieder auf dem Erdboden aufkam, der nicht zum Körper des Gegners gehörte, da ließ dieser die Röhre auch wieder zerfallen und zog seinen Arm auf die ursprüngliche Größe zurück.

Er lachte leise und sprach zu seinem Gegenüber:

"Kampfgeist hast Du ja - das muss man Dir lassen, Mensch. Doch der allein wird Dir nicht viel nützen..."

"Was hast Du mit mir vor?", fragte Mamoru keuchend. Er musste etwas Zeit schinden. Er konzentrierte sich auf seinen Körper. In erster Linie musste er diesen verdammten Muskelkater loswerden, koste es, was es wolle.

Der Dämon lachte siegesgewiss. Er formte aus Erde und Sand eine Liege und machte es sich zunächst einmal bequem. Dann erst antwortete er:

"Nun, wenn Du so neugierig bist, zu erfahren, auf welche Art und Weise Du sterben wirst ... ich dachte daran, Dich in meinem Sand zu ersticken. Langsam. Vielleicht werde ich Dir zwischenzeitlich Chancen und Hoffnungen lassen, die Dir weismachen werden, Du könntest mich doch überleben. Aber schlussendlich wirst Du keine Kraft mehr haben, Dich gegen mich zu wehren. Denn allmählich werde ich Dir Deine Lebensenergie aus dem Leibe entziehen. Du sollst nichts weiter sein, als ein weiteres Opfer für unsere Königin Perilia. Und für unser Königreich des Dunklen."

Mamoru erinnerte sich. Jedyte hatte damals auch gesagt, er komme aus dem Königreich des Dunklen. Aber...

"Was ist das Königreich des Dunklen?", fragte Mamoru. Er spürte allmählich die heilende Wirkung, die seinen Körper überströmte und sich sanft wie ein Seidentuch über seine Schmerzen legte, um sie zu verdrängen.

Der Dämon dachte einen Augenblick lang nach. Er maß Mamoru mit spöttischem Blick in den steinernen Augen und seine Stimme klang voll Hohn, als er sprach:

"Ich wüsste nicht, warum ich Dir das beantworten sollte, Du Mensch, der Du dem Tode geweiht bist. Du würdest dieses Geheimnis ja doch nur mit ins Grab nehmen, und damit vertue ich mir nur meine Zeit. Gib Dich damit zufrieden, dass Meister Sardonyxyte mich beauftragt hat, Dich zu töten."

"Sardonyxyte?", fragte Mamoru nach. "Nie gehört, den Namen."

Er ließ es auf einen Versuch ankommen.

"Dieser Typ scheint keinen so großen Ruf zu genießen wie Jedyte."

Und er traf damit ins Schwarze.

"Du kennst General Jedyte?", fragte der Dämon skeptisch nach. Nun erhob er sich von seiner irdenen Liege, die daraufhin in ihre Bestandteile zerfiel, und näherte sich mit langsamen, gleitenden Schritten Mamoru, wobei seine Füße eigentlich nie den Kontakt zum Boden verloren. "Woher kennst Du ihn, Mensch?"

Nun war es Mamoru, der siegessicher grinste.

"Sagen wir ... er war sich genauso sicher, mich töten zu können, wie Du es jetzt bist. Aber soll ich Dir noch was sagen?"

"Sprich!", forderte der Dämon.

"Komm noch etwas näher", bestimmte Mamoru. "Ich sage es Dir ... aber ... es ist ein Geheimnis..."

Als der Dämon nahe genug heran war und Mamoru sich sicher sein konnte, dass sein Körper der Belastung standzuhalten vermochte, da sprang der Herr der Erde mit einem - für einen gewöhnlichen Menschen - gewaltigen Satz in die Luft, drehte sich dabei und ließ seinen Fuß in das Gesicht seines Gegners krachen.

Jeder menschliche Kontrahent - selbst Chikara - hätte nach so einer Attacke den Boden geküsst. Doch dieser Widersacher - und daran dachte Mamoru leider einen Tick zu spät - hatte ein Gesicht aus massivem Granit. Mamoru brüllte vor Schmerz auf, landete recht unsanft auf dem Boden und spürte als Folge des harten Treffers den unteren Teil seines rechten Beines nicht mehr. Der Dämon stand derweil noch immer wie eine Eins über ihm und hatte wieder das grinsende Gesicht aufgelegt.

"Netter Versuch", meine seine blecherne Stimme. "Ich glaube, jetzt wird es Zeit für meinen Zug in diesem Spiel."

Er streckte wieder seine sandige Hand aus, packte Mamoru am Hemd und hob ihn spielend leicht hoch. Aus der Handfläche des Ungeheuers schoss - wie aus dem Lauf einer Pistole - ein etwa faustgroßer Stein heraus, der sich in Mamorus Magen katapultierte und den Herrn der Erde einige Meter weit mit sich riss, durch die Luft segeln und sehr hart wieder auf dem Boden aufkommen ließ. Mamoru fühlte sich wie vom Zug gerammt. Er rang verzweifelt nach Luft und die Schmerzen trieben ihm bunte Sternchen vor die Augen.

Sein Blickfeld wurde gerade rechtzeitig wieder klar um zu sehen, wie der zweite Stein auf ihn zugeflogen kam. Er spannte seine Muskeln an, um aus dem Schussfeld zu kommen. Doch die Zeit reichte absolut nicht mehr, um zu reagieren. Das harte Geschoss traf ihn an der Stirn und schleuderte seinen Kopf in den Sand. Diesmal brauchte er wesentlich länger, um die dunklen Nebel, die seinen Geist verhüllen wollten, zurückzukämpfen. Die Pein pochte wild in seinem Schädel und in seiner Magengegend. Blut lief ihm quer über das Gesicht. Keuchend und mit schwerem Schwindelgefühl versuchte er sich wieder aufzuraffen. Der Dämon stand neben ihm und beobachtete das Ganze. Das Grinsen war allerdings aus seinem Gesicht radiert.

"So geht es denen, die sich dem Dunklen Königreich entgegenstellen", meinte er missmutig. Anscheinend hatte er die Faxen dicke. Allmählich wurde es für ihn Zeit, diesem überheblichen Menschen zu zeigen, wer hier das Sagen hatte.

"Bereite Dich auf Dein Ende vor", brummte er. Er hob seine sandige Hand. Der Sand zog sich zurück und legte somit einen steinernen Speer mit rasiermesserscharfer Spitze frei, der auf Mamorus Herz zielte.

Der Herr der Erde starrte mit schreckgeweiteten Augen auf die Waffe. Fliehen kam nicht in Frage, kämpfen konnte er auch nicht mehr und sterben war nicht in seinem Sinne.

"Heilige Macht des Goldenen Kristalls", flüsterte er tonlos. Die Worte überschlugen sich fast, so schnell waren sie gesprochen. "Gib mir Deine Kraft. Steh mir bei! Bitte, hilf mir! Bitte, Goldener Kristall, ich flehe Dich an, erscheine! ...HILF MIR!" Die letzten beiden Worte brüllte er unter vollem Einsatz seiner Stimmbänder heraus. Doch in dieser brenzligen Situation versagte die Konzentration, die er hätte aufbringen müssen, um den Kristall zu rufen. Angstvoll zitternd sah er an seinem übermächtigen Gegner hoch.

"Zu spät für jegliche Hilfe", antwortete der Dämon eiskalt. "Deine Zeit ist um, Mensch!"

"SOFORT AUFHÖREN!", ertönte eine männliche Stimme. Die Köpfe der beiden Kontrahenten ruckten gleichzeitig herum.

"Wer ist da?", fragte der Dämon.

Der Herr der Erde starrte die Person an, die aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien. Man hätte diesen Menschen auf den ersten Blick eher für einen Roboter oder für einen Außerirdischen halten können, denn der ganze Leib war von einem metallenen Panzer von roter Farbe bedeckt. Nur an den Unterarmen, an den Schienbeinen, im Brustbereich und ein wenig am Helm war eine weiße Färbung angebracht. Der Helm war um die Augenpartie herum von einem tiefschwarzen Visier verdeckt, sodass man das Gesicht des Mannes nicht sehen konnte. An manchen Stellen des metallenen Anzuges, wie beispielsweise an den meisten Gelenken, kam eine Art schwarzer Hautanzug zum Vorschein. Die gesamte Panzerung war sehr enganliegend und ließ auf die gut ausgeprägte Muskulatur des Mannes schließen. Aber wer zum Teufel latschte in dieser Affenhitze in so einem Anzug rum???

Der Typ stand in lässiger Haltung da und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Er starrte in die Richtung, wo sich Mamoru und der Dämon befanden. Als er endlich sprach, war seine Stimme durch den Helm etwas gedämpft:

"Aus der Oortschen Wolke bin ich hier, um dieses Sonnensystem vor dem Bösen zu beschützen ... ich bin Sailor Asteroid!"

"...Sailor ... Asteroid...?", fragte Mamoru flüsternd nach. Irgend eine Glocke klingelte in seinem Oberstübchen auf, aber er wusste dennoch mit diesem Namen nicht recht etwas anzufangen. Nicht so der Dämon.

"Verfluchter Sailorkrieger!", heulte er auf. Er wandte sich dem Mann zu und hob den Arm, um seine Steinpistole abzufeuern. Doch der Krieger reagierte viel schneller. Noch während der Stein durch die Luft geschleudert wurde, rannte Sailor Asteroid einige Schritte weit, um sich vor dem Geschoss in Deckung zu bringen, blieb dann abrupt stehen, streckte dem Dämon die Arme entgegen und schrie:

"Feuerregen - flieg!"

Etliche winzige, brennende Steinchen erschienen mitten in der Luft, die dem Dämon entgegenflogen und lange, brennende Schweife nach sich zogen; wie bei Sternschnuppen. Sie flogen wahnsinnig schnell. Und sie schienen eine gewaltige Wucht zu haben. Als der Dämon getroffen wurde, jaulte er auf und wurde davongeschleudert. Der steinerne Speer, der vor Augenblicken noch auf Mamorus Brust gerichtet gewesen war, zerbrach, und die Einzelteile regneten auf die Erde.

Mehr schlecht als recht arbeitete sich der Herr der Erde auf alle Viere hoch und krabbelte davon. Erst mal in Sicherheit bringen. Immerhin verspürte er jetzt wieder ein Gefühl in seinem rechten Bein. Auch der Dämon stand ächzend und keuchend so langsam wieder vom Boden auf, doch das registrierte Sailor Asteroid nur ganz nebenbei. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den verletzten Zivilisten, der hier beim Kampf Gut gegen Böse einfach nur fehl am Platze war. Der Sailorkrieger streckte die Hand aus und half dem Verwundeten, aufzustehen.

"Geht es Dir gut?"

"Ja, das wird schon wieder", antwortete Mamoru keuchend. "Danke!"

"Kannst Du alleine stehen?"

Mamoru versuchte es. Er hatte Probleme damit, das Gleichgewicht zu halten und er fühlte sich trotz der Aufregung müde und geschwächt, aber er schaffte es dennoch, sich aufrecht zu halten.

"Mir ist ganz schön schwindlig. Aber ich denke, ich bin okay."

In dieser kurzen Zeit hatte sich der Dämon erhoben und seinen geschundenen Körper begutachtet. Dort, wo die heißen Sternschnuppen in seinen Körper eingedrungen waren, war der Sand zu Glas geschmolzen, das sich noch nicht völlig abgekühlt hatte. Und der Dämon hatte auch schon eine Idee, was man damit machen konnte...

Er sammelte das flüssige Glas und ersetzte seine Steinpistole durch eine Glasschleuder...

Im hinterletzten Augenwinkel bemerkte Mamoru eine Bewegung. Der Dämon! Den hatte er sogar einen Augenblick lang völlig vergessen. Er sah nur, wie sich etwas Unförmiges mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zu bewegte.

"Pass auf!", rief er, stürzte sich vorwärts, riss den Sailorkrieger mit sich zu Boden und rettete ihn in der letzten Sekunde vor den heißen Glastropfen, die nun knapp hinter den Beiden in den Boden einschlugen.

"Das nächste Mal treffe ich!", prophezeite der Dämon und bereitete die nächste Salve vor.

"Nicht, wenn ich es verhindern kann!", tönte plötzlich eine weitere unbekannte Stimme. "Eissturm - flieg!"

Tennisballgroße Eiskristalle flogen dem Dämon um die Ohren und hüllten ihn in wenigen Sekunden ein.

Als Mamoru den Blick hob, standen da zwei Personen, die ihm bisher noch gar nicht aufgefallen waren. Auch sie trugen diese hypermodern anmutenden metallenen Rüstungen wie Sailor Asteroid. Doch an den Ausbeulungen im Brustbereich erkannte Mamoru überdeutlich, dass es sich diesmal um Frauen handelte.

Die Sailorkriegerin, deren Rüstung in erster Linie weiß war und wo nur einige wenige Stellen von schwarzer Farbe waren, ließ ihre Arme sinken. Sie war es, die gerade die Eisattacke gegen den Dämon abgeschossen hatte. Sie sprach als erstes:

"Aus der Oortschen Wolke bin ich hier, um dieses Sonnensystem vor dem Bösen zu beschützen ... ich bin Sailor Komet!"

Und dann stellte sich die letzte Person vor:

"Aus der Oortschen Wolke bin ich hier, um dieses Sonnensystem vor dem Bösen zu beschützen ... ich bin Sailor Aurora!"

Die Rüstung von Sailor Aurora glänzte golden im Licht der Sonne. Teile des Helmes, des Brustbereiches, der Unterarme und der Schienbeine waren bei ihr dunkelblau. Sie hob ihre Arme ausgestreckt in die Luft, während sich der Dämon allmählich wieder aus dem Eis befreite. Er sah die Sailorkriegerin in der goldenen Rüstung an und erstarrte, mit angsterfülltem Ausdruck auf dem Gesicht.

"Damit werdet ihr verdammten Sailorkrieger nie durchkommen!", schrie er.

"Das werden wir noch sehen!", rief Sailor Aurora. "Supernova - flieg und sieg!"

Über ihren Handflächen erschien ein gleißend heller, golden strahlender Ball. Er flog auf den Dämon zu, wurde dabei größer, verfärbte sich dunkelrot und beim Kontakt mit dem Monster explodierte der Ball und Flammen züngelten sich in den Himmel. Dann war alles vorbei. Etwas Asche und eine handvoll verbrannter Erde, mehr blieb nicht von diesem teuflischen Wesen übrig. Sailor Aurora und Sailor Komet kamen angelaufen, noch während Sailor Asteroid aufstand und Mamoru auf die Beine half.

"Ist noch alles an Dir dran?", fragte der Krieger.

"Ja, ich lebe noch", antwortete Mamoru und klopfte sich den Staub aus den Kleidern. "Das glaube ich zumindest."

Asteroid lachte. "Du machst auf mich einen sehr lebendigen Eindruck. Und übrigens ... vielen Dank. Es war echt mutig von Dir, dass Du mich vor der Attacke des Dämons beschützt hast."

"Nicht der Rede wert."

"Doch der Rede wert", bekräftigte Sailor Komet. "Außerdem bist Du schwer verletzt. Deine Stirn blutet."

Mamoru fasste sich an den Kopf und sah dann auf seine Fingerspitzen, die vom Blut rot schimmerten.

"Kein Grund zur Sorge", antwortete er. "Es ist nicht so schlimm, wie es vielleicht aussieht. Bald wird es wieder vergessen sein. ...Aber sagt mir ... was seid ihr? Was ... sind die Sailorkrieger?"

Komet und Asteroid starrten in Auroras Richtung. Das war zumindest Mamorus Eindruck, der die Gesichter unter den schwarzen Visieren auch aus dieser kurzen Entfernung nicht erkennen konnte. Anscheinend, so vermutete er weiter, war Aurora die Anführerin. Schon der goldene Glanz ihrer Rüstung verlieh ihr eine gewisse Autorität.

Aurora zögerte lange mit der Antwort. Schließlich meinte sie ausweichend:

"Es ist nicht leicht zu erklären. Sagen wir ... wir Sailorkrieger haben die Aufgabe, für den Frieden und die Ordnung zu sorgen. Wir stehen für Liebe und Gerechtigkeit. Das abgrundtief Böse hat sich in der Welt breit gemacht, und wir müssen es bekämpfen. Der Dämon, den Du vorhin gesehen hast und der Dich angegriffen hat, der gehörte zu unseren Feinden. Aber Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen, wir werden Dich in Zukunft vor diesen Teufeln bewahren, so gut wir nur können."

"Wir müssen gehen", sagte Komet.

Asteroid klopfte Mamoru auf die Schulter. "Pass auf Dich auf."

"Aber ... aber...", machte Mamoru. "Ich hab noch so viele Fragen!"

Doch darauf nahmen die Sailorkrieger keine Rücksicht. Mit der gewaltigen, schier übermenschlichen Kraft, die ganz offensichtlich den Sailorkriegern innewohnte, machten die drei einen gewaltigen Satz in die Luft, kamen etliche Meter weiter wieder auf und verschwanden schlussendlich in einer Wolke aus Staub.

"Na, ganz toll!", wetterte Mamoru los. "So was von unhöflich!"

Dann seufzte er resigniert. Da traf er endlich mal auf Leute, die ihm hätten seine Fragen beantworten können, und dann so was. Aber immerhin wusste er jetzt, dass er nicht ganz alleine war bei seinem Kampf gegen die bösen Mächte. Er hoffte, später wieder auf die Sailorkrieger zu treffen; vielleicht unter friedlicheren Umständen. Er überlegte sich, diese Krieger müssten eigentlich ein Privatleben haben, genau wie er. Wie mochten sie wohl als ganz gewöhnliche Menschen sein?

Mit diesen und ähnlichen Gedanken nahm er den Weg zur Mustang-Ranch wieder auf. Sein Pferd Hyperion war weit und breit nicht zu sehen.

<Na, hoffentlich ist er zumindest nach Hause gegangen. Wenn ich mich jetzt auch noch auf die Suche nach ihm machen muss, werde ich wahnsinnig!>

So trabte er in Gedanken versunken einige Minuten dahin und merkte erst ziemlich spät, dass ihm Rick auf Elvis und Elyzabeth auf Gabriel entgegen geritten kamen. Sie hatten Hyperion im Schlepptau. Mamoru winkte ihnen zu. Und mit einem Male kam ihm ein aberwitziger Gedanke in den Sinn: <Wieso bin ich eigentlich nicht vor dem Dämon davongelaufen?>

Dieser Gedankengang verblüffte ihn für einen Moment. Jeder Mensch, dessen Gehirn auch nur einigermaßen richtig arbeitete, hätte schreiend das Weite gesucht. Und was war Mamorus Gedanke gewesen? <Wie kämpfe ich gegen diesen Gegner an?>

Ganz so, als sei es für ihn das Natürlichste auf der Welt, gegen Dämonen und böse Geister zu kämpfen ... seltsam...

"Yo, Kleener!", begrüßte ihn Rick, als er und Elyzabeth heran waren. Er grinste und kaute auf seinem Kaugummi herum.

Das Mädchen an seiner Seite blieb nicht annährend so cool. Elyzabeth sprang von Gabriel herunter und rannte Mamoru die letzten paar Schritte entgegen.

"Mamoru! Wie geht es Dir? Was ist passiert? Himmel, Du blutest ja fürchterlich!"

Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und tupfte das Blut von seinem Gesicht.

Rick derweil blieb einfach nur auf Elvis hocken und schüttelte langsam den Kopf.

"Weiber, Weiber", meinte er. "Machen gleich aus ner Mücke nen verdammten Elefanten."

"Mir geht es gut", versuchte Mamoru Elly zu beruhigen. Irgendwie gefiel es ihm, dass sie sich Sorgen um ihn machte.

<Das hätte Hikari nicht getan>, dachte er verbittert. Dann schob er die Gedanken an seine Verflossene rücksichtslos zur Seite.

"Kleener", rief ihn Rick, "sach ma', wat zum verdammten Geier is'n passiert, zum Teufel? Dein Scheißgaul kommt so daher stolziert und hat keen Reiter nich auf'm Sattel. Wat war'n los, zum Henker? Und wat soll'n det Loch in Dei'm Kopp?"

"Ich ... ähm..."

Mamoru hatte irgendwie keine Zeit gefunden, die Wunde wieder verheilen zu lassen. Er hatte es schlicht und ergreifend ... vergessen ... so bescheuert das auch klingen mag. Aber er war so dermaßen tief in seinen Gedanken versunken, die sich nur um die neuen Sailorkrieger gedreht hatten, dass er nicht eine Sekunde damit verschwendet hatte, sich um seine Schmerzen zu kümmern.

Dafür kamen sie jetzt mit doppelter Wucht zurück.

Als Ausgleich.

Mamoru durfte jetzt nicht seine heilenden Fähigkeiten einsetzen. Das würde nur Fragen aufwerfen, die er jetzt lieber nicht beantworten wollte.

Was sollte er denn machen?

Sollte er sagen <schaut mal da, hinter euch!> und - plopp - schon wäre die Wunde wie durch einen Zauber verschwunden?

Wer's glaubt...!

Und von dem Kampf gegen einen Dämonen konnte er auch gar nicht erst anfangen. Wenn er dann noch von den Sailorkriegern erzählte, die ihn gerettet haben ... er säße binnen einer Stunde in der Klapse, das war sicher.

...Oder kannten Rick und die Anderen vielleicht die Auseinandersetzungen zwischen den Kriegern und den Dämonen?...

Doch der Herr der Erde wollte es lieber nicht auf einen Versuch ankommen lassen.

"Ey, Kleener! Ich wart noch uff ne Antwort! Oder is Dir die Sprache verschlagen?"

"Ähm ... ich ... ich ... kann ... mich nicht mehr daran erinnern. Tut mir Leid. Ich weiß es echt nicht mehr."

Elyzabeth schaute besorgt drein und Rick schob sich erst mal nur den Hut ein wenig aus der Stirn raus. Keiner sagte einen Ton.

Mamoru ging noch einen Schritt weiter:

"Es kann doch gut möglich sein, dass ich ... vom Pferd gefallen bin? Ich weiß es nicht mehr..."

Rick kaute erst eine Weile nur auf seinem Kaugummi herum. Dann meinte er:

"So, wie ich 'n ollen Hyperion kenn, isser 'n verdammt ruhiger Charakter. Nix kann den so flott aufschrecken. Der is nich auser Ruhe zu kriegen, isser nich. Wat, verdammt, könnt passiert sein, det Du so mir nix - Dir nix von dem sein Rücken runterfliegst?"

"Aber Rick", warf Elly ein, "selbst Hyperion kann sich erschrecken, wenn eine Klapperschlange oder etwas Ähnliches auftaucht."

"Hier gibt es Klapperschlangen?", fragte Mamoru verblüfft nach. Ihm war bisher noch keine über den Weg gelaufen ... oder gekrochen. Nicht, dass es ihm bewusst geworden wäre.

"Mehr als genug", antwortete sie.

Rick kam vermutlich auch allmählich auf den Gedanken, dass selbst der gutmütige Hyperion sich vor dem Einen oder Anderen fürchten mochte oder erschreckt haben könnte. Er wies mit dem Daumen auf das Pferd, das hinter Elvis stand.

"Steig auf. Wer bringen Dich erst ma' aufe Mustang-Ranch und schaun uns die Wunde ma' an. Echt, Kleener. Nix als Ärger mit Dir. Da lässt ma' Dich nur ein Ma' alleene ... und dann so wat. Ungeheuerlich, wa?"

Mamoru stieg also auf Hyperion. Elly gab noch zum Besten, dass es vielleicht das Gesündeste wäre, er würde mit seiner Verletzung lieber laufen, als zu riskieren, nochmals von Hyperion zu stürzen. Aber Rick hatte sie bald davon überzeugt, dass die Wunde lieber schnell behandelt werden sollte, und das Laufen zu anstrengend sei, besonders bei einer Verletzung, die den Gleichgewichtssinn massiv beeinflusse, wie das jetzt bei Mamoru der Fall war. So gab sie sich bald zufrieden und stieg wieder auf ihren Gabriel. Gemeinsam ritten sie in Richtung Mustang-Ranch.

Plötzlich fing Rick an zu grinsen wie ein Honigkuchenpferd. Er drehte sich den andren beiden zu und meinte:

"Mann, ich hätt jetz Bock auf Klapperschlangensuppe!"

Mamoru schaute ein wenig bedröppelt aus der Wäsche. Er wandte sich Elly zu:

"Meint der das ernst?"

"Ach, hör nicht auf den. Der hat immer mal wieder so seine fünf Minuten, in denen er rumspinnen muss."

"Spinnen", griff Rick Ellys Wort auf und kratzte sich am - heute ausnahmsweise mal sauberrasierten - Kinn. "Die dürfen natürlich auch nich fehlen, wa?"

Dann nahm er seine beiden Zeigefingerspitzen in den Mund und stieß einen langen, lauten Pfiff aus. Und als Mamoru einen Blick nach vorne warf, sah er auch, wozu das gut sein sollte: Tony und Fala kamen den Dreien entgegen geritten. Nur Augenblicke später hatten die beiden Mädels die kleine Gruppe erreicht und nun ritten sie gemeinsam zur Mustang-Ranch, wo Rick erst mal Mamorus Wunden versorgte.

<Vielleicht>, so dachte der Herr der Erde bei sich, als ihm ein etwas übertrieben dicker Verband um den Kopf gewickelt wurde, <ist es eine ganz gute Idee, alles wie einen Reitunfall aussehen zu lassen. Die Frage ist nur: Was sage ich, falls es wieder zu einem Kampf mit einem Dämonen kommt? Und wenn diese unschuldigen Menschen darin verwickelt werden?>

"Mach nicht so ein Gesicht", munterte Tony ihn auf. "Die Wunde verheilt ja auch wieder."

"Ich schaue nicht wegen meiner Verletzung so aus der Wäsche", erklärte Mamoru.

"Sondern?"

"Ich hab über etwas anderes nachgedacht", wich er aus.

"Nämlich?"

"Meine Güte! Und wenn ich über Oliven mit Käse überbacken nachdenke! Lass mich doch, um Himmels Willen!"

"Igitt." Das war alles, was Tony dazu sagte.

"Denk lieber über nützlichere Sachen nach", riet Rick. "Zum Beispiel darüber, wiede in Zukunft heil hier ankommst, wa? Wär vielleicht besser, Du würdst mi'm Auto herfahrn. Hast eins?"

"Natürlich nicht!", antwortete Mamoru und zog die Augenbrauen zusammen. "In Japan macht man den Führerschein erst im Alter von zwanzig Jahren!"

"Häh?", machte Rick. Dann zuckte er mit den Schultern. "Du bist aber nu nimmer in Japan. Du bist nu hier. Inn'en USA. Hier kannste 'n Führerschein mit sechzehn machen. Wat soll'n Dich davon abhalten?"

"Mein knappes Budget?", entgegnete Mamoru.

"Verdammt gutes Argument", erwiderte Rick und kratzte sich am Kinn. Dann klappte er den Erste-Hilfe-Koffer wieder zusammen und räumte ihn weg. In der Zeit ließ sich Fala auf eine der Couchen im Wohnzimmer fallen und sah Mamoru besorgt an.

"Geht es Dir denn jetzt schon besser?", erkundigte sie sich.

"Als ob nichts gewesen wäre!", tat Mamoru es ab. Dann fragte er:

"Ihr habt alle nach mir gesucht?"

"Klar doch!", sprudelte es aus Tony heraus. "Fala hat gespürt, dass was nicht in Ordnung war. Und als wir dann nach draußen gegangen sind, stand da Hyperion. Alleine. Da war natürlich was faul dran. Da sind wir in alle vier Himmelsrichtungen ausgeschwärmt, um Dich zu suchen."

Mamoru schaute Fala skeptisch an. Sie hatte es gespürt? Was konnte das bedeuten? Mamoru überlegte sich, was Fala vielleicht alles wissen konnte. Ob sie vielleicht sogar von dem Dämon und vom Auftauchen der Sailorkrieger wusste? Was mochte sie noch alles wissen?

Ihre Augen ... ihre tiefschwarzen Augen...

Ein eiskalter Schauer lief über Mamorus Rücken. Ihm war noch immer, als sei etwas an ihrem Blick, das er von früher kennen musste, und das er nicht verstehen konnte. Aber jetzt, genau in diesem Augenblick, ängstigte diese Tatsache den Herren der Erde. Er konnte es sich nicht erklären, aber etwas wie ein Instinkt tief in ihm warnte ihn, die junge Indianerin zu unterschätzen. Die mystische Aura, die sie umgab, zeigte deutlich, dass sie etwas Besonderes war.

Und wenn Mamoru sich täuschte?

Wie konnte es sein, dass ein eigentlich ganz normales Mädchen in ihm einen gefährlichen Eindruck erweckte?

Fala ...

Sie hat also...

"...was gespürt", murmelte Mamoru seine Gedanken halblaut vor sich her. "Fala? Sag mir bitte ... wie ist das, wenn Du ... ich sag mal ... die Zukunft vorausahnst? Wie fühlt sich das an? Siehst Du richtige Bilder in Deinem Kopf? Oder wie darf ich mir das sonst so vorstellen?"

"Gefühle zu erklären ist nicht so leicht, wie Du Dir bestimmt vorstellen kannst", antwortete Fala mit leiser Stimme. Der stechende Blick in ihren tiefschwarzen Augen bohrte sich so tief in Mamoru hinein, dass er für einen Augenblick glaubte, sie könne nicht nur die Zukunft sehen, sondern auch Gedanken lesen und ihn hypnotisieren. "Ich werde trotzdem versuchen, es zu beschreiben. Manchmal ist es nur sehr schwach. Dann ist es mehr ein Gefühl; ein Instinkt, der tief im Herzen sitzt, und der nicht leicht zu deuten ist. Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich irre, am höchsten. Manchmal kommt es mir so vor, als ob ... wie soll ich sagen? ... als ob ich ein leises Wispern in meinem Kopf höre. Gerade so leise, dass ich die Worte selbst nicht mehr verstehen kann. Aber ich habe gelernt, dass dann meist eine Gefahr droht, und dass ich mit erhöhter Wachsamkeit auf meine Umwelt achten sollte. Und manchmal ist alles sehr intensiv; dann sehe ich wirklich einen Film vor meinen Augen. Der kann auch qualitativ besser oder schlechter sein. Manchmal sehe ich nur Bilder; und sehr selten bin ich mir der gesamten Situation bewusst, die mir gezeigt wird. Und dann ist es auch noch davon abhängig, ob ich schlafe oder wach bin. Im Traum werde ich nicht so leicht von äußeren Einflüssen gestört und abgelenkt. Aber ich kann meine Visionen nie steuern. Ich kann nicht selbst bestimmen, ob ich jetzt eine bestimmte Zukunft sehen kann. Doch dazu verwende ich ganz gerne meine Tarot-Karten. Aber ich nutze sie eigentlich eher selten. Und bevor Du fragst: Nein, ich kann Dir nicht die Lottozahlen von nächster Woche sagen."

In ihrem Gesicht war nicht das geringste Fünkchen an Humor zu lesen gewesen, als sie den letzten Satz gesprochen hatte. Sie blieb die ganze Zeit über ernst, ja regelrecht gefühlskalt. Als habe jemand einer sehr hübschen Porzellanpuppe das Sprechen beigebracht.

Noch ehe Mamoru ihre Worte im Geiste fertig überdenken konnte, fuhr sie mit ihren Erzählungen fort:

"Mein vollständiger Name lautet Fala Dreaming Tear. Wie ich schon oft genug ausgeführt habe, hat <Fala> die Bedeutung <Die Krähe>. Und auch mein Nachname hat eine besondere Bedeutung. Unter meinen Ahnen hat es schon viele wie mich gegeben. Menschen, die eine Ahnung davon hatten, wie die Zukunft verlaufen könnte. Die Zukunft, die von meinen Vorfahren prophezeit worden ist, war meist von negativem Einfluss bestimmt. Naturkatastrophen, Hungersnöte, Krankheit, Tod ... die Liste ist lang. Nur wenige der Vorhersagen verheißen Gutes. Und auch, wenn man die Zukunft zu kennen glaubt, so hilft das zumeist nur sehr wenig. Man kann sich dann mental auf das Kommende einstellen, aber verhindern kann man es in den meisten Fällen nicht. Der menschliche Geist ist eigentlich von Natur aus nicht dazu geschaffen, so viel Leid zu ertragen. Die Visionen bescherten so Manchem tränenreiche Träume. Viele meiner Vorfahren sind unter der psychischen Belastung zusammengebrochen. Sie wurden verrückt oder starben weitaus früher, als normal gewesen wäre. Und weil ihre Visionen - ihre Träume - so voller Trauer waren und so viele Tränen einbrachten, wurde daraus der Name all derer, die das Blut meiner Ahnen in sich tragen, und all derer, die eben dieses Blut in den weiteren Generationen tragen werden. Dreaming Tear. Die träumende Träne. Oder auch der Traum der Träne. Das Symbol für das Leid dieser Welt schlechthin."

Das Leid dieser Welt.

Mamoru kannte das Leid dieses Planeten. Er hatte einen kleinen Vorgeschmack davon bekommen, was es alles an Glück und Schmerz auf dieser Erde gab, als damals der Goldene Kristall zum ersten Mal erschienen war und er als der Herr der Erde erwachte. Auch, wenn diese Eindrücke, die er damals gesammelt hatte, nur für Sekundenbruchteile auf ihn eingestürmt waren, so hatte er dennoch nichts von ihrer Gewalt vergessen können. Ein ähnlich intensives Gefühl hatte er danach nie mehr verspürt.

Mamoru vermutete, dass Falas Visionen wohl nicht ganz so intensiv waren wie seine Verschmelzung mit diesem Planeten, aber als Ausgleich dafür traten sie wesentlich häufiger auf. Er fühlte das sachte Aufkommen von Mitleid in seinem Herzen. Fala musste wohl schon jede Menge durchgemacht haben. Wenn man es von dieser Warte betrachtete, dann war es nur verständlich, dass die junge Indianerin einen solch harten und eisigen Eindruck machte. Mit einem gewissen Pensum an negativen Einflüssen stumpfte der menschliche Geist allmählich ab.

Elyzabeth, die fast die ganze Zeit gegen die Wand gelehnt dagestanden hatte, entfernte sich nun von ihrem Platz und hockte sich neben Mamoru auf das Sofa.

"Nun mach Dir keinen Kopf", sagte sie und knuffte ihm gegen die Schulter. "Fala hat sich längst dran gewöhnt. Ihr macht es nichts aus."

"Halt Du Dich da raus!", blaffte Fala sie an. "Du hast ja keine Ahnung, was das alles für mich bedeutet!"

"Eine Runde Mitleid für Miss Universum!", spottete Elyzabeth daraufhin.

"Das muss ich mir nicht bieten lassen!" Wutentbrannt sprang Fala auf.

"Dann nimm doch Deinen Hexenbesen und zauber Dich davon!", entgegnete Elly lautstark. Auch sie war jetzt auf den Beinen.

"Hey, hey!", mischte Mamoru sich ein. "Kein Streit, ihr beiden!"

Elly wandte sich ihm zu. In ihren Augen blitzte es vor Zorn.

"Merkst Du denn nicht, Mamoru, wie sie sich aufplustert? Die Schnepfe denkt sich doch nen Scheißdreck zusammen, um toll dazustehen!"

"Weißt Du", meinte Mamoru zögerlich, "irgendwie ... glaube ich Fala. Es gibt auf dieser Welt ne Menge Zeug, dass man sich nicht so leicht erklären kann."

"Du..." Elly stockte kurz. "Du stellst Dich auf ihre Seite? Das ... das ist zuviel."

Damit rannte sie aus dem Wohnzimmer.

"Elyzabeth!", rief Mamoru noch hinterher. Doch da knallte auch schon die Tür zu.

Fala setzte sich wieder hin. Ihr Gesicht zeigte nun wieder keine Gefühlsregung mehr. Auch Mamoru setzte sich seufzend hin.

"Was ist mit ihr los?", fragte er.

Rick grinste und winkte ab. "Lass det ma' gut sein. Weißte, Elly ... se is bisschen ... nu ja ... einzigartig. Ich weiß irgendwie nie, wat in der ihrem Schädel abgeht. Ma' isse voll still und gibt keen Ton nich von sich, und ma' geht se von null uff hundertachtzig in drei Sekunden. Kann sein, Moin hat se wieder alles vergessen."

"Sie wirkte irgendwie gekränkt auf mich", murmelte Mamoru nachdenklich. "Ob ihr meine Meinung so wichtig war?"

"Wat, für Elly? Deine Meinung wichtig? Lass mich Dir ma' eins sagen, Kleener: Elly is ne Männerhasserin. Ich wüsst nich, wieso die sich für nen verdammten Piepton von Dir interessieren tät."

"Eine Männerhasserin?", fragte Mamoru verblüfft nach. Dann grinste er verschmitzt. "Dät is mia vadammt nomma gaa nisch so voägäkomm', wa?"

"Wat'n'dat'n??", fragte Rick verständnislos.

"Ich wollte nur mal so reden wie Du", antwortete Mamoru schulterzuckend, woraufhin sich Tony köstlich amüsierte. Sie bekam sich schier nicht mehr ein vor Lachen. Selbst Fala konnte das ein kleines Lächeln abringen.

"Lass det ma' besser mein Ding sein, verfluchte Scheiße nomma, wa?", antwortete Rick. "Wirst schon seh'n. Elly hat bisher keenen Mann nich an sich ran gelassen, und Du wirst nich der Erste sein, Kleener."

Tony nahm ihren Cowboyhut ab, kratzte sich nachdenklich am Kopf und meinte:

"Ich verstehe gar nicht, warum Elly so mies gelaunt ist. Immerhin hat sie in ein paar Tagen ihren siebzehnten Geburtstag."

"Noch bisschen mehr wie ne Woche", pflichtete ihr Bruder ihr bei.

"Und? Habt ihr eine Party geplant?", wollte Mamoru wissen.

"Aber hallo!" Rick grinste breit und kaute einige Male auf seinem Kaugummi herum, ehe er weitersprach. "Ich denk ma', die Tene is so wat von passend!"

"Die Tene?", fragte der Herr der Erde nach. "Was soll das denn sein?"

"Die Tenebrae", erklärte Tony. "Du kennst doch Rick. Er muss alles abkürzen."

"Genau", grinste Rick breit. "Ich würd Dich zwar auch abkürzen, Kleener, aber Du bist ja schon so kurz."

"Wie rücksichtsvoll", murmelte der Herr der Erde sarkastisch. Er seufzte. "Um aufs Thema zurück zu kommen, was könnte ich denn für Elly zum Geburtstag besorgen? Ich kenne sie bisher ja kaum. Wofür interessiert sie sich?"

Tony zuckte mit den Schultern. "Fürs Reiten, für ihren Wolf Terra, und ansonsten braucht sie nur manchmal etwas Luft zum Atmen. Ich hab echt kein Plan, was ihre Vorlieben sind. Manchmal glaube ich, sie hat keine."

"Sehr hilfreich ist das grade nicht", meinte Mamoru. Er warf einen Blick zur Tür, durch die Elyzabeth vorhin verschwunden war. "Was meint ihr, soll ich mal mit ihr reden?"

"Du machst Dir wirklich Gedanken um sie, hab ich recht?", stellte Tony fest.

Darauf erklärte er:

"Ich möchte bloß nicht, dass sie sich meinetwegen schlecht fühlt."

Tony nickte. "Folg mir. Ich zeig Dir, wo ihr Zimmer ist."

Sie führte ihn quer durchs Haus, einen Flur entlang, und zeigte ihm die Tür. Dann ging sie wieder zurück. Mamoru klopfte an. Keine Reaktion. Er klopfte erneut.

"Elyzabeth? Ich bin's, Mamoru. Darf ich rein kommen?"

Von drinnen erklang leise ihre Stimme:

"Komm rein."

Er betrat ihr Zimmer. Es war sehr spartanisch eingerichtet. Ein Bett, ein großer Kleiderschrank, eine Kommode, ein Teppich. Mehr nicht. Elyzabeth lag auf dem Bett, Terra besetzte das Fußende. Seine Herrin starrte einfach nur zur Decke.

"Was ist denn?", fragte sie leise und monoton.

"Darf ich mit Dir reden?"

"Worüber?"

Mamoru lehnte sich gegen die geschlossene Tür. Er wusste nicht recht, wo er anfangen sollte. Einen Moment lang war es sehr still im Zimmer. Die Ruhe wurde nur von leisen Atemzügen unterbrochen, und von Terra, der irgendwann aufstand, auf Mamoru zugelaufen kam und ihn mit fiependen Geräuschen begrüßte. Der Herr der Erde fuhr ihm stumm über das weiche, silbrig glänzende Fell.

"Warum hast Du vorhin so heftig reagiert?"

Elly dachte nach. Dann sagte sie:

"Weiß nicht."

"Was bedeutet Fala Dir?"

"Gar nichts." Sie zögerte kurz. "Sie ist eine Hexe."

"Was stört Dich an ihr?"

"Dir geht es bloß um sie!", giftete Elly.

"Wenn es mir nur um sie gehen würde, wäre ich jetzt nicht bei Dir."

Sie seufzte. Dann erhob sie sich aus ihrer liegenden Position, hockte sich auf die Bettkante und klopfte auf den Platz neben sich. "Setz Dich."

"Danke." Er kam ihrem Angebot nach. "Sag mir, was geht in Dir vor?"

"Warum fragst Du?"

"Weil es mich interessiert", antwortete er.

Sie sah ihn an. Er lächelte zurück. Jetzt lächelte sie auch.

"Das tust Du viel zu selten", sagte er.

"Was denn?"

"Lächeln. Das solltest Du viel öfter tun."

"Wenn ich einen Grund dazu hätte...", antwortete sie.

"Du hast einen Grund", meinte er. "Einen guten Grund. Mich."

"Dich?"

"Würdest Du für mich ein wenig öfter lächeln?"

"Mamoru...?", flüsterte sie.

Dann flog mit einem lauten Knall die Tür auf und Rick kam mit klirrenden Sporen hereingeschlendert.

"Ey, Kleener! Ich hab verdammt nomma nich'n ganzen, verfluchten Tach Zeit. Kommst endlich? Du bist hier, für was zum lernen!"

"Schon mal was von Anklopfen gehört?", antwortete Mamoru spitz.

"Nee. Wat'n'dat? Schwing die Hufe, Kleener. Ich wart draußen."

"Sag mal, Rick, hast Du mir nicht beigebracht, ich soll nicht so hetzen? Und dass ihr hier im Westen alle Zeit der Welt hättet?", meinte der Herr der Erde.

"Nich hetzen, nee, das sollste echt nich. Aber rückwärts laufen is auch bisschen übertrieben. Hopp, beweg Deinen breiten Fernsehsessel-Arsch!" Damit ging er wieder.

Mamoru schüttelte empört den Kopf. Dann wandte er sich Elly wieder zu:

"Geht es Dir jetzt etwas besser?"

Sie seufzte und nickte dann. "Mach Dir um mich keine Gedanken. Mir geht es gut. Nun geh schon, Rick wartet nicht gerne."

"Okay."

Mamoru stand auf und ging zur Tür. Ein letztes Mal drehte er sich noch zu ihr um.

"Wolltest Du nicht gerade noch irgendwas sagen?"

"Hab's vergessen."

"Wenn es Dir wieder einfällt, so viel Zeit wird Rick gerade noch aufbringen können. Ich bin gerne da, zum Zuhören."

Dann verschwand er, seinem nächsten Reitunterricht entgegen.
 

Auch, als der Tag endlich seinem Ende entgegen ging, machte es sich noch Vorwürfe. Denn ohne dass das Ziel seine Anwesenheit bemerkt hätte, war es doch in der Zeit des Kampfes in der Nähe gewesen.

Nur, dass es nicht von Anfang an zur Stelle gewesen war.

Und das hätte eigentlich der Fall gewesen sein müssen.

Als es am Ort des Geschehens angekommen war, da war der Kampf schon im vollen Gange. Und es hatte zu lange gezögert. Beim Auftauchen der Sailorkrieger hatte es nicht mehr einschreiten können. Denn das hätte unter Umständen bedeutet, die Identität des Herrn der Erde zu verraten. Man hätte ihn nicht mehr für einen gewöhnlichen Sterblichen halten können, wäre er von jemandem wie ihm beschützt worden.

Es verfluchte sich selbst dafür, dass es in seiner Mission so kläglich versagt hatte. Diesmal war alles noch gut gegangen. Und das nächste Mal?

"Mach Dir nicht zu viele Gedanken", versuchte das Tier ihn zu beruhigen. "Der Herr der Erde hat inzwischen gelernt, auf sich aufzupassen."

"Ja, das habe ich gesehen!", giftete es spöttisch. "Der Dämon hätte ihn erledigt, wenn dieser Hampelmann von Sailorkrieger nicht aufgetaucht wäre!"

"Gräme Dich nicht um Sachen, die unabänderlich sind", riet ihm das Tier. "Lass die Vergangenheit ruhen und lerne aus ihr in der Gegenwart für die Zukunft."

"Du hast wohl Recht, mein Freund", sprach es seufzend. "Dennoch lässt mich der Gedanke nicht los, dass ich meine Pflicht vernachlässigt habe."

Es dachte einen Moment lang nach.

"Vielleicht...", sagte es, "...vielleicht wäre es besser, ich wäre Tag und Nacht bei ihm. Ich kann meine menschliche Identität auch wieder aufgeben. In meinem früheren Leben bin ich schon kein Mensch gewesen; Warum also sollte ich jetzt einer sein?"

"Um den Feind nicht auf den Herren der Erde aufmerksam zu machen", erinnerte ihn das Tier. "Die Priorität liegt in seinem Schutz. Denn ohne ihn ist unsere Mission nicht erfüllbar."

"Ich weiß", seufzte es.

Allmählich legte sich die Dunkelheit der Nacht über das Land. Millionen von Sternen schienen vom klaren Himmel herab auf die Erde. Man hätte die Atmosphäre als friedlich bezeichnen können. Wenn es da nur den Feind nicht gäbe...

"Glaubst Du, dass der Herr Der Erde in Sicherheit ist?"

"Warum sollte er das nicht sein?", antwortete das Tier.

"Ich weiß nicht. Mir wäre es nur lieber, er bliebe in meiner unmittelbaren Nähe."

Darauf riet ihm das Tier:

"Tu zumindest so, als seiest Du ein Mensch, leg Dich hin und schlaf. Morgen ist ein neuer Tag, an dem wir unsere Pflicht erfüllen müssen."

Jaspisyte und Amethysyte arbeiteten emsig in der Tenebrae. Was zunächst keiner geglaubt hatte, ist letztendlich doch wahr geworden: Der Laden war rappelvoll. Selbst Amethysyte war jetzt voll überzeugt davon, dass Jaspisytes Gedankengänge der Schlüssel zum Erfolg waren. Die Tenebrae wurde über den Tag hinweg zu einem gemütlichen Ort, der all das bot, was ein Herz des Wilden Westens höher schlagen ließ. Dennoch gab es da einen ganz besonderen Punkt, der die Tenebrae von den gewöhnlichen Pubs unterschied: Die beeindruckende Innenarchitektur vom Anfang war geblieben. Es war kaum zu glauben, aber der gesamte Raum - der Boden aus schwarz spiegelndem Obsidian, die gläsernen, mit Lapislazulikieseln gefüllten Säulen und die silbernen, matt glänzenden Wände - konnte sowohl edel als auch gewöhnlich wirken; je nachdem, was man daraus machte. Und wenn dann der Abend heranbrach, verwandelte sich die Tenebrae innerhalb einer halben Stunde in ein piekfeines Lokal; sowohl sehr nobel, als auch sehr preiswert. Die beiden Adjutanten aus dem Königreich des Dunklen hatten wirklich die perfekte Balance gefunden.

Nicht, dass Amethysyte es jemals zugegeben hätte, aber insgeheim war er begeistert davon, dass sich Jaspisyte etwas so Gutes hatte einfallen lassen.

Jaspisyte - oder Jan, wie er sich in der Welt der Menschen ja nun nannte - stellte einen Teller mit Essen vor einem Gast ab, wünschte einen guten Appetit und wandte sich dann dem Eingang zu, um die neuen Gäste zu begrüßen:

"Willkommen, in der Tenebrae..."

Dann wurde das glückliche Lächeln in seinem Gesicht regelrecht zu einem freudigen Strahlen.

"...ach, ihr seid's! Kommt rein! Macht es euch gemütlich, da hinten in der Ecke ist noch ein Tisch frei. Ich komme dann sofort."

"Nich hetzen, hier, wa?", grinste Rick. In seinem Gefolge waren Fala mit Apollo auf der Schulter, Elly mit Terra, Tony und Mamoru. Für letzteren hatte Jaspisyte irgendwie eine besondere Sympathie aufgebaut in den letzten paar Tagen. Der Adjutant fand, dass er eine gewisse Ausstrahlung besaß. Aber davon abgesehen war jeder dieser fünf Leute sein Freund geworden. In der letzten Zeit waren sie jeden Tag in der Tenebrae gewesen.

Jaspisyte notierte sich noch schnell eine Bestellung und fand dann endlich Zeit, sich seinen neuen, menschlichen Freunden zuzuwenden.

"Wie geht's? Was soll's heute sein? Das Übliche?"

Allgemeines Nicken. <Das Übliche>, für Jaspisyte hieß das eine Cola für Mamoru und vier Mal Bier für die Anderen.

"Kommt sofort!", lachte Jaspisyte und verschwand in der Küche. Er freute sich immer besonders, wenn er seinen Stammgästen eine Freude machen konnte. Er gab einige Instruktionen an seine Dämonen weiter, die sich als gewöhnliche Menschen getarnt hatten und fleißig hier in der Tenebrae mitarbeiteten. Dann machte er die Getränke zurecht und brachte sie an den Tisch.

"Was gibt's Neues?", erkundigte er sich, während er sich für einen Moment zu seinen Freunden setzte. Er interessierte sich immer brennend für die Geschehnisse in der Welt der Menschen.

"Nix", antwortete Rick kurz und bündig, nachdem er einen Schluck Bier getrunken und dann das Glas auf den Tisch geknallt hatte. "Du bist hier inner hinterletzten Ecke vonner Welt, wa? Müsstest nu langsam ma' kapiert ham, det hier verdammt nomma überhaupt nix abgeht, Junge."

"Moment!", warf Mamoru ein. Er grinste breit und lehnte sich zurück. "Es gibt doch Neuigkeiten!"

"Ach ja?", fragte Elyzabeth nach. "Was denn?"

"Ich wollte mit der Verkündung bis zu unsrer Ankunft hier warten", führte Mamoru aus. In seinen Augen machte sich ein freudiges Funkeln breit.

"Spuck's schon aus", forderte Tony.

"Also", fuhr Mamoru gedehnt aus und ließ sich betont viel Zeit, ehe er endlich auspackte:

"Ich hab meinen Onkel Seigi und meine Tante Kioku endlich überreden können. ...Ich hab ihre Erlaubnis eingeholt, endlich den Führerschein machen zu dürfen!"

Begeistertes Gejohle aus den Kehlen der Anwesenden antwortete.

"Det is ja verdammt nomma der pure Hammer, Kleener!", rief Rick aus.

"Ich freu mich für Dich!", sagte Elly und lächelte glücklich.

Fala nickte ihm lächelnd zu. Tony und Jaspisyte klopften ihm anerkennend auf die Schultern. Der Adjutant wusste inzwischen genug von der Welt der Menschen, dass er eine ungefähre Ahnung davon hatte, was der Führerschein und somit die Genehmigung, ein Auto führen zu dürfen, für Mamoru bedeutete.

"Danke, danke", sagte Mamoru. Er war sehr stolz darauf, dass er es nach Tagen der Bettelei und der langen Reden endlich geschafft hatte, seine Erziehungsberechtigten zu überzeugen.

"Das feiern wir!", schlug Jaspisyte vor. "Ich geb euch eine Runde aus. Geht auf's Haus."

Er stand von seinem Stuhl auf, und wandte sich der Küche zu, um die versprochenen Getränke zu holen, als Mamoru ihm ein paar Schritte nachging und ihn zurückhielt.

"Jan?"

"Ja, was gibt's?"

Mamoru flüsterte ihm leise zu:

"Bleibt's dabei? Du weißt schon. Die Reservierung, damit wir hier Elyzabeths Geburtstag feiern können?"

Jaspisyte nickte ihm zu.

"Na, klar doch!"

"Schön", freute sich Mamoru. "Das wird super!"

Jaspisyte freute sich wie ein kleines Kind, das etwas ausgeheckt hatte. "Logo!"

"Und kein Wort zu ihr!", sagte Mamoru mit einem Augenzwinkern.

Jaspisyte nickte. Er freute sich schon auf diesen Geburtstag.
 

Schon seit einer Woche war Mamoru auf seiner neuen Schule. Er hatte sich riesig gefreut, als er am ersten Tag erfahren hatte, dass er mit Elyzabeth, Tony und Fala in einer Klasse war. Rick war mit der Schule längst fertig; anstatt zu studieren, half er lieber seiner Mutter auf der Ranch bei der Arbeit.

Inzwischen hatte sich für Mamoru schon eine gewisse Routine entwickelt. Sein Alltag bestand darin, morgens von seinem Onkel, der mit dem Wagen auf dem Weg zur Arbeit war, an die kleine Bahnstation in Orendaham gebracht zu werden, wo Elly, Fala und Tony schon standen und warteten, dann fuhr er mit den anderen mit dem Zug zur Schule, nach dem Unterricht kam er noch mit zur Mustang-Ranch, wo er mit Ricks Hilfe seine Reitkünste verbesserte, und erst abends kehrte er nach Hause zurück, wo er etwas aß und sich um seine Schulaufgaben kümmerte.

Heute allerdings wurde an diesem Plan eine ganze Menge geändert. Denn heute, an diesem 15. April, war endlich Ellys Geburtstag. Anstatt wie sonst immer direkt nach der Schule mit dem Zug nach Orendaham zu fahren, blieben Mamoru und die drei Mädchen noch in der Stadt und vertrieben sich etwas Zeit damit, in einigen Läden herumzustöbern. Anfangs hatte sich Elyzabeth noch dagegen gewehrt; sie hasste es, bummeln zu gehen. Doch irgendwann hatte Mamoru sie überzeugen können. Allerdings nicht ganz ohne Hintergedanken...

Später, als die Vier in Orendaham aus dem Zug stiegen, wurde Elyzabeth schnurstracks zur Tenebrae geschleift.

"Was wollen wir denn hier?", fragte Elly misstrauisch. Dass ihre Laune immer weiter dem Tiefpunkt entgegen sackte, entging Mamoru keineswegs.

"Feiern", erklärte Tony.

"Mir ist aber nicht nach feiern", entgegnete Elly, und ihre Stimme bekam schon einen mürrischen Unterton.

"Sei kein Spielverderber", sagte Tony darauf. Dann machte sie sich an dem rot-weiß karierten Halstuch zu schaffen, das Elyzabeth trug.

"Was soll das werden, wenn's fertig ist?", fragte das Geburtstagskind.

"Wirst schon sehen", sagte Tony. Dann dachte sie noch nach, grinste und sagte darauf:

"Oder besser gesagt: Du wirst nicht sehen..."

Sie band das Tuch um Ellys Augen, fuchtelte ihr prüfend vor dem Gesicht rum und nickte dann zufrieden.

"Es kann losgehen", stellte sie fest.

Mamoru ergriff Elyzabeths Hand. Sie fühlte sich warm an. Es war ein prickelndes Gefühl, als ob winzige Blitze zwischen den Händen hin und her schießen würden.

Mamoru war aufgeregt. Aber irgendwie war es mehr als nur die Vorfreude auf die Party. Es war vielmehr eine plötzlich auftretende Spannung, die genau in der Sekunde begonnen hatte, als seine Finger die ihren berührten.

Er führte sie Schritt für Schritt in die Tenebrae hinein. Und er spürte die traumwandlerische Sicherheit, mit der sie sich bewegte, und die sie durch ihre Fingerspitzen hindurch an ihn sendete. Es lag ein tiefes Vertrauen in ihr. Ein Vertrauen darauf, dass er sie sicher in ihrer temporären Blindheit führen würde. Er wusste gar nicht, womit er sich dieses tiefgehende Vertrauen in so kurzer Zeit verdient hatte. Aber er fühlte sich geehrt. Mit jedem Schritt, den er sie führte, klopfte sein Herz schneller. Er lächelte selig, als er sie in das Innere des Lokals lotste und ihr dann ihre Augenbinde wieder abnahm.

"HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!", tönte aus vielen Kehlen gleichzeitig.

All die Klassenkameraden hatten die Zeit, die Elly, Fala, Mamoru und Tony in der Stadt verbracht hatten, dazu genutzt, nach Orendaham zu kommen und den Raum fertig vorzubereiten. Auch Rick war da, und er hatte sogar Apollo und Terra mitgebracht. Der Wolf kam auf Elly zugerannt und begrüßte sie stürmisch, danach ging er auch zu Mamoru und drückte seinen Leib gegen Mamorus Beine. Apollo erhob sich von Ricks Schulter, flog zu Fala und setzte sich auf ihrem vorgestreckten Unterarm ab.

Ansonsten war es für einen Moment erdrückend still in diesem Raum. Elyzabeth ließ ihre Blicke über die bekannten Gesichter schweifen und lächelte. Doch Mamoru, der noch immer ihre Hand in seiner hatte, spürte fast schon körperlich, dass etwas nicht stimmte. Die Wärme, die bis gerade noch von ihr ausgegangen war, verebbte und brach schließlich ganz ab. Ihre Hand fühlte sich noch warm an, aber diese Spannung, dieser gewisse Enthusiasmus, das alles war wie weggewischt. Es war nur noch physikalische Wärme, die Mamoru ertastete. Er konnte es sich nicht erklären, aber er spürte die empfundene Kälte aus Elyzabeths Gefühlszustand. Für einen Moment schien es, als wolle dieses intensive Gefühl der Ablehnung auch auf Mamoru übergehen. Doch im richtigen Augenblick ließ Elly seine Hand los und unterbrach damit unbewusst seine eindringliche Bindung zu ihr. Der Herr der Erde hatte noch gar nicht gewusst, dass er auch fremde Gefühlsregungen erfühlen konnte. Er starrte verblüfft auf seine nun leere Hand. Ob er auch seine eigenen Gefühle an andere aussandte?

"Ich freue mich ja so sehr, dass ihr alle da seid", heuchelte Elyzabeth. Sie war eine verdammt gute Schauspielerin. Mamoru schätzte, dass er wohl der Einzige im Raum war, der wusste, dass ihre Worte blanker Hohn waren. "Ich bin regelrecht sprachlos. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll ... außer ... vielen Dank für die Mühe, die ihr euch meinetwegen gemacht habt. Das wäre doch nicht nötig gewesen!"

Alle applaudierten begeistert. Dann ging die Schwingtüre zur Küche auf, und Jan und Adam brachten eine große Platte mit einer riesigen Sahnetorte herein, auf der siebzehn brennende Kerzen standen.

Mamoru hockte sich etwas abseits des ganzen Trubels auf einen Stuhl, während das Geburtstagskind die Kerzen ausblies. Es war nicht so, dass Elly ihn nicht interessiert hätte, ganz im Gegenteil. Aber die bereits hinlänglich bekannte Prozedur des Geschenke-Auspackens war ihm im Moment nicht annährend so wichtig wie seine Grübeleien. Er starrte weiterhin fasziniert auf seine Hand; ganz so, als hätte er so was nie zuvor in seinem Leben gesehen.

Und er kam auf eine Idee.

Er hob den Blick und sah sich suchend um. Er musste jemanden finden, an dem er seine Entdeckung testen konnte.

Fala.

Auch sie stand etwas abseits der anderen Partygäste und starrte desinteressiert vor sich hin. Sie sah wohl keinen Sinn darin, den Geburtstag eines Menschen zu feiern, den sie so wenig leiden konnte. Und genau diese Tatsache konnte Mamoru sich nun zunutze machen, wenn er es nur geschickt anstellte. Er ging zu den Tischen an der Wand, auf denen zum einen das Geschirr und zum andren die Getränke abgestellt waren, befüllte eines der Gläser mit Saft und trug es zu Fala. Noch ehe sie Zeit hatte, auf ihn zu reagieren, packte er ihre Hand und drückte ihr das Glas hinein.

Es war ein wahrer Sturm von Gefühlen.

Schon in den ersten paar Millisekunden empfand Mamoru Falas Empfindungen als ein groteskes Wirrwarr von Hass, Desinteresse, Enttäuschung und Verwirrung, wild durcheinandergemischt mit seinen eigenen Gefühlen, die sich blitzartig an ihre anpassten. Sie konnte es nicht ausstehen, auf dieser Feier zu sein. Sie hasste die ganzen Menschen, die sie umgaben. Und vor allem hasste sie Elyzabeth. Sie ignorierte sie; oder zumindest versuchte Fala dies. Sie war an sich ein sehr stiller Charakter, und sie liebte die Ruhe; aber in diesem Moment wünschte sie sich etwas mehr Aufmerksamkeit. Sie hatte sich bei Mamorus plötzlichem Erscheinen ein wenig erschrocken und hatte noch keine Zeit gefunden, wirklich zu begreifen, was er denn jetzt so plötzlich von ihr wollte. Da war Neugierde. Sie wollte mehr über ihn erfahren.

Und da war noch so viel mehr in ihr.

Die Abscheu davor, berührt zu werden. Ganz gleich, von wem.

Und Angst. Angst vor einer grauenhaften Zukunft, die sich anbahnte.

Und Hilflosigkeit, die sie gegenüber ihren ständigen Visionen empfand.

Und Müdigkeit, weil sie schon so viel Schlechtes erlebt hatte, das an ihrem Geist zehrte.

Und... und... und...

Mamoru konnte von Glück reden, dass er noch die Kraft aufbringen konnte, das Glas zu halten, ohne dass es ihm aus der Hand glitt und ohne dass der Inhalt verschüttet wurde. Er beeilte sich, seine Finger wieder zurückzuziehen, um nicht mehr in Kontakt zu diesem grauenhaften Chaos an Gefühlen zu stehen. Ein leichtes, angestrengtes Zittern zog sich durch seine Muskelstränge. Er hatte einen Blick in einen tiefen, dunklen Abgrund einer fremden, menschlichen Seele geworfen. Und nun, im Nachhinein, wünschte er sich, er hätte es nicht getan.

"Ist was?", fragte Fala nach. "Du siehst auf einmal so blass aus."

Sie hielt ihm das Glas wieder hin.

"Das hier hast Du wohl nötiger als ich. Ich hab sowieso keinen Durst. Nimm."

Doch Mamoru wehrte ab. Einen weiteren Kontakt wollte er um jeden Preis vermeiden. Vielleicht waren ihre Gefühle für ihn so intensiv gewesen, weil er das Ertasten ihrer Empfindungen diesmal von sich aus gewollt hatte und es somit kein Zufall mehr war. Wenn er sich das nächste Mal - sollte überhaupt eines stattfinden - dagegen auflehnte, konnte es gut sein, dass der Strom an fremden Gefühlen nur noch minimal oder auch gar nicht mehr vorhanden war. Doch das Risiko war er jetzt noch nicht bereit einzugehen. Er ging wieder zurück und setzte sich auf seinen Stuhl. Was Fala nun von ihm denken mochte, war ihm sogar vollkommen egal.

Die Feier verlief dann so weiter, wie eine typische Geburtstagsparty nun mal verlief: Nachdem Elyzabeth einige Geschenke ausgepackt und etliche Hände geschüttelt hatte, wurde Musik angemacht. Einige tanzten. Andere unterhielten sich. Wieder andere aßen und tranken. Und mit der Zeit beruhigte sich Mamoru von seinem Schock wieder. Vom bloßen Rumsitzen und Grübeln kam er ja doch auf kein Ergebnis.

Er wusste nicht recht, was er nun großartig tun sollte. Die meisten Leute aus seiner Klasse kannte er noch nicht gut genug, und ihm war im Moment auch nicht danach, sie ausgerechnet jetzt näher kennen zu lernen. Und dann sah er Elly. Sie hockte mit grübelndem Gesicht etwas im Abseits des Trubels und starrte vor sich hin. Neben ihr saß Terra und hielt wachsam alle im Auge. Mamoru lächelte. Das Tier war sehr auf seine Herrin fixiert und ließ sie nicht allein, wenn es nicht absolut nötig war. Wirklich ein treuer Freund. Mamoru ging zu den Beiden hin und setzte sich neben Elyzabeth auf einen der Stühle.

"Du feierst nicht?"

"Ich bin kein begeisterter Fan von Partys", antwortete sie mit entschuldigendem Lächeln.

"Ich hab's gemerkt", erwiderte er darauf.

"Ach ja?", fragte sie. "War das so offensichtlich?" Sie seufzte schwer.

"Nein ... so offensichtlich nun auch wieder nicht. Aber vielleicht solltest Du auf Deiner eigenen, ganz persönlichen Party auch ein wenig feiern, tanzen und Dich unterhalten. Womöglich findest Du sogar Spaß daran."

"Irgendwie bezweifle ich das", entgegnete sie. Sie kraulte Terra gedankenverloren hinter den Ohren.

"Elyzabeth...", begann er, dann brach er ab.

"Ja?" Sie schaute ihn mit ihren grünen Augen an, voller Neugierde und Wärme.

Er lächelte sanft. Sie hatte irgendwas an sich, das ihn ständig zum Lächeln brachte. Irgendwas Liebenswertes. Irgendwas Außergewöhnliches.

Er holte ein kleines, verpacktes Kästchen aus der Brusttasche seines Hemdes und überreichte es ihr.

"Ich wollte nicht, dass es im Berg all der anderen Geschenke untergeht", erklärte er ein wenig schüchtern.

Vorsichtig entfernte sie das Papier und öffnete das Schächtelchen. Mit angehaltenem Atem holte sie das silberne Kettchen heraus, an dem ein etwa daumennagelgroßes, ebenfalls silbernes Hufeisen hing.

"...Mamoru...", hauchte sie leise.

"Darf ich?" Damit nahm er ihr vorsichtig die Kette aus der Hand, öffnete den Verschluss und legte Elyzabeth das Schmuckstück um den Hals.

"Mamoru...", setzte sie wieder an. Sie lächelte überglücklich. "...es ist wunderschön! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich ... ich bin Dir so dankbar dafür!"

Selbst Terra warf einen Blick darauf und wedelte mit seinem Schwanz.

"Gern geschehen." Er freute sich, dass ihr die Kette so gut gefiel. Er musste noch nicht einmal in körperlichem Kontakt zu ihr stehen, um zu sehen, dass ihre Begeisterung nicht nur gespielt war. Dieser Eindruck wurde sogar noch unterstrichen, als sich Elly kurzerhand dazu entschloss, ihn vor lauter Freude zu umarmen. Sofort wurde der Strom an Gefühlen in ihm viel intensiver. Er spürte, wie viel ihr sein Geschenk bedeutete. Und das machte ihn richtiggehend verlegen.

Als sie ihn wieder losließ sagte er:

"Du brauchst mir nicht so überschwänglich danken, Elyzabeth. Fühl Dich bloß nicht dazu verpflichtet! Mir reicht es, dass Du Dich einfach nur ein wenig freust."

"Nicht so bescheiden", lachte sie. "Ich wollte mich auf diese Weise bedanken."

"Echt?" Mamoru druckste etwas herum. "Dann ... dann..."

"Was dann?"

"...Rick hat gesagt ... dass Du ... wie soll ich das sagen, ohne Dich gleich zu sehr zu überrumpeln? ...er sagte, Du seist ... Du seist nicht sehr angetan von Männern..."

Elly schaute ihn ein wenig bedröppelt an.

"Es tut mir ja Leid", sagte er dann schnell, "ich wollte Dir echt nicht zu nahe treten..."

Sie winkte ab.

"Schon gut", sagte sie. "In gewisser Weise hat Rick ja Recht. Ich lasse nicht jeden dahergelaufenen Heini in meine Nähe. Aber..."

Sie legte ihre Hand auf den Hufeisenanhänger an ihrem Hals.

"...Du bist kein dahergelaufener Heini."

"Tja...", machte er, "...das nehme ich mal als Kompliment. Danke schön."

Beide lachten befreit.

"Was meinst Du, holen wir uns ein Stück Torte?", bot Mamoru an.

"Durchaus eine Idee, die mir gefallen könnte", antwortete Elyzabeth nickend.

"Also los", meinte er. Er stand auf, bot ihr seine Hand an, half ihr, ganz Gentleman, beim Aufstehen und ging mit ihr zu der herrlich angerichteten Geburtstagstorte. Selbst Terra bekam ein Stück ab.
 

Königin Perilia, die Herrin über das Königreich des Dunklen, saß auf ihrem steinernen Thron und starrte auf die violetten, wabernden Nebel in der magischen Kristallkugel ihres Zepters. Sie hob ihren Blick erst, als im Thronsaal ein schwarzer Nebel erschien, durch den unzählige rosafarbene Blütenblätter schneiten, woraufhin General Zoisyte und Lord Kunzyte erschienen. Die beiden Befehlshaber traten vor den Thron und machten einen demütigen Knicks.

"Zoisyte, Kunzyte", so begann Königin Perilia. Die pure Ungeduld schwang in ihrer Stimme mit. "Ich habe euch rufen lassen, um euch zu fragen, wie weit ihr bis jetzt mit eurer Arbeit gekommen seid. Also?"

Zoisyte sprach als Erster:

"Königin Perilia, ich habe den Energindikat erfunden; ein Gerät, mit dessen Hilfe man die Quelle von großen Energien bestimmen kann. Es fehlt im Augenblick nur noch an der Feinjustierung. Wenn ich also nur noch ein wenig Zeit..."

"Zeit, die wir nicht besitzen", unterbrach Königin Perilia ruppig. "Kannst Du mir garantieren, dass dieses Gerät uns in unserem Vorhaben überhaupt weiterbringen kann?"

"Verzeiht, Königin Perilia", mischte sich Kunzyte nun ein, "aber Zoisyte hat schon in der Vergangenheit großen Erfindergeist bewiesen, und seine Einfälle haben uns des öfteren weitergebracht. Bitte gebt ihm die Chance, sich vor Euch zu beweisen."

Königin Perilias Augen wurden zu schmalen, zornigen Schlitzen, als sie über die Worte ihres obersten Generals nachdachte.

"Zoisyte", sprach sie dann, "wie viel Zeit wirst Du benötigen?"

Darauf antwortete Zoisyte:

"Meine Königin, ich selbst kann kaum einschätzen, wie viel Zeit es benötigen wird, den Energindikat richtig einzustellen. Mein Adjutant Karneolyte berichtete mir davon, dass das Gerät noch zu ungenau arbeite. Ich muss einige Tests durchführen und..."

"Wie viel Zeit?!", unterbrach ihn Königin Perilia nun schon zum zweiten Mal.

Zoisyte dachte fieberhaft nach.

"ANTWORTE!", forderte Königin Perilia lautstark.

Zoisyte schluckte schwer, ehe er sagte:

"Einen Monat? Zwei, vielleicht?"

Ehe Königin Perilia Zeit fand, wieder loszupoltern, warf Kunzyte ein:

"Königin Perilia, präzise Arbeit benötigt nun mal Zeit. Aber wenn diese Zeit erforderlich ist, dann sollte sie auch gewährt werden. Immerhin steht hier viel auf dem Spiel. Wir können es uns nicht leisten, mit fehlerhafter Gerätschaft zu arbeiten. Ich bitte Euch inständig, Königin Perilia, gestattet Zoisyte diesen Zeitraum, und es wird sich lohnen! Ich flehe Euch an!"

"Hmm", machte Königin Perilia nachdenklich. "Zoisyte! Kannst Du mir garantieren, dass Du nicht mehr als diese zwei Monate brauchen wirst, um Deine Erfindung betriebsbereit zu machen?"

"Ja, meine Königin", antwortete er mit einem demütigen Knicks. "Ich gebe Euch mein Ehrenwort. Denn ich bin Zoisyte, der dritte Prinz der vier Himmel und repräsentiere als solcher Europa als einen Teil des Dunklen Königreichs."

"Und ich", so verkündete Kunzyte, "stehe mit meinem Wort dafür, dass diese Mission Erfolg haben wird. Ich übernehme die volle Verantwortung. Denn ich bin Kunzyte, der vierte Prinz der vier Himmel, der oberste Befehlshaber der vier Generäle im Königreich des Dunklen und der Herr über den mittleren Osten."

Auch er verbeugte sich.

"Also gut", entschied die Königin über das Dunkle Königreich. Sie nickte. "Euch beiden sei die Zeit von zwei Monaten gewährt. Aber keinen Tag länger! Sonst werdet ihr die Konsequenzen tragen! Geht jetzt!"

Ein letztes Mal verneigten sich Zoisyte und Kunzyte. Dann verschwanden sie aus dem Thronsaal.

"Du schickst ihn wieder raus?", fragte das Tier skeptisch.

"Die Zeit drängt", erklärte es. Dann fuhr es damit fort, seinen geistigen Ruf in die Welt hinaus zu schicken, um den Herren der Erde zu erreichen.

"Ich weiß", entgegnete das Tier. "Aber hältst Du das für eine gute Idee?"

"Aus welchem Grunde sollte ich davon absehen?", erwiderte es mit geschlossenen Augen.

"Ich bin mir nicht sicher, ob das nicht vielleicht böse enden könnte", antwortete das Tier skeptisch. "Dort, wo er früher war, konnte er sich verstecken. Er kennt praktisch nichts anderes als die Stadt. Er vermag sich darin viel besser zurecht zu finden. Doch das hier ist die weite Prärie. Er ist an diese Umgebung nicht angepasst."

"Deswegen passe ich ja auf ihn auf", erklärte es gelassen. "Der Herr der Erde hat sich bisher auch auf meine Führungskräfte verlassen können."

"So wie das eine Mal, als er fast von einem Auto überfahren worden wäre?", erinnerte das Tier kopfschüttelnd.

"Das war etwas Anderes", meinte es darauf. "Er hat sich zu diesem Zeitpunkt meinem Einfluss entzogen. Selbst schuld."

"Selbst schuld???", echote das Tier. "Ich kann kaum glauben, dass ausgerechnet Du das gerade gesagt hast!"

"Ich habe ihn unter Kontrolle", versicherte es.

"Und wenn nicht?", sagte das Tier spitz. "Seine Fähigkeiten kehren allmählich zu ihm zurück. Er ist der Herr der Erde, verdammt noch mal! Nicht mal Du wirst ihn ewig zügeln können. Wir können uns unvorhersehbare Patzer nicht leisten!"

"Das brauchst Du mir nicht sagen!", ermahnte es, ein wenig lauter als das vielleicht gut gewesen wäre. Zornig funkelte es das Tier an. "Was habe ich denn für eine Wahl? Wenn wir nicht bald finden, wonach wir schon so lange suchen..."

Es sprach nicht weiter, aber das Tier verstand auch so.

"Ich weiß, wir brauchen den Kristall. Dennoch bin ich noch nicht davon überzeugt, ob es eine so gute Idee ist, so leichtfertig mit dem Herrn der Erde umzuspringen."

"Ich bin nicht leichtfertig", belehrte es das Tier. "Ich bin vorsichtig. Aber die Zeit drängt nun mal! Meine Energie geht zu schnell zur Neige. Ich habe gewisse Dinge eben ... nicht mit eingerechnet. Ich werde bald wieder zum Schatten werden, wenn wir den Kristall nicht schnell finden! Das weißt Du genau!"

"Wir wissen doch noch nicht mal, wie und wo wir ihn suchen müssen", gab das Tier zu bedenken. "Ich habe einfach Angst, dass Du den Herrn der Erde in sein Unglück stürzt. Das darf um keinen Preis geschehen."

"Verlass Dich auf mich", antwortete es im Brustton der Überzeugung. Sehr viel leiser fügte es hinzu:

"Ich kann und werde nicht zulassen, dass ihm etwas zustößt. Niemals."

Doch das Tier hörte diese Worte noch.

Es seufzte schwer auf und fuhr dann damit fort, geistigen Kontakt zum Ziel aufzubauen.
 

Als Mamoru an diesem Abend einschlief, fand er sich im Traum an einem dunklen Ort wieder. Unter seinen Füßen war der weiche Boden von so tiefbrauner Farbe, dass man ihn beinahe schon als schwarz hätte bezeichnen können. Überhaupt war es ziemlich finster; Mamoru konnte nur mit viel Mühe erkennen, dass er von Ästen umgeben war, die sich so dicht in einander hakten, dass sie das Sonnenlicht nicht durchließen. Wohin man nur sah, überall erstreckten sich die dürren, braunen Äste wie gespenstische Klauen, und die hunderttausend tiefgrünen Tannennadeln pieksten wie etliche winzige Speerspitzen. Sie zerrten Mamoru in den Haaren, wenn er auch nur atmete.

Irgendwo vor ihm war irgendwas, das nicht ganz so dunkel war wie die restliche Umgebung. Fast wie ein Klecks etwas helleren Grüns, das zwischen den lichtschluckenden Ästen dieses dichten Waldes hindurchschimmerte.

Wider einer besseren Idee kämpfte sich Mamoru vorwärts, auf dieses Licht zu. Das war gar nicht so einfach, da die Äste, obwohl sie so dünn waren, doch eine erstaunliche Stabilität aufwiesen. Der Herr der Erde musste schon schwer kämpfen, um überhaupt einen Schritt vorwärts zu kommen. Doch verbissen marschierte er weiter.

Der eigentlich recht angenehme Duft von Holz und feuchter Erde zog in Mamorus Nase. Abgesehen von dem Rascheln, das er bei seinem Weg durch das unbekannte Dunkel verursachte, war der Wald außergewöhnlich still. Kein Vogelruf zog durch das Geäst, nicht mal der Wind wehte. Es herrschte regelrechte Totenstille. Oder war da doch gerade etwas? Eine Art Krächzen, ein dunkler, kehliger Laut, der sich für kurze Zeit durch die Bäume zog? Mamoru blieb kurz still stehen um zu lauschen. Doch das Geräusch wiederholte sich nicht. Er ging weiter seines Weges, Schritt für Schritt, bog die Äste zur Seite, so gut es ging, und bahnte sich seinen Pfad durch das dichte Nadelwerk. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals in einem dermaßen undurchdringlichen Wald gewesen zu sein.

Er näherte sich allmählich der Lichtquelle. Dennoch erahnte er seinen Weg mehr, als ihn wirklich sehen zu können. Als er dann einen der dürren Äste zur Seite bog, konnte er endlich sehen, was es war, das dieses Licht aussandte: der Goldene Kristall. Er schwebte inmitten der dunkelgrünen Äste und sandte sein sanftes, goldfarbenes Strahlen aus, das nur schwerlich den dichten Wald durchdrang.

Mamoru streckte seine Hand danach aus, um ihn zu ergreifen, doch der Goldene Kristall war schneller. Er flog aus der Reichweite und verschwand im Dickicht. Als wolle er Mamoru an einen bestimmten Ort führen.

Und der Herr der Erde folgte ihm durch das Unterholz.

Weiter und weiter.

Immer, wenn der Goldene Kristall in greifbarer Nähe war, entwischte er Mamoru aufs Neue. Und gerade, als er sich fragte, wann dieses Spielchen zu Ende sein würde, da trat er an den Bäumen vorbei und kam auf einer kreisrunden, weiten Lichtung an. Soweit man dies eine Lichtung nennen konnte, denn das Licht war hier wirklich genauso spärlich wie im Inneren des Waldes; gerade so, als würde das Sonnenlicht ausgesperrt werden von einem Blätterdach, das so hoch über Mamorus Kopf wuchs, dass er es nur noch als diffusen, dunkelgrünen Himmel ausmachen konnte. Überall am Rande dieser Lichtung standen die Bäume auch weiterhin so dicht, dass man kaum auch nur den Arm hindurchstrecken konnte. Außerdem war der Rand der Lichtung so perfekt kreisförmig, als hätte man mit dem Zirkel gearbeitet. Und wiederum so perfekt in der Mitte der Lichtung, dass es einfach Absicht sein musste, stand ein knorriger, uralter Baumstamm. Es handelte sich nicht um eine Tanne, wie dies wahrscheinlich für den kompletten restlichen Wald galt. Dieser Baum war wohl früher einmal eine starke und große Eiche gewesen. Doch jetzt war er nur mehr ein toter, vertrockneter Baumstamm. Das Holz war dunkel und rau. Die mächtigen Wurzeln reichten weit vom Stamm weg und in die Erde hinein. Nur ein einziger, etwas dickerer Ast ging von dem Stamm weg und verlief vielleicht anderthalb Meter horizontal über dem Erdboden. Und in der Mitte auf diesem Ast hockte - groß, schwarz und zunächst vollkommen regungslos - eine Krähe, die in Mamorus Richtung starrte.

Eine Weile stand Mamoru offenen Mundes staunend da und schaute dieses wunderschöne Tier an. Der Goldene Kristall blieb diesmal in seiner Nähe und strahlte sein Licht über die ganze Lichtung, was die Federn der Krähe leicht schillern ließ.

Der Anblick war atemberaubend.

Mamoru wurde erst aus seinem Staunen gerissen, als die Krähe den Schnabel öffnete und krächzte. Und obwohl es das ganz normale Krächzen einer Krähe war, so schien es Mamoru doch, als höre er gleichzeitig eine dunkle, tiefe, menschliche Stimme in diesem Vogelruf mitschwingen, ganz so als würde das Tier ihn rufen:

"Komm zu mir. Komm her ... trau Dich! Komm doch etwas näher..."

Mamoru griff nach dem Goldenen Kristall, woraufhin dieser im Körper des Herrn der Erde verschwand. Dann ging er mit bedachten Schritten auf den Vogel zu. Er hatte keine wirkliche Angst vor dem Tier, wohl aber eine gewisse Ehrfurcht. Er hatte oft genug die scharfen Krallen bemerkt, die Falas Krähe Apollo an den Füßen trug, und er wollte nicht am eigenen Leibe testen, wie scharf diese Werkzeuge wirklich waren.

Während er sich näherte, beobachtete die Krähe ihn aus kleinen, schwarzen, intelligenten Augen. Fast so, als könne sie damit in Mamorus Seele blicken. Sie breitete für einen Moment ihre weiten Flügel aus, flatterte ein paar Mal damit und legte die Flügel dann wieder an den schmalen, grazilen Körper an. Dann stieß sie wieder ihren verlockenden Ruf aus.

Dunkler, grüner Nebel waberte auf, der allmählich dicker wurde und die Bäume am andren Ende der Lichtung verschluckte, bis nur noch düstere Schatten auszumachen waren. Der Nebel erweckte den Eindruck, als würde er von innen heraus ein leichtes, pulsierendes Leuchten abgeben und grünlich glühen. Als sei er von unheiligem Leben erfüllt. Das Licht war allgegenwärtig. Es vermochte die allgemeine Dunkelheit nicht wirklich zu vertreiben, aber immerhin ließ es Mamoru die nähere Umgebung etwas besser erkennen, jetzt, wo der Goldene Kristall nicht mehr alles erleuchtete. Der Nebel legte sich um die gesamte Lichtung, doch ließ er einen engen Pfad frei, der Mamoru auf direktem Wege zu der Krähe führte.

Langsam einen Schritt vor den anderen setzend bewegte sich der Herr der Erde auf den schwarzen Vogel zu, der unaufhörlich sein lockendes Krächzen erschallen ließ:

"Komm zu mir ... Dir soll kein Leid geschehen, vertrau mir ... fürchte Dich nicht ... komm her ... komm ... komm zu mir..."

Es hörte sich an wie ein hypnotischer, monotoner Singsang, der Mamoru vollkommen in seinen Bann zog. Wie eine uralte, verbotene Melodie, die unwissende Menschen in das Höllenreich der Dämonen locken soll...

Mamoru war inzwischen nah an die Krähe heran gekommen. Langsam und doch neugierig streckte er seine Hand nach dem Tier aus, um über das nachtschwarze Federkleid zu streichen.

Noch ehe seine Finger das Tier hätten berühren können, hörte Mamoru eine vertraute Stimme hinter sich:

"Hüte Dich vor der Krähe, Herr der Erde!"

Mamoru blinzelte einige Male, und es dauerte mehrere Sekunden, bis er den hypnotisierenden Bann abgeschüttelt hatte. Erschrocken drehte er sich um. Nah bei den Bäumen, die den Rand der Lichtung bildeten, fast verschluckt von dem grünlich leuchtenden Nebel, der immer dichter geworden war, stand die Mondprinzessin. Durch den Nebel hindurch war ihr Gesicht nicht zu erkennen. Ihr sonst so strahlendweißes Kleid nahm in dieser düsteren Umgebung das grüne Licht des geisterhaften Nebels an. Einzig ihr goldenes Haar, das in zwei Zöpfen seitlich an ihrem Kopf herab hing, glänzte so unbeschreiblich schön wie immer.

"Mondprinzessin...", murmelte Mamoru leise.

Er ging einige Schritte auf sie zu und blieb dann stehen, sodass er genau in der Mitte zwischen der Prinzessin und der Krähe stand.

"Hör mir zu, Herr der Erde", forderte die Prinzessin. "Die Krähe ist gefährlich. Sie wird großes Unheil über Dich bringen, wenn Du Dich ihr anvertraust. Sie ist eine Gesandte des Bösen. Sie bringt das Leid über Deine Welt. Wenn Du Dich nicht in Acht nimmst, wird sie Dich vernichten."

Misstrauisch warf Mamoru einen Blick über seine Schulter, wo der Vogel noch immer auf dem Ast saß und krächzte. Doch nun war es das gewöhnliche Krächzen einer Krähe; die suggestive Kraft, die von dem Tier ausgegangen war, verblasste rasch. Die menschliche Stimme, die bis gerade eben noch im Unterton gelegen hatte, war inzwischen völlig verschwunden.

Mamoru wandte sich wieder der Mondprinzessin zu.

"Was soll ich Deiner Meinung nach tun?", fragte er.

Die Mondprinzessin streckte ihm ihre Hand entgegen, und ein Leuchten erschien über ihren Fingerspitzen. Als das Licht allmählich verblasste, befand sich ein flacher, runder Stein auf ihrer Hand, der blau und grün schillerte.

"Sieh", sagte die Mondprinzessin, "das hier ist ein ganz besonderer Stein. Man nennt ihn <das Herz der Erde>. Er trägt eine große Kraft in sich. Er ist dazu in der Lage, die Energie Deines Planeten zu nutzen und sie als Waffe zu gebrauchen."

Der Stein leuchtete sanft auf und das Strahlen erhellte die gesamte Lichtung. Der Nebel wurde zerrissen und verging. Als Mamoru sich wieder zum Baum mit der Krähe umdrehte, troffen Ströme aus Blut aus dem Baumstamm. Bald war der gesamte Baum von dem roten Lebenssaft verhüllt, und das Blut floss an den Wurzeln entlang, weiter und weiter, und sickerte in den Erdboden hinein. Die Krähe krächzte erbost auf. Dann breitete sie ihre Schwingen aus, erhob sich in die Lüfte und verschwand in der Dunkelheit.

Mamoru starrte ihr fasziniert nach, dann wandte er sich der Mondprinzessin wieder zu, die ihm noch immer das Herz der Erde entgegenhielt.

"Solange Du den Goldenen Kristall nicht zu nutzen gelernt hast", erklärte sie, "soll das Herz der Erde Deine Waffe sein. Es wird Dir bedingungslos gehorchen. Doch Du musst es erst finden."

Mit diesen Worten verschwand der Stein wieder von ihrer Hand, und sie ließ ihren Arm sinken.

"Das Herz der Erde ist versteckt. Doch es befindet sich in Deiner Nähe. Du musst es suchen, und Du musst es finden. Unbedingt."

"Und der Silberkristall?", fragte Mamoru nach.

Die Mondprinzessin nickte.

"Auch der Silberkristall ist sehr wichtig für Dich. Er wird Dir dabei helfen, Deine Vergangenheit zu finden. Doch im Augenblick ist das zweitrangig. Du bist nicht dazu in der Lage, den Silberkristall zu finden, wenn Du Dich noch nicht einmal gegen Deine Feinde verteidigen kannst. Du brauchst eine Waffe, mit der Du leichter umgehen kannst. Bis jetzt ist es Dir noch nicht gelungen, die ganze Macht des Goldenen Kristalls für Dich einzusetzen. Du wirst es noch lernen, früher oder später. Aber bis dahin benötigst Du eine brauchbare Waffe, die Dich auf Deiner Suche begleitet. Du musst das Herz der Erde finden, es wird Dich bei Deiner Suche nach dem Silberkristall beschützen. Bitte, Herr der Erde, Du musst es schaffen! Finde das Herz der Erde!"

Mamoru sah sie entgeistert an. Schon wieder ein Gegenstand, den er suchen sollte? Was alles sollte er denn noch finden? Die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen?

"Wie soll ich es suchen?", fragte er nach. "Was muss ich tun?"

"Genaueres weiß ich auch nicht", gestand die Mondprinzessin. "Ich weiß nur, dass der Stein vor langer, langer Zeit verloren ging."

"Genau wie der Silberkristall?"

"Genau wie der Silberkristall. Du sagst es", bestätigte die Prinzessin nickend.

"Aber das hilft mir nicht weiter!", beschwerte sich Mamoru. "Wie soll ich..."

Doch weiter kam er nicht.

Mit einem Mal war alles um ihn herum zappenduster.
 

"Verflucht", presste es durch die Zähne. "Jemand hat die Verbindung gekappt!"

"Das bedeutet Ärger", stellte das Tier fest. "Was machen wir jetzt?"

"Wir müssen ihn finden!", erklärte es in herrischem Ton. "Vielleicht steckt er in Schwierigkeiten! Wir dürfen ihn auf keinen Fall verlieren!"

"Du solltest nicht überstürzt handeln!", mahnte das Tier. "Arbeite mit Bedacht! Wenn Dir auch nur ein Fehler unterläuft, kann das die ganze Mission gefährden!"

"Das ist mir klar", fuhr es das Tier zornig an. "Aber wir können auch nicht einfach dasitzen und nichts tun!"

Das Tier seufzte. "Tu, was Du für richtig hältst. Pass nur auf, dass Dich keiner sieht."

Es breitete seine Schwingen aus, und dann flog es in die vom Mondschein erhellte Nacht hinein. Einer von vielen schwarzen Schatten in der Dunkelheit.
 

Als Mamoru die Augen aufschlug, da war er erst mal vollkommen verwirrt. Dunkelheit umgab ihn. Ein angenehm kühler Wind wehte. Der Mond stand hell am Himmel. Es war mitten in der Nacht. Mamoru hatte keine Ahnung, wo er war. Irgendwo draußen in der Prärie. Ihm fiel auf, dass er wieder den schwarzen Anzug trug, seinen verzauberten Gehstock hatte er in der Hand, die Maske verdeckte sein Gesicht, den Zylinder trug er auf seinem Kopf. Der Wind spielte mit den unteren Enden des Umhangs.

In welchen Schlamassel war er nun wieder hineingeraten?

Erst jetzt realisierte er die dumpfe, männliche Stimme, die irgendwo hinter ihm rief:

"Ich hab Dich was gefragt! Antworte, oder wir müssen Dich vernichten!"

Mamoru drehte sich langsam um. Da standen die drei Sailorkrieger, die er vor einigen Tagen zum ersten Mal gesehen hatte. Sailor Asteroid, Sailor Komet und Sailor Aurora.

"Was?", fragte Mamoru verwirrt. Er hatte den Weg zurück in die Realität immer noch nicht so ganz gefunden. Und er konnte sich auch nicht wirklich erklären, was die Sailorkrieger jetzt so plötzlich von ihm wollten.

"Bist Du taub?", fragte Asteroid. Er klang wirklich zornig. "Ich habe Dich gefragt, wer Du bist. Und was suchst Du hier?"

Die drei Sailorkrieger, die ihm vor kurzem noch das Leben gerettet hatten, bereiteten sich nun darauf vor, ihn zu vernichten. Und das nur, weil er ihnen nicht beantworten konnte, was er selbst nicht wusste.

Ihm wurde klar, dass sie ihn so nicht erkennen konnten. Sie konnten ja nicht ahnen, dass der Junge, den sie vor einigen Tagen vor den Klauen eines Dämonen errettet haben, selbst auch ein Sailorkrieger war.

Was sollte er tun?

Sich demaskieren?

"Ich ... ich ...", brachte er heraus.

"Was?", zischte Sailor Aurora in scharfem Ton. Ihre Geduld ging bereits jetzt dem Ende entgegen. Vielleicht war es sogar ein Wunder, dass Mamoru überhaupt noch lebte.

"Ich...", stotterte Mamoru noch ein Mal. "Ich bin ein Sailorkrieger - wie ihr!"

"Natürlich!", spottete Sailor Komet. Sie trat einen Schritt vor und wies anklagend mit ausgestrecktem Arm auf Mamoru. "Und ich bin eine Pinguinprinzessin! Jetzt sag uns die Wahrheit! Du kommst doch aus dem Königreich des Dunklen! Gib es zu!"

"Niemals!", rief er verzweifelt. "Ich kämpfe gegen das Dunkle Königreich! Glaubt mir bitte! Ich stehe mit euch auf einer Seite!"

"Beweise es!", forderte Sailor Aurora forsch. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

"Wie soll ich das machen?", fragte er nervös. Er wusste noch immer nicht genau, was einen Sailorkrieger denn nun zum Sailorkrieger machte. Er wusste nur, dass er keine solchen Attacken besaß wie die drei. Aber irgendwas musste ihn doch zum Krieger machen! Sonst hätte Jedyte ihn damals nicht als Sailorkrieger bezeichnet!

Sailor Asteroid antwortete auf seine Frage:

"Zuerst einmal wäre es interessant zu wissen, was für ein Sailorkrieger Du überhaupt bist. Wie ist Dein Name? Dein Auftrag?"

"Mein..." Mamoru dachte fieberhaft nach. Er wusste nicht, ob er als Sailorkrieger überhaupt einen Namen trug. Und wodurch sich dieser Name bestimmte. Er selbst hatte nie von sich aus behauptet, ein Sailorkrieger zu sein. Er war so oder so davon überzeugt, etliche Sachen nicht von sich aus gemacht zu haben. Er konnte sich gut vorstellen, dass er schon oft im verwandelten Zustand rausgegangen war, um Dinge zu tun, von denen er keine Ahnung hatte; so wie jetzt, zum Beispiel.

"Ich ... weiß nicht, wer ich bin", gestand er ehrlich. "Aber ich habe einen Auftrag! Ich muss den Heiligen Silberkristall suchen!"

"Und wofür?", fragte Sailor Aurora. Man merkte ihr an, dass ihre Nervosität immer weiter wuchs. Ihr war es ganz offensichtlich das Liebste, diesen eigenartigen Fremden so schnell wie möglich loszuwerden, ehe er Schaden anrichten konnte.

"Um meine Vergangenheit wiederfinden zu können", erklärte Mamoru wahrheitsgetreu.

"Deine Vergangenheit?", fragte Sailor Asteroid und schüttelte seinen Kopf. "Wie soll das denn gehen?"

Hilflos zuckte Mamoru mit den Schultern.

"Das ist keine Antwort!", stellte Sailor Asteroid fest. "Wir wissen, dass unsere Feinde ebenso auf der Suche nach dem Silberkristall sind. Und nicht aus solch fadenscheinigen Gründen."

Komet wandte sich Aurora zu. "Was machen wir jetzt mit ihm? Wir wissen nicht sicher, ob er nicht vielleicht doch die Wahrheit sagt!"

"Ich werde kein Risiko eingehen", erklärte Aurora kalt. "Er muss vernichtet werden..."

Sie hob ihre Arme in die Luft, bereit zu ihrer Attacke.

"Warte!", rief Mamoru entsetzt.

"Supernova!", rief sie in die Stille der Nacht hinein.

"WARTE!", rief er noch ein Mal. Er fuhr mit der Hand zu seinem Gesicht, um sich die Maske runterzureißen.

"...flieg und..."

Doch weiter kam sie nicht.

Ein heller Blitz von blauer und grüner Farbe schoss in ihre Richtung. Die drei Sailorkrieger schnellten in wahnsinniger Geschwindigkeit auseinander und brachten sich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit, ehe der Blitz dort einschlug, wo Aurora gerade noch gestanden hatte. Schwarze, verkohlte Erde spritzte auf und hüllte den Platz für kurze Zeit in dunklen Staub ein.

Verdutzt verharrte Mamoru mitten in der Bewegung, die Finger nur einen Zentimeter von seiner Maske entfernt. Er hörte das Schlagen von mächtigen Flügeln in der Luft. Als er den Blick hob, sah er für den Bruchteil einer Sekunde einen schwarzen, geflügelten Körper, der sich gegen die helle Scheibe des Mondes abhob.

Das Schattenwesen!

Die drei Sailorkrieger hatten sich wesentlich schneller wieder gefangen als Mamoru. Sofort hoben Komet und Asteroid die Arme in die Luft.

"Eissturm - flieg!"

"Feuerregen - flieg!"

So schnell die winzigen Asteroiden und die Eiskristalle auch durch den Himmel flogen, das geflügelte Wesen war viel schneller. Die Attacken verloren sich in der Dunkelheit ohne Schaden anzurichten.

Etwas Silbernes glitzerte in der Düsternis. Mamoru wusste, was es war: der metallene Handschuh des geflügelten Schattens. Und er sollte Recht behalten. Nur Sekunden später schlug ein weiterer Blitz in den Boden ein, unweit von Sailor Aurora und Sailor Komet. Die Kriegerinnen wichen geschickt aus.

<Das ist Deine Chance, Junge>, dachte Mamoru. <Jetzt oder nie!>

Er musste abhauen. Jede Sekunde mochte zählen. Solange die Sailorkrieger mit dem Schattenwesen beschäftigt waren, konnten sie sich nicht auch noch um ihn kümmern. Er rannte einfach los, ohne genau zu wissen, welche Richtung er einschlug. Doch kaum hatte er ein paar Schritte getan, war auch schon Sailor Asteroid bei ihm und hielt ihn eisern zurück.

"Wir sind noch nicht fertig mit Dir, Du Möchtegern-Sailorkrieger!"

Er hatte Mamoru binnen einer Sekunde im Schwitzkasten. Der Herr der Erde versuchte verzweifelt, sich zu befreien, doch Asteroids Griff saß, und zudem war der Krieger sehr kräftig gebaut. Asteroid konnte sich für den Moment sehr sicher fühlen. Wenn das Schattenwesen wirklich auf der Seite des Fremden stand, würde es seinen Blitz nicht gegen den Sailorkrieger richten. Und der Plan ging auf. Der Schatten segelte höher in die undurchdringliche Dunkelheit hinein. Er konnte so nicht mehr getroffen werden, aber auch selbst nicht angreifen.

Doch mit einem hatte Asteroid absolut nicht gerechnet.

Anstatt sich weiterhin im gegnerischen Griff zu winden und sich zu verausgaben hielt Mamoru nun ganz still und legte seine Finger an Asteroids Arm. Er zwang sich zur Ruhe und konzentrierte sich, so gut es ihm in diesem Moment nur möglich war. Dann begann er ganz unterschwellig damit, dem Sailorkrieger die Energie zu nehmen.

Womit er aber nicht so schnell gerechnet hatte, war Asteroids Reaktion. Der Sailorkrieger bemerkte ziemlich schnell, was da geschah, und er wusste es auch richtig zu deuten.

"Oh - nein! Das werde ich nicht zulassen!", rief er. "Feuerregen..."

Doch sein Fehler war, dass er sich nun voll und ganz auf Mamorus geistige Attacke konzentrierte. Noch ehe der Krieger seine Zauberformel zuende sprechen konnte, rammte Mamoru ihm den Ellenbogen in den Magen. Dann packte er ihn und schleuderte ihn in einem geschickt angesetzten Wurf zu Boden. Noch ehe der Sailorkrieger wusste, wie ihm geschah, lag er schon im Staub.

Daraufhin drehte Mamoru sich um und suchte das Weite. Ein Blitz von blauer und grüner Farbe schlug hinter ihm in den Boden und versperrte so den Weg seiner Verfolger.

Als der Herr der Erde genügend Vorsprung hatte, wurden die drei fremden Sailorkrieger für das Schattenwesen unwichtig. Es musste außerdem auf seine Energie achten, denn es hatte in diesem kurzen Kampf vielleicht schon mehr verloren, als gut gewesen wäre. Es erhob sich höher und höher. Die Dunkelheit umhüllte es, und es konnte sich sicher sein, von den Kriegern nicht mehr verfolgt zu werden. So wandte es seine Konzentration wieder seiner Mission zu: Es folgte dem Herrn der Erde, um sicherzugehen, dass es ihm gut ging und er den Kampf unbeschadet überstanden hatte. Insgeheim war es sehr zufrieden mit dem Herrn der Erde; Er hatte sich sehr gut geschlagen, dafür, dass er noch nicht mal all seine alte Macht beherrschen konnte...

Mamoru rannte immer weiter und weiter, mal nach links, mal nach rechts Haken schlagend. Er wusste nicht, ob die Sailorkrieger ihm weiter folgen würden. Irgendwann, als ihn seine Kräfte zu verlassen drohten, drehte er sich um und sah sichernd in die Richtung, aus der er gekommen war. Nichts. Keine Bewegung. Kein Geräusch. Absolute Stille. Jede Menge Staub und Steine. Sonst nichts!

Er sah wieder in die Richtung, in die er nun schon seit einiger Zeit gelaufen war. Da schien sich etwas Dunkles vom Horizont abzuheben. Vielleicht Gebäude. Mamoru hoffte, er könne sich an den Häusern orientieren; vorausgesetzt, es waren tatsächlich welche. Also schritt er langsam darauf zu. Es war für ihn schwer zu schätzen, in welcher Entfernung dieses etwas sein mochte. Vielleicht war es riesig, und er konnte es in etlichen Stunden nicht erreichen. Oder es war verhältnismäßig klein, und er würde jeden Moment drüber stolpern. Er wusste es nicht. Es war im Moment auch nicht wichtig. Mamoru suchte einfach nach einem Punkt, an dem er sich in dieser doch noch sehr fremden Welt orientieren konnte.

Während er weiter seinen Weg durch Staub und Stein suchte, war er geistig ganz woanders. Die Ereignisse waren alle ein wenig zu schnell nacheinander gekommen, und ein wildes Chaos an Gefühlen und Gedanken tobte nun hinter seiner Stirn. Was hatte sein Traum zu bedeuten?

"Hüte Dich vor der Krähe, Herr der Erde ... Die Krähe ist gefährlich. Sie wird großes Unheil über Dich bringen, wenn Du Dich ihr anvertraust. Sie ist eine Gesandte des Bösen. Sie bringt das Leid über Deine Welt. Wenn Du Dich nicht in Acht nimmst, wird sie Dich vernichten."

Ihm war von Anfang an klar, wer tatsächlich gemeint gewesen war:

Fala.

Doch wie sollte die junge Indianerin ihm gefährlich werden? Er hatte ihre kalte Gefühlswelt gespürt, die voller Pein und Misstrauen war. Doch das bedeutete doch nicht automatisch, dass sie für ihn eine Gefahr darstellte!

Und dann war da noch das Auftauchen der drei Sailorkrieger. Sie hatten ihn ganz offensichtlich angegriffen, weil sie sich von ihm bedroht fühlten. Weil sie nicht wussten, wer er war.

Doch das wusste er selbst doch noch viel weniger!

Was sollte er tun?

Doch so sehr er auch grübelte, er kam nicht wirklich auf ein Ergebnis. Es gab für ihn nur noch eine Möglichkeit: Er hoffte, Antworten zu finden, wenn er das Herz der Erde in seinen Händen hielt. Und da wartete schon das nächste Problem auf ihn. Wo sollte er suchen? Er hatte mehr als zehn Jahre damit verbracht, den Silberkristall zu suchen, ohne Erfolg. Und nun auch noch das Herz der Erde?

Kopfschüttelnd ging Mamoru weiter, einfach immer weiter. Ohne jegliche Orientierung. Und ohne zu wissen, was die Zukunft noch alles für ihn bereit hielt.

Plötzlich hörte er ein Geräusch - ein nahes, trocknes Rascheln. Und ein Knurren. Dann ein leises, hohes Fiepen. Und dann bewegte sich etwas, vielleicht nur ein paar Meter von ihm entfernt.

Mamoru stolperte rückwärts und stieß einen erschrockenen Schrei aus. Und dann, als sich das Etwas erneut bewegte, da erkannte er es im schwachen Mondlicht erst.

"Terra!"

Der Wolf kam hechelnd auf ihn zugelaufen, gab einige kläffende Laute von sich und sprang Mamoru freudig gegen die Brust. Für ihn machte es keinen Unterschied, welchen Anzug der Herr der Erde anhatte, er erkannte ihn trotzdem. Wohl an der Stimme und am Geruch. Mamoru streichelte ihm über den Kopf.

"Ich bin so froh, dass Du mich gefunden hast", sagte er. Er hatte sich anscheinend doch nicht getäuscht, das dort vorne mussten Gebäude sein - die Gebäude der Mustang-Ranch. Das hieß, er wusste nun, wohin er gehen musste.

"Was ist, begleitest Du mich ein Stück nach Hause?"

Der Wolf drückte sich weiter an ihn und sah ihn aus großen Augen an. Mamoru lachte befreit auf.

"Ich geh einfach mal. Wenn Du mit willst, ich hab nichts dagegen. Wenn nicht, ist auch gut. Den Weg nach Hause wirst Du dann wohl allein finden."

Er lief einige Schritte weit und der Wolf folgte ihm tatsächlich. Mamoru freute sich darüber. Im Augenblick war ihm die Gesellschaft gerade recht. Er schlug die Richtung ein, die ihm als der kürzeste Weg zur SilverStar-Ranch erschien. Terra trottete treu neben ihm her, setzte dann und wann an markanten Punkten seine Marken und trabte dann weiter. Er folgte Mamoru auch bedenkenlos in das Haus, wo sich der Herr der Erde unendlich müde in sein Bett fallen ließ.
 

Umhüllt vom Mantel der Nacht flog es dem Ziel nach, und der Herr der Erde merkte dies noch nicht einmal. Um keinen verräterischen Flügelschlag zu verursachen, landete es in einiger Entfernung und verfolgte ihn dann zu Fuß. Nicht, dass es etwas ausgemacht hätte, vom Herrn der Erde gesehen zu werden. Ganz und gar nicht. Aber dennoch hielt es sich zurück. Erst mal sollte der Herr der Erde zurück in sein sicheres Zuhause und sich ausruhen. Seine Gegenwart hätte den Herren der Erde eventuell zögern lassen. Es befürchtete, der Herr der Erde könnte zu viel Zeit im Gespräch verlieren, sollte er tatsächlich wissen, dass es in seiner Nähe war. Zweifellos würde es in einer solchen Situation Frage und Antwort stehen müssen, denn jetzt, wo es einen festen Körper besaß, war es der menschlichen Sprache mächtig. Ferner hätte es einige Umstände zu erklären gehabt, und es fand einfach, dass die Zeit noch nicht reif war, Rechenschaft vor dem Herrn der Erde abzulegen.

Eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages würde es ihm all seine Fragen beantworten. Doch im Moment war der Herr der Erde bestimmt noch nicht bereit dafür. Oder aber, so dachte es bei sich, es selbst war noch nicht bereit, sich ihm zu zeigen.

Nun, da es und das Tier nicht mehr in der Dimension der zeitlosen Finsternis eingesperrt waren, und die Barriere zur Welt der Menschen durchbrochen hatten, musste es dafür sorgen, dass es auch weiterhin hier bleiben konnte. Ohne eine große Menge an Energie konnte es nicht mehr lange hier überleben. Es brauchte dringend die Kraft des Kristalls mit dem Namen <Herz der Erde>. Sonst war die ganze Mission gefährdet! Es hoffte nur, dass der Herr der Erde den Stein bald finden mochte!

Weiter, immer weiter folgte es dem Herrn der Erde durch die dunkle Wildnis. Auch, als er schlussendlich an seinem Ziel ankam, blieb es noch in seiner Nähe und beobachtete ihn. Erst, als er das Licht löschte und kurz darauf einschlief, mit dem Wolf neben seinem Bett, da wandte es sich um und verließ das Gehöft. Seine Aufgabe war für heute erfüllt. Es machte sich auf, zu seinem Versteck zurück zu kehren und dort noch etwas Ruhe zu finden. Eigentlich eine typisch menschliche Geste, aber dennoch fand es irgendwie Gefallen daran, sich wie ein Sterblicher zu gebärden.

Noch auf dem Weg, als es mit weit ausgebreiteten Flügeln durch die kühlen Lüfte der Nacht glitt, fragte es sich, wie lange es wohl noch genügend Energie hatte, um als menschliches Wesen weiter existieren zu können. Es musste vorsichtig sein; Denn wenn es zu lange zögerte, und seinen Energielevel zu stark sinken ließ, dann mochte die Gefahr bestehen, dass es wieder ganz von vorne beginnen musste, und das durfte nicht geschehen! Die Feinde waren mächtiger geworden, das hatte es nun schon mehrmals am eigenen Leibe erfahren müssen. Es musste Tag und Nacht zur Stelle sein, um den Herrn der Erde vor eventuellen Gefahren beschützen zu können!

Einen kurzen Moment lang überlegte es, ob es ausfliegen und die drei fremden Sailorkrieger aufsuchen solle. Vielleicht konnte es sie ausspionieren und wichtige Informationen erlangen. Doch nach langem hin und her entschied es sich doch dagegen. Nach all der Zeit, die seit dem Kampf schon vorüber war, konnte es sich eigentlich sicher sein, dass sich die Sailorkrieger längst wieder zurückverwandelt hatten. Es würde sie in ihrer gewöhnlichen, menschlichen Gestalt bestimmt nicht wiedererkennen. Also segelte es doch weiter seinem Versteck entgegen.

Als es sich allmählich näherte, landete es, legte die Flügel an und trat ein. In wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen. Es würde sich morgen weitere Gedanken darüber machen, woher es Energie nehmen konnte, damit es auch weiterhin dazu in der Lage war, seine Mission fortzuführen und den Herrn der Erde zu beschützen.

Wenn es gar keine andere Wahl mehr hatte, musste es eben wieder damit anfangen, sich den Menschen zu zeigen, um deren Energie rauben zu können. Es hoffte nur inständig, dass dies nicht nötig sein würde, und dass der Herr der Erde das Herz der Erde rechtzeitig fand.

Der letzte Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, ehe es einschlief, war:

<Was auch kommen mag ... ich darf mich ihm jetzt noch nicht zeigen. Bald wird der Tag kommen ... aber nicht jetzt. Du, Herr der Erde, wirst Deinem Schicksal noch früh genug gegenübertreten müssen...>

Der Kampf gegen die drei Sailorkrieger, die den Herrn der Erde bedroht hatten, war sehr energieraubend für es gewesen. Mehr noch, als es erwartet hatte. Nachdem es sich vergewissert hatte, dass der Herr der Erde sicher in seinem Zuhause war, und es in sein Versteck zurück gekehrt war, hatte es sich zum Schlafen gelegt. Doch nun, einige Stunden später, hob es seine Augenlider wieder. Draußen herrschte noch immer die Dunkelheit der Nacht. Aber lange würde es nicht mehr dauern, bis die goldenen Strahlen der Sonne den sandigen Boden der Prärie erhitzen würden.

Es bemerkte, dass etwas mit ihm absolut nicht in Ordnung war. Bei dem Kampf vor wenigen Stunden hatte es mehr Kraft aufs Spiel gesetzt, als es eigentlich hätte hergeben dürfen.

Eigentlich hatte es damit gerechnet, viele Wochen in seiner jetzigen, menschlichen Gestalt ausharren zu können. Ohne fremde Energie. Was es allerdings nicht bedacht hatte, das war die Tatsache, dass ihm auch dann Energie verloren ging, wenn es seinen Ruf nach dem Herren der Erde schickte, oder wenn es auf die Suche nach dem Kristall ging. Der Kampf vor einigen Stunden hatte dann das seine dazu beigetragen.

Es hatte keine andere Wahl. Es musste los. Jetzt sofort. Es musste Energie sammeln. Und das ungeachtet der Tatsache, dass die Sonne in nicht allzu langer Zeit aufgehen würde. Es konnte nicht riskieren, bis zur nächsten Nacht zu warten. Unter Umständen konnte bis dahin alles zu spät sein. Und es wollte um keinen Preis seinen festen Körper jetzt schon wieder verlieren, wo es ihn sich doch so hart erarbeitet hatte, durch das Ansammeln gigantischer Mengen an Energie. Vor allem aber wollte es seine neue Tarnung nicht aufgeben. Es hatte sich als menschliches Wesen eine neue Identität aufgebaut, die es unter gar keinen Umständen wieder hergeben wollte.

Also verließ es sein Versteck, erhob sich in den Himmel und flog durch die kühle Luft Richtung Orendaham.

Es musste vorsichtig sein, denn jetzt, wo es einen festen Körper besaß, konnte es von den Menschen erkannt werden. Als es noch ein körperloser Schatten gewesen war, hatte man all die Leute, die es gesehen hatten, für krank erklärt. Wie wohl würde man auf sein jetziges Äußeres reagieren?

Glücklicherweise bedeckte die Nacht es mit dem schützenden Mantel der Dunkelheit. Es hoffte bloß, jemanden zu finden, um diese Uhrzeit, an einem nicht erhellten Ort, mit genügend Energie, und der es nicht sehen können würde. Was sollte es tun, wenn es das nächste Mal am helllichten Tage frische Energie dringend benötigen würde? Selbst, wenn es jemanden fände, der ihm Energie geben konnte, wie lange würde die dann reichen?

Es hatte Glück. Es fand - in Orendaham angekommen - tatsächlich einen Mann, der vielversprechend wirkte. Er lud gerade Ware von einem Kleinlaster durch eine Hintertür in ein Geschäft. Der Hinterhof, in dem der Wagen geparkt stand, war nur spärlich beleuchtet. Die perfekte Chance. Und es ließ sie nicht ungenutzt verstreichen...

Als es wieder in sein Versteck zurückkehrte, wurde der Horizont von den ersten Strahlen der Sonne erhellt. Viel frische Energie hatte es nicht gerade ergattern können.

Allmählich wurde die Zeit immer knapper. Es musste unbedingt bald den Kristall finden. Was auch immer dazu nötig war, musste eben geschehen!
 

Mit geschlossenen Augen tastete Mamoru nach dem Wecker und stellte ihn ab. Er seufzte schwer, rieb sich den Schlaf aus den Augen, gähnte lange, schlug die Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Und genau in diesem Moment hörte er ein schrilles Kreischen in seiner unmittelbaren Nähe. Schlagartig öffnete er seine Augen und in derselben Millisekunde noch machte er einen gewaltigen, erschrockenen Satz zur Seite.

Er war Terra auf den Schwanz getreten. An den Wolf, der fast die ganze Nacht neben dem Bett verbracht hatte, hatte er gar nicht mehr gedacht.

"Terra!", rief er überrascht aus. "Entschuldige!"

Der Wolf stand da und schaute auf sein hinteres Ende. Er wedelte ein paar Mal langsam mit dem Schwanz, wie um zu testen, ob er noch dran war. Dann sah er Mamoru vorwurfsvoll an.

"Das war wirklich nicht mit Absicht", sprach der Herr der Erde besänftigend auf das Tier ein und kniete nieder. "Verzeihung."

Er streichelte Terra über den Kopf, und der Wolf schien ihm sein Missgeschick schon nicht mehr übel zu nehmen. Er drückte seinen Schädel gegen Mamorus Hand. Das silbergraue Fell schimmerte im Licht der Sonne, das durch die Fensterscheiben fiel.

"Weißt Du was?", fragte Mamoru, als er sich Terra genauer besah. "Dieser schwarze Fleck da ist mir an Dir noch nie aufgefallen..."

Er fuhr mit dem Daumen sachte über einen länglichen, schwarzen Flecken, der auf Terras Stirn prangte, genau in der Mitte zwischen den beiden Augen. Doch dann schenkte er der Fellfarbe des Tieres keine weitere Beachtung.

"Hast Du Hunger?"

Mamoru lächelte. Er stand auf und verließ das Zimmer. Der Wolf trottete ihm sofort nach. Gemeinsam gingen sie in die Küche, und Mamoru suchte ein Stück Fleisch raus, von dem er dachte, es sei das passende Frühstück für das Tier. Er stellte dann noch einen Napf mit Wasser bereit. Und als er zufrieden feststellte, dass es Terra schmeckte, da bereitete er sein eigenes Frühstück.

Kaum eine halbe Stunde später hatte sich Mamoru für seinen Schultag bereit gemacht. Er und Terra betraten gut gelaunt das Haupthaus.

"Guten Morgen, Tante Kioku! Guten Morgen, Onkel Seigi!"

Damit schlenderte Mamoru in die Küche. Seigi war in seine Zeitung vertieft und schlürfte Kaffee.

"Guten Morgen", sagte er etwas geistesabwesend.

Kioku allerdings wandte sich ihrem Neffen mit fröhlich aufgelegtem Gesicht zu:

"Hey, Kurzer. Guten Mor... - was ist das denn???"

Schreckensbleich und mit ausgestreckter Hand wies sie auf den Wolf, der hinter Mamoru erschienen war.

"Harmlos", antwortete Mamoru prompt. "Sein Name ist Terra. Er kommt von drüben, von der Mustang-Ranch. Er wird auch gleich wieder verschwinden."

Auch Seigi fand einige Sekunden Zeit, seine Zeitung sinken zu lassen und sich den Wolf näher anzusehen.

"Stattliches Tier", war sein Kommentar.

Terra lief lässig durch die Küche, schnupperte überall herum, begutachtete alles sehr genau und legte sich schlussendlich neben den Stuhl, auf den sich Mamoru inzwischen gesetzt hatte.

"Gibt's was Neues?", erkundigte sich Mamoru mit Blick auf die Zeitung. Als Antwort darauf händigte ihm Seigi wahllos einen Teil aus, ohne dabei auch nur ein Wort zu verlieren.

"Hey, ihr beiden Männer! Vergesst ja die Zeit nicht!", erinnerte Kioku, während Mamoru, gleich seinem Onkel, die Nase in die Zeitung steckte. Schon als er die Blätter auseinander faltete, kamen ihm ein Dutzend Werbeprospekte entgegengefallen.

"Unfassbar", murmelte er, als er die Reklame aufhob und auf den Tisch legte, "selbst in dieser Einöde wird man mit Werbung zugemüllt." Damit widmete er sich also endlich den Artikeln.

Kioku räumte die Werbeprospekte in den Papiermüll und wiederholte:

"Leute! Kommt mal auf Touren. Schatz, Du musst zur Arbeit, und Du, Kurzer, solltest Dich in die Schule aufmachen!"

"Gleich", murmelten beide.

Mamoru überflog in Windeseile einen kleinen Artikel mit der Überschrift:

<Japan: Mädchen bei Mikrowellenexplosion ums Leben gekommen - Untersuchungen in der Mikrowellenfirma TAEQ laufen noch...>

Ein sehr gehässiger Gedanke und die Erinnerung an Hikari schlichen sich in sein Gehirn. Doch bevor der Herr der Erde diesem Gedankengang weitere Beachtung schenken konnte, hatte ihm seine Tante die Zeitung schon entrissen und ihn und seinen Onkel darauf aufmerksam gemacht, dass es jetzt wirklich Zeit zu gehen sei.

Als sich Seigi und Mamoru dann also endlich auf den Weg zum Wagen machten, verließ Terra mit ihnen das Haus. Er heftete sich an Mamorus Fersen.

"Du kannst nicht mitkommen", erklärte der Junge.

Terra kam nochmals ein paar Schritte näher zu ihm hin und drückte den Leib gegen Mamorus Beine.

"Es geht wirklich nicht", sagte er entschuldigend. "Geh nach Hause!"

Er wies mit ausgestrecktem Arm nach Westen, nämlich in die Richtung, in der die Mustang-Ranch lag.

Terra rührte sich zunächst nicht und starrte den Herrn der Erde nur an.

Doch auf dessen Wink hin drehte der Wolf sich schlussendlich doch um und raste mit ausgreifenden Schritten der Mustang-Ranch entgegen.

Mamoru lächelte ihm hinterher. Dann stieg er zu seinem Onkel in den Wagen, um zu dem kleinen Bahnhof in Orendaham gebracht zu werden, wo Fala, Elly und Tony schon auf ihn warten würden.
 

General Zoisyte, der Herr über Europa, saß in seinem Arbeitszimmer am Tisch und grübelte. Er fand einfach nicht heraus, was genau mit dem Energindikat nicht stimmte. Er war sogar persönlich in verschiedenen Teilen der Erde gewesen, nur um das festzustellen, was ihm sein Diener Karneolyte schon längst berichtet hatte: Der Energindikat schlug kaum aus. Er reagierte so ziemlich auf gar nichts. Er war nicht sensibel genug eingestellt.

Zoisyte bastelte nun schon seit Tagen daran herum. Bislang ohne Ergebnis.

Äußerlich sah der Energindikat aus, wie ein handtellergroßer, perfekt runder, flacher, grauer Stein, auf dessen Oberseite ein Display und einige bunte Knöpfe, Schalter und Regler befestigt waren. Doch im Moment war die Hülle mittig gespalten und ein Innenleben, das vor winzigen Drähten nur so überquoll, breitete sich auf dem Tisch aus, und bildete zusammen mit Werkzeugen, Ersatzteilen und Schaltplänen ein unübersichtliches, heilloses Durcheinander.

Unverständliche Sachen vor sich hin murmelnd vertiefte sich Zoisyte ganz in seine Arbeit und bemerkte darüber nicht, wie Kunzyte im Arbeitszimmer auftauchte. Einige Sekunden stand er stumm da und beobachtete lächelnd, wie Zoisyte hier und da etwas zusammenlötete, einige Drähte verband oder auf den Tasten der kleinen Maschine herumtippte. Doch irgendwann trat Kunzyte näher heran und beugte sich über den Herren von Europa.

"Kommst Du voran?", fragte er.

Blitzschnell ruckte Zoisytes Kopf herum.

"Kunzyte! Hast Du mich erschreckt!" Er beruhigte sich schnell wieder. "Ich werde aus dem Ding nicht schlau. In den ersten Testphasen hat es einwandfrei funktioniert. Und jetzt auf ein Mal spinnt es. Solange ich nicht weiß, was daran falsch ist, kann ich es auch nicht reparieren."

"Lass Dich ja nicht aus der Ruhe bringen", ermutigte ihn Kunzyte. Er nahm Zoisytes langen, dunkelblonden Zopf in die Hand und fuhr sachte am Haar entlang.

"Kunzyte", flüsterte Zoisyte tonlos. Er warf seinem Befehlshaber einen schmachtenden Blick zu. Und Kunzyte verstand. Er näherte sein Gesicht an das von Zoisyte und küsste ihn sanft. Noch währenddessen legte Zoisyte die Hand sachte an die Wange des Älteren. Endlose Sekunden verstrichen. Dann lösten sich ihrer beider Lippen langsam wieder von einander.

"Du hast noch Zeit", wisperte Kunzyte dem Jüngeren ins Ohr. "Du hockst schon so lange an diesem Ding ... willst Du nicht mal eine Pause einlegen?"

Zoisyte schüttelte den Kopf.

"Ich könnte doch an nichts Anderes denken", erklärte er. "Außerdem weißt Du selbst, wie wichtig es ist, rasch fertig zu werden. Unsere Königin Perilia ist schon ungeduldig, und ich will nicht riskieren, das Zeitlimit zu überschreiten, das sie mir gesetzt hat. Mir bleiben noch sieben Wochen. Das ist nicht gerade viel. Wenn ich Pech habe, und den Fehler einfach nicht finde, muss ich mir vielleicht ein völlig neues System einfallen lassen - und es dann auch noch zusammenbauen. Das kostet Unmengen an Zeit!"

Er warf Kunzyte einen Verzeihung heischenden Blick zu.

"Ich verstehe ja", meinte Kunzyte. Er seufzte schwer. "Trotzdem. Manchmal ist es besser, einfach mal abzuschalten. Nur so bewahrt man sich einen kühlen Kopf. Der Rest kommt wie von selbst, wenn Du Dich zur Abwechslung mit was Anderem beschäftigst. Zum Beispiel ... mit mir?"

"Also gut", lächelte Zoisyte verlegen, aber glücklich. "Du hast mich überredet."

Er warf noch einen letzten Blick auf den Energindikat, ehe er von Kunzyte an der Hand fortgeführt wurde. Es würde wohl noch eine Menge Zeit vergehen, bevor das Gerät einwandfrei funktionierte.
 

Kaum, dass Mamoru, Fala, Tony und Elyzabeth das Klassenzimmer betreten hatten, da kam auch schon Tim, einer ihrer Klassenkameraden, zu ihnen gelaufen und erzählte mit aufgeregter Stimme:

"Leute, habt ihr schon gehört, was John heut erzählt hat? Der Wahnsinn. Das müsst ihr euch anhören!"

"Was ist denn los, Tim?", fragte Tony nach und legte erst mal ihre Schultasche ab.

"Es ist unglaublich", machte Tim weiter Werbung, ohne indes wirklich auf den Punkt zu kommen. "Geht zu ihm, hört es euch an! Voll Spannend!"

Und damit hechtete Tim auch schon den nächsten entgegen, um die Kunde zu verbreiten.

"Was ist denn mit dem los?", wunderte sich Tony kopfschüttelnd.

John war von vielen anderen Klassenkameraden umringt und erzählte wild gestikulierend irgendwas. Auch Mamoru und die drei Mädchen kamen hinzu und hörten sich an, was John nun zum wahrscheinlich vierten oder fünften Mal erzählte, ohne dabei müde zu werden:

"...es war richtig komisch! Wir wissen bis jetzt immer noch nicht, wie das passieren konnte. Und mein Onkel benimmt sich seither so merkwürdig..."

Auch wenn John das, was er da sagte, absolut ernst meinte, so spürte man doch, dass er Theater spielte und alles etwas mehr dramatisierte, als nötig wäre. Er wollte einfach mal im Mittelpunkt stehen.

"Nun mal der Reihe nach", fiel ihm Tony ins Wort. "Was also ist mit Deinem Onkel passiert?"

"Also", machte John. Er freute sich, dass er seine Geschichte ein weiteres Mal zum Besten geben konnte. "Mein Onkel ist heut früh, wie auch sonst immer, bei der Arbeit gewesen. Er hat ja ein kleines Geschäft in Orendaham. Es war noch ganz früh, und er hat grad irgendwas verladen. Er holt ja immer mit seinem Kleinlaster so Kram für seinen Laden ab. Na ja, ist ja auch egal. Jedenfalls meint er, er wär überfallen worden. Er kann sich auch nicht so wirklich an alles erinnern. Er sagt bloß, irgendwer sei von hinten gekommen und hätte ihn angegriffen. Er hat sich gewehrt, aber sehr schnell ist er total müde geworden. Vielleicht hat ihm jemand nen Lappen mit Chloroform vor den Mund gehalten, oder so. Er weiß es nicht mehr. Jedenfalls ist er bewusstlos geworden. Der Kerl, der seine Wohnung neben dem Laden hat, der hat ihn dann gefunden. Aber es war total komisch! Es hat nix gefehlt, weder von der Ware, noch das Geld aus dem Laden, oder die Brieftasche von meinem Onkel, nix! War alles noch da! Aber was wirklich, wirklich komisch war: Mein Onkel ist seitdem so müde, der ist gar nicht mehr richtig wach zu kriegen. Dieser Kerl, dieser Nachbar, der kennt meinen Onkel gut. Der hat bei meiner Tante angerufen, und seitdem ist mein Onkel zu Hause. Selbst beim größten Krach wird der nicht wach. Und wenn wir ihn mal wach kriegen, dann nur kurz, und dann pennt der wieder ein. Keiner hat ne Ahnung, was das soll. Jemanden betäuben, nur so, ohne Grund, aus Jux und Tollerei! Wer macht so was? Jedenfalls versucht jetzt die Polizei was drüber rauszufinden. Ist aber nicht einfach. In der kurzen Zeit, wo mein Onkel wach war, hat er erzählt, er hat den Fremden nicht gesehen. Es war zu dunkel. Aber er meint, er hätte irgendwas Komisches an dem Fremden gesehen. So was wie Flügel. Hat er zumindest gesagt. Komische Sache. Jedenfalls suchen sie jetzt nach dem Fremden. Aber keiner hat ne Ahnung, wie man den schnappen könnte. Mein Onkel schläft jetzt die ganze Zeit. Wirklich seltsam, das alles, findet ihr nicht? Hmmm?"

Allgemeines, zustimmendes Raunen seitens der Umstehenden.

Mamoru ließ sich das alles noch mal durch den Kopf gehen. Die Geschichte klang in seinen Ohren sehr vertraut. Ein nächtlicher Angriff, keine Verletzungen, kein Diebstahl, nur eine wahnsinnige Müdigkeit ... das klang doch alles sehr nach dem Schattenwesen.

"Er sagte, er habe Flügel gesehen?", vergewisserte er sich.

John nickte. "Ja, ja! Flügel! Total komisch, das alles! Wer hat so was denn schon gehört? Flügel! Keine Ahnung, was das wirklich gewesen sein könnte. Mein Onkel hat ja gesagt, es war dunkel, und er konnte nicht wirklich was sehen. Aber er sagt, er erinnert sich daran, dass er den Eindruck hatte, Flügel an dem Fremden gesehen zu haben. Das alles ist doch voll merkwürdig, nicht wahr?"

"Flügel. So was Verrücktes", pflichtete ihm Mamoru bei. Doch in Gedanken war er schon lang woanders. Das Schattenwesen trieb also noch immer sein Unwesen. Und es hatte doch noch nicht genug. Seit es Mamoru vor der Reise nach Amerika diese immense Energie abgezogen hatte, hatte Mamoru nichts mehr von diesen eigenartigen Überfällen gehört. Was mochte wohl dahinter stecken? Er kannte noch immer nicht die Motive des Schattenwesens. Einerseits schien es die gesammelte Kraft für irgendwas zu verbrauchen, das extrem viel Energie verschlang. Andererseits verletzte das Schattenwesen niemanden ernsthaft, es schien gegen das Dunkle Königreich zu kämpfen - so hatte es zumindest damals beim Kampf gegen Jedyte ausgesehen - und außerdem war es offensichtlich seine Absicht, Mamoru zu beschützen, wie beispielsweise gegen die drei Sailorkrieger von neulich.

Was sollte das alles?

So sehr Mamoru auch nachdachte, für ihn machte die ganze Sache einfach keinen Sinn. Er versuchte sich mit aller Gewalt vorzustellen, was das Wesen mit der gesammelten Energie anstellen mochte, doch er kam nicht drauf. Er zermaterte sich fast den ganzen Tag das Gehirn darüber. Und selbst, als er sich mit Elly, Tony, Fala und Rick am Spätnachmittag in der Tenebrae traf, grübelte er noch stumm vor sich hin.

"Nimmt Dich das wirklich so sehr mit?", fragte Tony nach. Sie konnte sich ungefähr denken, was in Mamorus Kopf vorging. Nämlich das gleiche, worüber er schon den ganzen Tag nachdachte.

"Ich verstehe es nicht", antwortete er murmelnd. "Was John da erzählt hat, geht einfach nicht in meinen Kopf."

Sie hatten Rick erzählt, was Johns Onkel passiert war. Doch für ihn schien es keine große Sache zu sein. Überhaupt konnte ihn kaum was schnell aus der Ruhe bringen.

"Kleener, Du solltest in Deinem Kopp auch echt andres Zeuch drin stecken ham, möchte ich meinen. Mach Du Dir ma' keene Gedanken nich um 'n Scheiß, den De ja doch nich ändern tun kanns, wa?"

Und damit nahm er einen kräftigen Schluck Bier.

Fala seufzte schwer. Dann stand sie auf.

"Entschuldigt mich für eine Weile, ich komme nachher wieder."

Damit wandte sie sich ab und ging.

Mamoru schaute ihr überrascht nach. "Wohin geht sie?"

"Wat weiß ich?", antwortete Rick. "Vielleicht zu ihrer Großmutter."

Vor einiger Zeit mal hatte Rick Mamoru gegenüber erwähnt, dass Fala eine blinde Großmutter hier in Orendaham hatte, doch Mamoru hatte das sofort wieder vergessen. Doch nun war sein Interesse erwacht.

"Bin gleich wieder da", murmelte er, sprang auf und jagte nach draußen. Die Anderen am Tisch hatten keine Chance, rechtzeitig zu reagieren und ihn abzuhalten.

Irgendwie traute Mamoru Fala nicht. Sie war ihm einen Tick zu mystisch und geheimnisvoll. Ein Mädchen, das eine Krähe als Haustier hatte? Und das die Zukunft voraussagen konnte? Und das ihm auf unbeschreibliche Art so bekannt und zugleich so fremdartig erschien? Außerdem ging ihm durch den Kopf, wie ihn sein Traum von letzter Nacht vor einer Krähe gewarnt hatte. Eine Krähe ... Fala ... das Herz der Erde ... es war alles so unendlich verworren. Was mochte Fala mit dem Herz der Erde zu tun haben? In seinem Traum hatte die Mondprinzessin das Herz der Erde eingesetzt, um die Krähe zu verscheuchen. Was mochte das bedeuten?

Als er und die Anderen sich nach der Schule mit Rick in der Tenebrae getroffen hatten, da hatte Rick Terra und Apollo mitgebracht, wie an jedem anderen Tag auch. Apollo saß jetzt auf Falas Schulter. Sein angestammter Platz. Eine Krähe...

Wie konnte eine Krähe ihm gefährlich werden?

Mamoru verfolgte Fala quer durch Orendaham, und er achtete sorgfältig darauf, genügend Abstand zu halten, sodass sie und Apollo ihn nicht bemerkten.

Vielleicht würde Mamoru so endlich etwas mehr über das geheimnisvolle Mädchen herausfinden. Einige Minuten lang haftete er an ihren Fersen, bis sie die überdachte, hölzerne Treppe an einer Hauswand emporstieg und im ersten Stock des Hauses verschwand.

Mamoru gab ihr einige Sekunden Vorsprung und schlich dann um das Gebäude herum. Im Erdgeschoss befand sich ein kleiner Drugstore. Doch das im Stockwerk darüber mochte durchaus eine Wohnung sein. Mamoru besah sich den Briefkasten und die Klingel. Darauf stand in großen Lettern <DREAMING TEAR>. Der Nachname stimmte also auf jeden Fall.

Aber Mamoru wollte noch mehr rausfinden. Er musste unbedingt wissen, was Fala da drinnen trieb. Er ging in den winzigen, niedrig ummauerten Hinterhof, wo einige Mülltonnen, ein zerbrochener Stuhl und eine Regentonne herumstanden. Aus der oberen Etage führte ein Balkon heraus, die Schiebetür dahinter war einen Spalt breit geöffnet und leise Stimmen drangen heraus. Aber Mamoru verstand kein Wort. Er musste unbedingt näher ran.

Er kletterte mühsam auf den Rand der Regentonne, hielt sich an der Regenrinne fest und griff dann nach dem Balkongeländer. So gesichert konnte er zumindest nicht mehr von der etwas wackeligen Tonne runterfallen. Er konnte noch immer nicht wirklich in die Wohnung einsehen, da die Fenster und auch die Schiebetür von Gardinen verhängt waren, aber immerhin konnte er nun einige Fetzen dessen verstehen, was im Inneren der Wohnung gesprochen wurde.

Er vernahm Falas Stimme:

"...soll ich nur tun?"

"Zunächst musst Du Geduld haben, mein Kind", sagte darauf eine alte, krächzende Frauenstimme. Für einen winzigen Moment glaubte Mamoru doch tatsächlich, dass nicht ein Mensch, sondern Falas Krähe Apollo geantwortet hätte, so rau klang die Stimme. Aber das war doch völliger Blödsinn. Zumindest redete sich Mamoru das ein. Die unbekannte Stimme redete weiter, und der Herr der Erde bemühte sich, so viel wie nur möglich zu verstehen.

"Wenn er wirklich ... musst Du Acht geben ... kannst nicht vorsichtig genug sein. Ich spüre ein Geheimnis, das ... Genaues kann ich auch nicht sagen."

"Aber sonst bist Du Dir doch so sicher", meinte Fala.

"Oh, es ist keine Ungewissheit, die mich hindert...", sagte die Stimme. "Vielmehr ist ... was ich noch nicht ganz zu deuten weiß. Ich will vorsichtig ... aber frag ihn doch selbst. Er ist da."

Für einen kurzen Moment herrschte Stille. Oder flüsterten die beiden vielleicht miteinander? Mamoru reckte sich etwas höher, aber das einzige, was er hörte, war ein leises, hölzernes Knarren. Dann wurde die Schiebetür mit einem Ruck zur Seite geschoben und Fala starrte entgeistert auf ihn herab. Mamoru erschreckte sich so sehr, dass er den Griff um das Geländer lockerte. Er verlor das Gleichgewicht. Mit einem erschrockenen Schrei stürzte er zu Boden und wirbelte dabei eine Menge Staub auf. Auch die Regentonne fiel um und ergoss ihren halben Inhalt auf Mamoru. Er hustete, spuckte Wasser aus und versuchte sich den Matsch aus den Augen zu reiben. Fala legte ihre Hand an die Stirn, seufzte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Von drinnen kam Apollo angeflattert, ließ sich auf dem Balkongeländer nieder und krächzte laut. Es klang wie Hohngelächter.

Die unbekannte Stimme tönte von innen:

"Hatte ich Recht?"

"Ja", antwortete Fala. "Er ist hier." Zu Mamoru sagte sie dann:

"Wo Du schon mal da bist, kannst Du auch gleich reinkommen. Ich mach Dir die Tür auf."

Mamoru sah zu ihr rauf und sah sie mit Apollo im Inneren der Wohnung verschwinden.

"Mist!", fluchte er. Aber abhauen würde ihm jetzt doch nichts mehr bringen. Und vielleicht würde sich jetzt das eine oder andere Geheimnis klären. Zumindest hoffte er das. Er stand auf, ging zu der Treppe, die in den oberen Stock führte und wurde dort von Fala mit einem riesigen Badetuch in Empfang genommen. Sie sagte nicht ein Wort zu ihm, sondern drückte ihm nur das Tuch in die Hand und verschwand wieder in der Wohnung. Mamoru derweil zog sich die Stiefel aus, trocknete sich ab, versuchte sich vom gröbsten Schmutz zu befreien und betrat schließlich die Wohnung. Er hatte noch nicht ganz die Tür hinter sich geschlossen, da sah er sich schon mit neugierigen Blicken um. Ihm fiel nichts Außergewöhnliches auf. Es war eine Wohnung wie jede andere. Zunächst befand er sich in einem kurzen Gang, von dem links und rechts mehrere Türen abgingen. Geradeaus vor ihm erstreckte sich anscheinend ein größeres Zimmer, das von seinem jetzigen Standpunkt aus aber noch nicht eingesehen werden konnte. An den Wänden im Flur hingen einige uralte Fotos, die meisten davon schwarzweiß.

"Hey, Geheimagent! Kommst Du endlich?", tönte ihm Falas Stimme entgegen.

Mamoru tapste durch den Flur und betrat dann das Wohnzimmer. Es war sehr einfach eingerichtet. Es gab zwei Regale voller Bücher. Auf einer Kommode stand ein altes Radio. Eine weite, gläserne Schiebetür führte draußen auf den Balkon. Dort draußen war er vorhin noch gewesen.

Ein riesiger Webteppich mit indianischen Symbolen lag auf dem Boden. Darauf stand ein niedriger, hölzerner Couchtisch, um den sich einige Sitzmöbel gruppierten. Außerdem stand da noch eine lange Stange, auf deren oberem Querbalken Apollo saß und ihm entgegenkrächzte. Fala saß auf einer Couch und hatte beleidigt die Arme vor der Brust verschränkt. Sie schenkte Mamoru nicht mal einen Blick.

Und ihr gegenüber, in einem ledernen Sessel, saß eine alte Frau. Der runzligen Haut nach zu schließen mochte sie über hundert Jahre alt sein. Das silbern schimmernde Haar war auf dem Schädel mit einem dicken Knoten zusammengebunden. Sie musste wohl sehr lange Haare haben, wenn sie die Frisur offen tragen würde. Sie trug ein ledernes Kleid mit vielen türkisfarbenen Perlen. So, wie man sich eine Indianerin eben vorstellte. Sie hatte eine auffällige, lange Perlenkette um, an der Federn und Tierzähne befestigt waren. Die alte Frau hatte irgendwie etwas Besonderes an sich. Die gleiche mystische Aura, wie Fala sie hatte, umgab auch diese Frau. Aber sie strahlte noch etwas aus. Weisheit. Und unendliche Ruhe. Sie lächelte. Sie hielt die Augen geschlossen. Und dennoch schien es, als wüsste sie, in welche Richtung sie sprechen musste, wenn sie mit Mamoru reden wollte.

"Guten Tag, junger Mann", waren ihre ersten Worte nach dem langen Schweigen. Sie hatte ihm wohl etwas Zeit geben wollen, damit er sich umsehen konnte.

"Guten Tag", brachte er zögerlich heraus. "Es ... es tut mir wirklich Leid, dass ich Sie gestört habe. Ich ... ich wollte wirklich nur..."

Ja, was wollte er eigentlich? Wie war er nur auf die Idee gekommen, diese alte Frau könnte für ihn eine Gefahr darstellen? Oder Fala? Im Augenblick fühlte sich Mamoru, als sei er der größte Trottel, der in der Weltgeschichte herumrannte. Er druckste herum und suchte verzweifelt nach Worten, um seinen Satz zu beenden. Doch er fand sie einfach nicht. Sein Hirn war nicht nur leergefegt, es war regelrecht klinisch steril.

"Ich weiß, was Du willst", sagte die Frau darauf endlich.

"Wie bitte?", fragte er ein wenig verdaddert. Wie konnte sie wissen, was er wollte, wenn er es selbst nicht zu sagen wusste?

"Lass mich Dich ein wenig näher kennen lernen", forderte die Frau. Sie streckte ihm ihre Hände entgegen.

Zunächst stand Mamoru wie angewurzelt an seinem Platz. Bis ihm irgendwann ein Licht aufging. Rick hatte ihm gesagt, Falas Großmutter sei blind. Sie wollte ihn ertasten und sich so ein Bild von ihm machen. Zögerlich schritt er auf sie zu, kniete sich vor ihr nieder, ergriff ihre Hände zaghaft und führte sie zu seinem Gesicht und schloss seine Augen. Mit langsamen und behutsamen, aber dennoch kundigen Bewegungen fuhr sie seine Gesichtszüge nach.

Sachte tastete Mamoru nach ihren Empfindungen. Was er fühlte waren Neugierde, Freude, vielleicht eine gewisse Erwartung. Und da war noch was. Das gleiche Gefühl, das er bei Fala hatte. Leid. Und unendliches, verborgenes Wissen um etwas, das die Menschen eigentlich nicht kennen durften. Von ihr hatte Fala die Gabe - oder vielleicht auch den Fluch - geerbt, die Zukunft vorausahnen zu können. Er las die Empfindungen der alten Frau mit derselben Leichtigkeit, mit der sie sein Aussehen ertastete.

"Du bist ein hübscher, junger Mann", meinte die Alte, als sie ihre Hände wieder zurückzog. "Und in Dir schlummern große Kräfte."

Mamoru öffnete die Augen wieder und blickte sie eine Sekunde lang skeptisch an. Wusste sie etwa, dass er gerade in ihren Empfindungen so mühelos gelesen hatte wie in einem offenen Buch?

Er stand auf und setzte sich neben Fala auf die Couch. Eine regelrecht peinliche Stille entstand zwischen ihnen.

"Fala, mein Kind", sprach die Alte, "würdest Du mich und diesen jungen Mann für einen Moment alleine lassen?"

Fala rief empört aus:

"Was? Wo er doch gerade eben erst noch versucht hat, uns so schäbig auszuspionieren?"

"Sei bitte nicht so ungestüm", belehrte sie die Alte ruhig. Das Lächeln, bei dem schon einige Zähne fehlten, wich dabei nicht aus ihrem Gesicht. "Du weißt, manche Dinge geschehen, weil sie nun mal geschehen müssen. Er kam hier her zu uns, weil ihn eine Frage drängte. Er verlangt nach Wahrheit. Und hier kann er sie bekommen. Ich bitte Dich, mein Kind, lass uns einen Moment alleine."

Fala warf einen kurzen, hasserfüllten Blick auf Mamoru. Dann stand sie auf und ging zu Apollo. Sie sah den Vogel an, während sie fragte:

"Kann ich noch irgendwas für Dich tun, Großmutter? Brauchst Du noch etwas?"

"Nein, danke, mein Liebes", antwortete die Alte.

Fala streckte ihren Arm aus, und mit flatternden Flügeln hockte sich Apollo auf ihre Schulter. Die junge Indianerin warf einen letzten, warnenden Blick auf Mamoru. Sie verabschiedete sich mit den Worten "Mach's gut, Großmutter" und verschwand dann durch den Flur nach draußen.

<Was kommt jetzt?>, fragte sich Mamoru. In ihm baute sich Spannung auf. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was die Alte von ihm wollte.

"Also", stammelte er dann irgendwann, "mein Name ist..."

"Ich kenne Deinen Namen", unterbrach ihn die Alte bestimmt. "Du nennst Dich nun Mamoru, nicht wahr?"

<Nun? War das je anders?>

"Das stimmt", antwortete er verwirrt. Fala musste ihr wohl gesagt haben, wie er hieß.

"Mein Name lautet Wynona", fuhr die Alte fort. "Ich habe lange auf Dich gewartet. Und nun bist Du endlich gekommen."

"Sie haben auch die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen. Wie Fala", vermutete Mamoru.

Wynona nickte. "Sei bitte nicht so förmlich. Ich bin es ja immerhin auch nicht. Also sag einfach <Du> zu mir. Und Du hast Recht. Das Blut, das durch Fala fließt, das fließt auch durch meine Adern und gibt mir die Kraft, das zu sehen, was den Menschen verborgen bleibt. Aber sie und ich, wir sind nicht die Einzigen, die etwas Besonderes sind. In Dir schlummern uralte Geister einer längst vergessenen Zeit. Hab ich nicht Recht, Beschützer?"

"Beschützer?", fragte Mamoru nach. Er kam sich dabei reichlich blöd vor. In Gegenwart dieser Frau fühlte er sich irgendwie wie ein kleines, dummes Kind, das überhaupt gar nichts verstand.

Wynona nickte. "Das ist doch Dein Name. <Mamoru>. Derjenige, der beschützt."

"Ach, ja. Ja. Natürlich." Für einen kurzen Moment hatte er völlig vergessen, dass man seinen Namen auch übersetzen konnte. "Aber woher weißt Du..."

"Du hast es Fala, Rick und den anderen doch selbst erklärt."

Jetzt kam er sich wirklich blöd vor. Er hatte doch selbst gerade erst festgestellt, dass Wynona die Fähigkeit hatte, Zukünfte zu sehen. Er sollte sich besser nicht wundern, was die alte Indianerin nicht noch alles wissen mochte.

"Du hast Dir vorhin die Fotos im Flur angesehen, hab ich Recht?", fragte sie.

"Ja", antwortete Mamoru einfach.

"Gefallen sie Dir?"

Er zuckte mit den Schultern. Dann wurde ihm bewusst, dass sie das nicht sehen konnte, und beeilte sich zu sagen:

"Sie sind ganz okay."

"Ich kann sie schon lange nicht mehr sehen", erklärte Wynona. "Dennoch kann ich mich nicht von ihnen trennen. Ich freue mich, dass sie Dir gefallen. Wenn Du sie ansiehst, dann besteht vielleicht für mich die Möglichkeit, sie durch Deine Augen zu sehen. Deswegen schicke ich Fala oft in die Welt hinaus. Damit ich durch sie sehen kann. Leider klappt das nicht immer."

"Und als ich vorhin draußen stand..."

"...da habe ich gewusst, dass Du da warst", beendete Wynona den Satz.

"Du sagtest, eine Frage habe mich hier her gedrängt", sagte Mamoru. "Und dass ich hier die Antwort finden würde. Ich schätze mal, ich muss Dir nicht mehr viel erklären. Sage mir einfach, was Du weißt."

Wynona lachte leise auf. "Das tut mir Leid, aber das kann ich nicht. Es gibt gewisse Dinge, die darf ich Dir nicht sagen. Denn sie würden alles grundlegend verändern. Weder darf ich Dir von der Zukunft berichten, wie ich sie gesehen habe, noch darf ich Dir von der Vergangenheit erzählen. Das gilt sowohl für Deine persönliche Vergangenheit, als auch für die Vergangenheit allgemein. Denn es müssen erst gewisse Dinge geschehen, damit Du das begreifen kannst, was das Schicksal für Dich erwählt hat. Mit der Zeit wirst Du schon auf all Deine Fragen eine Antwort finden. Manches werde ich Dir offenbaren, manches werden Dir andere sagen. Und dann gibt es da noch Wissen, das Du in Dir selbst finden musst. Und dabei kann Dir keiner helfen."

"Hast Du Fala alles gesagt, was Du über mich weißt?", fragte Mamoru nach.

Wynona schüttelte den Kopf. "Es ist schon eigenartig, findest Du nicht? Du bist zu mir gekommen, um etwas über Fala zu erfahren. Stattdessen erfährst Du etwas über Dich selbst. Aber weißt Du was? Fala ist heute zu mir gekommen, um etwas über Dich zu erfahren. Nur leider kann ich ihr auch nur das verraten, was sie wissen darf. Sie hat ihre Fähigkeit von mir geerbt. Aber sie kann sie nicht kontrollieren. Das kann ich auch nicht. Aber ich habe einfach ein sehr langes Leben gehabt. Ich hatte mehr Zeit, um alles zu sehen und alles zu erfahren. Und inzwischen sind mir die Zusammenhänge klar. Doch Fala ist noch auf der Suche, genau wie Du. Wenn sie erst erkannt hat, wer Du bist, dann wird sie vieles verstehen, was jetzt für sie noch zusammenhanglos erscheint. Bis dahin musst Du viel Geduld mit ihr haben."

"Das bringt mich auf die entscheidende Frage", antwortete Mamoru. "Wer bin ich?"

Wynona schüttelte sachte den Kopf. "Das gehört zu dem Wissen, das in Dir drin steckt. Du kennst die Antwort. Aber Du lässt Dich noch zu leicht vom Wesentlichen ablenken."

Mamoru dachte darüber nach. Dann schüttelte er verwirrt den Kopf und sagte:

"Wenn ich wüsste, wer ich bin, dann würde ich nicht fragen. Vielleicht ist das ein Teil meines Lebens, den Du noch nicht gesehen hast, aber als ich noch ein Kind war, da habe ich mein Gedächtnis verloren. Ich kann nicht sagen, wer ich bin."

"Die eigentliche Frage, die Du Dir stellen musst", antwortete Wynona geduldig, "lautet nicht <wer bin ich> sondern <wer war ich>. Du weißt es. Aber Du übersiehst es. Du hast es gerade vor einer Minute gesagt, und es jetzt schon wieder vergessen."

Mamoru überlegte. "Was hab ich denn gesagt?"

"Erinnere Dich", forderte Wynona. "Wie lautet Dein Name?"

"Mamoru", antwortete er langsam und leise. "Derjenige, der beschützt."

"Und weiter?", fragte Wynona.

"Was weiter?", erkundigte er sich.

"Was beschützt Du?", wollte sie wissen.

Und da ging ihm ein Licht auf.

"Mamoru Chiba", stammelte er. "Derjenige, der die Erde beschützt. ...Aber das ist doch nur ein Name! Nichts weiter als ein Merkmal, um mich von anderen Menschen zu unterscheiden!"

Sie nickte. "Und Du unterscheidest Dich in vielen, sehr wesentlichen Dingen von allen anderen Menschen."

"Wie meinst Du das?", fragte er nach.

"Such doch die Antwort in Dir selbst", verlangte Wynona.

"In ... mir ... selbst..." Mamoru legte seine Hand über sein kräftig schlagendes Herz. Er glaubte nun zu wissen, worauf Wynona anspielte. Was sie sagte, war nicht nur bildlich zu verstehen, sondern wörtlich. In ihm drin schlummerte der Goldene Kristall. Jenes Instrument, das ihn zum Herrn der Erde erkor. Zwar wusste er selbst nicht viel über ihn. Aber was er wusste, das war, dass der Goldene Kristall viel Macht besaß. Er kontrollierte die Energien der Erde und die der Träume. Er sollte eine Waffe und ein Werkzeug sein.

Aber...

Mamoru sah Wynona fragend an. Und sie schien in ihrem inneren Ohr seine stumme Frage zu hören:

<Warum befindet sich der Goldene Kristall ausgerechnet in meinem Besitz? Warum ausgerechnet ich?>

"Du hast inzwischen festgestellt, dass Du der Herr der Erde bist", sagte Wynona. "Und der Goldene Kristall ist der Kristall der Erde. Er kontrolliert das Leben und die Träume auf diesem Planeten. Es ist Dein Planet. Und Du musst ihn mit diesem Kristall beherrschen. So ist Deine Bestimmung."

"Wieso ich?"

"Weil Du der Herr der Erde bist", antwortete sie einfach.

"Wieso bin ich der Herr der Erde?"

"Weil Du es schon immer warst."

Allmählich kam Mamoru sich veräppelt vor. "Ich meine, warum ausgerechnet ich? Warum nicht sonst wer?"

Wynona lächelte wieder ihr gütiges Lächeln und antwortete altklug:

"Irgendwer muss es ja sein."

Mamoru seufzte schwer. "Na gut, lassen wir das mal außen vor. Befassen wir uns mit der nächsten Frage: Wer ist Fala?"

"Auch diese Antwort befindet sich bereits in Dir", erklärte Wynona. "Aber Du erinnerst Dich nicht daran."

"Ich erinnere mich nicht daran?", echote er ungläubig. "Heißt das etwa, ich habe sie gekannt, bevor ich bei diesem Unfall damals mein Gedächtnis verloren habe?"

Wynona dachte einen Augenblick nach, ehe sie antwortete:

"Irgendwie ja. Und irgendwie nein. Nicht so, wie Du es verstehen würdest."

Mamoru gab ein hilfloses "Hä?" von sich.

"Du musst noch auf gewisse Ereignisse warten", vertröstete sie ihn. "Die Zeit selbst wird Dir die Antwort auf diese Frage liefern."

"Ist das wieder eins von diesen Gedönses, die passieren müssen, damit ich alles verstehen kann?", fragte Mamoru.

"Ganz genau", antwortete sie. "Die Zeit ist ein sehr empfindliches Gebilde. Die Menschen werden sie nie zur Gänze verstehen. Auch Du wirst lange brauchen. Aber Du hast die Chance, sie eines Tages verstehen zu können. Mit der Zeit wirst Du die Zeit begreifen."

Sie lachte leise. Dann fuhr sie fort:

"Es gibt einen bestimmten Grund, warum ich Dir gewisse Dinge jetzt noch nicht sagen darf: Wenn Du die Dinge weißt, bevor sie geschehen, dann besteht die Möglichkeit, das Du die Dinge änderst, bevor sie sind. Das wäre fatal. Du könntest ein Zeitparadoxon verursachen und ungewollt die ganze Welt damit zerstören. Alles muss seine Reihenfolge behalten. Die Zeit ist ein empfindliches Gefüge. Sie lässt sich nicht austricksen. Sie verteidigt sich mit allen Mitteln. Sie lässt sich nur ungern in Schranken weisen. Aber dennoch gibt es einige wenige Schranken, die ihr gesetzt werden. Selbst etwas so Mächtiges wie die Zeit muss Gesetzen folgen. Das Schicksal ist eines dieser Gesetze. Es gibt gewisse Dinge und Situationen, die sind unvermeidlich. Und weil absolut gewiss ist, dass diese Situationen geschehen werden, ist es auch ungefährlich, wenn ich Dir davon berichte. Aber manche Dinge verhalten sich anders. Dann bahnt sich eine Zukunft an, die passieren kann, es aber nicht unbedingt muss. Dann habe ich nur eine ungefähre Ahnung von dem, was noch passieren mag. Und dann weiß ich, ich muss vorsichtig sein mit meinen Worten. Dann sage ich lieber nichts als zu viel. Oder anders ausgedrückt: Ich will nicht in Verlegenheit kommen, wenn ich jemandem etwas prophezeie, und es wird zum Schluss nicht wahr; nur aus dem Grund, weil ich es prophezeit habe."

"Uff, das ist alles nicht so ganz einfach", stellte Mamoru fest. "Gut, dann frage ich nicht <wer ist Fala>, sondern ich stelle die Frage anders: Kann Fala für mich gefährlich werden?"

"Du spielst auf den Traum an, den Du letzte Nacht hattest?", riet Wynona mit wissendem Gesichtsausdruck. So langsam fragte sich Mamoru, was er vor dieser Frau geheim halten konnte. Sie musste ja Einblicke in seine geheimsten und intimsten Gedanken haben. Genau in diesem Moment wurde ihr Lächeln noch etwas breiter. Und eine sattrote Farbe machte sich auf Mamorus Wangen breit. Er hüstelte verlegen.

Als Mamoru nicht antwortete, brach Wynona schließlich das Schweigen:

"Also ist es so. Die Frage ist nicht leicht beantwortet. Ich will es dennoch versuchen. An und für sich brauchst Du meine Enkelin nicht zu fürchten. Sie ist ein liebes Kind, das bestimmt keiner Menschenseele etwas zuleide tun will. Aber sie befindet sich gerade in einer schwierigen Situation. Sie ist auf der Suche nach ein paar Antworten, und das schon seit sehr langer Zeit. Sie wird allmählich ungeduldig, und sie hat auch allen Grund dazu. Sie hat eine ungefähre Ahnung von ihrem Schicksal, und das macht es ihr nicht leicht. Sie hat bestimmt nicht vor, Dir zu schaden. Aber es kann dennoch sein, dass Du gut auf Dich aufpassen musst. Sie könnte einige Entscheidungen vorschnell fällen und es dann hinterher bereuen."

"Was ist denn ihr Schicksal?", fragte Mamoru dazwischen. "Und was sucht sie?"

"Ich fürchte, das sind Dinge, die Du besser nicht wissen solltest, Mamoru. So Leid es mir tut. Aber sie muss ihre Erkenntnisse allein sammeln, ihre Antworten alleine finden und ihrem Schicksal alleine entgegentreten. So wie Du auch. Das mag jetzt vielleicht etwas befremdlich für Dich klingen, aber Fala und Du, ihr seid euch ähnlicher, als Du vielleicht glaubst. Und ähnlicher, als sie es wahrhaben will."

"Also gut", meinte Mamoru. "Dann also zur nächsten Frage: Was ist das Schattenwesen? Und was hat es vor?"

"Ich kann Dir auch darüber nicht viel erzählen", gestand die alte Indianerin. "Dieses Wesen ist nicht immer das gewesen, als was Du es kennst. Es ist alt. So alt wie diese Welt selbst. Vielleicht sogar noch älter. Sein Verhalten mag Dir vielleicht unlogisch erscheinen, aber doch steckt eine Absicht dahinter. Das Wesen tut nichts, was sinnlos ist. Es hat eine sehr lange Zeit damit verbracht, zu warten. Und es wartete auf Dich. Nun hat es Dich gefunden. Aber es zögert noch damit, sich Dir zu zeigen. Es bereitet einen Test für Dich vor. Du wirst sogar schon seit einiger Zeit geprüft, ohne es zu merken. Das Wesen ist oft in Deiner Nähe, und doch bemerkst Du es nicht. Du kannst ... oder besser: Du solltest Dich mit dem Wesen nicht anlegen. Und vor allem gilt: Du kannst es nicht töten; ebenso wenig, wie Du einen Orkan töten könntest. Versuch nicht, Dich gegen es zu stellen, und es wird Dich weiterhin beschützen. Alles, was ich Dir sonst noch zu dem Wesen sagen kann, ist: Es wird sein Geheimnis bald offenbaren. Du musst Dich nur noch ein wenig gedulden. Die Zeit wird kommen, und dann erfährst Du alles, was Du wissen willst. Jetzt ist es noch zu früh dafür."

Wynona atmete tief durch. Sie machte irgendwie einen kranken, schwächlichen Eindruck.

"Ist alles mit Dir in Ordnung?", fragte Mamoru vorsichtig.

"Ja, ist schon gut", antwortete Wynona. "Ich bin eben nicht mehr die Jüngste. Ich bin müde geworden vom vielen Erzählen. Und Du hast für einen Tag wirklich genug erfahren. Es wäre wohl das Beste, Du machst Dich auf den Weg zu den Anderen. Sie warten schon auf Dich."

"Aber ... aber...", brachte er stammelnd raus. "Ich habe noch so viele Fragen! Wer war ich früher? Was war, bevor ich meinen Unfall hatte und mein Gedächtnis verloren habe? Wo finde ich den Silberkristall? Wer ist die Mondprinzessin? Und was hat es mit den Sailorkriegern auf sich, denen ich kürzlich begegnet bin? Und was ist mit dem Königreich des Dunklen? Und..."

"Es reicht für heute", sagte die alte Indianerin mit Nachdruck. "Finde Dich damit ab. Alles, was dringend gesagt werden musste, wurde gesagt. Ich kann Dir nur noch einen gut gemeinten Ratschlag mit auf den Weg geben. Lebe in den Tag hinein, und genieße die Zeit, die Du hast. Ich weiß, Du bist ungeduldig, und versessen darauf, Antworten auf Deine Fragen zu bekommen. Aber diese Antworten werden Dir nicht nur Gutes bringen. Dein Lebensweg wird mit Kummer und Schmerz bepflastert sein. Das Schicksal wird Dir schöne Tage bringen, aber auch Tränen und Leid. Im Nachhinein erst wirst Du das Schöne zu schätzen wissen und ihm nachtrauern, weil es bestimmte Dinge gibt, die man nur ein Mal hat, und dann nie wieder. Deswegen überleg Dir genau, was Du tust, und nutze Deine Zeit sinnvoll."

Mamoru nickte. Es war einfach ein Reflex, den er machen musste; auch wenn er wusste, dass Wynona es nicht sehen konnte. Oder vielleicht wusste sie doch davon, durch ihn. Er schloss diese Möglichkeit nicht ganz aus.

"Ich danke Dir für die Zeit und die Mühe, die Du für mich aufgebracht hast", sagte er. "Du hast mir sehr geholfen. Danke für alles, Wynona."

Sie nickte. "Gern geschehen. Eines Tages werde ich Dir mehr erzählen dürfen. Komm jederzeit zu mir, wann immer Dir danach ist. Es könnte sein, dass das Schicksal Dich zu mir führt, weil ein Gespräch zwischen uns wieder nötig ist. Jedenfalls freue ich mich jetzt schon darauf, das nächste Mal wieder Deine Stimme zu hören. Jetzt wäre es wirklich das Beste für Dich, zu gehen. Pass gut auf Dich auf, ja? Fala steht draußen und wartet schon auf Dich."

Mamoru zögerte noch, nun endlich raus zu gehen.

"Weiß sie von diesem Gespräch? Ich meine, vom Inhalt her."

Wynona verneinte. "Sie hat nicht die geringste Ahnung. Es ist Deine Entscheidung, was Du daraus machst."

"Ja", sagte er. "Mach's gut, Wynona. Es hat mich sehr gefreut, Dich kennen zu lernen. Ich werde ganz bestimmt bald mal wieder hier her kommen."

"Ich weiß", antwortete sie lächelnd. "Bis dann."

Mamoru ging aus dem Wohnzimmer und durch den Flur, durch den er gekommen war, und wo noch das matschige Badetuch lag, mit dem er sich abgetrocknet hatte. Er nahm es und hängte es mit der Schlaufe, die an einer Ecke befestigt war, an den Kleiderbügel, mangels eines passenderen Ortes. Dann zog er seine Stiefel an und verließ die Wohnung. Als er die Treppe runterlief sah er schon Fala, die ihm ungeduldig entgegenblickte.

"Lange hast Du gebraucht", stellte sie missgelaunt fest. "Was gab es denn so Wichtiges zu bereden?"

"Ähm...", machte er unschlüssig.

Sie hob ihre Hand, um ihm zu bedeuten, er solle schweigen.

"Schon gut", meinte sie, "so wichtig ist es mir gar nicht. Mich interessiert nur eines."

Sie kam einen Schritt näher und starrte ihm direkt in die Augen. Ihr Gesicht war bedrohlich nahe an seinem. Wieder erweckten ihre pechschwarzen Augen irgend etwas tief im Inneren von Mamoru. So etwas wie Erkennen. Aber wieso...?

"Alles, was ich von Dir wissen will", so erläuterte sie, "ist: Wer oder was bist Du eigentlich wirklich?"

Falas tiefschwarze Augen starrten ohne jede Regung in die von Mamoru. Selbst jetzt, auf diese Nähe hin, und im hellsten Licht der Spätnachmittagssonne, die unbarmherzig heiß von Himmel auf den Boden knallte, waren die Pupillen der jungen Indianerin nicht auszumachen. Das sehr lange, ebenso schwarze Haar wallte ein wenig im sanften Wind, der sie beide umgab. Eine ungebrochene Entschlossenheit war in ihrem dunkelhäutigen Gesicht zu lesen.

Sie war nahe an ihn herangetreten. So nahe, das ihr Gesicht fast Mamorus ganzes Blickfeld ausfüllte. Die Finger ihrer Hand berührten die seinen flüchtig, und Mamoru kam nicht drum herum, die brodelnden Emotionen in ihrem Inneren deutlich zu spüren. Ungeduld. Und Zorn. Und Empörung dafür, dass Mamoru es gewagt hatte, sie auszuspionieren und ihre Großmutter zu belästigen. Und Hass gegenüber allem, was ihr fremd erschien. Und wieder diese Aura der uralten Macht, die in ihr lag. Diese Mystik. Diese enorme mentale Stärke. Und ganz besonders Letzteres machte Mamoru irgendwie wahnsinnig nervös.

"Alles, was ich von Dir wissen will", so erläuterte sie, "ist: Wer oder was bist Du eigentlich wirklich?"

Ohne es wirklich zu merken sog Mamoru erschrocken die Luft ein. Er hatte ja gerade einen Moment zuvor von Falas Großmutter Wynona erfahren, dass Fala auf der Suche nach Antworten war, und versuchte, Näheres über Mamoru herauszufinden. Doch er hatte sich erhofft, vielleicht etwas mehr Zeit zu haben, um sich auf die Frage vorzubereiten, die ja eigentlich unumgänglich war. Doch diese Zeit gönnte ihm Fala nicht. Er saß in der Falle. Er konnte ihr doch unmöglich die Wahrheit sagen. Zumal, wo er doch die Wahrheit eigentlich selbst nicht kannte. Er war schon seit Ewigkeiten auf der Suche nach sich selbst. Er könnte ihr zwar schon das eine oder andere sagen, aber würde sie das verstehen? Er wusste ja selbst nicht mehr, als dass er ein Sailorkrieger und als solcher auf der Suche nach dem Silberkristall und dem <Herz der Erde> war. Noch dazu war er der Herr über diesen Planeten. Und weiter?

Und selbst, wenn er tatsächlich mehr gewusst hätte, woher hätte er wissen sollen, wie weit er ihr tatsächlich trauen sollte? Natürlich stellte Wynona Fala als harmlos hin, Fala war immerhin ihre Enkelin. Da war aber noch die Sache mit dem Traum, der ihm klipp und klar gesagt hatte, die Krähe, also Fala, sei gefährlich.

Und wie weit durfte man einem Traum Glauben schenken?

Die ganze Situation war vertrackt, und Falas Ungeduld wuchs in rasantem Tempo dem Himmel entgegen, das spürte Mamoru überdeutlich.

In Ermangelung an einer besseren Idee versuchte er stotternd Zeit zu schinden.

"Also ... ich ... weiß gar nicht recht, was ich darauf antworten soll ... wer weiß schon, wer er selber ist? Man entdeckt ja ständig neue Seiten an sich selbst. ...Überhaupt, wie meinst Du diese Frage? Ich meine, Du kennst mich ja, und..."

"Du weißt sehr wohl, was ich meine", unterbrach sie ruppig. "Spiel hier nicht den Blöden. Ich will eine Antwort, und zwar sofort!"

"Ach ja?", antwortete er. Er klang jetzt wie ein bockiges Kind. "Und wer bist Du dann?"

"Ich warne Dich!", zischte sie. Apollo auf ihrer Schulter stieß ein kurzes, lautes Krächzen aus und fixierte Mamoru mit tückischen, kleinen, schwarzen Augen, die das Tier wirken ließen, als besäße es menschliche Intelligenz - und diabolische Boshaftigkeit.

Fala sprach nun ihre Warnung aus:

"Wenn Du mir blöd kommst, hetze ich Apollo auf Dich und lasse es wie einen Unfall aussehen. Also, was ist?"

"Ähm ... ich", stammelte er.

"Sag die Wahrheit!", forderte sie mit Nachdruck.

"Ich ... ich weiß nicht..."

"Was soll das heißen, Du weißt nicht? Du wirst ja wohl wissen, wer Du bist!"

"Eben nicht", antwortete er leise und wandte das Gesicht ab. "Ich habe mein Gedächtnis verloren. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Wer ich einmal war."

Der minimale Kontakt, der noch immer zwischen seinen und ihren Fingern bestand reichte aus, ihn das unermessliche Misstrauen spüren zu lassen, das nun durch Fala tobte. Doch mehr konnte Mamoru ihr einfach nicht bieten. Sie hatte die Wahrheit verlangt und sie auch bekommen. Und anscheinend wusste sie selbst nicht wirklich, wie sie mit seiner Antwort umzugehen hatte. Sie war hin und her gerissen, weil sie nicht wirklich wusste, ob sie ihm glauben sollte oder nicht.

"Willst Du mich veräppeln?", fragte sie schließlich verunsichert.

Doch noch ehe er ihr antworten konnte, wurde das Gespräch durch eine Stimme unterbrochen:

"Was tut ihr da?"

Elly stand da und schaute die beiden irritiert an. An ihrer Seite stand Terra und blickte interessiert um sich. Für einen Moment herrschte absolute Stille. Doch auch ohne Worte konnte Mamoru spüren, wie die Wut in der jungen Indianerin aufkochte. Sie begrüßte es gar nicht, ausgerechnet jetzt gestört zu werden, und auch noch ausgerechnet von Elyzabeth! Schließlich war es auch Fala, die das Schweigen brach:

"Nichts. Gar nichts."

Sie wandte sich um, ging dann wortlos an Elly und Terra vorbei und bewegte sich wieder in Richtung Tenebrae zu. Durch ihr Fortgehen riss auch endlich der Strom an Emotionen ab, der sie mit dem Herrn der Erde verbunden hatte, und er atmete erleichtert auf. Länger hätte er den Kontakt auch nicht ausgehalten.

"Was habt ihr gemacht?", fragte Elly nochmals. Ein lauernder Unterton lag in ihrer Stimme.

"Ach, Elyzabeth", seufzte Mamoru. Ihm wäre es das Angenehmste gewesen, jetzt einfach mal abzuschalten und seine Ruhe zu haben. Am liebsten hätte er einfach gesagt, es ginge sie nichts an. Doch das verkniff er sich dann doch lieber. "Es ist gar nichts passiert, okay? Wir sollten jetzt auch zurück gehen."

Als er an ihr vorbeischritt, packte sie ihn am Arm und hielt ihn zurück.

"Mamoru...?"

Er sah sie fragend an.

Sie schaute verwirrt zurück.

Er spürte an ihr etwas wie ... Sorge. Zweifel. Das Gefühl, von allen übergangen zu werden. Und noch mehr. Etwas, das Mamoru nicht wirklich zu deuten wusste. So etwas wie ... die Suche nach seiner Nähe?

Er war verstört. Er wusste nicht recht, was er mit dieser Masse an Eindrücken tun sollte. Er erkannte die Bedeutung hinter dem ganzen Chaos nicht. Und irgendwo tief in seinem Inneren weigerte er sich auch gewissermaßen, alles verstehen zu wollen. Er hatte gerade ziemlich viel auf einmal erlebt, und er wollte nur noch, dass dieser verrückte Tag endlich dem Ende entgegen ging.

Er rang sich ein ermutigendes, kleines Lächeln ab und erklärte:

"Hör mir mal zu. Ich weiß ja nicht, was Du erwartest, dass hier großartig stattgefunden haben könnte. Ich kann Dir nur versichern, es war nichts von Bedeutung. Wir haben nur ein paar belanglose Worte mit einander gewechselt, Fala und ich. Und ich würde vorschlagen, wir gehen jetzt einfach in die Tene zurück und vergessen das Ganze. Ich bin ziemlich müde. Der Tag hat ganz schön geschlaucht, finde ich. Du nicht auch?"

Sie zögerte eine Weile. Anscheinend war sie sich nicht ganz schlüssig, ob sie wirklich so ohne Weiteres aufgeben sollte. Doch dann nickte sie stumm. Sie ließ seinen Arm los und beide machten sich auf den Weg zurück ins Lokal. Terra trottete ihnen nach.

Zurück in der Tenebrae begrüßten Tony und Rick sie. Fala saß einfach stumm am Tisch und würdigte niemanden eines Blickes.

"Was war denn los?", fragte Tony. "Fala will uns kein Wort erzählen."

Mamoru zuckte mit den Schultern. "Es gibt auch nix zu erzählen." Dann setzten er und Elly sich hin.

Tony schaute skeptisch. "Ihr drei braucht so lange, um nichts zu tun?"

"Nu lasse doch ma' in Ruh", mischte Rick sich ein. "Sorgen wer lieber für gute Stimmung hier, wa?"

"Find ich gut", erklärte Elly und bestellte sich noch ein Bier. Auch Tony hielt Ricks Idee für gut. Sie begann sofort damit, lustige Geschichten von ihren früheren Erlebnissen zu erzählen. Doch Mamoru hörte nur mit halbem Ohr hin. Zu sehr war er mit Grübeln beschäftigt. Er sah möglichst unauffällig zu Fala rüber, sie sich nur stumm die Zeit mit Apollo vertrieb und sich am Gespräch gar nicht beteiligte. Sie sah immer noch wütend und beleidigt aus. Es passte ihr ganz offensichtlich so ganz und gar nicht, dass ihre Großmutter Wynona sie bei dem Gespräch mit Mamoru ausgeschlossen hatte, und dass Elyzabeth sie dann gestört hatte, als sie mit dem Herrn der Erde sprechen wollte. In gewisser Weise konnte er ganz gut verstehen, dass sie sauer war.

Apollo hockte auf ihrem Unterarm, krallte sich in den dicken, ledernen Poncho ein, den Fala zum Schutz vor seinen Krallen immer trug, und ließ sich gefallen, wie sie sanft über sein Gefieder streichelte und ihm dann und wann einige Worte zuflüsterte. Eine Weile beobachtete Mamoru die junge Indianerin. Doch wenn sie dies bemerkte, dann ignorierte sie es erfolgreich.

Nach einiger Zeit wanderte sein Blick rüber zu Elyzabeth, die mit den Gedanken genauso abwesend zu sein schien wie er und Fala. Sie bemühte sich zwar darum, ein interessiertes Gesicht zu machen bei dem, was Tony da erzählte, aber so ganz gelang ihr das nicht. Sie wirkte bedrückt. Enttäuscht. Außen vor gelassen. Mamoru stellte sich die stumme Frage, ob es ihr tatsächlich so viel bedeutete, zu erfahren, was zwischen ihm und Fala vorgefallen war.

Sie bestellte sich noch ein Bier. Das dritte für diesen Abend. Sie schüttete sonst nie so viel in sich rein. Irgendetwas ging in ihr vor, das Mamoru sich nicht erklären konnte. Sie wirkte immer mehr in sich gekehrt. Nachdenklich. Man konnte es fast schon als <in die eigene Gedankenwelt zurückgezogen und von der Außenwelt abgeschottet> bezeichnen. Was mochte wohl wirklich in ihr vorgehen?

Mamoru hätte es herausfinden können, zweifellos sogar ohne große Mühe. Doch er wagte es nicht. Was immer es war, das sie dazu brachte, so introvertiert zu reagieren, konnte womöglich einen wahren Orkan an Gefühlen als Grund haben, und der Herr der Erde wollte sich dem beim besten Willen nicht aussetzen. Ganz besonders nicht, da er selbst noch nicht so viel Erfahrung mit dieser seiner neuen Fähigkeit hatte, und nicht das Risiko eingehen wollte, mehr zu zerstören als zu retten.

Mamoru kam an diesem Abend zu keinem nennenswerten Ergebnis, so sehr er sich auch das Gehirn zermarterte. Sein Gespräch mit Wynona hatte eigentlich fast noch mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet, und er hatte sich schlussendlich mit dem Gedanken begnügen müssen, dass wohl sehr bald ein Ereignis bislang ungekannter Art auf ihn zukäme. Er wollte abwarten. Er hatte an und für sich schon das Gefühl gehabt, er könne der alten, indianischen Greisin Vertrauen schenken, und er war sich eigentlich sicher, dass sie ihn gewarnt oder zumindest zum vorsichtigen Handeln geraten hätte, wäre er tatsächlich in näherer Zukunft in lebensbedrohlicher Gefahr gewesen. Er konnte nur hoffen, sich in der alten Dame nicht getäuscht zu haben.

Die Heimfahrt im Kleinbus der Taylorfamilie konnte ihn dann auf andere Gedanken bringen, denn auf den hintersten Rücksitzen hatte er seine liebe Not, auf Elly aufzupassen. Das Mädchen hatte im Laufe des Abends entschieden zu viel über ihren Durst getrunken und konnte sich selbst im Sitzen kaum aufrecht halten. Sie lehnte sich mit dem Kopf gegen seine Schulter ab und brabbelte irgendein unverständliches Zeug vor sich hin. Glücklicherweise aber stellte sich ihr Zustand als nicht allzu schlecht heraus. Ihr Reaktionsvermögen hatte zwar schon sichtlich abgenommen, und sie hatte einen leicht glasigen Blick, aber es war nicht so schlimm, dass man sich hätte Sorgen um sie machen müssen. Auf der Ranch angekommen stützte Mamoru Elyzabeth auf dem Weg in ihr Zimmer, denn auch das Geradeauslaufen fiel ihr nicht mehr so leicht.

"Dangesch-hicks-schön", nuschelte sie.

Dann ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Mamoru konnte durch sein beherztes Zugreifen gerade noch verhindern, dass sie direkt wieder an der Kante herabrutschte. Er setzte sie etwas weiter in die Mitte der Matratze. Am Bettende rollte sich Terra sofort ein, gähnte, und schloss die Augen.

"Keine Ursache", keuchte er erschöpft. "Geht's Dir gut?"

"Glar doch", murmelte sie leise. "Gönnt nich bessa lauf'n."

"Das sehe ich anders", antwortete Mamoru und kratzte sich ratlos am Kopf. "Kann man Dich so alleine lassen?"

"Nee, lass mich nich 'lein", brachte sie raus.

Dann bemühte sie sich doch darum, eine verständliche Aussprache zu benutzen.

"Komm her, setz Dich noch ne Runde zu mir. Nun hab Dich nich so. Tu mir den Gefallen, bitte."

Er zögerte kurz. Eigentlich wollte er sich allmählich auf den Heimweg machen, es war spät genug. Doch dann entschied er sich doch anders. So viel Zeit konnte er nun wirklich noch aufbringen. Er hockte sich neben sie auf das Bett.

"Weißt Du", begann sie, "ich hab mich gefragt, wo Du wohl vorhin gewesen bist. Ich hab mir schon Gedanken gemacht. Aber ... nun ja ... Du brauchst mir nicht so unbedingt sagen, was war. Ich meine, das ist Deine Privatsache, und da sollte ich mich nicht einmischen. Es tut mir Leid. Wenn Du mit dieser Hexe ... ich wollte natürlich sagen: mit Fala ... irgendwas zu bereden hast, dann ... dann akzeptiere ich das."

Er wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte. Deshalb sagte er einfach mal:

"Danke."

Er zögerte eine kurze Weile, ehe er fortfuhr:

"Es ist nicht so, dass ich Spaß daran habe, Sachen vor Dir geheim zu halten. Es ist nur..."

Er sah sie für einen Moment bekümmert an.

"...Es gibt einige Dinge, die ich selbst noch nicht verstehe. Vielleicht kann ich eines Tages etwas offener sein. Zu Dir, und auch zu den Anderen. Aber im Augenblick..."

Er brach seinen Satz ab und ließ ihn unvollendet.

"Hast Du vielleicht irgendwelche Probleme?", fragte Elyzabeth vorsichtig. "Kann ich irgendwas tun, um Dir zu helfen?"

Mamoru lächelte. Doch er tat es auf eine traurige, irgendwie hilflose Art und Weise.

"Wenn ich behaupten würde, ich hätte keine Schwierigkeiten, würde ich lügen. Ich fürchte nur, ich könnte Dir nicht verständlich machen, was in mir vorgeht. Ich müsste ziemlich weit ausholen."

Er seufzte schwer.

"Und ich will Dich doch nicht langweilen."

"Du langweilst mich nie", erklärte sie. "Aber ich will Dich auch nicht drängen. Ich spüre, dass es Dir schwer fällt, darüber zu reden. Ist schon gut. Verzeih meine Neugier."

Er lachte zynisch auf. Mit verbittertem Unterton fragte er:

"Du spürst es? Merkt man es mir so sehr an?"

"Nein", antwortete sie. "Es ist nur..."

Sie räusperte sich.

"Ich beobachte Dich eben etwas genauer."

Er hob fragend eine Augenbraue.

"Ach, ja?"

Sie nickte.

"Als Du vorhin verschwunden bist ... als Du der Hexe nachgerannt bist, da..." Sie brach ab. Sie schüttelte den Kopf. Die dunkelblonden, leicht gewellten Haare flogen ihr dabei ein wenig ins Gesicht.

Sie setzte ihren Satz neu an:

"...Ich bin froh, dass Dir nichts Schlimmes passiert ist."

Sie sah Mamoru nicht an. Sie starrte in die andere Richtung. Ihr Blick war auf Terra gerichtet, der anscheinend inzwischen friedlich eingeschlafen war.

Mamoru lächelte. Jetzt auf eine glückliche Art und Weise.

"Was hätte mir denn passieren können?", tat er es ab.

"Denk an das, was John uns heute in der Schule erzählt hat", erinnerte sie ihn. "Sein Onkel ist überfallen worden. Heute Morgen erst. Vergiss das nicht. Wer weiß, vielleicht läuft ja ein Wahnsinniger durch die Stadt!"

"Das wäre aufgefallen", mutmaßte Mamoru. "Ich denke, es war ein ganz gewöhnlicher Bürger aus Orendaham. Oder aus der Umgebung. Wer weiß das schon?"

Er legte eine kurze Pause ein, während er überlegte, wie er seine folgenden Worte formulieren sollte. Dabei ließ er seinen Blick durch das Zimmer schweifen.

"Es ehrt mich, zu hören, dass Du Dir Sorgen um mich machst. Aber ich kann Dir versichern, dass ich gut auf mich aufpassen kann. Mir wird nichts geschehen, verlass Dich drauf."

Als er seine Augen nun wieder auf sie richtete, da fiel ihm auf, dass sie ihr Halstuch abgelegt hatte und nun an der schlichten, silbernen Kette an ihrem Hals nestelte. Er lächelte glücklich und voller Stolz.

"Trägst Du die Kette andauernd?"

Auch sie lächelte jetzt sanft.

"Ja", antwortete sie kurz angebunden.

Sie nahm ihre Hand wieder runter und der kleine Hufeisenanhänger, den Mamoru ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, glitzerte im Licht, das von der Deckenlampe herabstrahlte.

"Der Anhänger gefällt mir so wahnsinnig gut", erklärte sie. "Wenn Du mal nicht da bist, und ich schaue mir die Kette an, dann denke ich sofort an Dich. Und dann fühle ich ... Ich fühle mich glücklich. Egal, was um mich herum ist."

"Jetzt übertreibst Du aber", meinte er verlegen. Ein leichter, rötlicher Ton schlich sich auf seine Wangen.

"Nein", beharrte sie, "ganz und gar nicht."

Sie sah jetzt direkt in seine Augen. Ihr fester Blick brannte sich tief in sein Gehirn ein. Das tiefe Dunkelgrün ihrer Augen schillerte einen Moment lang bläulich auf. Wirklich eine außergewöhnlich schöne Farbe. Eine Farbe, die Mamoru völlig in ihren Bann zog und für die Winzigkeit eines Augenblicks alles um sich herum vergessen ließ.

Ganz sachte berührte Elyzabeth mit ihrer Hand seinen Oberschenkel. Der Körperkontakt war so sanft wie bei einer Feder, und dennoch spürte Mamoru explosionsartig die Wärme, die von ihren Fingern ausging, die Macht der Sehnsucht, die leicht durch ihre Fingerspitzen pulsierte, und ihr Suchen und Verlangen nach Nähe. Fast wie ein lautloser, verzweifelter Schrei nach der Berührung mit seinem Körper.

Der Herr der Erde war verwirrt. Er konnte sich nicht erklären, was er da fühlte. Er vermochte nicht mehr zu sagen, ob er gerade das Empfinden dieses Mädchens ertastete, oder ob das seine eigenen wilden Gefühle waren, die da tobten, und ihn in entfesselter, ungezügelter Macht überrollten. Vielleicht beides. Er wusste nicht mehr, was er verspüren, denken, wie er atmen, was er tun sollte. In nur einer einzigen, vernachlässigbar kleinen Sekunde hatte es dieses Mädchen geschafft, ein wahres Chaos in ihm auszulösen. Er konnte keine Ordnung mehr in seine Gedanken bringen. Ebenso gut hätte er versuchen können, mit bloßen Händen einen Orkan aufzuhalten. Und gerade, als er meinte, in den unergründlichen Tiefen ihrer dunklen Augen versinken zu müssen, da fuhr durch seinen Körper ein leichter, aber deutlich spürbarer Ruck. Sein Gehirn hatte von einer Sekunde auf die andere entschieden, dass dieses Chaos nicht weiter bestehen durfte, wollte sein Geist nicht daran zerbrechen. So tat er instinktiv das einzige, was ihn aus diesem Tohuwabohu raus helfen konnte: Er schaltete für ein paar Sekunden seine sämtlichen Gefühle ab, fast wie bei einem Schock. Er schüttelte leicht den Kopf, in der Hoffnung, so wieder auf klare Gedanken kommen zu können. Was nun in ihm erwachte, das war die kühle, distanzierte Haltung eines außenstehenden Wissenschaftlers, der die ganze Situation so analysierte, als sei alles ein Szenario; ein nichts sagendes, nüchternes Experiment ohne jegliche Subjektivität.

"Elyzabeth", begann er, mit einem kühlen, fast schon gefühllosen, kleinen Lächeln. "Ich denke, Du überinterpretierst da was. Wenn Du noch mal genau nachdenkst, wirst Du feststellen, dass man das alles nicht so ernst nehmen kann. Was Du da von mir bekommen hast ist doch nichts weiter als ein kleiner Anhänger. Ein Stück Metall, das von Menschenhand in eine schöne Form gezwungen worden ist. Mehr nicht. Weder steckt da ein Glückszauber drin, noch ist es für Dich von überlebenswichtiger Notwendigkeit. Ich denke, es wird nun Zeit für mich, zu gehen. Du wirkst müde und abgespannt auf mich. Ruh Dich ein wenig aus, das bringt Dich auf andere Gedanken. Wir werden morgen weiterreden, in Ordnung?"

Sie schwieg und starrte ihn endlose Sekunden lang stumm an. Dann senkte sie den Blick und erklärte leise:

"Wenn Du meinst. Es tut mir Leid, dass Du das so siehst. Ich werde Dich damit nicht mehr belästigen. Ich wünsch Dir eine gute Nacht."

"Gute Nacht."

Damit verließ er das Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich zu. Er machte sich auf die Suche nach Rick, und als er ihn gefunden hatte, bat er darum, nach Hause gebracht zu werden. Rick befand, dass es einfach zu spät sei, ihn zur SilverStar-Ranch zu reiten, so nahmen sie stattdessen den Kleinbus. Rick erzählte auf der Fahrt dies und das. Mamoru antwortete immer schön brav mit "Ja" oder mit einem Nicken. Doch eigentlich hörte er schon lange nicht mehr zu, was der Cowboy erzählte. In Gedanken beschäftigte er sich mit den Worten, die er Elyzabeth soeben an den Kopf geworfen hatte. Im Stillen schalt er sich einen Narren. Er spürte tiefgehende Reue für seine Worte, jetzt, da sich der vermeintliche Schock gelegt hatte und die menschlichen Empfindungen in seinen Körper zurückkehrten. Ihm wurde erst jetzt bewusst, was er da so ohne weiteres zum Besten gegeben hatte. Und es tat ihm wahnsinnig Leid. Aber immerhin war er jetzt dazu in der Lage, zu sagen, aus welchem Grunde er so ablehnend reagiert hatte.

Er ist vor nicht allzu langer Zeit schwer verletzt und enttäuscht worden, von einem Mädchen, das er sehr geliebt hatte und das mit seinen Gefühlen nur gespielt hatte. Er wusste, Elyzabeth war beim besten Willen nicht Hikari. Aber dennoch steckte da ein schmerzhafter Dorn tief in seiner Seele. Angst davor, die gleiche Enttäuschung noch einmal zu erleben. Und er war absolut verunsichert. Er wusste weder, ob er seine eigenen Gefühle nicht vielleicht vorschnell überbewertete, noch ob er das Empfinden, das er bei Elly gespürt zu haben glaubte, richtig interpretiert hatte.

Dennoch hätte er anders reagieren müssen.

"Ich bin ein Idiot", seufzte er so leise, dass der Cowboy neben ihm ihn nicht hören konnte. "Ich bin so ein feiger, verfluchter Idiot."
 

AURORA: "Können wir jetzt anfangen? Ich halte diese Besprechung für sehr wichtig. Wir sollten unsere weiteren Schritte besprechen, um zu verhindern, dass wir uns blind in etwas reinstürzen, was zum Schluss unwiderrufliche Komplikationen nach sich ziehen könnte. Punkt eins: Wir müssen das Basislager unserer Feinde finden."

KOMET: "Wie sollen wir das machen? Wir sind nun schon seit einigen Monaten auf der Suche, bislang ohne Erfolg. Wir wissen nicht viel über unsere Feinde. Alles, was wir wissen, ist, dass sie einfach aus dem Nichts auftauchen, und ebenso plötzlich verschwinden, wenn es ihnen zu heiß wird. Sie sammeln Energie. Menschliche Energie. Und sie sind auf der Suche nach dem Silberkristall..."

ASTEROID: "...nicht zu vergessen die Tatsache, dass sie aus dem Königreich des Dunklen stammen. Meine Erinnerungen an die alte Zeit sind inzwischen etwas dürftig, aber den großen Krieg gegen sie werde ich niemals vergessen. Sie sind mächtige Gegner. Auch, wenn es scheint, als haben sie noch nicht ganz ihre alte Macht zurückerhalten, so sollten wir sie dennoch nicht unterschätzen. Immerhin sind auch unsere Reihen brüchig geworden seit der alten Zeit."

(Aurora nickt)

AURORA: "Sie scheinen sich sehr viel schneller zu regenerieren, als unsere Truppen dies tun. Und als hätten wir dadurch nicht schon genug Ärger, taucht plötzlich dieses Wesen auf, das den Fremden beschützt hat."

KOMET: "Der Fremde sagte, er sei ein Sailorkrieger. Doch woher wissen wir, ob wir ihm vertrauen können?"

AURORA: "Das werden wir wohl oder übel so schnell nicht herausfinden können. Doch, wenn ich ehrlich bin, das schwarze Wesen bereitet mir viel mehr Kopfzerbrechen. Ich hatte das Gefühl, ich würde seine Aura und seine Energiesignatur irgendwoher kennen. Doch mein Computer konnte nicht rechtzeitig genügend Daten sammeln. Wir sollten besser auf Nummer sicher gehen und auch das Wesen als Feind einstufen."

ASTEROID: "Und der Fremde?"

AURORA: "Ihn auch. Es gibt für ihn keine Möglichkeit, uns einwandfrei seine Gesinnung zu beweisen. Wir können ihm nicht vertrauen. Wir sollten ihn vernichten."

(Komet erschrickt)

KOMET: "Wie kannst Du das nur sagen??? Es ist nicht unsere Aufgabe, Gott zu spielen und über Leben und Tod zu entscheiden. Ganz besonders dann nicht, wenn wir nicht mit absoluter Sicherheit wissen, ob er unser Feind ist oder unser Verbündeter. Vielleicht ist das alles nur ein dummer Zufall; ein Missverständnis! Es könnte möglich sein, dass er mit unserer Sache überhaupt nichts zu tun hat!"

AURORA: "Dann erklär mir, warum das Wesen ihn beschützt hat! Oder ist das vielleicht auch nur ein Zufall???"

(Komet schweigt kurz)

KOMET: "Nein ... wahrscheinlich nicht."

ASTEROID: "Was haltet ihr von der Information, dass heute Morgen in aller Frühe dieser Mann überfallen worden ist? In meinen Augen war das ein klarer Energieraub."

AURORA: "Ich stimme Dir zu. Doch so irgendwie habe ich meine Zweifel daran, ob die Diener des Dunklen Königreichs ihre Finger im Spiel hatten."

KOMET: "Sondern?"

AURORA: "Das schwarze Wesen."

ASTEROID: "Das traust Du ihm zu?"

AURORA: "Ich traue ihm alles zu, solange ich nicht weiß, wer oder was es ist und welche Funktion es in diesem Krieg übernimmt."

ASTEROID: "Was wissen wir eigentlich?"

(Allgemeines, betretenes Schweigen)

KOMET: "Was ist mit dem Jungen?"

AURORA: "Junge?"

KOMET: "Du weißt schon, wen ich meine. Er hat so viele Fragen gestellt, damals, als wir ihn vor dem Dämon beschützt haben."

(Asteroid nickt)

ASTEROID: "Er kam mir nicht so verängstigt vor, wie das vielleicht normal gewesen wäre. Bevor ich ihn da raus gehauen hab, hat er gegen den Dämon gekämpft. Von sich aus."

KOMET: "Schock?"

(Asteroid zuckt mit seinen Achseln)

ASTEROID: "Vermutlich. Gesteigerte Aggressivität im Anbetracht des Todes. Wäre nichts Außergewöhnliches. Wäre da nicht die Tatsache, dass er sich ganz offensichtlich sogar recht lange gegen den Dämon verteidigen konnte, bevor wir dazu gestoßen sind. Irgendetwas stört mich an ihm. Ich weiß nur nicht, was es ist."

(Aurora nickt nachdenklich)

AURORA: "Ich weiß, was Du meinst. Es sind zu viele Zufälle auf einmal. Der Junge taucht auf, dann der Fremde, der sich als Sailorkrieger ausgibt, dann das schwarze Wesen, und schließlich der unerklärliche Energieraub heute Morgen. Außerdem habe ich den Eindruck, dass unsere Feinde aus dem Königreich des Dunklen mit gesteigerter Aktivität bei der Sache sind. Meint ihr, das alles hängt zusammen?"

KOMET: "Ich kann es nicht wirklich glauben. Der Junge macht einen unschuldigen Eindruck auf mich."

AURORA: "Das muss nichts heißen. Du weißt, unsere Feinde aus dem Dunklen Königreich haben uns oft genug an der Nase herumgeführt."

ASTEROID: "Das sehe ich auch so. Wir sollten den Jungen im Auge behalten. Und sei es nur, um ihn zu schützen, falls er doch nur ein wehrloses Opfer unserer Feinde ist."

KOMET: "Und wenn nicht?"

(Kurzes, zögerliches Schweigen)

KOMET: "Wenn der Junge ein Feind ist?"

AURORA: "Ganz klar. Dann muss er ausradiert werden. Das Beste wäre, wir würden ihn so schnell wie möglich loswerden. So oder so."

KOMET: "Ich bin dagegen! ... Der Junge ... er ... spürt ihr das denn nicht? Er hat etwas Besonderes an sich."

AURORA: "Eben. Und es könnte besonders böse sein."

KOMET: "Oder besonders gut!"

ASTEROID: "Was wir auch tun, unsere Mission muss im Vordergrund stehen!"

(Komet ist am Rande der Verzweiflung)

KOMET: "Aber unsere Mission besteht doch auch darin, die unschuldigen Menschen zu beschützen! Wie könnt ihr beiden nur denken, dass es in Ordnung ist, über Leichen zu gehen, nur weil wir unsere Mission dadurch am leichtesten bewältigen können???"

AURORA: "Reiß Dich zusammen! Es kann durchaus sein, dass wir ein Leben oder möglicherweise auch hundert Leben opfern müssen, um Milliarden dadurch zu retten! Verstehst Du denn nicht? Wir müssen auch unser Leben über das eines Einzelnen stellen, weil nur wir dazu in der Lage sind, die Mehrheit zu beschützen!"

KOMET: "Ich kann das nicht."

AURORA: "Dann bist Du als Sailorkriegerin ungeeignet!"

(Asteroid bemüht sich um eine ruhige, ermahnende Stimme)

ASTEROID: "Aurora ... bitte! Hör auf damit."

AURORA: "Du bist meine Freundin, und Du bist wichtig für mich, Komet. Aber wenn Du nicht dazu in der Lage bist, das durchzuführen, was für den Erfolg unserer Mission bedeutend ist; wenn Du meine Befehle, die ich als Anführerin Dir gebe, nicht befolgen kannst, dann taugst Du nicht zur Sailorkriegerin. Niemand hat gesagt, dass wir es einfach haben würden. Wir hatten es nie einfach. Wir werden es nie einfach haben. Die Welt, die wir kennen, besteht aus Krieg, und Hass, und Neid. Der Starke frisst den Schwachen. So ist nun mal das Gesetz der Natur. Und wir sind die Starken. Wir müssen stark sein, für diejenigen, die es nicht sein können. Als Balance. Als Ausgleich der Natur. Als Gleichgewicht für das Universum! Und nun frage ich Dich noch mal: Wirst Du oder wirst Du nicht weiterhin Sailorkriegerin sein und für unsere Sache einstehen?"

ASTEROID: "Aurora, Du solltest..."

AURORA: "Misch Dich nicht ein!"

(Aurora wendet sich Komet zu)

AURORA: "Ja oder Nein? Kriegerin oder keine Kriegerin? Kämpfen oder weglaufen?"

(Komet starrt zu Boden)

KOMET: "Du kennst die Antwort. Ich werde auch weiterhin als Sailorkriegerin mein Bestes geben. Ich werde bis an meine Grenzen gehen. Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um diese Welt von allem Bösen zu befreien. Aber ich werde dafür nicht meine Prinzipien über Bord werfen und zur Mörderin werden!"

(Aurora hat nun eine ruhigere Stimme)

AURORA: "Ich will Dich ja auch nicht zur Mörderin machen, Komet. Ich will nur wissen, ob Du hinter mir stehst. Den Dunklen Mächten, die versuchen, unsere Welt ins Verderben zu stürzen, gewaltig in den Arsch zu treten, das ist kein Mord. Und außerdem übernehme ich die volle Verantwortung. Wenn es hart auf hart kommt, kannst Du Dich auf mich verlassen. Ich werde nichts Unmögliches von Dir verlangen, Komet. Ich werde alles Nötige selbst in die Hand nehmen. Aber sag mir, bist Du dazu bereit, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln, und in meinem Namen alles Böse vom Antlitz dieser Erde zu tilgen?"

KOMET: "Ja. Aus der Oortschen Wolke bin ich hier, um dieses Sonnensystem vor dem Bösen zu beschützen ... ich bin Sailor Komet!"

(Aurora blickt Asteroid fragend an)

ASTEROID: "Aus der Oortschen Wolke bin ich hier, um dieses Sonnensystem vor dem Bösen zu beschützen ... ich bin Sailor Asteroid!"

AURORA: "Aus der Oortschen Wolke bin ich hier, um dieses Sonnensystem vor dem Bösen zu beschützen ... ich bin Sailor Aurora!"

...

Die Mauern waren verfallen. Die Gebäude waren nur noch als Ruinen zu erkennen. Kaum ein Stein lag noch auf dem anderen. Dort, wo einst prächtige Tempel gestanden hatten, um die alten Götter zu verehren, klafften jetzt tiefe, ausgebrannte Löcher. Die wenigsten Gebäude waren jetzt noch als das zu erkennen, was sie früher einmal gewesen sind. Alles war dahin. Das Leben, der Lärm auf den Straßen, das emsige Treiben der Menschen, all das war nicht mehr. Es gehörte schon seit ungezählten Jahrtausenden der Vergangenheit an. Das einzige Zeugnis von Leben in dieser alten, verfallenen Stadt, waren die Moose und Farne, die sich in den Ritzen im Mauerwerk und zwischen den verrottenden Resten der Ruinen breitgemacht hatten. Es gab für die Pflanzen genügend Wasser, obwohl die Rohre und Leitungen längst zusammengebrochen waren. Das magische Licht, das diese unterirdische Welt erhellte, gab dem Unkraut die Kraft zu wachsen; fast so, als sei eben dieses immerwährende, allgegenwärtige Strahlen die Sonne selbst. Doch dem war nicht so. Seit Ewigkeiten schon hatte die Sonne diese Stadt schon nicht mehr mit ihren Strahlen gewärmt.

Früher, vor langer, langer Zeit, als Atlantis noch nicht ungezählte Kilometer unter den Erdboden gezwängt worden war, hatte die Stadt ihre Blütezeit erlebt. Menschen waren gekommen, um zu handeln; Tierarten, die sich heutzutage jeder Erinnerung oder Vorstellungskraft entziehen würden, waren durch die Luft geflogen, über den marmornen Boden gelaufen oder in den weit auslaufenden Wasseranlagen geschwommen, und der Frieden hatte über dem Land gelegen. Es war die größte Stadt gewesen, die jemals auf diesem Planeten erbaut worden war. Doch heute war von dieser Fülle an Leben nicht die geringste Spur mehr zu sehen. Die Hauptstadt des einstigen Königreiches Elysion war ein toter, stiller Ort weit Abseits der Evolution auf der Erdoberfläche. Die Ausläufer der Stadt, die am weitesten vom Zentrum entfernt gewesen waren, existierten schon gar nicht mehr. Sie waren vollkommen zerstört worden. Und das so gründlich, dass man keine Überreste mehr von ihnen fand.

Das Gebäude, das dem Verfall am meisten trotzte, das war der königliche Palast, der im perfekten Zentrum des alten Atlantis gebaut war. Das ehemalige Zentrum einer ehemaligen Welt. Nun aber nichts weiter als ein leerer, lebloser Klotz von tiefem, lichtschluckendem Schwarz. Ein Schloss von gigantischem Ausmaß, mit ungezählten filigranen Türmen, Säulengängen, verwilderten Rosengärten, zerbröckelnden Statuen, zerbrochenen Fenstern und riesigen, leeren Höfen. Lose Erde, Staub und zerrissene Fahnen mit dem Emblem des alten Reiches lagen verstreut herum. Innerhalb der Gebäude lagen zerborstene Möbelstücke und weitere, regelrecht zerfetzte Einrichtungsgegenstände auf dem Boden. Von der alten Zivilisation und der hohen Kultur war kaum eine Spur übrig geblieben. Es grenzte fast schon an ein Wunder, dass einige der alten Bibliotheken samt Tausenden von Büchern noch relativ gut erhalten waren. Doch sie nutzten nichts. Nur eine Handvoll Menschen auf diesem Planeten wären überhaupt noch in der Lage, die uralte Schrift zu lesen und die in Vergessenheit geratene Sprache zu neuem Leben zu erwecken.

Der gigantische Palast war seit etlichen Jahren von keiner menschlichen Seele mehr betreten worden. Doch obwohl er so unheimlich still und leer war, hatte er von seiner Pracht und seiner majestätischen Ausstrahlung nichts verloren. Die verwilderten, roten Rosen, die sich an den schwarzen, aus Obsidian bestehenden Wänden entlang rankten, taten ihr Übriges, um das Schloss in eine leicht märchenhaft angehauchte Atmosphäre zu tauchen. Das Symbol der Königsfamilie, das zugleich das Symbol der Erde war, prangte, aus weißem Marmor herausgehauen, auf dem mächtigsten und höchsten Turm des sonst so schwarzen Palastes. Fast wie das weiße Auge eines schwarzen Riesen, das über den Rest der verfallenen Stadt wachte.

Dieses Emblem war eines der wenigen Dinge, die in der Erinnerung der Menschen verblieben waren. Denn auch heute noch deckte es sich mit dem in der Astronomie und der Astrologie verwendeten Zeichen für den Planeten Erde: ♁.

Außer dem Palast gab es nur noch wenige weitere Gebäude in unmittelbarer Nähe, die den Krieg nahezu unbeschadet überstanden hatten. Sie waren von der schützenden Barriere umschlossen worden, die den Palast umgeben hatte, während der größte Teil von Atlantis tief unter die Erde gedrückt worden war. Und eines dieser Gebäude war der Sonnentempel, ein prächtiges Haus aus weißem Marmor, wie der Großteil der Stadt auch. Und doch gab es einen großen Unterschied.

Als einziges Gebäude unter all den Ruinen von Atlantis war dies das einzige Haus, das noch Leben in sich trug. Schon seit ungezählten Jahrtausenden lebte der Priester Helios in diesen Gemäuern, zusammen mit seinen Dienerinnen, den Mänaden. Helios war der Sohn von Sol, den Sonnenkönig, der zugleich auch der Gott der Sonne war, und als dieser der unangefochtene Herrscher über das Sonnensystem. Sol hatte Helios vor langer Zeit auf die Erde geschickt, um dort über Elysion, das Königreich der Erde, zu wachen. Seitdem hatte Helios sein Dasein mit beten verbracht. Er hatte in seiner Existenz auf der Erde nur zwei Aufträge: über die Träume der Menschen zu wachen und das Königreich Elysion zu beschützen.

Und in seinem zweiten Auftrag hatte er kläglich versagt.

Doch es war noch nichts verloren. Obwohl Elysion längst nicht mehr existierte, und obwohl Atlantis seit Ewigkeiten etliche Kilometer unter die Erdoberfläche gedrückt und völlig verwüstet worden war, gab es immer noch Hoffnung. Denn der Prinz dieses einst so prächtigen Landes war wiedergeboren worden. Wenn es Helios gelang, ihn wiederzufinden, war es möglich, Elysion neu aufzubauen.

Doch Helios vermochte seinen Platz am Gebetsturm des Sonnentempels nicht zu verlassen. Solange niemand sonst die Energien dieses Planeten unter Kontrolle hielt, konnte er nicht riskieren, lange Zeit mit seinen Gebeten aufzuhören. Allein sie waren die treibende Kraft, die eine völlige Vernichtung des Planeten verhinderten.

So schickte Helios seine Schwester Eos aus, um den Erdenprinzen zu finden. Eos, die frei durch die Welt der Menschen gehen konnte, suchte von da an nach der Reinkarnation des Prinzen, doch ohne Erfolg. Seit vielen menschlichen Generationen schon war sie auf der Suche nach ihm.

Der Sonnenkönig Sol gab seinen beiden Kindern, die selbst keine wirklichen Götter waren, vor langer Zeit fast gottgleiche Gewalt. Er übertrug ihnen die Eigenschaften der Sonne und ein sehr langes Leben. So wurde die Macht der Sonne halbiert und in zwei Stücke unterteilt: Helios verfügte von diesem Augenblick an über die hellen Strahlen der Sonne, über das Licht und die Reinheit. Er war die weiße Seite des Lichtes. Und Eos verfügte über die Schatten, über die Sonnenfinsternis und die Dunkelheit. Sie wurde zur schwarzen Seite des Lichtes. Sol selbst behielt für sich die Befehlsgewalt über das Sonnensystem und über die Königreiche, in die es unterteilt war.

Solange Helios im Sonnentempel kniete und betete, reiste Eos durch die Welt der Menschen, um den Prinzen zu suchen. Doch immer wieder kehrte sie in die Ruinenstadt zurück, um ihrem Bruder von der Erdoberfläche zu berichten.

Auch nun lenkte sie ihre Schritte durch Atlantis, auf dem Weg zu ihrem Bruder. Vor dem Sonnentempel blieb sie stehen. Sie schob die schwarze Kapuze ihres Gewandes ein Stückchen zurück und hob ihren Kopf. Ihr Blick wanderte zu dem großen, goldenen Sonnensymbol, das über dem Gebäude prangte; eine goldene Scheibe, von der aus ebenso goldene Strahlen in alle Richtungen wiesen.

Eos seufzte. Sie schloss kurz ihre Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel.

"Vater ... bitte gib mir die Kraft, das hier durchzustehen. Die Bürde, die auf meinen Schultern lastet, ist schwer. Ich habe den Erdenprinzen nicht finden können, und die Feinde werden allmählich immer mächtiger. Vater, Du Herr über die Sonne, ich bitte Dich, steh mir bei. Erleuchte meinen düsteren, steinigen Pfad, der mich nur in den Tod und in das Verderben führen wird..."

Sie zog ihre Kapuze wieder tiefer in das Gesicht und trat gesenkten Blickes in die gigantische Halle des Sonnentempels ein. Ihre schwarzen Stiefel verursachten dabei klackernde Geräusche auf dem Marmorboden. Die Geräusche hallten hundertfach in diesem riesigen, fast leeren Raum wider. In der Mitte der Halle, vor einem hohen, weißen Obelisken, kniete Helios und betete. Doch als er das Geräusch hinter sich hörte, unterbrach er sein Tun. Er stand auf und wandte sich mit ernstem Gesicht zu seiner Schwester um.

"Eos, sei gegrüßt", sagte er. Ein gequälter, müder Ausdruck hatte sich auf seinen Zügen breit gemacht. Er wirkte matt und abgekämpft. Das ständige Beten und Kontrollieren der Energien dieses Planeten forderten ihm viel ab. Dennoch gelang es ihm nun doch, seine Schwester mit einem kleinen Lächeln zu begrüßen. Er umarmte sie herzlich und sprach dann weiter:

"Ich habe mich schon nach Dir gesehnt. Seit Du von diesem fremden Jungen erzählt hast, kreisen meine Gedanken um ihn. Sag mir, Eos, ist er es? Ist er der Auserwählte, der das Blut des alten Volkes in sich trägt? Der unsere Kultur zu neuem Leben erwecken soll?"

"Oh, Helios", flüsterte sie. Verzweiflung schwang in ihrer Stimme mit. "Es tut mir so Leid. Aber ich kann es Dir wirklich noch nicht sagen. Ich bin mir unsicherer denn je. Mal erhärten sich meine Vermutungen, und dann geschieht wieder etwas, das mich aufs Neue zögern und zaudern lässt. Die Welt dort oben an der Oberfläche ist kompliziert, mein Bruder. Ich habe es nicht leicht, mich darin zurecht zu finden ohne indes aufzufallen, und dabei noch gleichzeitig nach dem Erdenprinzen zu suchen! Vielleicht habe ich ihn gefunden, vielleicht verfolge ich aber auch eine völlig falsche Fährte. Ich weiß einfach nicht, wie ich herausfinden kann, ob der, den ich fand, auch der ist, den ich suchte. Wie soll ich das nur machen? ...Ich ... ich weiß ... einfach nicht ... mehr weiter, oh, mein Bruder..."

Helios schlug die Kapuze über dem Gesicht seiner Schwester zurück und fuhr liebevoll mit seinen Fingern über ihre schwarzen Haare. Eos lehnte derweil ihre Stirn gegen die Schulter ihres Bruders. Ihr war es ein angenehmes Gefühl. Sie brauchte seinen Trost dringend. Ihre langwierige Suche hatte sie mit der Zeit weiter und weiter demotiviert. Ihr, und auch ihrem Bruder, fiel es zusehends schwerer, weiter an ihrer gemeinsamen Mission festzuhalten.

"Ich fühle mit Dir", flüsterte Helios in beruhigenden Worten auf sie ein. "Ich kenne die Verzweiflung, die sich allmählich im Herzen ausbreitet, und ich kenne den Schmerz der Enttäuschung. Aber wir dürfen nicht aufgeben. Wenn..."

Er zögerte. Er suchte verzweifelt nach den passenden Worten, doch er fand sie einfach nicht. Er wusste nur zu gut, wie seine Schwester reagieren konnte, wenn er seine Formulierungen nicht vorsichtig wählte, und er wollte sie um keinen Preis noch weiter entmutigen.

"Wenn ... was, Helios?", fragte Eos verständnislos nach.

Ihr Bruder seufzte schwer.

"Wenn es die Situation erfordert", antwortete er schließlich, "dann müssen wir eben gewisse Risiken eingehen. Wir müssen vielleicht unsere Tarnung auffliegen lassen und die Karten offen auf den Tisch legen."

"Du weißt, wie gefährlich das ist!", warf Eos ein. "Ich kann mich unmöglich mitten in die Welt der Menschen stellen und verkünden, wer oder was ich bin und wen ich suche! Wir wissen weder, ob der, den wir suchen, selbst weiß, wer er ist, noch haben wir eine Ahnung davon, wer alles auf unseren Ruf antworten könnte. Nein, wir dürfen nicht riskieren, unsere Feinde womöglich durch unbedachtes Handeln zu warnen! Und ebenso unmöglich kann ich dem Jungen, den ich gefunden habe, direkt zeigen, was meine Absichten sind. Er könnte genauso gut zu unseren Feinden gehören, wie jeder andere. Verdammt, Helios, woher wollen wir wissen, ob der Auserwählte nicht längst für die falsche Seite kämpft? Wer weiß? Vielleicht haben unsere Feinde ihn vor uns gefunden und ihn manipuliert? Oder er hat sich sogar freiwillig auf sie eingelassen? Sag mir doch, Helios, woher sollen wir das wissen? Wir könnten bis in alle Ewigkeit auf der Suche nach ihm sein, ohne ihn indes jemals unter diesen Milliarden von Menschen da draußen zu finden!"

"Ach, Eos." Helios seufzte erneut und zog seine Schwester noch etwas näher an seine Brust. "Bitte sag nicht so was. Wenn es etwas gibt, das wir niemals aufgeben dürfen, dann ist es die Hoffnung. Denk an das Gute, das wir bewirken werden, wenn unsere Mission erfolg hat!"

"Und wenn wir versagen? Was ist dann?"

"Dann", so erklärte er, "bedeutet das den Untergang der Welt. Und das weißt Du. Eos ... bitte ... hör mir mal genau zu..."

Er legte sachte seine Hände auf ihre Schultern und schob sie auf Armeslänge von sich weg, um direkt in ihre Augen schauen zu können. Er lächelte sie ermutigend, wenn auch etwas matt an, und doch lag ein Ernst in seinem Blick, der ihn wie einen Lehrer wirken ließ, der seinem Schüler etwas sehr Wichtiges beizubringen versuchte.

"Manchmal", so fuhr er fort, und in seiner Stimme lag ein sanfter, freundlicher Unterton, "da ist das Leben ziemlich schwierig. Aber deshalb sollte man den Mut nicht verlieren. Nur derjenige, der nicht für seine Träume und für seine Ziele kämpft, der hat schon verloren. Das, was wir tun, das tun wir zum Wohle der ganzen Welt. Wir müssen das Böse besiegen, und dafür brauchen wir nun mal den Auserwählten. Du und ich, wir sind die einzigen, die ihm den richtigen Weg aufzeigen können. Wir müssen ihn finden, und wenn wir ihn gefunden haben, müssen wir ihn leiten und auf den Pfad des Guten führen. Wenn er sich dessen bewusst ist, wer er ist, und welche Macht in seinen Händen liegt, dann wird er selbst seinen Schicksalsweg gehen. Doch alleine wird er diesen Weg nicht finden. Und wenn es nötig ist, ein Risiko einzugehen, um ihn zu finden, dann müssen wir es eben eingehen. Lieber setze ich meine Existenz aufs Spiel und sterbe in dem Wissen, es für das allgemeine Wohl getan zu haben, als mit ansehen zu müssen, wie das Böse diese Welt vernichtet. Denn in diesem letzten Szenario würde nicht nur ich sterben, nein. Ich würde Millionen Unschuldiger mit ins Verderben reißen. Dafür würde ich mich bis in den Tod hassen. Und ich weiß, dass es Dir da nicht anders ergeht."

"Das heißt also, dass wir unsere Maske abnehmen müssen?", fragte Eos tonlos. Ihr Gesicht war schreckensbleich und ihre Stimme zitterte leicht. "Das gefällt mir nicht."

"Ich weiß, dass es Dir nicht gefällt", erklärte Helios geduldig. "Aber haben wir denn eine Wahl?"

"Es muss eine Alternative geben! Es muss!" Eos presste ihre Augenlider zusammen und ballte die Hände so stark zu Fäusten, dass die Knöchel weiß anliefen. Sie dachte angestrengt nach, aber ihr fiel keine andere Möglichkeit ein. Ihre Konzentration wurde durch einen plötzlichen Erdstoß unterbrochen. Der Boden vibrierte leicht und Staub rieselte von der Decke. Erschrocken blickte Eos sich um.

"Der Planet leidet", stellte Helios leise murmelnd fest. "Ich sollte unbedingt weiter beten. Nur so kann ich eine größere Katastrophe verhindern. Wenn ich nicht die Energien dieses Planeten kontrolliere, solange wir seinen Herren noch nicht gefunden haben, dann werden sich seine Kräfte ungehindert auf der Oberfläche entfalten. Und auch hier wird noch mehr zerstört werden, und dabei ist vom größten Teil dieser Stadt schon jetzt nichts mehr übrig."

Er dachte einen kurzen Moment stumm nach. Dann schritt er über den weißen Marmorboden, bis in die Mitte der großen Halle, wo er seine Hand auf den hohen, weißen Obelisken legte.

"Etwas scheint anders zu sein als sonst", flüsterte er nachdenklich. "Ich spüre es durch den Gebetsturm hindurch. Ich habe manchmal das Gefühl, als würde..."

Er stockte kurz. Seine Stirn war in Denkerfalten gelegt.

"Was denn?", fragte Eos vorsichtig nach, als ihr Bruder von sich aus nicht weiter sprach.

"Ich bin mir nicht sicher", gestand er. "Aber ich habe manchmal den Eindruck, die Energien dieser Erde sind nicht immer so wild und ungezügelt, wie sie ohne die Anwesenheit des Prinzen sein sollten. Es scheint fast, als sei da jemand, der gelegentlich die Fähigkeit, die Kraft des Planeten nutzen und lenken zu können, einsetzt. Aber ... das kann eigentlich nur..."

"Du meinst, unser Prinz ist doch schon erwacht?", mutmaßte Eos. Ein leiser Schimmer von Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit.

"Möglich", sagte Helios, "aber ich möchte mich nicht darauf verlassen. Ich will nicht ganz ausschließen, dass es auch unsere Feinde sein könnten. Oder möglicherweise ein menschliches, sterbliches Medium, das gar nichts von unserem Krieg weiß, und das einfach besondere Fähigkeiten hat. Wie dem auch sei. In all der langen Zeit, die wir nun schon nach dem Prinzen der Erde suchen, hat dieser Planet viel mitgemacht. Seine Energien waren großen Schwankungen ausgesetzt. Mal gedieh das Leben in Frieden und Harmonie, und faltete seine volle Pracht aus. Und mal erbebten die Kontinente unter Erdbeben und Vulkanausbrüchen. Die Erde ist wie ein Tier, sie kann krank werden und leiden. Doch speziell in der letzten Zeit, in den letzten paar Wochen und Monaten, da stelle ich fest, dass diese Schwankungen massiver sind. Der Wechsel zwischen einer schönen und einer schlechten Periode kommt viel schneller und noch viel unregelmäßiger als sonst, und das Maß an Energie, das dabei verbraucht wird, ist auch höher als gewöhnlich; sowohl in der Zeit, wenn es der Erde extrem schlecht geht, als auch in den Momenten, wo das Leben und die positiven Energien das Höchstmaß erreichen. Ich kann es mir einfach nicht erklären... Ich hoffe nur, dass es nichts Schlechtes für uns und für diese Welt bedeutet..."

Wieder fuhr ein Beben und Vibrieren durch den Erdboden. Ein dumpfes Dröhnen erklang, als eines der Häuser, die in der Nähe des Sonnentempels standen, seine eigene Last nicht mehr tragen konnte und zusammenbrach. Wieder ein Gebäude weniger und ein Schutthaufen mehr in der alten Hauptstadt Atlantis. Das Zittern des Erdreichs verebbte wieder. Dann hörte es ganz auf. Vorerst.

Helios warf einen müden Blick auf den Gebetsturm. Einige Sekunden ließ er verstreichen, dann wandte er sich seiner Schwester wieder zu.

"Geh, Eos. Es wird Zeit. Meine Gebete müssen nun weiter den Fluss der Energien dieses Planeten kontrollieren. Und auch Du musst Deine Aufgabe erfüllen; an der Oberfläche. Tu, was ich Dir gesagt habe. Zeige Dich dem Jungen, den Du gefunden hast. Lass uns beten und hoffen, dass er der Auserwählte ist, den wir schon so lange suchen."

"Aber...", begehrte Eos noch einmal auf.

"Tu, was ich Dir gesagt habe", forderte Helios, möglicherweise eine Spur barscher, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Deshalb fügte er in sanfterem Ton ein "Bitte" hinten dran.

Eos ließ resigniert den Kopf hängen.

"Ich habe verstanden", sagte sie leise. "Ich werde tun, was Du verlangst. Du hast wohl Recht. Die Zeit drängt, und niemand wird sie uns zurückgeben. Die Feinde werden sich in ihrem Tun nicht gedulden, nur weil wir eine Pause dringend nötig hätten."

"Es tut mir Leid...", setzte Helios an, aber Eos unterbrach ihn kopfschüttelnd.

"Was wir wollen, ist zweitrangig", erklärte sie. "Es ist unsere oberste Pflicht, diesen Planeten zu beschützen. Und das werden wir. Mit allen Mitteln." Den nächsten Satz flüsterte sie nur noch. "Du hast mein Wort drauf."

"Es freut mich, dass Du es doch noch einsehen kannst", erklärte Helios mit einem kleinen, stolzen Lächeln auf den Lippen. "Und ich weiß auch, dass Dir die ganze Mission nicht leicht fällt. Es tut mir Leid, dass es nicht anders kommen kann. Ich bin wirklich, wirklich stolz auf Dich, und auf alles, was Du bisher geleistet hast. Du bist wirklich tapfer und stark, Eos."

Er umarmte sie und zog sie fest an sich. Schweigend standen die beiden so beieinander und spendeten sich gegenseitig Trost. Sie lösten sich erst wieder von einander, als ein drittes Beben durch den Boden und die Wände der großen Halle fuhr.

"Wir müssen jetzt mit unserer Arbeit fortfahren", flüsterte Helios müde. Mutlosigkeit schwang in seiner Stimme mit.

Eos nickte. "Alles Gute!"

"Ich wünsche Dir viel Erfolg", antwortete er ihr.

Daraufhin trat er wieder an den Gebetsturm, ließ sich vor ihm auf die Knie sinken, faltete seine Hände, schloss die Augen, konzentrierte sich und betete.

Eos indes schlug ihre Kapuze wieder über ihren Kopf und schritt aus der Halle hinaus. Als sie wieder die staubigen Straßen von Atlantis betrat, sah sie noch ein letztes Mal auf den Sonnentempel zurück.

"Es tut mir Leid, mein Bruder", murmelte sie. "Ich lüge Dich nicht gerne an. Aber es musste sein. Ich kann mich unmöglich dem Jungen zeigen. Nicht jetzt. Noch nicht. Ich könnte alles von vorn herein zerstören, und das kann ich einfach nicht riskieren. Ich muss erst sicher sein, wer er ist. Erst, wenn ich um seine Identität weiß, kann ich ihm von seinem Schicksal berichten."

Damit wandte sie ihren Blick wieder vom Sonnentempel ab. Sie kehrte sich dem gigantischen Königspalast zu und wanderte mit ihren Augen darüber, bis sich ihr Blick an das große Erdensymbol haftete, das am höchsten Turm des alten Schlosses prangte.

Das alte Emblem der Königsfamilie.

Das Symbol des alten, gefallenen Reiches Elysion.

Das Wappen, unter dem sie und ihr Bruder für das Gute kämpften.

Das Zeichen, das wohl früher oder später ihr Leben kosten sollte.

Und vielleicht eines Tages auch das ihres Bruders.

Sie drehte sich herum und ging die uralte, verfallende Straße entlang. Steinbrocken versperrten ihr hier und da den Weg, und sie musste einigen Schlaglöchern ausweichen. Einmal verwehrte eine umgestürzte Säule ihr den Durchgang. Sie zertrat auf ihrem Weg Unkraut und einige Moose. Irgendwann erreichte sie das Tor, das sie in die Menschenwelt führte, und ging hindurch.
 

Mamoru hatte die Nacht über nicht gut geschlafen. Dauernd drehte sich sein Kopf um Elly und um den vergangenen Abend. Wieso nur war er so wahnsinnig kühl und distanziert zu ihr gewesen? Er konnte es sich nicht erklären.

Er erinnerte sich noch sehr genau an diesen besagten Abend. Elyzabeth war angetrunken gewesen und er hatte sie auf ihr Zimmer gebracht, nachdem die ganze Truppe von der Tenebrae auf die Mustang-Ranch zurückgekehrt war. Er hatte sich da eigentlich noch sehr nett mit ihr unterhalten. Sie hatte sich noch einmal für den silbernen Anhänger bedankt, den Mamoru ihr zu ihrem Geburtstag geschenkt hatte.

"Der Anhänger gefällt mir so wahnsinnig gut", hatte sie da gesagt. "Wenn Du mal nicht da bist, und ich schaue mir die Kette an, dann denke ich sofort an Dich. Und dann fühle ich ... Ich fühle mich glücklich. Egal, was um mich herum ist."

Und dann war dieses Gefühl der inneren Kälte über ihn gekommen ... diese gefühlte Distanz ... diese plötzliche, unerklärliche Abneigung...

"Elyzabeth", so hatte er zu ihr gesagt. "Ich denke, Du überinterpretierst da was. Wenn Du noch mal genau nachdenkst, wirst Du feststellen, dass man das alles nicht so ernst nehmen kann. Was Du da von mir bekommen hast ist doch nichts weiter als ein kleiner Anhänger. Ein Stück Metall, das von Menschenhand in eine schöne Form gezwungen worden ist. Mehr nicht. Weder steckt da ein Glückszauber drin, noch ist es für Dich von überlebenswichtiger Notwendigkeit. Ich denke, es wird nun Zeit für mich, zu gehen. Du wirkst müde und abgespannt auf mich. Ruh Dich ein wenig aus, das bringt Dich auf andere Gedanken. Wir werden morgen weiterreden, in Ordnung?"

Auch jetzt konnte sich Mamoru nicht erklären, wie er Elyzabeth all diese Sachen an den Kopf hatte werfen können. Doch damals, zu genau diesem Zeitpunkt, da schien es fast, als habe er die Kontrolle über sich und sein Handeln verloren.

Elyzabeth hatte darauf ihren Blick betreten gesenkt.

"Wenn Du meinst", hatte sie gesagt. "Es tut mir Leid, dass Du das so siehst. Ich werde Dich damit nicht mehr belästigen."

Daraufhin war Mamoru gegangen.

Was mochte Elly bloß nun von ihm denken?

Mamoru stand am Bahnhof von Orendaham und wartete auf den Zug, der ihn und seine Freunde in die nächste Stadt in die Schule bringen sollte. Er stand etwas Abseits von Tony und Fala, die sich über irgend etwas unterhielten. Und nochmals einige Meter weiter, ebenso Abseits und allein, stand Elly. Mamoru hatte sie heute Morgen noch kein einziges Wort sagen hören. Sie sah ihn auch nicht an. Sie starrte nur grübelnd auf die Gleise zu ihren Füßen.

Mamoru wandte schon bald seinen Blick von ihr ab und seufzte so leise, dass es außer ihm niemand sonst hören konnte. Obwohl noch ein gutes Dutzend weiterer Leute auf dem Bahnsteig standen und auf den Zug warteten, war es ziemlich still. Der Herr der Erde lauschte dem Wind, der durch die dürren Zweige zweier Bäume ganz in der Nähe strich, und er hörte einige Vögel, die zwischen den Ästen dieser Bäume saßen und ihr Morgenlied trällerten. Mamoru wollte sich etwas ablenken. Es brachte ihm nichts, nur darüber nachzugrübeln, was er am gestrigen Abend hätte anders machen müssen. Er konnte die Vergangenheit ja doch nicht ändern. Und dennoch schwirrten seine Gedanken unaufhörlich darum, was er zu Elyzabeth sagen könnte. Doch es fiel ihm nichts ein. Was immer für Sätze der Entschuldigung durch sein Gehirn geisterten, nichts davon vermochte gut genug zu klingen. Alles war einfach nur lächerlich und wurde so schnell wieder verworfen, wie es gekommen war.

Dann irgendwann kam der Zug. Die Fahrt war eine genauso einsame Angelegenheit wie das Warten zuvor – Mamoru verbrachte die Zeit für sich, Elyzabeth mied die Gegenwart der andren und nur Fala und Tony redeten miteinander. Sie bemerkten sehr wohl die Spannungen, die zwischen Mamoru und Elly bestanden, doch sie hatten genug Anstand, nicht danach zu fragen.

In der Schule allerdings, irgendwann am frühen Nachmittag, in der Pause zwischen zwei Stunden, brach Elyzabeth das Schweigen. Langsam kam sie auf Mamoru zu, der alleine an seinem Platz saß und sich mit einem Buch beschäftigte. Er bemerkte sie sehr wohl, wie sie sich ihm näherte, doch er tat zunächst so, als würde er es nicht bemerken. Er schaffte es nicht, den Anfang zu machen. Er hätte nicht gewusst, wie er sie anzusprechen hätte. Doch diese Entscheidung nahm Elly ihm ab. Sie trat leise an ihn heran. Ihr Blick war schüchtern auf den Boden gerichtet. Sie zögerte kurz. Dann sprach sie ihn an. Ihre Stimme war leise und zurückhaltend; fast so, als würde sie eine erneute Abfuhr erwarten.

"Mamoru? Darf ich Dich kurz stören?"

Er nickte. Dann schloss er das Buch, das vor ihm lag.

"Was kann ich denn für Dich tun?", antwortete er ihr. Er sagte es ebenso leise. Dabei hob er seinen Blick nicht von seinem Tisch. Zu sehr schämte er sich für das, was er gestern in einem Anflug von totaler Hirnlosigkeit gesagt hatte.

Elyzabeth zögerte kurz. Sie suchte nach den passenden Worten für diese schwierige Situation.

"Wie ... wie geht es Dir heute?"

Mamoru versuchte zu lächeln. Aber irgendwie wirkte es kläglich.

"Frag lieber nicht..."

Elly nickte. Sie verstand, was er sagen wollte: Er fühlte sich gar nicht gut, denn er quälte sich mit den Geschehnissen des vergangenen Abends rum. Aber sie spürte wohl auch, dass sie im Moment nicht befürchten musste, in ihm wieder diese kühle Distanz zu erwecken. Sie wollte Klarheit schaffen, und das lieber jetzt als zu spät.

"Mamoru, ich ... ich würde es gerne verstehen. Was war gestern Abend mit Dir los? So kenne ich Dich gar nicht..."

Mamoru hatte noch immer dieses missglückte Lächeln auf den Lippen.

"Ich muss gestehen, so kenne ich mich selbst nicht", seufzte er. Erst jetzt hob er seinen Blick und sah ihr in die dunkelgrünen Augen. Ihre Mimik verriet, dass sie sich im Moment genauso mies fühlen musste wie er. Sie beide litten darunter, dass ein kleines Missgeschick sie so sehr entzweit hatte.

Er wies auf einen nahe stehenden, leeren Stuhl.

"Bitte, setz Dich doch zu mir."

"Danke", antwortete sie, jetzt schon etwas selbstbewusster. Seine freundliche Art gab ihr wohl allmählich wieder das Vertrauen zurück. Die Schüchternheit, die Unsicherheit und die Angst, schon wieder etwas Falsches zu tun oder zu sagen, all das saß noch tief in beiden verwurzelt; doch schrittweise schienen diese Dinge von ihnen beiden wieder abzufallen.

Mamoru wartete, bis sie sich gesetzt hatte. Dann erst sagte er das, was eigentlich schon lange zuvor hätte gesagt werden müssen:

"Weißt Du, ich habe selbst schon versucht, mir zu erklären, was genau gestern vorgefallen ist. Doch ich schaffe es einfach nicht. Ich habe keine Ahnung, warum ich so gehässig reagiert habe. Ich kann ... so schlecht beschreiben, was in mir vorgegangen ist..."

"Versuch es", bestimmte Elyzabeth. Doch sie tat es nicht im fordernden Ton, sondern eher in einer Stimmlage, die einer sanften Aufmunterung gleich kam.

Mamoru zögerte lange mit der Antwort. Es war nicht so, dass er sich nicht traute, ihr gegenüber offen zu sein. Es war vielmehr so, dass ihm derart viele Gedanken und Formulierungen im Kopf herumschwirrten, dass er sich gar nicht entscheiden konnte, wonach er zuerst greifen sollte. Ganz so, als wollten alle Worte zugleich aus ihm raus sprudeln, was sich einfach nicht bewerkstelligen ließ. Schließlich erklärte er:

"Du kennst bestimmt den Spruch erst denken, dann reden? Das klingt jetzt vielleicht nach einer furchtbar doofen Ausrede, aber zu diesem Zeitpunkt hab ich gar nichts gedacht. Und ich meine wirklich gar nichts! Du kannst Dir wohl nicht vorstellen, welche unendliche Leere in meinem Kopf geherrscht hat! Du musst mir glauben, ich habe Dir all diese Dinge nicht aus purer Gehässigkeit an den Kopf geworfen! Es war eher so, dass ich ... praktisch meine Zunge nicht mehr unter Kontrolle hatte! ...Na ja, so kann man das nicht nennen ... es war eher so, dass mein Gehirn für ein paar Sekunden ausgeschaltet war. Du kennst das vielleicht, wenn man ein Geheimnis ausplaudert, und man noch beim Sprechen versucht, sich den Mund zuzuhalten. Und genau das hat nicht bei mir geklappt. Es war kein Wille in mir. Nicht der Wille, Dir weh zu tun, aber auch nicht der Wille, mich selbst davon abzuhalten. Da war ... nichts. Absolut ... nichts!"

"Dann...", so antwortete Elly gedehnt und nachdenklich, "...dann heißt das also ... dass ich nichts falsch gemacht habe, das Dich mich so hassen lässt?"

Mamoru lächelte schief. "Dich trifft absolut keine Schuld! Ich weiß ja nicht, woran mein seltsames Verhalten lag, aber ich schätze, in der gleichen Situation hätte es jeden anderen treffen können. Dass Du jetzt sozusagen mein unfreiwilliges Opfer bist, tut mir Leid. ...Überhaupt, es ... es tut mir Leid. Einfach alles tut mir Leid. Ich hätte vielleicht sofort versuchen sollen, das aus der Welt zu schaffen. Oder als Rick mich nach Hause gebracht hat, da hätte ich ihn bitten sollen, umzukehren. Oder ich hätte Dich anrufen sollen. Oder heute Morgen am Bahnhof. Oder..."

"Nein", unterbrach Elly ihn sanft. Auf ihren Lippen war inzwischen ein glückliches Lächeln erschienen. "Es ist schon in Ordnung. Ich kann mir vorstellen, dass es Dir schwer gefallen ist; zumal weil Du ja selbst nicht weißt, was mit Dir los war. Wenn Du mir sagst, dass Du nicht in böswilliger Absicht so gehandelt hast, dann glaube ich Dir das. Manchmal kommt einfach alles zusammen ... dann kann es an irgendwelchen Hormonen gelegen haben, oder an einer ungünstigen Planetenkonstellation, oder am Schicksal, oder meinetwegen auch an bösen Geistern von ruhelosen Vorfahren, die unter den Lebenden Zwietracht säen wollen. Aber was es auch ist ... ich bin froh, dass wir zumindest jetzt drüber geredet haben. Besser etwas zu spät, als viel zu spät... Man weiß ja nie, was sonst noch hätte dazwischen kommen können."

Mamoru nickte ihr zustimmend zu und lächelte dankbar. "Ich bin froh, dass Du mich verstehst. Ich dachte schon, Du..."

"Ich verstehe Dich vielleicht besser, als Du glaubst...", unterbrach sie ihn wieder.

"Ähm...", machte Mamoru verwirrt, "...was willst Du damit denn sagen?"

Elyzabeth winkte ab und lächelte. Irgendwie, so fand Mamoru, war es ein anmutiges und gütiges Lächeln, wie von einer magischen Elfe und nicht wie von einer Sechzehnjährigen.

"Nichts. Vergiss es", antwortete sie. "Weißt Du ... ich habe Dich fast schon vermisst. Es ist schön, dass wir diese dumme Situation aus der Welt geschafft haben."

Mamoru grinste. "Feiern wir doch unsere Versöhnung ... darf ich Dich auf ein Eis einladen?"

"Zwei Monate!", zischte es wütend, "vor zwei Monaten schon habe ich den Herrn der Erde auf diesen verfluchten Kontinent bringen können, und wir sind noch kein Stück weiter! Nicht ein einziges!"

"Beruhige Dich", antwortete das Tier und gähnte daraufhin gelassen. "Was erwartest Du auch groß?"

"Ich erwarte", schnaubte es, "dass der Herr der Erde endlich handelt! Verdammt! In schöner Regelmäßigkeit schicke ich meinen Ruf nach ihm aus, und zeige ihm in seinen Träumen, wie wichtig es ist, das <Herz der Erde> zu finden, und es scheint, als interessiere ihn das gar nicht!"

"Nun reg Dich doch nicht so auf!", forderte das Tier. "Der arme Junge kommt doch schon gar nicht mehr nach mit seiner Arbeit. In meinen Augen ist sein Handeln durch und durch verständlich! Sieh es doch mal so: Er ist ein Teenager, der zur Schule geht, der sich mit Freunden trifft und der gerade eine sehr wichtige Entwicklung seines Lebens durchmacht! Er wird von einem Jungen zum Mann. Und es ist klar, dass ihm die Suche nach dem <Herz der Erde> eher unwichtig ist. Er weiß ja noch nicht einmal, wofür er den Stein suchen soll! Er weiß nur, dass die Suche wichtig ist. Aber mit seinen beschränkten, menschlichen Fähigkeiten – wie soll er da den Kristall finden? Wenn nicht mal wir Erfolg haben?! Verdammt, er sucht auch schon seit einem Jahrzehnt nach dem Silberkristall und findet ihn nicht. Der Gute soll erst mal lernen, mit seinen schwachen Fähigkeiten, die er bis jetzt hat, zurecht zu kommen. Und dann sehen wir weiter!"

Seine Augen wurden schmal vor Zorn bei den Wortes des Tieres.

"Wie kannst Du da nur so ruhig bleiben?", donnerte es.

"Und wie kannst Du Dich nach all den Jahren des geduldigen Wartens nur jetzt so künstlich aufregen?", antwortete das Tier ruhig.

"Künstlich aufregen???", echote es. "Ich höre wohl nicht recht? Du weißt, was auf dem Spiel steht!"

"Eben", grinste das Tier, "ich weiß es. Der Junge weiß es nicht. Wann willst Du ihm die Wahrheit sagen?"

"Wenn die Zeit gekommen ist", sagten alle beide im Duett. Das Tier hatte nämlich genau diese Antwort erwartet.

"Jedes Mal bekomme ich das Gleiche zu hören", seufzte das Tier. "Denk Dir mal was Neues aus..."

In seinen Augen blitzte es vor Zorn. "Du weißt ganz genau, ich kann, darf und werde nichts überstürzen!"

"Ach!", rief das Tier aus. "Du willst nichts überstürzen? Aber der Junge soll sich gefälligst beeilen?"

Es ballte seine Fäuste vor Wut. Doch nur Sekunden später ließ es wieder locker.

"Du hast ja Recht", gestand es. "Verzeih. Aber ich werde nun mal allmählich nervös. So viel Zeit ist ungenutzt verstrichen. So wenig Zeit bleibt uns noch. Unsere Feinde führen bestimmt bald einen größeren Schlag gegen uns aus. Mich befallen Zweifel, ob unsere Mission erfolgreich sein wird."

"Dann tu Du doch endlich was!", forderte das Tier. "Wenn Du es nicht tust, dann tut es keiner. Du kannst nicht erwarten, dass der Junge bedingungslos an Deinen Worten hängt wie eine Marionette an ihren Schnüren. Er ist nicht einfach irgendwer. Er ist der Herr der Erde! Wenn sich sein Schicksal erfüllt, und er für unsere Sache kämpft, wird er Wichtigeres zu tun haben, als sich Gedanken um Dich zu machen! Und nun ... beruhige Dich endlich wieder. So impulsiv kenne ich Dich gar nicht."

"Schon gut, schon gut", lenkte es ein, nun wieder in seiner gewohnten Kühle, die nahe an die Emotionslosigkeit eines leblosen Gegenstandes herankam. "Du hast ja Recht. Nach fast tausend Jahren des Schlafens und Wartens, und nach weiteren zehn Jahren der intensiven Suche nach dem Jungen, werde ich wohl noch ein paar Wochen hin oder her weiter verharren können."

"Oder endlich mal selbst etwas unternehmen, statt nur auf andere zu warten", unterbrach das Tier mit zynischem Grinsen.

Doch das Wesen ignorierte diese Worte. Als hätte es sie gar nicht gehört, fuhr es fort:

"Die Frage ist nur, wie lange die Feinde noch verharren können..."

"Wieso sträubst Du Dich eigentlich so sehr davor, Dich dem Jungen zu zeigen?", fragte das Tier kopfschüttelnd. "Ich meine ... Du hast es gerade selbst gesagt! Nach insgesamt tausend Jahren der Suche hast Du ihn zu guter Letzt wiedergefunden, und nun drückst Du Dich davor, endlich Deine Mission fortzuführen! Ich verstehe Dich nicht..."

"Das kannst Du auch gar nicht verstehen!", gab es zurück.

"Dann erkläre es mir", forderte das Tier trocken.

"Der Herr der Erde ist nun mal sensibel", erklärte es mit vor der Brust verschränkten Armen. "Vor knapp siebzehn Jahren, als ich zum ersten Mal den Kontakt zu seinem Bewusstsein knüpfen konnte, hat er sehr darunter gelitten. Er war noch nicht bereit gewesen, für unsere Sache als Krieger einzustehen. Und dann, als er vor zehn Jahren sein Gedächtnis verloren hatte..."

Es unterbrach sich selbst. Erst nach einem leisen Seufzer fuhr es fort:

"Wer weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn ich ihn zu dem Zeitpunkt nicht verloren hätte? Die eine Möglichkeit wäre gewesen, dass er mit unserer Mission zurechtgekommen wäre. Er wäre womöglich ein mächtiger Verbündeter geworden. Die Feinde wären unter Umständen lang besiegt, und dieser Planet würde uns allein gehören. Niemand würde uns mehr den Thron streitig machen können. ...Oder aber... Die andere Möglichkeit wäre gewesen, dass sein Geist unter der gewaltigen Anstrengung zerbrochen wäre. Er war wohl damals zu jung, als dass die gewaltigen Kräfte, die in ihm schlummern, hätten geweckt werden dürfen. Vielleicht hätten ihn seine eigenen Energien einfach irgendwann in der Luft zerfetzt. Wer weiß das schon? Aber im Augenblick bringt es uns nichts, über eine mögliche andere Vergangenheit zu spekulieren. Fakt ist: Ich habe den Kontakt zu ihm wieder verloren, noch ehe das Eine oder das Andere hatte passieren können. Was nun zählt, ist das Jetzt und Hier. Ja, er ist inzwischen älter geworden, und ja, er ist reifer und stärker. Er lernt mehr und mehr, seine Kräfte zu wecken und zu nutzen. Eines Tages wird ihm wieder seine ursprüngliche Macht zur Verfügung stehen, und er wird auf unserer Seite über das Leben oder den Tod dieses Planeten herrschen. Dann können uns auch diese verfluchten Sailorkrieger, die mich jetzt noch stören, völlig egal sein. Aber bis der Junge soweit ist, wird noch Zeit vergehen. Wenn ich mich ihm zu früh zeige ... wenn ich ihm zu früh zu viel zutraue, dann ... dann kann es sein, dass er sich völlig falsch entwickelt. Und dann wäre unsere Mission fehlgeschlagen. Der Herr und Meister könnte sich von uns abwenden. Versetz Dich doch mal in die Lage des Jungen! Wie würdest Du reagieren, wenn Du auf einen Schlag die ganze Wahrheit erfahren würdest? Ein Sterblicher – und das ist er im Augenblick! – würde dabei wahnsinnig werden. Und das will ich vermeiden."

Das Tier hatte konzentriert gelauscht, ohne seinen Vortrag zu unterbrechen. Nun aber hob das Tier skeptisch eine Augenbraue und fragte zweifelnd:

"Du schützt ihn – oder vielmehr seine Psyche – indem Du ihm jetzt noch nichts sagst?"

"Genau", bestätigte es nickend.

"...Und Du denkst, es macht einen Unterschied, ob Du ihm jetzt alles auf einmal sagst, oder ob Du einen Monat wartest, und es dann tust?"

Leicht entnervt drehte es sich von seinem Gesprächspartner weg.

"Ach! Ich sage doch, Du verstehst es nicht!" Damit verließ es wutentbrannt den Raum.

Das Tier blieb kopfschüttelnd zurück.

"Du willst es vielleicht nicht wahrhaben – aber ich verstehe sehr wohl. Ich weiß, dass Deine Worte nichts als Ausflüchte sind. Ich kenne die Wahrheit. Und Du kennst sie auch. Aber Du leugnest sie. Weil sie nicht Deiner Natur und Deinem Wesen entspricht. Aber eines Tages wird die Wahrheit ans Licht kommen. Eines Tages wird der Junge wissen, wer Du bist und was Deine Ziele sind. Wie er darauf reagieren wird, steht allerdings noch in den Sternen..."

Seufzend setzte sich das Tier dann in Bewegung. Es folgte ihm ins Freie. Dort allerdings blieb es irritiert stehen, als es seinen Partner sah, der stumm dastand und gebannt in eine bestimmte Richtung starrte.

"Was ... ist denn los?", fragte das Tier zögerlich.

"Ich höre den Ruf unseres Herrn und Meisters", wisperte es angespannt. "Das habe ich schon lange nicht mehr vernommen. Unser Herr und Meister hat seit Wochen in Stille verharrt..."

Es setzte sich langsam in Bewegung, in die Richtung, die es die ganze Zeit mit den Augen fixiert hatte.

"Ich muss zu ihm", murmelte es dabei.

"Und was willst Du ihm sagen?", fragte das Tier. "So was wie <hi, wie geht's, lange nicht gesehen>, vielleicht? Meine Güte, nur weil er seinen Ruf ausschickt, muss das noch nicht heißen, dass er uns auch wirklich dringend braucht! Du weißt doch, wie er ist!"

"Ich werde seinem Ruf folgen", antwortete es bestimmt. "Du kannst ja mitkommen ... oder aber, wenn ich Dir zu schnell bin, dann geh in den Garten und jag Schnecken. Das wirst Du ja wohl hinkriegen."

Das Tier rollte mit den Augen. "Der Umgang mit den Menschen tut Dir nicht gut. Früher hätte ich eine derartige Frechheit nicht von Dir zu hören bekommen."

Aber natürlich folgte das Tier ihm dennoch.
 

Zur gleichen Zeit, aber an einem völlig anderen Ort, saß Mamoru an seinen Hausaufgaben. Oder vielmehr: Er starrte unkonzentriert Löcher in die Luft. Der offene Füller lag auf seinem Englischheft. Dort standen bisher nur das heutige Datum, nämlich der 5. Juni 1991, und zwei Sätze. Mamoru fand nicht die Konzentration, um seinen Aufsatz zu schreiben. Das mochte wohl zum großen Teil daran liegen, dass er irgendwann aus purer Langeweile die goldene Spieluhr unter seinem Hemd hervorgekramt, dann die Kette, an der sie befestigt war, ausgezogen und zu guter letzt die Klappe des kleinen Instruments geöffnet hatte, woraufhin die sanfte Melodie erklungen war. Seitdem lauschte Mamoru nur gebannt der leisen Musik und träumte vor sich hin. Er ließ sich auch nicht durch das summende Geräusch der Klimaanlage stören, die für eine angenehme Temperatur sorgte, während draußen in der prallen Sonne eine Hitze herrschte, die schier nicht zum aushalten war. Die Sonne sank immer weiter dem Horizont entgegen und warf ihre flachen Strahlen fast bis an die dem Fenster gegenüber liegende Wand.

<Die Wand von MEINEM Wohnzimmer!>, dachte Mamoru stolz, der den winzigen Staubkörnchen zusah, wie sie in den Sonnenstrahlen tanzten. Auch jetzt noch, nach den zwei Monaten, die er jetzt schon in Texas verbracht hatte, konnte er sein Glück kaum fassen. Seine eigene Wohnung! Das hieß, sofern man außer Acht ließ, dass sein Onkel und seine Tante so ziemlich unter demselben Dach wohnten und nur eine dicke Hauswand sie von einander trennte. Dennoch war der junge Herr der Erde zufrieden mit seiner kleinen, bescheidenen Behausung. Diese vier Wände waren nun seine neue Heimat geworden. So sehr er sein altes Tokyo auch vermisste, er bereute seine Entscheidung, auf diesen Kontinent gekommen zu sein, keineswegs. Er pflegte seinen regelmäßigen Kontakt zu seinem besten Kumpel Motoki, aber er hatte genauso hier Freunde gefunden, die er nicht missen wollte. Auch, wenn sie sich manchmal etwas schräg benahmen. Wie Rick, dieser Chaot, zum Beispiel...

Mamoru schmunzelte bei dem Gedanken still in sich hinein. Er wusste nicht, was die Zukunft ihm bringen mochte – ob er je wieder nach Japan zurück kehren würde oder nicht – aber er wusste, dass die Leute, denen er hier begegnet war, einen bleibenden Eindruck in seinem Gedächtnis und wohl auch in seiner Persönlichkeit hinterlassen hatten und es auch noch eine ganze Weile weiter tun würden. Dann und wann, in Augenblicken der Ruhe, blätterte Mamoru gerne in seinem alten Tagebuch herum, und dabei musste er immer wieder aufs Neue seine Entwicklung feststellen. Und damit war nicht nur gemeint, dass er inzwischen merklich um einige Zentimeter weiter gewachsen war. Er stellte fest, dass er eine Menge gelernt hatte und dass er mit mehr Selbstbewusstsein auftrat. Vor Tagen, Wochen und Monaten noch hatte er sich vor seinen eigenen, seltsamen Kräften gefürchtet. Zwar konnte er sich auch heute noch nicht erklären, was das alles für ihn zu bedeuten hatte. Aber er hatte in all der Zeit gelernt, sein Schicksal zu akzeptieren – sofern man etwas akzeptieren kann, was man nicht versteht. Mamoru besaß nun mal diese übermenschlichen Kräfte, und er lernte Stück für Stück, präziser damit umzugehen. Wie einst die Mondprinzessin in einem seiner Träume zu ihm gesagt hatte: Der Goldene Kristall war seine Waffe und sein Werkzeug. Er war sich sicher, seine Fähigkeiten gingen in erster Linie von dem Kristall aus. Er wusste noch nicht, warum ausgerechnet er diese Macht nutzen konnte, oder was für andere Kräfte noch in ihm schlummerten (in ihm? Oder eher im Kristall? Da war er sich noch nicht sicher...), aber er wollte sich seinen Fähigkeiten nun nicht mehr ganz verschließen. Er versuchte, sie nicht öfter als nötig zu nutzen, und er hängte sie auch nicht an die große Glocke. Aber er wehrte sich auch nicht, seine Fähigkeiten, also seine Werkzeuge, einzusetzen.

Nur hatte es in der letzten Zeit kein Ereignis gegeben, wo seine Kräfte vonnöten gewesen wären. Seit ziemlich langer Zeit waren weder die Dämonen, noch die fremden Sailorkrieger, noch das Schattenwesen aufgetaucht. Der Frieden war regelrecht ein wenig langweilig, auch wenn Mamoru sich lieber den rechten, kleinen Finger abgeschnitten hätte, als das laut zuzugeben. Aber er fragte sich im Stillen dennoch, was aus all diesen Leuten geworden war. Er wusste noch immer nicht, wer der Feind eigentlich war, und was er vorhatte ... wen man eigentlich alles zu den Feinden zählen durfte. Die Neugierde in Mamoru hoffte darauf, bald eine Antwort auf diese Frage zu erhalten. Doch das hatte auch später noch Zeit.

Später ... nach den Hausaufgaben.

Mamoru seufzte gequält auf. Er war eigentlich nie der Typ gewesen, der sich um seine Schulaufgaben drückte oder irgendwann zwischen Mitternacht und dem Schulanfang irgendwas aufs Papier klatschte; sicher nicht. Aber heute war er so unkonzentriert und abgelenkt, wie es sonst nie seine Art war. Er spielte gedankenverloren an dem kleinen, silbernen Kettchen rum, das nun auf dem Tisch lag, zusammen mit den beiden daran befestigten Gegenständen: der Spieluhr und dem alten Ehering seiner Mutter. Wohl sein wertvollster Besitz, sowohl auf materieller, als auch auf mentaler Basis.

"Das ist sehr schön."

Mamoru wurde durch diese Stimme aufgeschreckt. Sein Kopf ruckte in die Richtung des Sprechenden. Durch den dabei entstandenen Schwung kippte sein Bürostuhl nach hinten und Mamoru landete recht unsanft auf dem Boden. Er stöhnte leise vor Schmerz auf, kniff für einen Moment die Augen zusammen und blieb für vielleicht zwei Sekunden so liegen.

"Geht's? Hast Du Dir weh getan?"

Mamoru rang sich zu einem gequälten Lächeln durch und öffnete die Augen. Über ihm stand Elly mit besorgtem Gesicht. In der einen Hand hielt sie noch ihren Cowboyhut, den sie wohl abgenommen hatte, als sie das Haut betreten hatte; die andere streckte sie gerade nach ihm aus, um sich seinen Zustand näher anzusehen und ihm aufzuhelfen, doch da war schon ihr Wolf Terra heran und schleckte dem Jungen mit klatschnasser Zunge durch das Gesicht.

"Lass das!", befahl Mamoru. "Geh gefälligst runter von mir!" Doch er lachte dabei vergnügt auf. Terra wusch ihm noch einen Augenblick das Gesicht, aber dann unterließ er schließlich doch noch die Sabberorgie. Er setzte sich hechelnd hin und wedelte mit dem buschigen Schweif.

Mamoru fuhr sich angewidert mit dem Hemdsärmel über das Gesicht und stand dabei auf.

"Mach Dir um mich keine Sorgen", antwortete er endlich auf Elyzabeths Frage. "Ich bin immerhin ein Kampfsportler. Richtig hinzufallen ohne sich dabei weh zu tun ist eines der ersten Dinge, die Du im Kampfsport lernst. ...Du entschuldigst mich bitte für einen Moment. Ich gehe mir nur schnell das Gesicht waschen! Bin sofort wieder da, ich brauche nicht lange."

"Ja, ist gut!", meinte Elly und sah kopfschüttelnd auf Terra hinab.

Mamoru ging ins Bad und zog dort das Hemd aus, das ebenso angesabbert war wie sein Gesicht, und warf das Kleidungsstück dann in den Korb mit dreckiger Wäsche.

"Dass so was auch immer nur mir passieren muss!", seufzte er leise.

Er wusch sich und trocknete sich ab, danach ging er in sein Schlafzimmer an seinen Kleiderschrank und suchte sich ein neues Hemd aus.

"Das gerade mit Terra tut mir Leid!", meinte Elly. Dann betrat auch sie das Schlafzimmer und blieb abrupt im Türrahmen stehen. Was sie sah, war Mamoru, noch immer vor seinem Schrank stehend, der sich streckte und auf Zehenspitzen stellte, um an ein Hemd in einem der oberen Fächer zu kommen. Die ausgeprägten Muskeln an seinem Oberkörper zeigten dabei ihre ganze Größe.

"Ist schon okay", sagte er, noch immer die volle Konzentration auf den Schrank gerichtet. Er bemerkte ihre staunenden Blicke erst, als er das Hemd endlich in seiner Hand hatte und sich zu ihr umwandte. Leicht irritiert fragte er:

"Ist was? Du schaust so ... komisch..."

Elly beeilte sich, den Kopf zu schütteln. Sie lächelte sanft.

"Nein, es ist gar nichts. Du hast mir nur bislang diesen so ... beeindruckenden Anblick nicht gegönnt."

Vor lauter Verlegenheit bekam Mamoru eine leicht rote Farbe im Gesicht.

"Ähm", machte er schüchtern, "nun ja ... ich hatte keinen Grund dazu. Aber..."

Er lachte unsicher auf.

"...vielen Dank für das Kompliment! Wie gesagt, ich bin nun mal Kampfsportler. Ich bin froh, dass ich an der Schule einen Kurs gefunden habe, wo ich meinen Karateunterricht fortführen kann."

So sehr er Elyzabeths bewundernde Blicke auch genoss, er zog es dennoch vor, bekleidet herumzulaufen. Er legte sich das Hemd an, knöpfte es dann zu und stopfte es zügig in seine Hose.

"Setzen wir uns doch ins Wohnzimmer", bot er an. "Magst Du was trinken?"

"Danke, ich bin nicht durstig", antwortete sie.

Elly und Mamoru verließen das Schlafzimmer und gingen ins Wohnzimmer zurück, wo Elyzabeth schon vorher den umgefallenen Bürostuhl wieder aufgerichtet und dann ihren Hut einfach mal auf dem Couchtisch abgelegt hatte. Die Spieluhr lag noch immer samt Kette und Ring auf dem Schreibtisch, in der südöstlich gelegenen Ecke des Raumes. Mamoru ging hin, schloss endlich den noch immer offen herumliegenden Füller und nahm die Kette mit den beiden Anhängseln an sich. Elly beobachtete ihn dabei.

"Störe ich Dich etwa gerade bei den Hausaufgaben?", fragte sie verunsichert nach.

"Nein, nein", winkte Mamoru ab und wandte sich lächelnd an sie. "Mein Gehirn braucht sowieso gerade eine Pause. ...Bitte, mach es Dir doch bequem."

"Danke." Noch während sie sich hinsetzte, fragte sie:

"Was ist das für eine Spieluhr?"

Mamoru sah auf das faustgroße, goldene Instrument auf seiner Hand runter. Er lächelte leicht. Dann schloss er den Deckel und die Melodie verstummte.

"Ich ... hab das hier schon ziemlich lange", log er. "Es ist nichts Besonderes."

"Es gefällt mir", erklärte Elyzabeth mit schüchternem Lächeln. Mamorus Antwort bestand auch aus einem Lächeln. Irgendwie, so fand er, hatte dieses Mädchen eine warme, sympathische Ausstrahlung. Auf kaum näher beschreibbare Art war ihr Lächeln einzigartig. Vielleicht nicht unbedingt das, was man allgemein als <absolut bezaubernd schön> bezeichnen konnte, immerhin besaß sie nicht unbedingt das Aussehen eines Topmodels. Aber etwas an ihr war ... besonders. Ihre Augen. Ihre dunklen, grünen Augen schienen dann und wann leicht bläulich aufzuschimmern. Es war eine außergewöhnliche Farbe, wie Mamoru sie bewusst noch nicht bei einem anderen Menschen gesehen hatte.

Dann bemerkte er irgendwann, dass er sie bestimmt eine geschlagene Minute lang nur angestarrt hatte. Verlegen wandte er das Gesicht ab und starrte in eine Ecke des Zimmers.

Einen langen Augenblick herrschte eine schon fast peinliche Stille. Elyzabeth war es schließlich, die das Schweigen brach:

"Warum ... setzt Du Dich nicht ein wenig zu mir?"

Darauf nickte er und ließ sich neben ihr auf der Couch nieder. Nun endlich hob er sich seine Kette an den Hals, um sie sich wieder anzulegen.

"Warte, lass mich Dir helfen", bot Elyzabeth an.

Sie nahm ihm die beiden Enden der Kette ab und ließ den Verschluss der einen Seite in die Öse der anderen einrasten. Dabei stützte sie kurz ihre Handgelenke auf seine Schultern auf, um ihre Finger für diese feine Präzisionsarbeit ruhig halten zu können. Durch den Stoff des Hemdes hindurch konnte Mamoru die sanfte Körperwärme spüren, die ihre Haut abstrahlte, und sein sechster Sinn fühlte noch mehr. Geborgenheit, Vertrauen, Fürsorge, ehrliche Hilfsbereitschaft, und ... noch etwas ... Sehnsucht? Er konnte das Gefühl nicht richtig bestimmen. Es war ein seltsames Empfinden ... als sei Elyzabeth in ständigem Konflikt mit sich selbst; ganz so, als müsse sie sich entscheiden zwischen ihren Instinkten, denen sie unbedingt folgen wollte, und ihrer Kultur, die ihr das genaue Gegenteil vorschrieb. Doch was konnte es wohl sein, das sie tun oder lassen wollte? Welche so dermaßen schwerwiegende Entscheidung hatte sie zu fällen? Fragen konnte er sie schlecht. Wie hätte er ihr erklären sollen, wie er auf diesen Gedanken gekommen war?

"Was grübelst Du so schweigsam vor Dich hin?", fragte sie leise nach und unterbrach so seine Gedankengänge. Sie hatte derweil ihre Finger wieder zurück gezogen und somit die unfreiwillige, geistige Bindung zu ihm wieder gelöst.

"Ach ... ähm ... ich...", stammelte er, auf der Suche nach einer halbwegs plausiblen Antwort, "...ich hab nur gerade überlegt, was ich demnächst noch so einkaufen gehen muss..."

Er lachte verlegen auf.

Elly sah ihn einige Sekunden lang mit skeptischem Blick an. Er hatte gelogen und sie ahnte es wohl, doch sie beließ es mit einem Schulterzucken dabei.

"Sag mal...", so begann sie und zeigte auf die Kette, die nun an Mamorus Hals hing, "...was ist das da eigentlich für ein Ring? Den hab ich ja noch gar nicht gesehen. Trägst Du den immer bei Dir?"

Reflexartig griff Mamoru nach der Kette, die über seiner Brust hing, und schloss die Faust um den Ring. Sonst ließ er die Kette gewohnheitsmäßig nie über seiner Kleidung hängen. Der Ring und die Spieluhr – das waren seine beiden wohlbehüteten Schätze, die er nur ungern öffentlich zur Schau stellte. Nicht mal seine Tante Kioku und sein Onkel Seigi wussten von der Spieluhr. Nur von dem Ring wussten sie, und dabei sollte es bleiben. Mamoru mochte es nicht, wenn man ihm Fragen zu diesen beiden seinen persönlichsten Besitztümern stellte. Er tat alles, um die Neugierde aller Anderen so gut als möglich einzudämmen. Vielleicht, weil er sich vor den Erinnerungen fürchtete, die in ihm wachgerufen wurden, sobald man ihn nach der Herkunft des Ringes fragte. Seit er seine Vergangenheit verloren hatte, war dieses Schmuckstück das Einzige aus der damaligen Zeit, an das er sich heute noch klammern konnte.

Nun war er unvorsichtig gewesen; hatte zugelassen, dass ein Fremder von der Existenz des Ringes erfuhr. Doch – so eigenartig ihm das auch vorkam – es störte ihn noch nicht einmal sehr!

Elyzabeth hatte irgendwie eine vertrauenerweckende Wirkung auf ihn. Ja, wenn er es recht bedachte, hatte er fast das Gefühl, sie beide seien schon seit vielen, vielen Jahren gute Freunde. Und doch hielt ihn sein unterstes Bewusstsein davon ab, ihr die ganze Geschichte um den Ring zu erzählen.

"Das hier..."

Er lockerte wieder den Griff um das silberne Schmuckstück mit dem kleinen Herzen aus Rosenquarz darauf, sodass Elyzabeth es sehen konnte.

"...das ist ... war ... der Ehering meiner Mutter. Ich trage ihn ständig bei mir; er ist ... so eine Art ... wie soll ich sagen? ... eine Art ... Talisman für mich. Wenn ich ihn nicht hätte..."

Er ließ den Satz unvollendet. Aber offensichtlich war es auch gar nicht nötig, ihn zu Ende zu bringen, denn Elly nickte verstehend. Wie zum Trost, als ob sie ahnen würde, was es mit dem Ring auf sich hatte und welch dramatische Geschichte sich hinter ihm verbarg, legte sie vorsichtig ihre Hand auf Mamorus Knie.

Er lächelte schwach. Seine Augen waren von einer Spur von Traurigkeit und auch Hilflosigkeit durchzogen; wie immer, wenn er an seine verstorbenen Eltern dachte. Aber er lächelte. Trotz der eigentlich entmutigenden Situation brachte ihre trostspendende Geste Mamoru ein warmes Gefühl des Verstandenwerdens und der Geborgenheit ein. Das war genau das, was er jetzt brauchte. Es war eigenartig ... aber es schien ihm so, als wüsste sie genau, was gut für ihn war...

Nach kurzem Zögern legte auch er seine Hand auf ihre. Er spürte ihre warme, weiche Haut, und irgendwie ermutigte ihn diese Berührung wieder.

"Es tut ... mir Leid für Dich", brachte Elyzabeth nach einer Ewigkeit des Schweigens heraus.

"Es ... ist schon in Ordnung", antwortete er leise.

"Ist es schon lange her?", erkundigte sie sich vorsichtig. "Das heißt ... nur, wenn Du darüber reden willst!..."

"Etwas mehr als zehn Jahre." Er wandte den Blick von ihr ab. Starrte auf den Boden. Er wusste nicht genau, warum er das tat. Wahrscheinlich, weil er es nicht ertrug, dieses Mädchen seine Trauer und seinen Schmerz in seinen Augen lesen zu lassen. Ihre ... wunderschönen, tief dunklen, grünen Augen, die nur dann und wann einen bläulichen Schimmer hatten ... sie schienen bis ins Tiefste seiner Seele blicken zu können...

Was war das nur für ein seltsames Gefühl, das Mamoru in sich verspürte?

Vertrauen? Geborgenheit? ... Oder noch mehr; noch etwas, das er nicht begreifen konnte?...

Als Mamoru eine sanfte Bewegung im Augenwinkel bemerkte, wandte er seinen Kopf um wenige Grade wieder in Elyzabeths Richtung; gerade so weit, dass er genauer sehen konnte, wie sie sich ihm näherte. Ehe er begreifen konnte, was geschah – ehe er in irgend einer Form reagieren konnte – war sie schon an ihn heran und hauchte einen sanften Kuss auf seine Wange.

Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Also tat er nichts. Er erstarrte regelrecht in jedweder Bewegung. Mit angehaltenem Atem wartete er geduldig die langen Sekunden ab, in denen Ellys Lippen sanft seine Haut berührten.

Dann – irgendwann – nahm sie ihren Kopf wieder zurück. Aber nur für wenige Zentimeter. Gerade so viel Abstand, dass sie wieder sein ganzes Gesicht sehen konnte, um seine Reaktion darin zu lesen.

Mamoru erwachte nun endlich wieder aus seiner Erstarrung. Nur sehr langsam führte er seine Bewegung von vorhin weiter und wandte nun Elyzabeth seinen Kopf wieder ganz zu. Er starrte sie überrascht an. Vielleicht lag auch Verwirrung in seinem Blick und möglicherweise auch Verlegenheit.

Elyzabeth sah ihn lange forschend an. Sie wartete auf eine Reaktion von ihm, ein Wort, ein Blick, ein Gesichtsausdruck, der sein Innerstes wiederspiegeln sollte ... doch sie wartete lange Zeit vergeblich.

"S-sorry...", wisperte sie schließlich tonlos. "...wenn ich einen Fehler gemacht..."

Ehe sie den Satz beenden konnte, hatte Mamoru ihr sanft seinen Finger auf die Lippen gedrückt. Nun schüttelte er den Kopf.

"Das hast Du nicht..."

Er nahm in langsamen Bewegungen seinen Finger wieder von ihren Lippen. Nun war es an ihm, sich ihr zu nähern. Sein Herz jagte in seiner Brust, als wolle es ihm jede Sekunde aus dem Körper springen. Sehr vorsichtig berührten sich ihrer beiden Nasenspitzen. Seine Lippen hatten die ihren beinahe schon erreicht... als ein lautes Türschlagen die Stille zerriss.

"Kurzer! Kann ich mir bei Dir ein paar Eier und etwas Mehl borgen? Meines ist alle!", tönte Kiokus Stimme fröhlich auf japanisch aus der Küche, in der sich ja die Haustür zu Mamorus kleiner Wohnung befand.

Erschrocken wichen Mamoru und Elyzabeth wieder auseinander und selbst Terra hob seinen Kopf und spitzte die Ohren in Richtung Tür, die zum Flur hin führte und in der nur Sekunden später Kiokus grinsendes Gesicht auftauchte.

"Oh, Besuch! Ich hoffe, ich störe nicht?", fragte sie – auf englisch diesmal, wenn auch einen Tick zu unschuldig.

Eines der Couchkissen, das Mamoru als wütende Antwort auf seine Tante katapultierte, und dem Kioku locker ausweichen konnte, prallte gegen den Türrahmen und landete auf dem Boden.

"Na, na, na, Kurzer! Nun mach mal halblang! Tust ja grad so, als hätte ich Dich mit einem nicht jugendfreien Heftchen erwischt!", feixte Kioku gelassen. Aus Rücksicht auf den Gast verlegten sie und ihr Neffe ihr Gespräch komplett ins Englische.

Mamoru schnaubte wütend. "Hast Du eigentlich schon mal was von <anklopfen> gehört?!"

Kioku legte nachdenklich den Zeigefinger an den Mund. "Ja, hab ich. Aber ich glaube nicht, dass sich dieses Konzept durchsetzen wird..."

Mamoru verdrehte die Augen.

"Ja, ja, ja, ist gut", winkte er ab. "Nimm Dir die Eier und das Mehl einfach; Du weißt ja, wo sie stehen. Und dann verschwinde!"

"Nicht so unhöflich, mein Kleiner", forderte seine Tante. "Willst Du uns nicht einander vorstellen?"

Mamoru seufzte resigniert. Der Punkt war gekommen, an dem er merkte, dass Kioku ihren Dickschädel durchsetzen und nicht eher verschwinden würde, bis sie ihren Willen bekommen hatte. Außerdem – so oder so war die knisternde Spannung zerstört, die bis gerade eben noch in der Luft gehangen hatte. Was passiert war, war nun mal passiert, und es ließ sich auch nicht dadurch rückgängig machen, dass Mamoru nun patzig wurde. So ergab er sich eben seinem Schicksal. Kioku würde immerhin auch irgendwann wieder verschwinden, und danach konnte er getrost weiter...

Ja ... was eigentlich?

Was war das, was er mit Elyzabeth zu tun im Begriff gewesen war?

Er hob seine Hand und deutete auf seine Tante.

"Elyzabeth – das hier ist meine Tante Kioku Chiba. ...Und das hier..."

Nun zeigte er auf das Mädchen.

"...ist Elyzabeth Shade. Sie lebt drüben auf der Mustang-Ranch. Wir gehen außerdem in dieselbe Klasse."

Kioku lächelte. Sie trat näher und reichte die Hand. "Es ist mir eine außerordentliche Freude, ein so hübsches Mädchen kennen lernen zu dürfen!"

"Oh, vielen Dank!" Elyzabeth lächelte glücklich. Daraufhin stand sie von der Couch auf, ergriff Kiokus Hand und schüttelte sie. "Die Freude ist ganz meinerseits!"

Als sie beide ihre Hände wieder losließen, stupste Kioku ihren Neffen leicht mit dem Ellenbogen an.

"Hey, Kurzer! Wie wäre es, wenn Du dieses nette Mädchen mal zu uns zum gemeinsamen Abendessen einladen würdest?"

"Tante Kioku!", empörte der Junge sich daraufhin. Er sah sie mit einem erbosten Misch-Dich-da-bloß-nicht-ein-Blick an und bedeutete ihr mit einem angedeuteten Kopfnicken in Richtung Tür, dass es genug sei.

"Also gut", sagte sie, als sie den Wink mit dem Zaunpfahl verstand. "Dann mach ich mich mal wieder auf! Ich hol mir schnell, was ich brauche, gell, Kurzer? ...Auf ein hoffentlich baldiges Wiedersehen, Elyzabeth! Schönen Abend noch!"

Grinsend verließ sie das Zimmer. Man hörte in der Küche noch ein kurzes Rumoren und das leise Zuschlagen einer Türe. Dann war Kioku verschwunden.

"Puh!" Mamoru atmete erst mal tief durch. "Tut mir wirklich Leid! Sie ist so wahnsinnig aufdringlich und neugierig. Muss ständig ihre Nase in Dinge stecken, die sie nichts angehen!"

Er hob hilflos die Schultern und lächelte verlegen.

"Aber das macht doch nichts!", kicherte Elyzabeth und machte es sich derweil wieder auf der Couch bequem. "Ich fand Deine Tante gerade total nett! Wirklich! Sie macht einen sympathischen Eindruck auf mich!"

Mamoru rollte leicht mit den Augen. "Tja, Du kennst sie eben nicht richtig. Sie kann ein richtiger Teufel sein!"

Aber dann schmunzelte auch er wieder vergnügt. "Nein, eigentlich ist sie ganz okay. Meistens zumindest."

"Das vorhin, ganz am Anfang, das war Japanisch, richtig?"

"Ganz genau", bestätigte er.

"Die Sprache klingt lustig!", erklärte das Mädchen.

"Ja, findest Du?", grinste Mamoru. "Das kann schon sein. Für mich klingt es ... nun ja ... normal eben. Aber ist ja auch ganz logisch."

Elly nickte. "Ja, klar. Verständlich. Apropos verständlich: Ich finde außerdem, dass sie wirklich gut Englisch sprechen kann! ...Du übrigens auch; wesentlich besser sogar! Das heißt natürlich, sofern ich das über die kurze Zeit beurteilen kann, in der ich Deine Tante bis jetzt kenne!..."

Er lachte etwas verlegen. "Vielen Dank für das Kompliment! Ich gebe mir Mühe. Nun ja, glaub bloß nicht, dass es in Japan oft vorkommt, dass jemand gut Englisch spricht! Und Tante Kioku... Sie hat schon mal zusammen mit Onkel Seigi hier in den USA gewohnt, allerdings in Boston."

"Ach, ja? Wie interessant!"

"Nun ja..." Mamoru kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. "Wenn ich so drüber nachdenke, dann war Tante Kiokus Vorschlag gar nicht mal so schlecht... Hast Du denn Lust, mal zum Abendessen zu kommen? Du könntest meinen Onkel Seigi kennen lernen. Und dabei könnten er und Tante Kioku auch davon erzählen, was sie in Boston so alles getan haben. ...Natürlich nur, wenn Du möchtest!"

Elyzabeth nickte begeistert. "Unheimlich gerne! Ich würde mich riesig drüber freuen!"

Ihre Augen strahlten regelrecht. Wieder trat dieser sanfte, bläuliche Schimmer auf, diesmal aber etwas länger und intensiver, wie es Mamoru schien. Genau dieser Schimmer faszinierte ihn irgendwie. Wie konnten Augen, die sonst immer komplett dunkelgrün waren, gelegentlich bläulich aufleuchten? Fast so, als hätte ein Künstler ein Bild angefertigt von einer Frau mit blauen Augen, und dann habe er sich umentschieden, nun doch grün statt blau zu benutzen, aber die Farbe habe die darunter liegende Schicht nicht ganz überdeckt.

War das hier eine optische Täuschung? Eine Spiegelung?

Was es auch war, es zog den Jungen vollständig in seinen Bann. So sehr, dass es vorhin fast dazu geführt hatte, dass Mamoru...

Und da erst wurde ihm alles in vollem Ausmaße bewusst: Vorhin hätte er Elyzabeth fast geküsst!

Mit einem Male schlug sein Herz in fast schon schmerzhafter Geschwindigkeit gegen seine Rippen. Ein Eimer eiskalten Wassers, über seinem Kopf entleert, hätte nicht überraschender sein können, als die Erkenntnis, die ihn jetzt überkam.

Er hatte sich in sie verliebt.

Jetzt, wo ihm dies klar wurde, fielen ihm so viele winzige Dinge auf.

Er konnte sich endlich erklären, weswegen er mit derartiger Faszination die Farbe ihrer Augen bewunderte. Weswegen so viel seines Interesses ihrem Wohlbefinden galt. Weswegen er so begierig darauf war, etwas über ihre Vergangenheit zu erfahren. Weswegen er sich so stolz gefühlt hatte, als sie ihm gesagt hatte, dass ihr der Anhänger gefiel, den er ihr zu ihrem Geburtstag geschenkt hatte. Weswegen er mit so viel Begeisterung ihre Reitkünste beobachtete. Weswegen seine Neugierde so stark war, zu erfahren, was sie dachte und fühlte und was ihre Meinung war...

Alles völlig offensichtliche Dinge. Eigentlich hätte ihm schon viel, viel früher klar werden müssen, was er für sie empfand. Warum also hatte es so unendlich lange gedauert, bis bei ihm der Groschen gefallen war?

Doch im Grunde konnte er sich diese Frage schon selbst beantworten:

Nur allzu gut erinnerte er sich noch daran, wie es war, als er das letzte Mal sein Herz einem Mädchen geschenkt hatte...

Zweieinhalb Monate war es nun her, dass er erkannt hatte, welch falsches Spiel Hikari mit ihm gespielt hatte. Sie hatte ihn ausgenutzt, ihn lächerlich gemacht. Sie hatte ihm das Herz nicht nur herausgerissen, sie hatte es regelrecht durch den Fleischwolf gedreht. Die Wut, der Abscheu und vor allem der Schmerz saßen noch tief in Mamorus Knochen, und er würde wohl auch nicht so schnell vergessen können, wie schamlos dieses Teufelsweib doch mit seinen Gefühlen gespielt hatte. Und da man aus Schaden klug wird, hatte er sich wahrscheinlich geradezu dagegen gesträubt, je wieder das Risiko einzugehen, erneut so tief verletzt zu werden.

Doch dann war etwas geschehen, mit dem er nicht gerechnet hatte. Eine junge Frau war in sein Leben getreten, die so einzigartig war in ihrer Rätselhaftigkeit und in ihrem Charakter, dass sie sein Herz wohl sogar schon in den ersten paar Augenblicken erobert hatte, ohne es überhaupt zu wissen. Und das hatte schlussendlich einen Konflikt in ihm ausgelöst.

Sein Herz hatte wohl förmlich nach ihm geschrieen, seine Aufmerksamkeit gesucht; doch sein Geist war hinter sieben düsteren Sigeln versperrt gewesen. Und die sieben Schlüssel, die nötig waren, um das Tor zu seinem Inneren zu öffnen und sein dunkles Versteck mit Licht zu fluten, hatten in Elyzabeths Augen gelegen.

Ja! Er war einmal, vor langer Zeit, sehr von einem Mädchen, das er liebte, verletzt worden.

NA, UND??

Hikari hatte ihm vielleicht das Herz gebrochen, aber immerhin schlug es noch! Wieso sollte es sich nicht noch einmal verlieben können?

Elyzabeth war nicht Hikari!

Als diese Gedanken durch Mamorus Gehirn schossen, war es, als habe jemand in einem riesigen, finsteren Saal voller böser Schatten ganz plötzlich alle Vorhänge vor den Fenstern aufgerissen. Gerade so, als sei diese Erkenntnis ein unhörbares Kommando gewesen, reagierte sein Körper endlich im angemessenen Ausmaße, wie man es von einer ordentlichen Verliebtheit kannte!

Ein berauschendes Wohlgefühl übermannte ihn, Adrenalin schoss durch seine Blutbahnen, sein Atem beschleunigte sich leicht, eine blassrosa Farbe stieg in seine Wangen, sein Herz pochte in doppelter Geschwindigkeit gegen seine Rippen, seine Fingerspitzen zitterten leicht vor Aufregung. Am liebsten hätte er seine Hand erhoben und ihr sanft über das Gesicht gestreichelt, oder sie fest in den Arm genommen und nie wieder losgelassen, oder er hätte ausprobiert, ob sich ihre Lippen auf den seinen genauso zart anfühlten wie auch auf seiner Wange schon...

Doch dann überkam ihn ein ernüchternder Gedanke:

Wie sollte er herausfinden, ob sie dasselbe empfand?

Zwar hatte sie gewissermaßen <angefangen>, wenn man diesen kurzen, ja fast schon nur gehauchten Kuss überhaupt als <Anfang> bezeichnen konnte! Oder war dies nicht eher noch <nur> eine Geste des Trostes gewesen? Um ihn von dem Gedanken abzulenken, dass seine Eltern auf eine Art gestorben waren, die Elyzabeth zu diesem Zeitpunkt gar nicht kannte, ja nicht mal erahnen konnte?

Wieder fiel ihm auf, dass er dieses liebreizende Mädchen erneut nur angaffte. Seine Gedanken verwirrten ihn zu sehr, sie erschreckten ihn regelrecht, weil sie in einem Zeitraum von wirklich nur wenigen Sekunden schier endlose Informationen in seinem Gehirn freigesetzt hatten, die er nur nach und nach verarbeiten konnte. Er schaffte es dann doch endlich, den Blick von ihr abzuwenden. Was mochte sie sonst von ihm denken? Fast schon richtiggehend verlegen richtete er seinen Blick einfach auf das silbergrau schimmernde Fell des stattlichen Wolfes zu seinen und Elyzabeths Füßen. Fast so, als könne ihm das Tier einen Tipp geben, wie er sich nun zu verhalten hatte. Doch – wie konnte es anders sein? – Terra starrte nur zurück, hechelte und sabberte. Also keine wirklich große Hilfe.

"Ach, ja!", entfuhr es da Elyzabeth. Sie klatschte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. "Da platze ich einfach so unangemeldet rein, zettele ein Gespräch an, und dann vergesse auch noch vollkommen, weshalb ich überhaupt hier her gekommen bin! Ich habe hier noch etwas, was Dir gehört!"

Damit griff sie sich in den Nacken, löste den Knoten des dunkelblauen Halstuches, das sie trug, und überreichte es Mamoru.

"Das hier hast Du vor ein paar Tagen bei uns auf der Mustang-Ranch vergessen!"

Mamoru nahm das Tuch entgegen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er es noch gar nicht vermisst hatte. Er wollte sich angewöhnen, auch immer eines zu tragen, weil das ziemlich viele Leute taten, die er schon in weitem Umkreis rund um Orendaham kennen gelernt hatte. Er hatte zwar noch nicht herausgefunden, wofür das gut war, aber es sah ganz gut aus. Vermutlich, so dachte er es sich zumindest, nutzten die Leute so was, um sich vor einem überraschend aufkommenden Sandsturm oder zumindest einem kräftigeren, sanddurchsetzten Wind zu schützen, der sich bestimmt alles andere als angenehm in den Atemwegen machte.

"Vielen Dank, dass Du es extra hier her gebracht hat!", lächelte Mamoru glücklich. "Das wäre doch nicht nötig gewesen. Wir hätten uns doch sowieso morgen in der Schule gesehen!"

Sie schüttelte daraufhin den Kopf. "Ich hätte es nur schon wieder vergessen. Und heute hatte ich mir eben vorgenommen, es Dir endlich, endlich mal zu bringen. Ich hab es mir auch extra um meinen Hals gebunden, dass ich es nicht zu Hause vergesse. Wie wir sehen, hat die Methode schlussendlich geklappt!"

Sie kicherte vergnügt.

Es gefiel ihm. Ihr Kichern hatte einen angenehmen, sanften Klang; weder war es zu laut noch wirkte es kindisch. Er lächelte glücklich. Ewig und drei Tage lang hätte er ihr dabei zuhören können.

Einen Augenblick lang schenkte Elyzabeth ihm ein strahlendes, glückliches Lächeln. Es wirkte sanft und freundlich, und auf eine unnachahmliche Weise zauberhaft. Ihre Augen funkelten wie Sterne, und nun zog sich besonders häufig dieser außergewöhnliche, bläuliche Schimmer durch das dunkle Grün ihrer Augen. Mamoru fehlten die Worte, um zu beschreiben, wie sehr ihm dieses Farbenspiel gefiel.

"So!", gab sie kurz und entschlossen von sich. Ganz sanft stupste sie Terra mit der Stiefelspitze an. "Auf geht's, Du Prärie-Dackel da unten. Wir müssen wieder zurück, also beweg Deinen Pelz!"

Terra schenkte ihr einen schiefen Blick, als würde er ihr den <Prärie-Dackel> richtig böse nehmen. Doch er schien die Aufbruchsstimmung in ihrer Tonlage richtig gedeutet zu haben, denn er war nur eine Sekunde später auf den Pfoten. Der Boden unter ihm war von Speichel durchtränkt. Aber das juckte Mamoru im Augenblick wirklich nur am äußersten Rande.

"Musst Du wirklich jetzt schon gehen?", fragte er nach, und ein sanfter Unterton von Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit.

"Wenn ich es nicht tue, bekomme ich Ärger", erklärte das Mädchen mit einem Verzeihung heischenden Lächeln. "Ich bin nämlich heute dran, die Hühner zu füttern, und das ist mir dummerweise erst gerade jetzt eingefallen. Sorry."

Mamoru winkte ab. "Ach, ist schon in Ordnung. Versteh ich doch."

Sie beide standen von der Couch auf. Elyzabeth griff noch nach ihrem Cowboyhut, den sie auf dem Couchtisch abgelegt hatte, dann machten sich die beiden zusammen mit dem Wolf auf den Weg, raus aus dem Wohnzimmer, den kurzen Flur entlang, in die Küche und dort zur Haustüre. Draußen auf der Veranda warf Mamoru einen kurzen Blick in Richtung Stall (der ja inzwischen mehr Garage als Stall war, da es ja immerhin an Pferden mangelte) und sah dort Elyzabeths Gabriel stehen. Der braune Peruanische Paso war im Schatten angebunden, an einem der alten Eisenringe, die noch immer an der äußeren Häuserwand befestigt waren. Der Umbau des Stalles zu einer Garage beschränkte sich nur auf die Innenausstattung. Als Mamoru, Elly und Terra auf die Veranda traten, stellte der dunkle Wallach kurz interessiert seine Ohren in ihre Richtung. Er konnte sich wohl schon denken, dass Aufbruch angesagt war.

"Nochmals vielen Dank für die Mühe, Elyzabeth..." Mamoru lächelte.

Sie lächelte zurück. "Ach, war doch nicht der Rede wert."

"Wann sehen wir uns wieder?"

Mamoru musste sich schon schwer zurückhalten, nicht ein <endlich> mit in den Satz zu packen. Obwohl der Unterschied auch nicht mehr allzu groß gewesen wäre. Denn Sehnsucht schwang in seiner Tonlage mit.

"Ähm ... nun ja", machte Elly, "...Du weißt schon ... morgen ... in der Schule." Irgendwie klang sie belustigt. Als hätte er eine ziemlich dämliche Frage gestellt. Also schön, in gewisser Weise hatte er das auch tatsächlich. Aber dennoch wirkte das Mädchen nur amüsiert, und nicht so, als wolle es sich über ihn lustig machen. Nichts Tadelndes oder Herablassendes lag in Ellys Stimme.

Wieder einmal ein Pluspunkt für sie; ein weiterer Unterschied, der sie von Hikari trennte wie den Käse von der Kreide.

"Ja ... klar ... natürlich", stammelte Mamoru verlegen. "Daran hab ich schon gar nicht mehr gedacht..."

"Kann passieren", lachte Elyzabeth. Sie bewegte sich auf ihr Pferd zu. "Wir sehen uns dann also morgen!"

Sie band den Wallach los, hob sich mit Schwung in den Sattel und winkte Mamoru zu.

"Mach's gut!", rief sie dabei.

"Mach's besser!", kam es von Mamoru zurück, der auch zum Abschied winkte.

Dann lenkte Elyzabeth ihren Braunen herum, drückte ihm die Fersen in die Flanke, ließ ihn über den niedrigen Grundstückszaun springen, wobei Terra sich nur unter dem untersten Querbalken durchzwängte, und bald waren das Mädchen und die beiden Tiere nur noch dunkle Schatten in einer großen Staubwolke.

Mamoru sah ihnen noch lange nach. Dann kehrte er um, betrat seine Wohnung, schloss die Haustür hinter sich und setzte sich an den Küchentisch. Das Halstuch, das Elyzabeth ihm gerade erst überreicht hatte, hielt er immer noch in seiner Hand. Er stützte seine Ellenbogen auf dem Tisch auf, betrachtete das Tuch in seinen Fingern und lächelte selig dabei. Genießerisch schloss er die Augen, als er das dunkelblaue Stück Stoff seinem Gesicht näherte, seine Nase darin versenkte und tief den Geruch aufnahm. Da war tatsächlich ein Duft, der nicht von ihm selbst stammte. Er hatte sich zuvor nie auch nur einen einzigen Gedanken darüber gemacht, wie Elly roch. Nun wusste er es also. Und es war ein sehr angenehmes Aroma.

Christian Morgenstern, ein deutscher Schriftsteller, der vor mehr als einem dreiviertel Jahrhundert verstorben war, hatte einmal gesagt: "Der Duft der Dinge ist die Sehnsucht, die sie in uns nach sich erwecken."

Genau das schoss Mamoru gerade durch den Kopf. Und er musste zustimmend grinsen. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, dann hätte er wohl ernsthaft daran geglaubt, dass dieser Spruch nur für diesen einen einzigen Augenblick – jetzt und hier – verfasst worden war.

Mamoru seufzte tief. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hielt noch immer sein Gesicht an das Halstuch geschmiegt.

Sehnsucht...

Der Duft der Dinge ist die Sehnsucht, die sie in uns nach sich erwecken...

Er konnte sich gut vorstellen, dass er in der kommenden Nacht vor Gedanken und Sehnsucht kein Auge würde zutun können.

Er seufzte leise.

Bevor Mamoru an die Nacht denken konnte, musste er erst mal an seine unterbrochenen Hausaufgaben denken.

Er stand auf, abermals seufzend, schlenderte ins Wohnzimmer und setzte sich an seine Aufgaben; das Tuch neben das Heft auf den Tisch legend.

Zögerlich griff er nach seinem Füller und öffnete ihn; wohlwissend, dass er im Augenblick ja doch vergeblich auf seine Konzentration hoffen und warten würde.

Die Sonne war gerade untergegangen, aber nichtsdestotrotz pfiff immer noch ein heißer Wind um die SilverStar-Ranch. Was der sandige Boden Stunde um Stunde über den ganzen Tag hinweg wie ein Schwamm an Hitze aufgesogen hatte, das gab er jetzt in gleichem Maße wieder ab. Wäre es – vom Licht von Millionen von Sternen mal ganz abgesehen – nicht so zappenduster gewesen, hätte jemand, der dieses Klima nicht gewohnt war, durchaus glauben können, es sei noch immer helllichter Tag, und ein Zauber habe die Sonne zwar ihrer Strahlen, nicht aber ihrer Hitze beraubt. Doch dieser natürliche Glutofen würde sich binnen der nächsten paar Stunden auf schneidend kalte Temperaturen hin absenken. Die Natur war nun mal grausam in der Ausführung ihrer eigenen Gesetze.

Nicht eine Sekunde lang zweifelte Mamoru am Wahrheitsgehalt dieser Aussage. Im Gegenteil. In gewisser Weise schien es genauso ein Naturgesetz zu sein, dass Liebe etwas Kompliziertes war. Wieso nur hatte Amors Pfeil ihn wieder einmal mit derartig berechnender Präzision treffen müssen?

Eine deutsche Lyrikerin und Aphoristikerin namens Rose von der Au hatte es einmal folgendermaßen ausgedrückt:

"So manches mal habe ich das Gefühl, dass Amor blind ist oder betrunken, oder schlimmer noch, seinen Schabernack mit mir treibt, aber vielleicht liegt es ja auch daran, dass ich ihm den Hintern hinhalte."

Mamoru seufzte leise. Nun war es also wieder passiert, und er konnte auch noch nichts dagegen tun. Wollte er überhaupt etwas dagegen tun?

Er wusste es beim besten Willen nicht zu sagen. Er wusste nur eines: So, wie er bisher sein Schicksal kennen gelernt hatte, war er sich sicher, dass seine Zukunft für ihn alles andere als einfach werden würde.

Zu diesem Zeitpunkt konnte er allerdings noch nicht einmal ahnen, wie sehr er damit Recht hatte!

Mamoru schloss nun endlich seine Haustür hinter sich und trat einige Schritte auf die Veranda hinaus. An der Kante blieb er stehen, dort, wo ihm das hölzerne Vordach nicht mehr die Sicht versperrte, und er warf einen andächtigen Blick in die atemberaubende Weite des nächtlichen Sternenhimmels, der an diesem Abend unbeschreiblich schön funkelte.

...Fast so wie Elyzabeths Augen...

Erneut kam ein leiser Seufzer über seine Lippen. Es war wohl ein weiteres Naturgesetz, dass ein Verliebter an nichts anderes mehr denken konnte, und sich seine Gedanken nur noch um diese eine Person drehten.

Konnte man die Natur eigentlich wegen Nötigung verklagen?

"In Amerika bestimmt...", brummte Mamoru leise als Antwort auf seine eigenen Gedanken. Er drehte sich nun endlich um und steuerte die Haustüre des Haupthauses an. Dies war der eigentliche Grund für ihn gewesen, überhaupt seine Wohnung zu verlassen. Er brauchte eine Ablenkung. Er ließ die Sterne einfach mal Sterne sein, ignorierte das gute Dutzend romantischer Gedichte, das ihm prompt zu dieser Himmelspracht einfiel, und drückte die Türklinke herunter.

"Tante Kioku! Ich bin's!", rief er und schloss hinter sich die Haustür.

"Schade. Ich hatte schon gehofft, der Weihnachtsmann käme dieses Jahr etwas früher", antwortete sie ihm aus der Küche entgegen.

"Nette Begrüßung!", brummte Mamoru zurück.

"Gern geschehen", kam es von seiner Tante, "das macht dann neun fünfundneunzig. Ich nehme keine Schecks!"

"Sorry, bin knapp bei Kasse...", beteuerte er und durchschritt das Wohnzimmer.

"Da gibt's nur Eins!" Mamoru musste seine Tante nicht sehen; er konnte hören, dass sie grinste. "Mach den Abwasch!"

Der Junge seufzte. So was in der Art hatte er schon erwartet.

Die Tür zur Küche war nur angelehnt. Mamoru öffnete sie vollends und sah seine Tante, wie sie gerade die Spülmaschine ausräumte.

Er grinste spöttisch.

"Aber wieso sollte ich das tun?", fragte er wie beiläufig nach. "Wie ich sehe, beherrschst Du das wunderbar! Geradezu fantastisch! Weltmeisterlich! Ich könnte das bestimmt nicht halb so schön wie Du machen!"

"Wäre aber besser, wenn Du es übst!", kam Kiokus Antwort, während sie einige Teller in einen Schrank räumte. "Ich sag Dir was, Kurzer: Damit könntest Du Deine kleine Freundin von gerade eben so richtig beeindrucken!"

Bei diesem Kommentar schoss das Blut nur so in Mamorus Wangen. Er hoffte inständig, dass seine Tante dies nicht bemerkte. Aber er machte sich diesbezüglich eigentlich keine großen Hoffnungen. Dazu kannte er Kiokus Adleraugen zu gut.

Er konterte:

"Ich beeindrucke sie lieber mit meinen Muskeln!"

Damit hob er den Arm und spannte ihn an. Er grinste selbstsicher, als er so auf die beeindruckenden Muskeln schaute, die sich deutlich unter dem festen Stoff seines Hemdes abzeichneten.

Darauf meinte Kioku nur trocken:

"Muskeln sind dazu da, um Arbeit zu verrichten!"

"Ich sag Dir Bescheit, wenn ich welche sehe...", feixte er.

Kioku lachte daraufhin gekünstelt auf. "Du würdest noch nicht mal dann jegliche Arbeit sehen, wenn man Dich mit der Nase darauf stieße!"

Mamoru schüttelte resigniert seufzend den Kopf. Es hatte keinen Sinn, diese Diskussion fortzuführen. Wortgefechte dieser Art waren so alt wie die Menschheit selbst, und Mamoru wusste, dass seine Tante mit ihrem Dickschädel so lange keine Ruhe gab und weiterhin noch Argumente sammeln würde, bis er die Diskussion eh früher oder später Leid war. Deswegen lenkte er das Gespräch auf ein anderes Thema:

"Es ist schon ziemlich spät, finde ich. Wo ist Onkel Seigi? Er scheint noch nicht zu Hause zu sein, oder irre ich mich da?"

"Du irrst Dich zwar nicht, aber ein schlechtes Gedächtnis hast Du!", grinste Kioku, jetzt, wo sie ihren Sieg in diesem verbalen Duell in der Tasche hatte. "Heute Morgen erst hat er doch noch erzählt, dass er geschäftlich verreisen muss. Zu dieser wichtigen Besprechung. Nach Oklahoma City. Bis morgen. Weißt Du das schon nicht mehr?"

"Moment mal...", Mamoru legte nachdenklich den Finger an die Lippen. "Da war doch was... Hat er nicht irgendwas gesagt von einem Meeting, in Oklahoma City, bis morgen? ...Ach, verzeih, hast Du gerade eben irgendwas gesagt?"

Seine Tante schüttelte seufzend den Kopf. "Du musst immer so rumblödeln..."

Dann lachte sie aber fröhlich auf. Ihre unerschütterliche gute Laune war wirklich eindrucksvoll. Mamoru hatte in seinem Leben schon so oft staunend bemerkt, dass es eigentlich gar nicht mal so leicht war, sie aus der Fassung zu bringen. Freilich, wenn es denn mal geglückt war, dann konnte Kioku jähzornig sein wie ein Kriegsgott, dem man aufs Füßchen getreten war. Dennoch war sie an und für sich ein ruhiger, fröhlicher, besonnener Mensch. Hatte eine schier ansteckendes, lustiges Gemüt. Hatte immer einen kessen Spruch und ein Grinsen auf den Lippen. Hatte immer fast schon überschäumende Lebensenergie.

Wertvolle, reichhaltige Lebensenergie...

Dieser Gedanke erweckte ungewollt etwas in Mamoru, das sehr tief und lange geschlafen hatte. Doch nun schien dieses Etwas durch sein plötzliches Erwachen doppelt so mächtig geworden zu sein, als jemals zuvor. Es war diese Gier nach Macht; das Lechzen nach Vollkommenheit und grenzenloser Stärke; der Hunger nach Kontrolle und absoluter Unbesiegbarkeit; der unbändige Wunsch nach dem erhebenden Gefühl von Kraft und nicht enden wollender Energie.

Ein kleines, geradezu bösartiges Lächeln erschein auf Mamorus Lippen; ansonsten war sein Gesicht zu einer Maske aus eisiger Gefühllosigkeit erstarrt. Kein Muskel rührte sich; es schien geradezu versteinert zu sein.

Alles war so unglaublich leicht...

Er musste ihr nur ihre Kraft rauben. Sie war ihm körperlich unterlegen. Nichts würde ihn daran hindern können, einfach über sie herzufallen und ihre wertvolle Lebensenergie aus ihrem Körper zu saugen, wie ein Vampir, der seine Zähne in den Hals seines Opfers geschlagen hatte. Womöglich würde sie nur zusammenbrechen und sich nicht mehr erinnern. Man würde es als die <Krankheit> abtun, die so oder so gerade über die Welt ging. Seine Tante wäre bei Weitem nicht die Erste, die plötzlich kraftlos zusammenklappen würde.

Es war so unglaublich leicht...

Mamoru ging langsamen Schrittes auf sie zu. Kioku war derweil wieder damit beschäftigt, die Spülmaschine weiter auszuräumen und dabei irgendwas zu erzählen. Ihr Neffe hörte es gar nicht. Er realisierte überhaupt nichts mehr aus seiner Umwelt. Alles, was er sah, war das Leben, das durch Kioku floss. Energie im Übermaße.

Es war so unglaublich leicht...

Im Moment hatte sie ihren Rücken zu ihm gekehrt. Vielleicht bemerkte sie noch nicht einmal, dass er sich ihr näherte. Oder sie dachte sich nichts dabei. Wie unvorsichtig! Wie töricht! Menschen waren doch so unendlich dumme Opfer! So unsagbar mühelos hinters Licht zu führen!

Es war so unglaublich leicht...

Er hob seine Hände an.

"Hey, Kurzer, ich hab Dich was gefragt. ...Hallo? Willst Du mir keine Antwort geben?"

Sie nahm einen Teller aus der Spülmaschine und drehte sich ihm dann erst zu, um ihn mit tadelndem und fragendem Blick anzusehen.

"Was grinst Du denn so blöde?"

Noch immer spürte sie nicht die Gefahr, die sich da anbahnte. Nur noch wenige Zentimeter trennten sie von ihrem Neffen.

"Mamoru? ...Du machst mir allmählich Angst. Lass das! S...s...sieh mich nicht so an, als ob Du mich fressen wolltest..."

Skepsis stieg in ihrem Blick auf. Sie trat einen Schritt zurück und stieß dabei an die Arbeitsplatte.

"Mamoru! Ich finde das nicht lustig! HÖR AUF!"

Das Grinsen auf seinem Gesicht wurde noch breiter, der eisige, unmenschliche Blick seiner Augen um eine Spur härter. Sein Denken war vollkommen ausgeschaltet. Alles, was jetzt noch zählte, war das süßliche, verlockende Gefühl von Energie und Leben, die mit jedem einzelnen Herzschlag durch Kiokus Adern pulsierten.

Es war so unglaublich leicht...

Mit einem Ruck schlossen sich seine Finger um ihren Hals. Sie begann zu schreien. Der Teller entglitt ihren Fingern und fiel scheppernd zu Boden. Hunderte von feinen, scharfkantigen Splittern flogen über die Fliesen.

Kioku krallte ihre Finger in die Unterarme ihres Neffen und riss mit aller Kraft daran. Doch so sehr sie auch zerrte, alle Anstrengung war umsonst. Weiter und weiter schlossen sich die Finger um ihren Hals, drückten allmählich ihre Stimmbänder und ihre Luftröhre zu. Das pure, reine Leben floss aus ihrem Körper; wie ein Wasserfall, der sich eine steile Klippe hinunterstürzte. Der Goldene Kristall, der noch immer tief im Inneren von Mamorus Körper verblieb, sog gierig die Energie in sich auf und speicherte sie. Seine Temperatur nahm stetig zu, bis der Herr der Erde eine unglaubliche Hitze in sich spürte, gepaart mit größter Befriedigung. Jeder einzelne Energieraub wurde stets mit einem gewaltigen Gefühl von Macht begleitet. Und dieser war keine Ausnahme. Eine erhebende Emotion von tiefster Zufriedenheit durchströmte Mamorus ganzen Körper, und jetzt, wo er einmal Blut geleckt hatte, wollte er mehr und mehr.

Es war so unglaublich leicht...

Kioku wehrte sich gegen den Angriff nach Leibeskräften, doch es reichte einfach nicht aus. Wo sie anfangs noch genug Kraft gefunden hatte, um Ohrfeigen und Tritte auszuteilen, da schwand ihr nun nicht nur ihre Energie, sondern auch ihr Sauerstoff immer weiter. Doch je mehr ihr Neffe an Energie gewann, umso unstillbarer wurde sein Hunger auf mehr ... viel mehr...

Allmählich konnte Kioku ihr eigenes Körpergewicht nicht mehr halten. Ihre Knie knickten ein und sanken zu Boden. Doch das störte Mamoru nicht. Mit unverändertem Lächeln auf den Lippen ließ er es geschehen und senkte seine Arme nachgebend. Inzwischen war Kioku merklich blasser geworden. Ihre Haut wirkte zusehends trocken und spröde. Der Griff ihrer Finger wurde merklich schwächer.

Es war so unglaublich leicht...

Nur wenige Sekunden waren bisher vergangen, aber die Energieübertragung lief mit solcher Geschwindigkeit ab, dass Kioku jetzt schon kaum noch Kraft übrig hatte. Mühsam öffnete sie ihre zusammengekniffenen Augen wieder und starrte ihren Neffen ungläubig an. Sie begriff gar nicht recht, wie ihr geschah. Sie wusste nur, dass sie schnell handeln musste, wenn sie sich noch retten wollte.

Sie fällte eine Entscheidung.

Alles, was danach kam, dauerte nicht länger als eine Sekunde.

Unter Aufbringung all ihrer restlichen Kräfte hob Kioku den Arm und griff in die Geschirrhalterung der Spülmaschine hinein, wo sie ihre Finger um das Erstbeste schloss, was sie finden konnte. Mit Schwung und unglaublicher Stärke schlug sie zu.

Die Kelle des schweren Suppenlöffels knallte wuchtig gegen Mamorus Schläfe und ließ ihn aufschreien. Er fiel zur Seite und flog regelrecht davon. Es war ein wahres Wunder der Natur, welche unglaublichen Kräfte ein Mensch doch aufbringen konnte, wenn er in Gefahr war, obwohl schon alle Reserven verbraucht waren...

Der Energiestrom zwischen den beiden wurde abrupt unterbrochen. Durch den harten Aufschlag wurde Kioku der metallene Löffel aus der Hand geprellt; Er flog weit weg und landete irgendwo unter dem Küchentisch auf dem Boden. Auch Kioku konnte ihr eigenes Gewicht nicht mehr in dieser aufrechten, knienden Position halten. Sie fiel wie ein Sack Mehl zur Seite und blieb keuchend auf den harten Fliesen liegen.

Mamoru ging es nicht unbedingt besser. Die Löffelkelle hatte die dünne Haut über seiner Schläfe aufplatzen lassen. Möglicherweise war Kiokus Energielosigkeit der einzige Grund, weswegen sein Schädel keinen Bruch erlitten hatte. Aber immerhin zog sich eine breite Blutspur an seiner Wange und seinem Kinn entlang, und die rote Flüssigkeit tropfte zu Boden. Ein heftiger Schmerz pochte durch Mamorus Kopf und ließ ihn aufschreien. Aber zumindest war endlich die energetische Verbindung zu seiner Tante gekappt und damit auch die erschreckende, unmenschliche Gier, die seinen menschlichen Verstand ganz und gar lahmgelegt hatte. Erst jetzt, wo die Situation eskaliert war, begriff Mamoru, was er da eigentlich gerade getan hatte. Neben dem überwältigenden Schmerz, der nun durch seinen Schädel jagte, gab es da nur zwei Dinge in ihm, die noch wesentlich mächtiger waren: zum einen die noch immer sehr mächtige Gier, die sich inzwischen anfühlte, als sei Mamoru auf Drogenentzug, die allerdings ganz langsam wieder abnahm; und zum anderen die tiefe Reue, die er wegen seiner Tat empfand. Er konnte sich selbst nicht erklären, wie er so sehr die Kontrolle über sich hatte verlieren können. Er hätte die Macht besitzen müssen, sich am Zügel zu reißen. Doch dem war nicht so gewesen. So unglaublich ihm das jetzt, im Nachhinein, auch erschien: Er hatte tatsächlich einen der wenigen Menschen angegriffen, die er über alles liebte und die ihm mehr als alles andere bedeuteten. Er fühlte sich schäbig.

Er presste eine Hand gegen seine heftig blutende Schläfe und richtete sich ächzend und stöhnend vom Boden auf. Ihm war schwindlig. Bunte Punkte tanzten vor seinem Gesichtsfeld herum. Schmerz pochte unangenehm durch seinen ganzen Körper. Unter großer Kraftanstrengung kroch er auf seine Tante zu, die noch immer schweratmend am Boden lag, aber noch bei Bewusstsein zu sein schien.

"Tan...Tante K...Ki...oku?"

Sie zwang sich dazu, die Augen zu öffnen und in seine Richtung zu sehen. Auch sie wälzte sich auf den Bauch und stützte sich ab, bis sie in einer halbwegs sitzenden Position war. In Mamoru keimte stumme Bewunderung für diese Frau auf. Er hätte nicht erwartet, dass sie nach dieser Aktion noch genug Kraft finden würde, sich selbst so aufzurichten. Sie war wirklich sehr zäh.

Die Sorge in ihm war groß. Er wusste, wie empfindlich der menschliche Hals war, und er hatte eine ungefähre Ahnung davon, was Sauerstoffmangel auch auf einen kurzen Zeitraum hin bewirken konnte. Er wollte sich davon überzeugen, ob alles noch in Ordnung war. In seiner zügellosen Gier hatte er so was wie Skrupel und Rücksicht absolut nicht mehr gekannt. Ihn erschreckte der Gedanke, dass er wohl ohne ihre Abwehr solange weitergemacht hätte, bis sie gestorben wäre – am Energiemangel oder aufgrund des fehlenden Sauerstoffs. Das durfte nie wieder geschehen!

Während er weiter auf sie zugekrochen kam und sich innerlich furchtbare Vorwürfe machte, ächzte er leise:

"Geht ... geht es Dir gut? Ist noch ... alles in Ord...nung?"

Kiokus Gesichtszüge verhärteten sich. Ihre Mine wurde finster, richtiggehend feindselig und zeigte nur noch Abscheu.

"Verschwinde...", zischte sie.

"Was?", machte Mamoru verwirrt. Merkte sie denn nicht, dass das gerade eben nicht er gewesen war? Konnte sie denn nicht verstehen, dass er nun wieder zu sich selbst gefunden hatte und sich um ihn sorgte?

Nein ... und woher sollte sie auch?

"Verschwinde, hab ich gesagt!"

Aus ihr sprach der tiefste Zorn, den ein Mensch nur empfinden konnte. Und da schwang noch etwas in ihrer Stimme mit. Angst. Oder eher noch: schrillste Hysterie. Sie vermochte vor lauter Panik nicht mehr klar zu denken. Sie zog zornig ihre Augenbrauen zusammen und ihre Augen verengten sich zu blitzenden, kleinen Schlitzen. Sie atmete immer noch heftig, aber immerhin fand sie schon wieder die Kraft, sich auf ihre Knie zu erheben. Dann griff sie nach der Arbeitsplatte in ihrem Rücken und zog sich daran hoch, bis sie wieder fest auf ihren Beinen stand. Dabei ließ sie ihren Neffen allerdings nicht eine einzige Sekunde aus den Augen. Mehr noch: Sie spießte ihn regelrecht mit ihren grimmigen Blicken auf.

Mamoru verharrte verblüfft in jedweder Bewegung. Er konnte ihre grenzenlose Wut sogar durchaus verstehen, aber dennoch hatte es so den Anschein, als weigerte sich sein Gehirn, diese Tatsache zu akzeptieren. Dies war seine Tante! Sie war der Mensch gewesen, der ihn aufgezogen und behütet hatte, seit seine Eltern auf solch tragische Weise verstorben waren! Und jetzt auf einmal war sie ihm so feindlich gesinnt, wie er es von seinen schlimmsten Widersachern nie gekannt hatte.

Seine Verwunderung war so groß, dass er für einen Moment sogar den scharfen Schmerz an seinem Kopf schlichtweg vergaß. Er starrte Kioku fassungslos an. Irgendwann richtete auch er sich auf, stützte sich am Küchentisch ab und arbeitete sich auf seine Beine. Erst jetzt fand er wieder zu seiner Fähigkeit, seine Stimmbänder zu benutzen:

"Tante..."

"ICH WILL NICHTS HÖREN!", kreischte sie ihn an. Sie erhob ihren Arm und ihre stark zitternde Hand zeigte in Richtung Tür. "Raus, aber sofort! RAUS SAGTE ICH!"

"Lass mich erklären..."

"NEIN!" Sie brüllte ihn unter ganzem Einsatz ihrer Stimmbänder an. Und wenn man bedachte, dass sie nur noch einen winzigen Bruchteil ihrer Energie besaß, dann war das eine bemerkenswerte Leistung. "Ich will Dich nie, nie, NIE WIEDER SEHEN! Und nun mach, dass Du RAUS KOMMST!!!" Ihre Stimme überschlug sich schier.

Der schwere Schmerz in seinem Schädel, der nun ganz langsam wieder in sein Bewusstsein zurückkehrte, war absolut nichts, verglichen mit dem scharfen Stich, der ihm nun durch das Herz fuhr. Er nahm die Hand von seiner Wunde runter, ließ Kopf und Schultern sinken und schlurfte schwermütig zur Tür. Ein letztes Mal drehte er sich seiner Tante zu und sah sie mit schuldbewusstem Blick an.

"Es tut mir Leid", sagte er in lautlosem Flüsterton. Doch Kioku starrte ihn nur weiterhin an wie einen schlimmsten Erzfeind, den es auszumerzen galt. Sie sagte kein Wort. Aber vielleicht war genau das noch viel schlimmer und schmerzhafter als alles, was sie hätte sagen können.

Mit hängenden Schultern schleppte sich Mamoru zur Küche raus, durch das Wohnzimmer und dann durch die Haustür auf die Veranda. Doch statt seine Schritte zu seiner Wohnung zu lenken, marschierte er in ungelenken und fahrigen Bewegungen auf den zur Garage umfunktionierten Stall zu. Auf dem Weg dorthin nutzte er fast schon beiläufig seine gerade erst neu gewonnene Energie dazu, die Wunde an seinem Kopf um einen großen Teil wieder zuwachsen zu lassen und die Schmerzen auf ein Minimum zu reduzieren. Er fühlte sich schäbig dabei, richtiggehend abartig.

Ohne wirklich aktiv zu wissen, was er tat, setzte er sich hinter das Steuer des blauen, schon etwas älteren Pick-Ups, den Seigi und Kioku ihm vor gar nicht mal so langer Zeit zum bestandenen Führerschein gekauft hatten. Er manövrierte den Wagen geistesabwesend aus der Garage und fuhr dann einfach los, ohne jegliches Ziel, einfach immer der Nase nach in die dunkle, nächtliche Prärie hinaus. Er fuhr mit solcher automatisierter Präzision und Ruhe über die holprigen Straßen, als ob er den Wagen mit höchster Konzentration führen würde, doch eigentlich brodelte es in seinem Inneren. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf mit solcher Geschwindigkeit, dass er keinen einzigen davon klar erfassen konnte. Alles, was er im Augenblick mit Sicherheit wusste, war, dass er sich sehr einsam und armselig fühlte. Wie hatte er nur so unendlich niederträchtig sein können? Wieso hatte er das Trachten seines Goldenen Kristalls nach neuer Energie nicht stoppen können? Er wusste es nicht. Aber er schwor sich, dass er das niemals wieder zulassen würde.

Nie wieder.

Er riss plötzlich das Steuer herum, bugsierte den Wagen auf offenes Gelände, trat unvermittelt auf die Bremse, legte eine Vollbremsung hin und schaltete den Motor aus. Seine Finger hielten sich so krampfhaft um das Lenkrad geschlossen, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er lehnte sich vor und presste mit aller Kraft seine Stirn gegen das Steuer. Sein ganzer Körper zitterte so sehr, dass es ihm wohl sowieso keine Minute länger gelungen wäre, den Wagen sicher auf der Straße zu halten. Sein Atem ging keuchend. Er spürte tief in sich drin große Angst vor sich selbst – ja, regelrecht Abscheu seinem Dasein gegenüber!

Aus dem Keuchen wurde allmählich ein abgehacktes Stocken. Aus dem Stocken ein Schluchzen. Und das Schluchten schließlich wurde zu einem Schreien und Toben. Mamoru ballte seine Hand zur Faust und ließ sie wieder und wieder, ohne Rücksicht auf Verluste, gegen das Armaturenbrett krachen. Das Plastik knarrte hörbar unter jedem einzelnen seiner Schläge, doch es hielt.

Mamoru war völlig außer sich. Der innere Schmerz zerfraß ihn innerlich so sehr, dass er es bald nicht mehr dabei beließ, nur das Armaturenbrett zu malträtieren. Er richtete seinen Zorn gegen das Seitenfenster, trat im Fußraum der Fahrerseite um sich und schlug mehrmals feste mit seiner Stirn gegen das Lenkrad, bis ihm nur umso schwindliger wurde. Doch der schon nicht mehr ganz neue, nichtsdestotrotz sehr robuste Pick-Up hielt seiner Gewalt trotzig stand. Und irgendwann hatte sich der Herr der Erde weit genug ausgetobt, dass ihm jegliche Kraft fehlte, um sie weiter gegen den Geländewagen zu richten. Schluchzend sank er in sich zusammen, presste die Hände gegen das Gesicht und fand in sich nicht mehr den nötigen Zorn und Selbsthass, um seine Tränen weiter zurückhalten zu können. Alles, was er im Moment in sich spürte, war schmerzvolle aber gähnende Leere. Das Gefühl, an diesem Ort und zu dieser Zeit völlig fehl am Platze zu sein. Als gehöre er nicht mehr auf den selben Kontinent wie seine geliebte Tante, die er so sehr verletzt hatte. Nicht nur, dass er ihr körperlich geschadet hatte; er hatte sie auf einer sehr viel tieferen, quälenderen Ebene verletzt. Er hatte sie verraten und ihr Vertrauen missbraucht. Er hatte sie aus niedrigsten Gründen angegriffen. Und er hasste sich selbst dafür.

Irgendwie war es unfair. Wieso musste immer zuerst etwas wirklich Schlimmes geschehen, bevor man wusste, worauf es im Leben ankam?

Es kam ihm vor wie eine kleine Ewigkeit, in der er einfach dasaß, mit dem Oberkörper gegen das Lenkrad gesunken, und weinte. Doch irgendwann konnten einfach keine weiteren Tränen über seine Wangen laufen. Müde seufzend hob er seinen Kopf und wischte sich fast schon trotzig mit dem Hemdsärmel über sein Gesicht. Immerhin konnte er jetzt wieder ein wenig klarer denken. Er warf einen Blick durch die Windschutzscheibe hinauf zum Sternenhimmel. Diese Sterne ... erinnerten ihn an etwas...

Er griff nach seiner Halskette und holte sie unter seinem Hemd hervor. Dann öffnete er den Deckel der goldenen, sternförmigen Spieluhr und ihr sanftes Strahlen und ihre besinnliche Melodie zogen sich durch den Wagen. Die leise Musik hatte sofort eine beruhigende Wirkung auf ihn. Fast fühlte er sich, als könne er davonschweben, bis in einen wunderschönen Traum hinein, und nie wieder in dieser kalten, harten Realität aufwachen.

Es tat weh. Es tat ihm so unendlich in der Seele weh, was er getan hatte. Doch ändern konnte er es jetzt nicht mehr. Alles, was er jetzt zu tun hatte, war, sich auf die Zukunft vorzubereiten. Irgendwie musste er das Vertrauen seiner Tante zurück gewinnen. Die Frage war bloß, wie er das anstellen sollte...

Er lehnte sich – abermals seufzend – zurück und schloss für einen Moment die Augen. Er musste jetzt unbedingt einen klaren Kopf behalten. Die Sekunden strichen dahin, in denen er einfach schweigend der Melodie der kleinen Spieluhr lauschte. Aus den Sekunden wurden Minuten. Und doch schien es beinahe so, als würde die Zeit einfach stehen bleiben. Fast so, als wollte die Erde ihrem Herren einige zusätzliche Augenblicke schenken, damit er seine Situation leichter verarbeiten konnte.

Irgendwann – nach einer Ewigkeit, wie es schien – hob Mamoru wieder seine schweren Augenlider und starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen. Die Sterne waren inzwischen deutlich weiter gewandert. Hier, in der Einöde der Prärie, strahlten sie in einem Glanz, den Mamoru zu seiner Zeit in der Großstadt nie gekannt hatte. Die Milchstraße hob sich als funkelndes Band von all den anderen Sternen ab, die nicht ganz so nah bei einander standen. Das schwache Licht reichte kaum aus, die Umgebung zu erleuchten. Man erkannte nur düstere, riesige Schemen in weiter Ferne. Die Berge am Horizont stanzten gewaltige, ungleichmäßige Löcher in das sonst so unendliche Meer der Sterne. Ansonsten war die Steppe da draußen nichts weiter als eine finstere, konturlose, leblose Ebene, in der unwirkliche Schatten hin und her wogten und wo die Finsternis alles zu verschlingen schien.

Mamoru hob seine Augen noch etwas weiter, bis sein Blick auf den Rückspiegel fiel. Er schaltete die Innenbeleuchtung des Wagens ein, reckte sich dann noch etwas nach oben und zur Seite, bis sich sein Gesicht auf dem Glas reflektierte. Von der gefährlichen Platzwunde an seiner Schläfe war nicht mehr viel zu sehen. Mamoru hatte die Macht des Goldenen Kristalls eingesetzt, um die Verletzung auf ein Minimum ihrer Größe zu reduzieren. Sein Auge war nicht angeschwollen; das hatte er wohl durch sein schnelles Reagieren mit seiner Heilfähigkeit verhindern können. Nur noch ein winziger Bereich dünnen Schorfs war übrig geblieben, und ein dicker Rinnsal eingetrockneten Blutes zog sich um sein Auge herum, die Wange entlang und den Hals hinunter. Der Herr der Erde zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, befeuchtete es mit seinem Speichel und putzte sich das stark metallisch riechende Blut vom Gesicht herunter. Dabei ließ er noch den kleinen Rest verheilen, der von der Wunde übrig geblieben war. Eines musste er seiner Tante ja lassen: Sie hatte wirklich ordentlich getroffen. Was wäre wohl aus ihm geworden, wenn er sich nicht selbst so hätte helfen können? Doch den Gedanken schob er schnell zur Seite.

Das Blut, das bis in seinen Hemdskragen gesickert war, konnte er jetzt und hier nicht beseitigen. Aber immerhin hatte er inzwischen seinen Hals und sein Gesicht so weit gesäubert, wie es mit seinen bescheidenen Mitteln eben ging. Er zog den Aschenbecher des Pick-Ups auf, quetschte das benutzte Taschentuch achtlos hinein und schaltete zur gleichen Zeit die Innenbeleuchtung des Wagens wieder aus. Dann richtete er seine Konzentration wieder verstärkt auf die leise, zauberhafte Melodie der Spieluhr an seiner Halskette. Nun war das sanfte, bläuliche Strahlen, das auf ihrem Inneren kam, das einzig verbliebene Licht im Wagen.

So gemütlich es eben in dem schon etwas abgenutzten Sitz des Pritschenwagens ging, machte Mamoru es sich gemütlich und lauschte der sanften, beruhigenden Musik seiner Spieluhr. Vielleicht wäre er sogar irgendwann so eingeschlafen. Wenn er nicht ein leises, dumpfes Geräusch von außerhalb des Wagens gehört hätte. Er starrte in den rechen, äußeren Rückspiegel und erkannte eine Bewegung, die in der Düsternis da draußen mehr zu erraten als wirklich zu sehen war. Sein Körper spannte sich. Geistesgegenwärtig schloss er die Spieluhr. Das Lied verstummte und das Licht aus ihrem Inneren verlosch. Nicht, dass das einen großen Unterschied gemacht hätte. Die Spieluhr hatte die Umgebung nur sehr spärlich ausgeleuchtet. Aber er musste die Aufmerksamkeit des Fremden, der da draußen herumschlich, ja nicht sofort auf sich lenken. Andererseits, was sollte schon ein Wagen so mutterseelenallein und ohne sichtbaren Schaden hier draußen in der Walachei verloren haben? Irgendwo war es klar, dass der Fahrer da eigentlich nicht weit sein konnte...

Ein leises Klacken entstand, als der Fremde den Hebel zog, der die Beifahrertür öffnete. Mamoru legte die Hand an die Tür zu seiner Seite, den Blick starr auf die Tür in der gegenüberliegenden Richtung gerichtet, jeder Zeit bereit, rauszuspringen und den Fremden zu vertreiben ... oder, falls es nötig sein sollte, Schutz in dieser absoluten Dunkelheit da draußen zu finden.

Die Beifahrertüre schwang auf und automatisch schaltete sich die Innenbeleuchtung des Pick-Ups ein. Und in ihrem schwachen Licht erschien...

"Elyzabeth!", keuchte Mamoru überrascht auf. "Mit Dir hab ich ja am aller wenigsten gerechnet! Hast Du mich erschreckt! Himmel, Arsch und Zwirn; was schleichst Du um diese Uhrzeit an diesem gottverlassenen Ort durch die Gegend?"

Sie sah ihn abwägend an und erwiderte trocken:

"Das könnte ich Dich fragen."

Dann seufzte sie resigniert auf.

"Weißt Du ... Terra ist verschwunden. Ich schätze mal, er streunt hier irgendwo in der Gegend herum. Das kommt zwar schon mal vor, so dann und wann, aber ich mache mir halt trotzdem so meine Gedanken. Und als ich diesen Wagen hier gefunden hab, da musste ich halt schauen, was hier los ist."

Mamoru zog erstaunt die Augenbrauen hoch. "Wie, bitteschön, hast Du das Auto denn in dieser Finsternis gefunden?"

Erst sah sie ihn etwas bedeppert an. Dann flüchtete sie sich in ein Grinsen.

"Tja ... ich bin fast reingelaufen."

Das erklärte also das dumpfe Geräusch...

"...Und dann hab ich den Wagen erst erkannt. Hab mich noch hinten am Nummernschild vergewissert. Und ich hab mich gefragt, was Dein Auto denn hier zu suchen hat. Hier! Wo Du es doch erst seit kurzem hast!"

Mamoru kratzte sich am Kopf. "Wieso gehst Du überhaupt im Stockfinstren nach Deinem Wolf suchen, ohne Taschenlampe?"

"Ich..." Sie stockte kurz. "Ist ne blöde Geschichte. Sie ist mir runtergefallen und wohl an einem Felsen zerschellt. Ach, ist nicht so wichtig. Ich kann genügend sehen."

"Ja, das merk ich." Mamoru zog eine Grimasse. "Wehe ich entdecke morgen eine Beule in meinem Wagen."

Doch dann seufzte er nur wieder und schwieg. Ihm war in seiner Situation nicht besonders nach Scherzen.

Elyzabeth legte den Kopf schief. "Ist irgendwas?"

Sie zog sich am Wagen hoch, kletterte auf den Beifahrersitz, ließ aber noch die Tür offen stehen, damit das Licht nicht ausging.

"Irgendwie..." Sie sah ihn fragend an. Auch Besorgnis lag in ihrem Blick. "...wirkst Du anders. Stimmt etwas nicht? Ich hab das Gefühl, als ob was wäre..."

Mamoru schnaubte und lächelte bitter. "Merkt man es so leicht?"

Elyzabeth überlegte kurz, ehe sie antwortete. "Nein, leicht ist das nicht. Das war es nie. Du hast Dich und Deine Gefühle immer schon sehr unter Kontrolle halten können. Aber ich bin nun mal... Ich bin sensibel für so etwas."

Sie hatte etwas ganz anderes sagen wollen. Das merkte Mamoru. Wieso hatte sie ihren Satz nicht zu Ende gebracht?

"Schon immer?", fragte er nach und lachte humorlos auf. "Das klingt schon fast so, als ob Du mich seit Ewigkeiten kennen würdest..."

"Unsinn", tat sie es ab. Sie schüttelte entschieden den Kopf. "Aber ich kenne Dich einfach schon lange genug."

Und da änderte sich etwas in ihrer Stimme. Sie wurde mit einem Mal weicher, vorsichtiger. Leiser. Vielleicht auch sorgenvoller.

"Willst Du mir erzählen, was passiert ist?"

Er rang sichtlich mit sich. Zehn, fünfzehn, schließlich zwanzig schweigsame Sekunden lang. Dann senkte er den Blick.

"Eigentlich nicht wirklich. Es ... es gab Streit. Mit Tante Kioku. Ich kann es Dir nicht erklären. Ich habe es selbst noch nicht ganz verstanden."

Elyzabeth nickte. "Ich verstehe schon. Ist okay."

Dann grinste sie leicht.

"Was kann ich also tun, um Deine Gedanken ein wenig abzulenken?"

Nachdenklich sah er in ihre Richtung. Dann legte sich ein sanftes, dankbares Lächeln auf seine Lippen, als er erwiderte:

"Wenn Du mir einen Gefallen tun willst, dann ... könntest Du mit mir zusammen in die Sterne schauen!"

"In die Sterne schauen?"

"Ja! ...Willst Du?"

"Nun ... warum auch nicht? Einverstanden."

Mit einem "Super!" drehte sich Mamoru nach hinten und schnappte sich eine dicke Wolldecke von einem der Rücksitze. Dann öffnete er die Tür und stieg aus.

Etwas verdutzt beobachtete Elly ihn dabei. Dann stieg auch sie aus und sah sich mit an, was Mamoru mit der Decke vorhatte. Er löste die Seile, mit denen eine große Abdeckplane an der Ladefläche des Pritschenwagens befestigt war. Er schlug die Plane zurück, rollte sie sorgfältig zusammen und legte sie neben den Wagen. Als nächstes öffnete er den Verschluss der hinteren der Klappen, welche die Ladefläche umzäunten, und ließ die metallene Wand einfach an ihrem Scharnier herunterhängen. Zu guter letzt ergriff er wieder die Decke, die er aus der Fahrerkabine mitgenommen hatte, und breitete sie als weiche Unterlage über der Ladefläche aus. Danach stieg er kurz zurück hinters Lenkrad, schaltete die Innenbeleuchtung ganz aus, machte dafür das Radio an, stellte es laut und hüpfte wieder aus dem Wagen, wobei er die beiden Türen sperrangelweit offen stehen ließ. Er grinste zufrieden.

"Das nenne ich ein passendes Ambiente."

Elly nickte ihm anerkennend zu.

"Wirklich erstaunlich... Großartige Ideen hast Du!"

Damit kletterte sie auf die Ladefläche, setzte ihren Cowboyhut ab und hockte sich gemütlich hin. Mamoru stieg zu ihr. Das Grinsen war allerdings schon lang wieder aus seinem Gesicht entwichen. Er legte sich hin und ließ die Füße über die Ladefläche hinaus baumeln. Seine Arme verschränkte er hinter dem Nacken. So starrte er in den so unglaublich weiten, funkelnden Nachthimmel. Die Luft war für diese Uhrzeit immer noch erstaunlich warm.

Lange Zeit herrschte Schweigen zwischen den beiden. Jeder von ihnen genoss auf seine Weise die Pracht der Sterne. Jedes Wort wäre dabei unangebracht gewesen. Doch gerade, als Mamorus Gedanken wieder zu seiner Tante zurückwandern wollten, sagte Elly:

"Du hast vorhin wieder Deine Spieluhr gehört, hab ich Recht?"

Der Herr der Erde antwortete ihr nicht darauf, doch er löste einen seiner Arme aus seinem Nacken und legte die Hand auf die Spieluhr auf seiner Brust. Er hatte sie zwar vorhin geschlossen, doch hatte er im Eifer des Gefechts vergessen, sie auch unter seinem Hemd zu verstauen, wie er es sonst zu tun gewohnt war. Anscheinend lief heute gar nichts nach seinem Verstand.

Wie er so die goldene Spieluhr in der Hand hielt, spielten seine Finger unbewusst weiter an der Halskette herum und brachten irgendwann auch den Ehering seiner Mutter zum Vorschein, der bis zu diesem Zeitpunkt noch wohlverwahrt unter seinem Hemd gewesen war. Er strich sanft mit den Fingerspitzen über das fein verarbeitete Silber und seufzte schwer. Er musste sich endgültig von seinen finsteren Gedanken um seine Tante loslösen, und dafür fiel ihm im Augenblick nur ein probates Mittel ein: Er musste den Teufel mit Beelzebub austreiben.

"Sag mal ... Du hast mich doch vor ein paar Stunden nach diesem Ring gefragt..."

Elyzabeth nickte ihm stumm zu.

Mamoru zögerte noch eine Sekunde. Dann stellte er die Frage:

"Möchtest Du immer noch wissen, was es damit auf sich hat?"

"Aber natürlich! ...Das heißt, wenn es Dir nicht zu unangenehm ist..."

Sie brach ihren Satz zögerlich ab.

Mamoru schüttelte nur mit einem leichten, schmerzerfüllten Lächeln den Kopf.

"Ich habe es Dir hiermit ja immerhin angeboten", erklärte er. Dann begann er zu erzählen.
 

Der kleine Junge drückte seine Nase an der Wagenscheibe platt, als er nach draußen sah und die Welt in hohem Tempo an ihm vorbei zischte. Unglaublich viele Sterne funkelten ihm vom Himmel entgegen. Sie strahlten umso heller, da der Mond bis jetzt noch nicht aufgegangen war. Nicht eine einzige Wolke bedeckte den Himmel. Und der Wagen mit seinen drei Insassen war so weit von jeder Stadt entfernt, dass keine Straßenlaterne, keine Leuchtreklame, kein hell erleuchtetes Haus und keine fremden Autoscheinwerfer die gewaltige Pracht am Himmel stören konnten.

Gewöhnlich war der kleine Junge um diese späte Uhrzeit längst im Bett. Heute aber nicht. Heute war ein besonderer Tag...

Seine Nase und seine beiden kleinen Händchen waren fest gegen die Scheibe gepresst und hinterließen unschöne, schmierige Spuren. Sein Atem schlug sich als matte, glänzende Tröpfchenschicht auf dem Glas nieder. Seine Eltern sahen das für gewöhnlich nicht gerne, aber heute genoss der Junge ausnahmsweise mal schwach eingeschränkte Narrenfreiheit.

Die Frau, die vorne links auf dem Beifahrersitz saß, drehte sich halb um und warf einen kurzen, prüfenden Blick auf ihren Sohn.

"Mamoru?"

Fast schon widerwillig trennte der Junge sich von der Scheibe – wobei seine Händchen allerdings schön brav an ihrem Platz mitten auf dem Glas blieben – und drehte sich der Frau zu.

"Ja?"

Megami musste schmunzeln. Sie hatte in der Erziehung ihres Sohnes viel Wert darauf gelegt, dass er nicht unnötig alles voll mit Fingerabdrücken machte, wo man es besonders gut sah. Wie eben auf der glatten Fläche des Glases. Doch als sie sah, wie viel Freude er doch daran hatte, sich ausnahmsweise mal so auszutoben, da lachte sie innerlich mit ihm. Diese besondere, fürsorgliche Wärme lag in ihrem Blick, wie sie nur den Müttern dieser Welt vorbehalten war.

"Hat Dir der Tag heute Spaß gemacht?"

Der kleine Mamoru nickte heftig. Seine Augen leuchteten regelrecht vor Glück auf.

"Das war ganz toll heut!", rief er begeistert aus.

"Fein", antwortete seine Mutter lächelnd. "Ich freue mich, wenn es Dir gefallen hat."

"Wann machen wir so einen Ausflug noch mal?", fragte der Junge. Der Enthusiasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Megami lachte leise ehe sie antwortete:

"Wahrscheinlich nicht wieder, bevor das nächste Jahr rum ist, mein kleiner Schatz."

"Oooooch, das dauert aber so lang!", kam eine demonstrativ motzende Stimme vom Rücksitz.

Nun war es Keibi, der lachte.

"So einen Tag erlebt man nun mal nicht öfters. Tut mir Leid, Sohnemann", meinte er schließlich mit einem Grinsen.

"Aber ich kann doch ab jetzt länger nachts wach bleiben, gell? Gell? Ich bin doch schon sechs!" Mamoru rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. Er war noch kein bisschen müde, obwohl es nicht mehr lang war bis Mitternacht.

Seine Eltern lachten.

"Das...", so antwortete Megami endlich, "...müssen wir uns noch überlegen. Aber mach Dir lieber keine großen Hoffnungen."

"Das ist unfair...", greinte der Sechsjährige. Aber er gab sich ziemlich schnell geschlagen. Er wusste, dass ihn ein Dickschädel jetzt so oder so nicht weiter bringen konnte. Schnell hatte er die Nase wieder gegen die Scheibe gedrückt – als befürchte er, seine ultimative Freiheit würde auf die Sekunde genau um Mitternacht ablaufen und er müsse die Zeit noch ausnutzen. Doch in dieser Pose verharrte er nur einen kurzen Augenblick. Dann rutschte er, soweit es eben ging, zur vorderen Kante seines Sitzes und lehnte sich seinem Vater etwas entgegen.

"Du, Papa? Fährst Du mal gaaaaanz schnell?"

"Das halte ich für keine gute Idee", mahnte Keibi, doch das glückliche – ja, stolze – Grinsen wich nicht aus seinen Gesichtszügen. "Verkehrsvorschriften sind dazu da, dass man sich an sie hält."

"Ich dachte, Regeln sind dazu da, um gebrochen zu werden?", feixte der Kleine von hinten.

Noch ehe sein Vater auch nur einen Piepton von sich geben konnte, mischte Megami sich ein:

"Das hat er nicht von mir."

Keibi seufzte theatralisch.

"Ich wusste, dass Du das jetzt sagen würdest, Spatz", witzelte er gut gelaunt.

Da meldete sich auch schon wieder Junior von der Rückbank:

"Och, komm schon! Bitte, bitte! Nur etwas schneller fahren, ja? ...Wenn ich es mir doch so sehr wünsche!"

Das Grinsen auf dem Gesicht seines Vaters wurde noch etwas breiter.

"Gut festhalten!", war alles, was er noch sagte, ehe er einen Gang runter schaltete und den Motor aufheulen ließ.

"Super!", freute sich Mamoru. Er lachte vergnügt. "Schneller! Noch schneller! Hol alles aus der Kiste raus!"

"Das...", so begann Megami, doch ihr Mann führte ihren Satz zu Ende:

"...hat er auch nicht von Dir. Ich weiß, Spatz."

Doch anstatt ernsthaft <alles aus der Kiste raus zu holen>, wie sein Sohn es ausgedrückt hatte, fuhr er nur gute vierzig Stundenkilometer schneller, als erlaubt war, und das auch nur über eine gut übersichtliche Strecke hinweg. Doch das alleine reichte schon, um Mamoru vergnügt aufquietschen zu lassen. Er lachte begeistert und genoss es, wie die Beschleunigung ihn in den Sitz drückte.

Als sein Vater wieder auf angemessene Geschwindigkeiten verlangsamte, gab der Kleine zwar ein kurzes, unwilliges, enttäuscht klingendes Geräusch von sich, aber als er sich in der dunklen Umgebung umsah, da wünschte er sich im Stillen fast schon, sein Vater würde noch etwas langsamer fahren. Wenn er seinen Kopf nach links wandte, quer durch das Auto hindurch sah und nach draußen schaute, dann erkannte er die zerklüftete, um mehrere Meter senkrecht emporragende Felsmauer. Und zur rechten Seite aus dem Wagen gesehen erkannte er zuerst die Gegenfahrbahn, dann eine Reihe von niedrigen, steinernen Pfosten, die optisch die Fahrbahn abgrenzten, wo einige Schilder standen, deren Bedeutung er nur erahnen konnte, und dann kam erst einmal eine ganze Menge Nichts. Genauso steil, wie die Felswand zu seiner Linken in den Himmel ragte, so fiel sie zu seiner Rechten auch ab. Sie fuhren zwar nicht schnell, aber stetig den Berg hinauf, und je höher sie kamen, umso kleiner wirkten die Bäume, die er unten im Tal in weiter Ferne erkennen konnte. Mamoru schluckte schwer. In dieser Höhe wurde ihm mulmig, wenn er weiter zu seinem Fenster raus in den Abgrund blickte. Und so richtete er lieber seinen Blick am Fahrersitz vor ihm vorbei und schaute aufmerksam zur Windschutzscheibe nach draußen, wo die Scheinwerfer des Wagens zumindest die nähere Umgebung erhellten und die Schatten der Felswand nicht mehr so bedrohlich wirken ließen, wie das in der absoluten Dunkelheit der Fall war.

Einige Minuten folgten sie so der sich in engen Kurven um das Felsmassiv windenden Straße. Mal ging es bergauf, mal bergab; mal war die Straße etwas breiter ausgebaut, und mal weniger. Der Wagen schlängelte sich über so einige Serpentinen hinweg und durch Höhlen hindurch.

"Alles klar, da hinten?" Keibi warf einen Blick in den Rückspiegel und sah seinen Sohn prüfend an. "Es ist so unheimlich still bei Dir..."

Mamoru lächelte schwach und machte eine nichtssagende Bewegung mit dem Kopf, die kein Ja und auch kein Nein war.

"Alles in Ordnung. Es ist bloß..." Er schaute etwas unbehaglich zum Fenster raus. "...es geht hier bloß so tief runter..."

Keibi setzte ein warmes, beruhigendes Lächeln auf, auch wenn Mamoru das von seiner Position aus nicht sehen konnte.

"Mach Dir mal keine Sorgen, kleiner Mann. Dir passiert schon nichts. Das könnte ich niemals zulassen! Ich fahre immer schön ordentlich!"

"Ich weiß, aber..."

Mamoru ließ seinen Satz unvollendet. Doch sein Gesichtsausdruck sprach Bände.

Keibi lachte daraufhin leise.

"Du brauchst Dir wirklich keine Gedanken machen. Ich werde Dich schon vor allen Gefahren, die es gibt, bewahren. Dafür bin ich da! Ich bin immerhin ein Superpapa! Der mächtigste und stärkste Papa des Universums! Ich verspreche Dir, dass ich Dich immer beschützen werde. Und Du weißt, Versprechen..."

"...muss man halten", vervollständigte der Junge den Satz. "Ich weiß. Und Du hast Dich immer daran gehalten. ...Also schön..."

Er atmete beruhigt auf und lehnte sich in seinen Sitz zurück.

Das Auto folgte der sanften Abwärtsbewegung der Straße. Vor ihnen lag eine enge Linkskurve, deren Ende hinter der steil aufragenden Felswand verschwand. Keibi verminderte die Geschwindigkeit schon weit vor der Kurve. Gehorsam folgte der Wagen den Bewegungen, die sein Fahrer ihm vorgab. Je weiter sie in die Kurve einfuhren, umso mehr wurde sie Sicht frei für die nächsten Meter, die vor ihnen lagen ... und für das große Etwas, das mitten auf der Straße auftauchte. Es war genauso dunkel wie der Rest der Nacht, und viel größer als ein Mensch. Vielleicht ein Bär, der aus einem Zoo ausgebrochen war, oder womöglich auch ein Fels, der sich aus der steilen Wand über der Straße herausgelöst hatte. Gleichwohl, die Scheinwerfer des Wagens beleuchteten es für den kurzen Zeitraum von weniger als einer Sekunde. Das war nämlich genau die Zeit, die Keibi brauchte, um zu realisieren, dass ihm etwas den Weg versperrte. Ein entsetztes Keuchen drang aus seiner Kehle, seine Hand presste sich rein instinktiv auf die Hupe, dann verriss er das Steuer.

Leider verriss er es in die falsche Richtung.

Der Wagen schleuderte herum und rutschte mit quietschenden Reifen quer über die Fahrbahn. Keibi stieg mit aller Macht auf die Bremsen, als ihm der Abgrund regelrecht entgegensprang.

Doch es war zu spät.

Die niedrigen, steinernen Pfeiler, welche die Fahrbahn begrenzten, vermochten den Wagen nicht mehr zu stoppen. Der Pfosten, der vom Auto gerammt wurde, zerbarst einfach unter der ungeheuren Wucht des Aufpralls und stürzte mit dem Fahrzeug in die Tiefe. Hartplastik und Glas splitterten. Der Motor heulte gequält auf, als die Reifen ins Leere griffen. Schließlich senkte sich der ganze Wagen, mit den Scheinwerfern voraus, der Bodenlosigkeit entgegen.

Mamoru spürte den harten Ruck, als der Felspfosten aus seiner Verankerung gerissen und einfach mitten in der Luft zerfetzt wurde.

Dann...

Freier Fall...

Das unangenehme Gefühl der Schwerelosigkeit...

Meter um Meter legte der Wagen in seinem Fall nach unten zurück. Er drehte sich im Sturz, als wolle er sich unbedingt mit der Kühlerhaube zuerst in das Erdreich weit unter ihm bohren. In wahnsinniger Geschwindigkeit raste der Boden auf die Insassen des Fahrzeugs zu. Und trotz der hohen Geschwindigkeit schien es Mamoru so, als könne er in Zeitlupe schauen, so genau sah er jedes einzelne Detail unter und vor ihm. Als wolle ihm die Zeit selbst einen Streich spielen und ihn jede einzelne Sekunde seines nahenden Todes aufzeigen. Die Beschleunigung war aber tatsächlich so groß, dass sie ihn in seinen Sitz presste und ihm die Luft aus den Lungen trieb. Keiner der drei Menschen war dazu in der Lage, zu schreien. Lautlos, fast schon friedlich, als wäre jedwede Normalität aus der Szenerie gewichen, näherte sich das Auto mit der zerbeulten Stoßstange dem Grund unter sich. Genau auf den sanft auslaufenden, grasbewachsenen Hügel zu. Und für die kurze Zeit zwischen dem Ende des Sturzes und dem Aufprall verlor Mamoru dann das Bewusstsein. Weil sein Gehirn sich nicht selbst dabei beobachten wollte, wie es starb. Es konnte die grausame Wahrheit des Sterbens einfach nicht ertragen.

Die Motorhaube schoss wie eine Kanonenkugel in die lockere Erde hinein. Das Schutzblech gab unangenehm kreischende Laute von sich, als es völlig zusammengestaucht und verrissen wurde.

Während sich die Nase des Fahrzeuges noch tief in den Boden rammte und so eine unfreiwillige Bremsung erfuhr, schleuderte das Heck noch durch die Gegend. Es riss den gesamten Wagen noch einmal in die Höhe, ließ ihn für wenige Sekunden in einer schier unmöglich anmaßenden Position senkrecht in der Luft stehen und verlagerte schließlich doch noch sein Gewicht, sodass das Auto haltlos auf die rechte Seite kippte, den Hügel hinunter schlitterte, und schräg, halbwegs auf der Seite liegend, halbwegs auf seinem Unterboden stehend, im Erdreich stecken blieb. Das Dach war eingedellt, die Kühlerhaube auf einen Bruchteil ihrer ehemaligen Länge zusammengestaucht, die Windschutzscheibe gesplittert, und beinahe die komplette rechte Seite zerknittert und eingeknickt. Staub wirbelte auf und lose Steine regneten vom Himmel herab. Dann legte sich eine unheimliche, endgültige Stille über den Platz.

Auch innerhalb des Wracks war es einige Momente sehr still. Doch irgendwann – nach Ewigkeiten, wie es schien – regte sich etwas. Träge hob Mamoru seine Augenlider. Er war verwirrt. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er sich wieder in seiner Umgebung zurecht fand. Blut rann über seine Stirn in seine Augen und verklebte ihm die Sicht. Zitternd und langsam hob er seinen linken Arm und versuchte sich irgendwo abzustützen und sich aufzurichten. Doch er kam nicht weit. Etwas hielt ihn fest. Er drehte verwundert den Kopf und fand seinen rechten Unterarm im Überrest der halb aufgerissenen Türe eingeklemmt. Das Metall fraß seine scharfen Kanten von zwei Seiten her in das Fleisch und ließ es nicht mehr los. Alles unterhalb der Wunde war blutverschmiert und fühlte sich so unwirklich und taub an. Wie der Rest von seinem Körper.

Wie es nur diesen besonderen, lebensbedrohlichen Situationen zueigen war, ließ der Schock ihn keinen Schmerz und keine Gefühlsregung spüren. Ein seltsames Geräusch fuhr durch seine Ohren, das sich wie das laute Rauschen eines großen Wasserfalles anhörte, aber in Wahrheit nur in seinem Kopf existierte. Er fühlte sich nur noch müde und schwer. Dass er gerade eine ganze Menge Blut verlor war ihm regelrecht egal. Es fühlte sich bloß unangenehm ... kalt an.

"Papa?", flüsterte er. Es fiel ihm schwer, seine Zunge richtig zu bewegen, so matt und kraftlos fühlte er sich. Um seinen Kopf drehte sich alles. "Papa? Ich brauche Dich... Ich komme hier nicht mehr los. Papa?"

Er bekam keine Antwort.

So weit er nur konnte lehnte er sich zur linken Seite und versuchte, um den breiten Fahrersitz herum zu sehen. Viel sah er nicht. Doch was er sah, war Blut. Unglaublich viel Blut. Sein Vater lehnte über dem zerbeulten und halb herausgerissenen Lenkrad. Sein Arm, der halbwegs durch ein Loch in der Windschutzscheibe herauslehnte, verdeckte Mamoru die Sicht auf die tiefe Wunde in seinem Schädel. Wäre das Blut nicht gewesen – er hätte ausgesehen, als würde er nur tief schlafen.

Mamorus Blick wanderte weiter. Seine Mutter hing in dem schief eingekeilten Fahrzeug halbwegs seitlich über der Lehne. Ihr Kopf baumelte haltlos herum. Fast wie bei einer Puppe, die man achtlos in eine Ecke geworfen hatte. Auch ihr Gesicht war von einem breiten Rinnsal Blut verschmiert. Ihre Augen waren geschlossen.

"Mama?" Ein leichtes Zittern überkam Mamoru. Eine weitere Nebenwirkung des Schocks. Er hatte seine Muskulatur einfach nicht mehr unter Kontrolle. Doch selbst wenn, dann hätte es keinen Unterschied gemacht. Er wollte – er konnte nicht begreifen, was hier geschah.

"Mama?" Er versuchte es immer wieder. "Mama!"

Da auf einmal eine Regung. Ein sanftes Stöhnen glitt über ihre Lippen. Müde und unendlich langsam hob sie ihre Augenlider. Ihr Blick war leer und richtete sich auf einen scheinbar unendlich weit entfernten Punkt.

"Mama!"

Der kleine Junge streckte sich so gut es ihm möglich war. Doch es reichte ihm nicht. Sein kurzes Ärmchen verfehlte ihr Gesicht um wenige Zentimeter.

Allmählich kam immer mehr Bewegung in ihren Körper. Ihr Blick klärte sich. Sie erkannte ihren Jungen, und ein heller Funke erwachte in ihren Augen.

"Mamoru", wisperte sie kraftlos.

Sie versuchte, ihren Arm aus dem Wirrwarr des Sicherheitsgurtes zu lösen. Erst nach dem vierten Versuch gelang es ihr. Unter leisem Ächzen hob sie ihren Arm und hielt ihn ihrem Sohn entgegen. Ihre Fingerkuppen streichelten zärtlich über seine Wangen. Sie lächelte sanft.

"Mama", sagte der Kleine, "warum antwortet Papa mir nicht?"

Ein leises Stöhnen drang wieder über ihre Lippen. Es konnte auch ein Schluchzen gewesen sein.

"Er ... schläft sehr tief."

Sie musste gar nicht erst in seine Richtung sehen, um das zu wissen. Zu viel Blut tropfte unablässig von der zerschundenen Decke des ehemaligen Fahrzeugs.

"Weck ihn auf! Bitte..."

Sie schüttelte langsam den Kopf.

"Das kann ich nicht. Das kann niemand mehr. ...Mamoru, hör mir gut zu. Was ich ... Dir sage ist ... unheimlich wichtig..."

Mit eisernem Willen hielt sie ihre Hand an seiner Wange. Er legte die Finger seines freien Armes darüber.

"Ja?"

Megami hatte Mühe, zu sprechen. Sie keuchte dabei. Ein deutlich schmerzhafter Ausdruck verzerrte ihr Gesicht zu einer Maske aus Pein und Kummer.

"Du musst ... leben, verstehst Du? Dein ... Vater und ich, wir lieben ... Dich mehr als alles auf dieser Welt. Das darfst Du ... nie vergessen, hörst Du? Vergiss es ... niemals. Wir haben Dir ... das Leben geschenkt, damit ... Du glücklich wirst. Du wirst groß und ... stark werden und Dir all Deine Träume erfüllen, versprichst Du mir das? Bitte, Du musst ... es mir versprechen!"

"Ich ... ich...", stammelte er verwirrt. Sein Verstand war bereits zu vernebelt, um noch begreifen zu können.

"Mamoru...", begann Megami. Ihr Körper raffte sich auf und sammelte nochmals alle Energien, die er noch aufbringen konnte. Eine unglaubliche Klarheit strahlte in ihren Augen auf. Sie starb, und sie wusste es.

"...mein kleiner Schatz ... denke immer daran, dass es wichtig ist, niemals aufzugeben! Du bist etwas ganz Besonderes. Ich kann es mir selbst nicht erklären, aber ich spüre, dass Großes in Dir lebt! Und ich weiß, dass Du es noch weit bringen wirst. Du wirst leben und Du wirst glücklich sein. Vielleicht wird es nicht immer ganz leicht werden, aber Du musst Dich daran erinnern, dass Dein Vater und ich immer in Deinen Träumen bei Dir sein werden!"

Er schüttelte verständnislos den Kopf.

"Was redest Du da? Du wirst doch dabei sein, wie ich erwachsen werde! Du darfst doch nicht weg gehen ... Du darfst ... mich doch nicht alleine lassen!"

Tränen bildeten sich in seinen großen, dunkelblauen Kulleraugen.

"Es tut mir Leid, Mamoru", wisperte Megami. Sie fand in sich einfach keine weitere Kraft mehr. Sie biss tapfer die Zähne zusammen und zwang sich zu einem Lächeln. Und trotz der Pein, die darin lag, waren ihre Augen immer noch voller tief empfundener Liebe, Wärme und Fürsorge.

Sie zog in unsicheren Bewegungen ihren Arm zurück, schloss die Finger ihrer anderen Hand darum und löste ihren Ehering vom Finger. Sie reichte ihrem Sohn das Schmuckstück und erklärte:

"Nimm das. Eines Tages wirst Du ... ein Mädchen treffen, das Du ... wirklich sehr lieb hast. Und ich hätte gerne, dass Du ihr dann diesen ... Ring überstreifst."

Verständnislos blickte Mamoru sie einige Sekunden lang an. Dann nahm er den Ring entgegen und steckte ihn in seine Hosentasche. Er streckte dann wieder seinen Arm aus, um sanft ihre Hand zu berühren.

Megami lächelte stolz. Tränen stiegen ihr in die Augen. Leise keuchte sie auf. Dann wisperte sie tonlos weiter:

"Es wird Zeit für mich. Ich muss jetzt ... auch schlafen, Mamoru. Ich bin sehr, sehr müde. Später einmal, eines schönen Tages, sehen wir uns in einem langen, wunderbaren Traum wieder. Aber bis dahin musst Du Dich noch gedulden. Ich ... wir beide werden auf Dich warten! Sei stark! Ich liebe Dich, Mamoru, ich liebe Dich! Du warst das Beste und Schönste, was mir jemals ... passiert ist..."

Sie zog keuchend ihren Arm wieder zurück. Ein letztes Mal nickte sie ihm aufmunternd lächelnd zu. Dann hob sie ihren Oberkörper in einer letzten Kraftanstrengung an. Sie drehte sich herum, sodass ihr Sohn nur noch ihren Rücken sehen konnte. Sie presste sich gegen ihren Sitz. Und dann tat auch sie ihren letzten Atemzug.

Reglos verharrend starrte Mamoru sie an. Noch immer weigerte sich sein Verstand, das, was er sah, als die Wahrheit zu akzeptieren.

"Mama?", fragte er leise. "Du ... tust nur so, gell? Komm, hör schon auf damit! ...Bitte... Bitte, Mama, bitte! Dreh Dich wieder zu mir herum, ja? Tu mir das doch nicht an... BITTE... MAMA!"

Er schrie aus Leibeskräften nach ihr. Doch vergeblich. Er brüllte nach seinem Vater; ballte seine Hand zur Faust und drosch wie wild auf die Rückseite des Fahrersitzes vor ihm ein; trat dagegen. Doch alles, was er erreichte, war, dass sich das Metall nur noch tiefer in seinen rechten Arm fraß. Bald resignierte er. Er keuchte schwer vor Anstrengung und lehnte nur noch seinen Kopf gegen die halbwegs geborstene Fensterscheibe neben sich. Die Tränen rollten noch immer aus seinen Augen und über die Wangen, wo sie schmierige, nasse Streifen inmitten des langsam eintrocknenden, dunkelroten Blutes hinterließen. Irgendwann schloss er seufzend seine Augen. Vielleicht schlief er nur ein, vielleicht war es aber auch eine kurze Ohnmacht, die ihn überkam. Er wusste nur, dass sich etwas verändert hatte, als er wieder erwachte. Als er den Kopf wandte und sich umsah, bemerkte er schlagartig, dass es weit mehr als nur eine Veränderung gab. Er befand sich nicht mehr im Auto, sondern auf einer Tragbare daneben. Blitzende Lichter von Krankenwagen und Feuerwehrautos durchzogen die Nacht. Ein wildes Chaos herrschte, in dem Rettungskräfte wild durcheinander wuselten, Werkzeuge und Verbandkästen hin und her trugen oder einige der vielen Leute etwas auf Papierblöcke kritzelten. Das Auto stand etwas abseits von Mamoru. Man hatte es inzwischen aus seiner irdenen Klammer befreit und an allen Ecken und Enden aufgeschnitten. Es hatte jetzt sehr viel mehr Ähnlichkeit mit einem bizarren Puzzle oder mit einem modernen Kunstwerk, als mit einem Wagen.

Einige Meter weiter weg von sich fand Mamoru zwei weitere Tragbahren auf dem Boden liegen. Es lagen Menschen darauf, aber er konnte sie nicht sehen. Die Körper waren vollständig von Tüchern verhüllt. Ein Wagen wurde gerade rückwärts zu ihnen gefahren, wohl um sie dort aufzuladen. Das war nicht ganz einfach, weil das Auto Schwierigkeiten hatte, durch die herumwuselnden Menschen, die Wrackteile, den aufgewühlten Boden und die außen herum angelegten Ackerböden zu manövrieren, ohne stecken zu bleiben oder gar noch mehr Schaden dabei anzurichten. Es wirkte schon beinahe unfreiwillig komisch. Aber eben nur beinahe.

Doch so sehr sich Mamoru umblickte, seine Eltern fand er nicht.

"Hey, Kleiner!", tönte die Stimme eines jungen Mannes hinter ihm. "Da passe ich mal eine Sekunde nicht auf, und dann bist Du schon wach... Unglaublich. Wie fühlst Du Dich?"

Mamoru wandte verwirrt den Kopf. Der Mann, der gesprochen hatte, trug einen weißen Arztkittel. Er hatte sich gerade an einem Köfferchen zu schaffen gemacht, das hinter ihm auf dem Boden stand. Er hielt etwas in der Hand, aber Mamoru war noch zu benebelt, um es genauer erkennen zu können. Noch dazu war seine Verwirrung zu groß, als dass er gewusst hätte, was er hätte antworten können. So blieb er stumm und starrte den Fremden nur fragend an.

"Kannst Du mir Deinen Namen sagen?", fragte der Herr. Doch auch das blieb ihm unbeantwortet.

"Was ist los – hast Du Schmerzen?"

Doch Mamoru verlor schlicht und ergreifend das Interesse an dem Gespräch. Alles, was er registrierte, war die allgemeine Aufregung um ihn herum ... und das langsam anschwellende, schmerzhafte Pochen, dass er in all seinen Gliedern verspürte. Er sah an sich herab. Sein rechter Arm war einbandagiert. Auch über seiner Stirn trug er einen Verband. Einige Pflaster klebten ihm noch im Gesicht und an den Armen. Vielleicht war da noch mehr, aber er verlor wieder zu schnell das Interesse daran, als dass es ihn gestört hätte. Nur eines fiel ihm noch auf: die Infusionsflasche, deren Kanüle ihm im linken Ellenbogengelenk steckte.

Der Arzt, der bei ihm war, hatte sich wohl inzwischen seine eigenen Gedanken gemacht über den Zustand des Jungen. Er hob seinen Arm. Nun erkannte Mamoru auch, was er dort in der Hand hielt: eine Spritze. Der Mann führte sie in ein kleines Seitenröhrchen ein, das die Verzweigung des dünnen Plastikschlauches war, der Infusionsflasche und Kanüle mit einander verband. Die Substanz aus der Spritze vermischte sich mit der Flüssigkeit, die dem Jungen aus der durchsichtigen Plastiktasche heraus verabreicht wurde.

Der Mann in dem weißen Kittel lächelte beruhigend.

"Es ist besser, wenn Du jetzt schläfst. Ruh Dich aus..."

Mamoru sah ihn wieder mit seinem verständnislosen Blick an. Dann weiteten sich seine Augen in purem Entsetzen. Als wolle er mit seinem Blick signalisieren <nein, bitte nicht schlafen! Ich will nicht einschlafen ... wie sie!>

Doch da war es schon zu spät.

Mamoru unterlag schon sehr bald im Kampf gegen seine Müdigkeit. Kurz bevor sein Geist endgültig im Reich der Träume verschwand, warf er noch einen letzten Blick auf die beiden Tragbahren, die ihm vorhin schon aufgefallen waren. Sie wurden gerade in ihren Transportwagen verladen. Dabei verrutschte eines der weißen Tücher, die eigentlich dazu da waren, die darunter liegenden Körper vor unerwünschten, fremden Blicken zu schützen. Ein schwarzer, blutverschmierter Haarschopf kam zum Vorschein. Dann die Stirn und die Augenpartie. Dann noch ein weiterer, winziger Teil des Gesichtes. Und ein tiefes Loch, das im Kopf seines Vaters prangte.

Und genau dieser Zufall war wie ein unhörbares, aber mächtiges Kommando für Mamorus Gehirn.

Sein Verstand tat daraufhin das Einzige, wozu er noch in der Lage war, um sich selbst zu schützen: Er löschte die Erinnerungen...

ALLE!

Er ließ nur noch einzelne Eindrücke und Impressionen zu.

Einzelne Bilder.

Wortfetzen.

Verzerrte Geräusche.

Die warme Augustluft.

Das beeindruckende Bild des aufgehenden Halbmondes, der nah am Horizont stand und doppelt so groß wie sonst wirkte.

Das unbestimmte Gefühl, unendlich einsam und verloren zu sein...

...

Schließlich war es endgültig vorbei.

Ein letztes Mal verlor er das Bewusstsein...

...Nur, um am einsamsten Ort der Welt aufzuwachen...

...in einem Krankenhaus...

Als er zum ersten Mal die Augen aufschlug, da glaubte er zu aller erst, er sei doch gestorben und im Himmel. Alles um ihn war so hell, so weiß, und es wirkte so unglaublich weit weg. Erst, als sich sein Blick schärfer einstellte, bemerkte er, dass dieses Licht hier nicht voller Wärme und Liebe war, wie man immer behauptete, sondern es wirkte eher kalt und abweisend. Es brannte unangenehm in den Augen und blendete. Außerdem war der Schmerz in seinem rechten Arm schlimmer geworden. Noch nicht so schlimm, wie man es vielleicht eigentlich erwartet hätte, aber das lag wohl an der Flüssigkeit, die ihm auch jetzt noch intravenös verabreicht wurde, und die höchstwahrscheinlich unter anderem ein Schmerzmittel enthielt. Das Bett war viel zu riesig für einen Sechsjährigen, und es war hart und unbequem. Der ganze Raum war viel zu groß, und er wirkte umso größer, da er beinahe leer war. Das Bett, in dem Mamoru lag, ein breites Fenster, ein Tisch mit drei Stühlen und an einer Wand ein mit einer Gardine verhängter Durchgang zu einem kleinen Waschraum. Alles wirkte nur kahl und trostlos. Man konnte es als richtiggehend lebensfeindlich bezeichnen.

Eine männliche, tiefe Stimme drang an sein Ohr:

"...konnten wir nicht feststellen. Die Jungs von der Verwaltung recherchieren noch. Aber es sieht so aus, als sei der Kleine vollkommen allein."

Eine weibliche Stimme: "Keine Verwandten? GAR keine?"

Die männliche Stimme: "Zumindest wird noch weiter gesucht..."

Eine andere weibliche Stimme: "Herr Doktor, er kommt zu Bewusstsein!"

Mamoru hatte den Kopf gedreht, um feststellen zu können, woher diese fremden Stimmen kamen. Den hochgewachsenen Arzt mit den silbergrauen Haaren und die beiden Krankenschwestern hatte er gar nicht gesehen. Ihre weißen Kittel waren wie Tarnumhänge in dieser bleichen Umgebung. Sie alle drei kamen näher, bauten sich um sein Bett auf und sahen ihn einen kurzen Moment prüfend an. Dann setzte der Doktor ein professionell antrainiertes Lächeln auf und setzte sich vorsichtig auf die äußerste Bettkante. Nicht, dass das nötig gewesen wäre. Das Bett hätte ausgereicht, um drei Mamorus Platz zu bieten.

"Guten Morgen, junger Mann", begrüßte ihn der Arzt. "Mein Name ist Doktor Mugiwara. Ich hoffe, Du gestattest mir ein paar Fragen?"

Mamoru wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Also machte er eine Bewegung, die wohl ein halbes Schulterzucken und ein halbes Kopfnicken darstellen sollte.

"Sehr schön", freute sich der Doktor. Es klang aber irgendwie ... gekünstelt und einstudiert. "Tu mir bitte den Gefallen und sag mir Deinen Namen."

"Mei... meinen Namen?", fragte er verunsichert nach. "Ich... ich... weiß nicht genau..."

Die rechte Augenbraue des Arztes rutschte die Stirn hinauf.

"Du weißt nicht genau? Denk nach... Versuch Dich zu erinnern! Streng Dich an, Du kannst es schaffen!"

"Ich... Es geht nicht. Ich ... kann ... mich nicht mehr erinnern. Ich fühle mich ... so schrecklich allein..."

Tränen stiegen in seine Augen. All das hier kam ihm so merkwürdig fremd vor. Er verstand es nicht. Er wusste nicht, was die fremden Leute von ihm wollten, oder wo er war, oder wer er war. Für ihn fühlte es sich an, als sei dies sein erster Tag auf Erden. Er wusste nicht, woher er sich an seine Sprache erinnern konnte. Das Wissen, was die Worte, die er sagte und hörte, bedeuteten, war einfach da. Alles um ihn herum war so verwirrend. Er sah die Dinge an und ordnete ihnen eine Bedeutung zu. Aber er konnte sich nicht erklären, wie das möglich war. Doch dieses Unverständnis erstreckte sich nicht nur auf seine Umgebung, sondern es betraf auch ihn selbst. Er atmete, ohne zu wissen, warum, und die Gefühle, die in ihm aufkamen, waren ihm so fremd, dass er sie einfach nicht zuzuordnen wusste. Er hatte keine Ahnung, wie er sich zu verhalten hatte. Ohne zu begreifen, was geschah, spürte er dicke Tränen seine Wangen hinab rollen und wunderte sich nur, was das nun wieder war.

Die Krankenschwester am Kopfende seines Bettes legte tröstend ihre Hand auf seinen Kopf und streichelte ihm über das Haar.

"Beruhige Dich wieder", sagte sie mit leiser Stimme. "Es wird alles wieder gut. Vielleicht, wenn Du Glück hast, wirst Du Dich schon bald wieder an alles erinnern können!"

Der kleine Junge schluchzte leise, als er der jungen Frau den Kopf zuwandte. "Und wenn ich kein Glück habe?"

Darauf wusste die Krankenschwester auch keine Antwort. Ratlos schaute sie den Doktor an. Dieser ergriff nun das Wort:

"Du musst einfach fest daran glauben. Ich versichere Dir, dass Du noch ein langes, glückliches Leben vor Dir hast. Sei unbesorgt. Und nun wäre es das Beste, wenn Du Dich erst mal richtig ausruhst. Du hast nur sehr wenig geschlafen, seit Du hier mitten in der Nacht eingeliefert worden bist. Ich werde Dir etwas geben, was Dich beruhigt. Du brauchst keine Angst haben."

Angst? Was war das doch gleich?

Der Doktor zog aus einer Tasche seines Kittels ein schmales, längliches, silbern schimmerndes Etui heraus, in dem sich – was auch sonst? – eine Spritze befand, die mit einer milchigen Flüssigkeit gefüllt war. Es schien fast, als hätten sämtliche Ärzte der Welt ein nicht enden wollendes Depot daran in ihrer Ausrüstung.

Wie schon einige Stunden zuvor wurde die Nadel der Spritze wieder in ein kleines Zuführungsrohr am dünnen Schlauch der Infusionsflasche befestigt und das Medikament unter die Kochsalzlösung gemischt. Es dauerte gar nicht mal lange, da fielen Mamoru schon die Augen zu. Das Letzte, was er noch hörte, war die Stimme des Doktors, der irgendwas murmelte:

"...ausgerechnet, wo doch gerade sein Geburtstag war. Der arme Junge. Er sollte eigentlich..."

Dann schlief er fest.

Sein Traum war eigenartig. Er sah darin eine junge Frau, die er aber im dichten Nebel nicht erkannte. Nur ihr goldenes Haar glitzerte hell in der Dunkelheit. Ihre sanfte Stimme flüsterte ihm zu, er müsse den Silberkristall finden. Koste es, was es wolle...

Und dieser Traum wiederholte sich Nacht für Nacht. Mamoru fragte sich, ob er diese Träume auch schon vor seinem Unfall gehabt hatte. Er wusste es nicht mehr. Er wusste gar nichts. Es gab in der Welt dort draußen so viel zu entdecken, was für ihn neu war – oder besser gesagt: was wieder neu für ihn geworden war. Das Krankenhauspersonal schaffte es nicht lange, ihn an sein Bett zu fesseln, und so gestattete man ihm nach einigen Tagen kurze Spaziergänge in der winzigen Parkanlage des Krankenhauses, freilich nur in Begleitung.

Doch das eine Mal, als es mitten in der Nacht war, und Mamoru wieder schlaflos am Fenster hockte und in die Sterne hinaus blickte, da sah er ein kurzes Leuchten am Himmel, das sich in hoher Geschwindigkeit der Erde näherte – und sie schließlich erreichte. Kurzentschlossen hüpfte Mamoru vom Bett, schlüpfte in seine Hausschuhe, schnappte sich einen Schirm, schlich die Flure des Krankenhauses entlang und verschwand im strömenden Regen. Nicht weit außerhalb der Krankenhausanlage fand er auch schnell, was er gesucht hatte. Ein kleiner Junge lag da im Regen und wirkte sehr müde und abgekämpft. Er keuchte geschwächt. Mamoru hielt den Schirm über ihn und schaute ihn neugierig an.

"Bist Du gerade vom Himmel gefallen?"

Der Junge hob den Kopf und sah ihn schüchtern an. Er sah eigenartig aus. Seine Haut war hellgrün, die langen Haare im tiefdunklen Türkis mit zwei dünnen Strähnchen an den Schläfen, die irgendwas zwischen rosa und lila waren, und seine Ohren liefen oben spitz zu und standen weit von seinem Kopf ab.

Mamoru kniete sich zu ihm herunter und fragte weiter:

"Bist Du ein Engel, der gekommen ist, um mir Gesellschaft zu leisten? Ich fühle mich so schrecklich einsam!"

Der Junge sah noch immer verblüfft zu ihm hoch. Dann lächelte er zaghaft. Er richtete sich in eine ebenso hockende Position auf.

"Ich weiß nicht, was ein Engel ist", erklärte er, "aber mein Name ist Fiore."

"Ich heiße Mamoru... Das hat man mir zumindest gesagt, als ich hier vor ein paar Tagen aufgewacht bin."

Mamoru kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

"Ich habe nämlich mein Gedächtnis verloren. Und ... was machst Du so ganz alleine hier?"

Fiore seufzte gequält auf.

"Ich..."

Er suchte sichtlich nach Worten, um seine Situation zu erklären, doch er schien sie einfach nicht zu finden.

Mamoru machte eine nickende Bewegung in Richtung Krankenhaus.

"Lass uns zuerst einmal rein gehen. Hier ist es ungemütlich. Aber ... Du musst ganz leise sein! Da drinnen schlafen alle noch, und ich glaube nicht, dass es gut ist, wenn sie Dich und mich hier finden!"

Er legte beschwörend den Finger an die Lippen. Dann packte er Fiore an der Hand und zerrte ihn ins Innere des Krankenhauses. Er lotste seinen neuen Freund sicher durch die langen Gänge und wich geschickt den Krankenschwestern aus, die ihre Nachtschicht schoben. Dann bugsierte er Fiore in sein Zimmer, ließ ihn sich an einem Handtuch abtrocknen und nahm ihn zu sich ins Bett. Die beiden redeten noch sehr lange mit einander. Fiore erzählte, dass er nicht wisse, woher er kam oder wohin er wolle, und dass er auf diesem Planeten nur eine Zuflucht gesucht habe. Er sei einfach ein Reisender durch das Weltall, ohne Heimat und ohne Ziel.

Mamoru nahm ihn als Freund gern bei sich auf. Sie teilten sich das Bett und leisteten sich tagelang Gesellschaft. Oft versteckte sich Fiore in dem kleinen Waschraum, der an das Krankenzimmer angrenzte, oder er rutschte unter das Bett, wenn es besonders schnell gehen musste. Er schaffte es tatsächlich, Mamorus Laune durch seine bloße Anwesenheit zu bessern. Zwar saß der Schock über den Unfall noch tief in der Seele des Sechsjährigen, aber immerhin konnte Fiore ihn zum Lachen bringen. Daran hatten sich die Krankenschwestern tagelang die Zähne ausgebissen.

Doch irgendwann kam der Tag, als Fiore sich mit unglücklichem Gesichtsausdruck zu Mamoru umdrehte, und ihm verkündete, er könne nicht länger bleiben.

"Aber... warum denn nicht?", fragte Mamoru entsetzt. "Ich will nicht schon wieder alleine gelassen werden!"

"Das verstehe ich ja. Ich will auch nicht einsam sein", erklärte der junge Außerirdische. "Aber es geht leider nicht anders. Ich kann auf der Erde nicht überleben. Ich brauche dazu Energie, verstehst Du? Und mein Körper kann sich nicht von Essen ernähren wie Deiner. Hier bleiben kann ich unmöglich. Entweder würde meine Anwesenheit auffliegen und uns beide verraten, oder ich müsste sterben. Und keiner dieser beiden Wege gefällt mir. Aber wenn ich es mir aussuchen könnte, dann würde ich den Weg wählen, der Dich beschützt. Glaub mir, es ist besser, wenn niemand erfährt, dass ich hier gewesen bin. Aber ich ... möchte Dir danken. Du hast Dich so um mich gesorgt, wie das noch nie einer vorher gemacht hat! Ich schulde Dir was..."

"Bleib hier", flüsterte Mamoru in einem letzten, trotzigen Aufbäumen. "Irgendwie wird es schon gehen. Bestimmt!" Tränen schossen ihm in die Augen.

Fiore schüttelte den Kopf.

"Es tut mir unendlich Leid. Du bist mein aller bester Freund, weißt Du?"

"Ich will nicht, dass Du gehst!", schluchzte er leise.

"Mamoru..." Fiore senkte betreten den Blick. "...Es ... tut mir Leid. Ich werde versuchen, das jetzt so schmerzlos wie möglich hinter uns zu bringen. Ich ... möchte nicht sehen, dass Du traurig bist. Irgendwann einmal komme ich hier her zurück! Ganz bestimmt... Und nun ... muss ich mich auf den Weg machen. Du bleibst vielleicht besser hier. Das macht es für uns beide leichter."

"Leb wohl, Fiore...", presste Mamoru heraus.

Fiore nickte. Tiefe Trauer stand in seinem Gesicht geschrieben.

"Mach es gut, Mamoru. Ich gehe dann also..."

Er veränderte sein Aussehen so, dass er wie ein gewöhnlicher Erdling aussah. Für einen kurzen Augenblick konnte er das durchaus tun. Die Zeit würde ihm reichen, zum Dach des Gebäudes zu kommen, um von da aus im Weltall zu verschwinden. Er warf einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf seinen besten Freund. Dann ging er durch die Tür.

Mamoru hockte sich auf die Bettkante und konnte die Tränen nicht mehr zurück kämpfen. Sein kleiner Körper bebte unter seinen Schluchzern. Er fühlte sich so unendlich alleine gelassen. Es war einfach nicht fair!

Die Trauer nahm ihn ganz ein. Und so bemerkte er gar nicht, wie ein kleines Mädchen die nur angelehnte Tür zu seinem Zimmer aufstieß. Sie war vielleicht nur halb so alt wie Mamoru. Ihre riesigen, blauen Augen schauten ihn verständnislos an. Ihr Haar war zu zwei kleinen, goldblonden Zöpfchen gebunden, die aus zwei kleinen, kugelrunden Haarbällen heraus an ihrem Kopf herab hingen und noch ziemlich kurz waren. Sie trat um einige Schritte weiter in das Krankenzimmer hinein, sodass man besser ihr lilanes Kleidchen und den großen Rosenstrauß in ihrer viel zu kleinen Hand sehen konnte. Sie setzte ein unschuldiges, warmes Lächeln auf und überwand noch die letzten paar Meter bis zu Mamoru. Dort angekommen legte sie ihre freie Hand auf die seine und legte ihre Wange auf seinen Handrücken.

Mamoru bemerkte sie jetzt erst und sah erstaunt von der Bettkante aus auf sie herab.

"Wer bist Du?"

Die Kleine verharrte in ihrer Position und antwortete nur:

"Weine nicht."

Mamoru ließ den Kopf hängen. Neue Tränen bahnten sich ihren Weg seine Wange hinab.

"Bald wird ein guter Freund weggehen... Aber ich kann nichts dagegen tun..."

"Mal sehen", sagte die Kleine nachdenklich. Sie hob den Kopf und schaute ihn lächelnd an. "Von heute an werde ich eine große Schwester sein. Meine Mama hat ein Baby bekommen... Und ich habe das hier als Geschenk mitgebracht... Hier!"

Sie entfernte eine der Rosen aus dem Strauß und hielt ihm die Blume hin. Die Blüte war tiefrot und noch geschlossen, und sie sah wunderschön aus.

"Danke...", murmelte Mamoru. Er nahm die Rose entgegen – und lächelte. "...das ist wirklich ein schönes Geschenk..."

"Vielleicht hilft sie Dir ja!", freute sich das Mädchen. "Ich muss jetzt wieder los, sonst macht sich mein Papa noch Sorgen. Mach's gut!"

Sie lachte und rannte auf ihren kurzen Beinchen zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal herum, winkte ihm zu, und verschwand dann endgültig aus seinem Blickfeld.

Mamoru sah sanft lächelnd auf die Rose in seiner Hand hinunter und zögerte. Aber nur eine Sekunde lang. Dann sprang er vom Bett und machte sich auf den Weg. Nur Augenblicke später war er durch Flure und durch den Treppenschacht gerast und betrat nun das Dach. Ein letztes Mal wischte er sich mit dem Ärmel seines Schlafanzuges über die Augen und stieß die Tür zum Dach auf. Fiore stand noch da. Er hatte seinen Blick in den vom Sonnenuntergang blutrot gefärbten Himmel gerichtet. Doch jetzt, wo er Mamoru bemerkte, senkte er seinen Kopf wieder und lächelte seinen Freund ermutigend an.

Mamoru keuchte, weil er so schnell gerannt war. Doch er versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Er kam auf Fiore zugelaufen und hielt ihm die Rose hin.

Fiore lächelte sanft und nahm die Rose entgegen.

"Danke... Eines Tages... werde ich etwas für Dich tun. Ich werde zurückkommen... mit vielen Blumen!"

Mamoru stand einfach da und verkrampfte seinen Körper vor lauter Tränen. Dieser Abschied war unerträglich schmerzhaft für ihn. Und das Gefühl, wieder allein gelassen zu werden, stand ihm überdeutlich ins Gesicht geschrieben. Doch irgendwo tief in sich drin spürte er, dass es an der Zeit war, seinen einzigen Freund wieder loszulassen. Er presste seinen Ärmel gegen seine Wangen um so die Tränen aufzufangen.

Fiore baute derweil ein Energiefeld um sich herum auf, das ihn vor dem harten und kalten Weltraum schützen würde. Sein Körper verblasste zusehends und wurde von einem wahren Sturm von Blütenblättern umweht.

"...Weine nicht so viel. Ich werde viele Blumen mitbringen, wenn ich zurück kehre... Also..."

Das waren Fiores letzte Worte, ehe sein Körper ganz unsichtbar wurde und er sich selbst in den Weltraum teleportierte.

Sichtbar niedergeschlagen und mit hängenden Schultern zog sich Mamoru in sein Zimmer zurück. Er war von diesem Zeitpunkt an tagelang in sich gekehrt, weinte oft leise und vermochte weder ordentlich zu schlafen noch ausreichend zu essen. Für die Krankenschwestern, die sich rührend um ihn sorgten, war er ein einziges Rätsel. Wo er für eine kurze Zeitspanne gut gelaunt und einfach nur glücklich war, da war er jetzt viel zu still für einen Jungen seines Alters und auch sehr abweisend gegenüber allen Leuten, die sich ihm näherten. Niemand des Krankenhauspersonals konnte die Gründe dafür auch nur erahnen, und Mamoru behütete sein Geheimnis um Fiore wie seinen Augapfel. Er fand, dass es auch jetzt niemanden sonst etwas anging.

Die Tage krochen nur so dahin. Mamoru begann sich so allmählich zu fragen, was wohl weiter mit ihm geschah. Er hatte ganz bestimmt nicht vor, ewig hier zu verbringen. Aber wohin sollte er? Er kannte sich in dieser Welt da draußen nicht aus und er war ganz auf sich allein gestellt.

Das hieß: nicht ganz allein...

Es war ein Tag wie jeder andere in seinem neuen Leben. Die gleichen Gesichter, das gleiche Zimmer, das gleiche, tägliche Einerlei. Er hockte in seinem Bett und starrte zum Fenster raus. Das Wetter passte zu seiner Stimmung: Es war mies. Der Regen fiel nur so in Strömen herab, und das nun schon seit einer ganzen Weile. Und so was nannte sich August! Mamoru seufzte leise.

Es klopfte an seiner Tür. Er machte sich schon lange nicht mehr die Mühe, den Gast herein zu bitten. Es würde ja doch bloß wieder eine Schwester sein, und die interessierte es nicht, ob ihm gerade nach Stippvisite war oder nicht. Er drehte sich noch nicht einmal herum, als die Tür aufging.

"Mamoru? Kann ich mal für einen Augenblick mit Dir reden? Es ist sehr wichtig."

"Es ist doch immer sehr wichtig", gab er leise von sich. Aber die Schwester hörte die Worte sehr wohl. Ein verzeihendes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Sie konnte seine schlechte Laune in seiner schier ausweglosen Situation wohl sehr gut nachempfinden. Wie viel Leid mochte ihr in ihrem Beruf schon begegnet sein?

"Dieses Mal ist es aber was ganz Besonderes. Und ich möchte Dich gut darauf vorbereiten."

"Lass mich raten... Du willst mir zur Abwechslung mal rote Gardinen hier rein hängen?", gab er bissig von sich.

Die Schwester schüttelte resigniert den Kopf. Sie schloss die Tür hinter sich, trat auf Mamoru zu und legte sachte ihre Hand auf seine Schulter.

"Es gibt Neuigkeiten."

So allmählich wurde doch sein Interesse geweckt. Er wandte sich vom Fenster ab und sah die Krankenschwester fragend an.

Sie fuhr fort:

"Mamoru ... wir haben tatsächlich Verwandte von Dir ausfindig machen können."

Seine Augen wurden mit einem Mal groß. "Was?"

Die junge Frau nickte. "...Und sie sind hier."

"Wer... wer ist es?"

Er erhoffte sich, dass vielleicht schon die Namen irgendwas in ihm wecken würden. Er wünschte sich so sehr, dass endlich irgendwo in seinem Innersten ein Glöckchen aufbimmelte, das ihm zeigte, ob der Name, den man ihm hier verpasst hatte, auch wirklich der seine war. Gespannt wartete er auf die Antwort. Doch dazu kam die Pflegerin gar nicht ernst. Auf dem Gang wurden aufgeregte Stimmen laut. Dann wurde die Tür aufgerissen. Eine junge Frau kam hereingestürmt. Sie wirkte auf den ersten Blick sehr zierlich, doch diese Meinung änderte Mamoru schnell, als er bemerkte, dass sie sich energisch zur Wehr setzte – gegen gleich drei Pfleger auf einmal, die ihr nachgerannt kamen mit Sprüchen wie "So beruhigen Sie sich doch!" und "Sie können hier nicht einfach in irgendwelche Zimmer rennen!"

"Wollen wir wetten, dass ich's kann?", fauchte sie.

Vom Gang tönte die sanfte Stimme eines jungen Mannes:

"Sie müssen meine Frau entschuldigen... Die Umstände haben sie doch sehr mitgerissen..."

Mamoru legte nachdenklich seine Stirn in Falten. Wer, zum Teufel, waren bloß diese Leute?

Gerade da wandte die energische Frau ihren Kopf zum Krankenbett, und für eine Sekunde wirkte sie, als sei ihre Aufregung mit einem Male von ihr abgefallen. Sie starrte Mamoru aus großen Augen entgegen und rührte sich nicht um einen Millimeter. Dann endlich hob sie langsam ihre Hände und legte sie sich vor den Mund. Mamoru konnte an ihrem Gesicht nicht wirklich ablesen, welche Emotion in ihr stärker war – Trauer oder Entsetzen...

Endlich kam sie mit langsamen Schritten auf ihn zu.

"Mamoru... Ich bin es, Deine Tante Kioku. Erkennst Du mich noch? Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen... Wie geht es Dir? Mein armer Kleiner..."

Sie hatte das Krankenbett noch nicht ganz erreicht, da trat endlich auch ihr Mann in das Zimmer. Auch sein Blick fiel auf Mamoru. In seinen Augen stand tiefste Trauer geschrieben. Er konnte wohl im Moment mit seinen eigenen Gefühlen kaum zurecht kommen. Er hielt sich aber vorerst noch ein wenig im Hintergrund.

Die Frau war inzwischen am Bett angekommen. Mit langsamen Bewegungen setzte sie sich auf die Kante. Behutsam streckte sie ihre Hand aus, um Mamoru an der Wange zu berühren.

Ängstlich wich das Kind zurück.

"Wer ... sind diese Leute???"

Die Frau erstarrte in ihrer Bewegung. Ein leises, ungläubiges Keuchen entrang sich ihren Lippen.

Hinter dem fremden Mann erschien jetzt auch endlich Doktor Mugiwara im Zimmer. Er hatte einen tadelnden Blick aufgesetzt.

"Ich habe Sie gewarnt, hier einfach reinzuplatzen! Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie unter Umständen mehr kaputt machen als retten??? Ich habe Ihnen doch groß und breit erklärt, in welcher komplizierten Situation sich Ihr..."

Weiter kam er nicht. Die Frau ruckte mit dem Kopf in seine Richtung und patzte ihn trotzig an:

"Und ich habe Ihnen erklärt, dass ich nicht warten kann, den Jungen zu sehen! Das ist mein Recht, verdammt noch mal! Außer uns hat der Kleine niemanden mehr! Und jetzt halten Sie gefälligst den Rand!"

Doktor Mugiwara schnappte empört nach Luft, doch das interessierte die Frau schon lange nicht mehr. Während sich ihr Mann eine Entschuldigung und eine Ausrede für ihr Verhalten nach der andren einfallen ließ, wandte sie sich Mamoru wieder zu. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Sie gab sich Mühe, ein entwaffnendes Lächeln aufzusetzen, was ihr aber sichtlich schwer fiel, wenn die Gefühle so in ihrem Innersten tobten. Ihre Stimme war leise und sanft, als sie erklärte:

"Mamoru ... ich bin Deine Tante Kioku! Und das dort..." Sie zeigte auf ihren Ehemann, der immer noch mit Händen und Füßen versuchte, den Doktor zu beruhigen. "...ist Dein Onkel Seigi. Kommen wir Dir nicht zumindest ein bisschen bekannt vor?"

Der Junge zögerte lange und dachte angestrengt nach. Doch erfolglos. Er wusste einfach nicht, wonach er in seinem Gedächtnis suchen musste. Er schüttelte sachte seinen Kopf.

"Großer Himmel", wisperte Kioku tonlos. Sie legte sich erschrocken ihre Hand an den Mund. "Dann ist es also wahr... Ich kann es immer noch nicht glauben."

Seigi hatte den Doktor inzwischen abgewimmelt und trat nun ebenso an das Bett. Er setzte ein sanftes Lächeln auf. Doch er wirkte unbeschreiblich müde dabei. Dicke, schwarze Ränder lagen unter seinen Augen und er sah ganz allgemein nicht wirklich gesund aus. Es war immerhin gerade mal einige Tage her, dass er erfahren hatte, dass sein einziger Bruder gestorben war, der dann auch noch seine eigene Frau mit in den Tod genommen hatte. Doch Seigi versuchte, für seinen Neffen stark zu sein. Mamoru spürte es irgendwo tief in sich, auch wenn er es nicht verstand. Wie konnte dieser fremde Mann sich so viel aus ihm machen? Sie kannten sich doch gar nicht...

Mamoru hatte gehofft, irgend etwas in sich zu finden. Hoffnung. Erkennen. Das Gefühl, zu einander zu gehören. Das Empfinden der Familienbande.

Da war nichts.

Absolut nichts.

"Mamoru", sprach er nun leise, nach einigen Sekunden des Schweigens. "Ich bin Dein Onkel Seigi. Dein Vater war mein älterer Bruder. Ich habe vor ein paar Jahren eine Arbeit in Amerika aufgenommen. Als Deine Tante Kioku und ich aus Japan weggezogen sind, warst Du noch ein ganz kleines Kind. Auch unter anderen Umständen hätte es mich ehrlich gesagt sogar verwundert, wenn Du Dich an uns erinnern könntest. Wir haben uns in dieser Zeit leider nur selten gemeldet, und jetzt bereue ich das zutiefst. Ich hätte Dich gerne näher kennen gelernt... Aber das können wir jetzt alles nachholen. Wir drei, wir werden eine Familie sein..."

Mamoru sah ihn verständnislos an.

"Was ... heißt das?"

"Du wirst bei uns leben", erklärte der Onkel weiter. "Den Papierkram haben wir schon in die Wege geleitet, auch, wenn es in dieser kurzen Zeit recht problematisch ist. Ich denke, dass wir großartig mit einander zurecht kommen werden."

Mamoru legte den Kopf schief.

"Ich ziehe nach Amerika?"

Seigi lachte leise auf. Es klang weniger amüsiert als umso mehr einfach nur müde.

"Nein. Im Gegenteil: Wir beide ziehen gerade wieder hier her nach Japan zurück. Weißt Du, wir wären gerne schon viel früher gekommen, aber das ging so schnell beim besten Willen nicht. Aber inzwischen ist der Umzug schon in vollem Gange. Wir haben eine Wohnung in Tokyo gefunden und einen Arbeitsplatz konnte ich hier auch organisieren. Er gehört immer noch zur selben Firma, und glücklicherweise konnte man mich schnell hier her vermitteln. Aber lass das alles mal nicht Deine Sorge sein. Du solltest Dich jetzt nur darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden ... und vielleicht schon bald Dein Gedächtnis zurück zu erlangen."

"Ich finde auch, dass Du inzwischen ziemlich gut aussiehst", meinte Kioku. "Ich habe von Deinen Verletzungen gehört. Aber die Verbände sind ja jetzt schon runter..."

"Nicht ganz", unterbrach Mamoru und zog den rechten Ärmel seines Schlafanzuges hoch, unter dem ein weißer Verband zum Vorschein kam, der sich beinahe über den ganzen Unterarm erstreckte.

"Die Wunden sind tief", erklärte Doktor Mugiwara in etwas schärferem Ton, als es vielleicht nötig gewesen wäre. Er war wohl immer noch gekränkt. "Die Narben werden sich wohl lange halten. Vielleicht ewig."

"Sie...", zischte Kioku in seine Richtung und hob drohend den Finger. "...Sie haben wirklich das Taktgefühl eines Randkamels beim Furzen! Haben Sie schon mal etwas davon gehört, dass man nicht so negativ reden und denken soll in Gegenwart eines Patienten? Noch dazu in Gegenwart eines Sechsjährigen, der gerade die schlimmste Zeit seines Lebens..."

Sie unterbrach sich selbst und sah Mamoru erschrocken an.

"Oh, tut mir Leid... Ich wollte Dich nicht daran..."

"Schon gut", winkte er leise ab. "Vergiss es." Damit krempelte er seinen Ärmel wieder herunter.

Nun wandte sich Seigi wieder an seinen Neffen:

"Sag ... warst Du eigentlich ... auf der Beerdigung?"

"Be- ... Beerdigung? ...Nein."

"Der Patient", so erklärte der Doktor patzig mit vor der Brust verschränkten Armen, "war nicht in der geeigneten, physischen Konstitution. Und selbst, wenn er das gewesen wäre, dann hätte es sein können, dass sein psychischer Zustand..."

Doch Kioku ließ ihn wieder nicht ausreden. Zornig spie sie ihm ihre Worte entgegen:

"Dieser Junge hat seine Eltern verloren! Er – wie jeder andere Mensch auf diesem Planeten – hätte das Recht gehabt, sich ein letztes Mal von ihnen zu verabschieden und sich geistig mit seiner Situation auseinander zu setzen, Sie hirnverbrannter Vollidiot! Haben Sie je darüber nachgedacht, wie die andere Seite der Medaille aussieht? Wie der Patient die Sache sehen könnte?"

"Ich konnte nicht zulassen, dass er bei so einer Anstrengung erst recht einen körperlichen und geistigen Kollaps erleidet!", bellte der Arzt.

"Bitte... Ruhe..." Seigi hob Einhalt gebietend seine Arme. "Kein Streit vor dem Kind, ich darf doch sehr bitten!"

Die Augen von Doktor Mugiwara funkelten kampflustig auf.

"In dieser Sache ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!", prophezeite er. "Ihre Worte werden noch ein Nachspiel haben! Ich werde jetzt Pfleger holen, die Sie auf der Stelle hier raus werfen. Und wenn Sie sich in Zukunft nicht im Ton mäßigen, werden Sie es bereuen!"

Und so kam es dann auch.

Im Verlauf der weiteren Tage hielt sich Doktor Mugiwara in respektvollem – oder eher: trotzigem? – Abstand zu Tante Kioku. Somit hatte sie also gar keine weitere Chance, ihr Temperament ganz auszuspielen. Was möglicherweise auch ganz gesund war. Seigi wollte das lieber nicht testen.

Und dann irgendwann kam der Tag, an dem Mamoru aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Kioku und Seigi fuhren mit ihm zu ihrer neuen Wohnung. Einige der Möbel und Kartons standen auch jetzt noch in ihrem ehemaligen Zuhause in Boston in den USA, doch die wichtigsten Dinge waren da. Einige Räume waren schon fertig tapeziert und möbliert, andere noch nicht. Mit Mamorus Zimmer hatten sie noch gewartet, damit er selbst mitentscheiden konnte, wie es auszusehen hatte.

Er streifte durch die fremde Wohnung, besah sich die Einrichtung, warf einen Blick in die Kartons und stöberte in alten Fotoalben herum. Einige Teile des Mobiliars stammte nicht aus der Bostoner Wohnung, sondern aus dem Zuhause, in dem Mamoru sechs Jahre lang mit seinen Eltern gelebt hatte. Beispielsweise die Kleidung, die er trug, hatten ihm seine Tante und sein Onkel aus dieser alten Wohnung mitgebracht. Sie war ihm ebenso wenig bekannt vorgekommen wie der Rest.

In einem der Pappschachteln fand er ein Stofftier, einen silbergrauen Wolf. Er sah noch ganz neu aus und sein Fell war weich. An seinem Hals hing ein Papierzettelchen, das links und rechts von einer Schnur gehalten wurde und wohl wie ein Hundehalsband aussehen sollte. Eine krakelige Kinderhandschrift darauf besagte, dass der Name des Tieres <Ôkami-haha> lautete. Mamoru gab sich damit zufrieden und akzeptierte dies als Name. Diese Wölfin war von nun an sein liebstes Spielzeug. Denn es war das Letzte, was er in seinem alten Leben von seinen Eltern bekommen hatte. Das, und...

Er griff in seine Hosentasche und förderte den Ring zutage, den ihm seine Mutter im Wagenwrack überreicht hatte. Seine zerschlissene Kleidung war im Krankenhaus weggeworfen worden, aber zum Glück hatte man vorher sorgfältig seine Taschen durchsucht und ihm das Schmuckstück ausgehändigt.

Seigi sah den Ring und zog hörbar die Luft ein.

"Das ... ist...", stammelte er.

Mamoru sah ihn nicht an, als er erwiderte:

"Mama hat ihn mir geschenkt ... glaube ich. Ich bin mir da nicht so ganz sicher. Ich habe nur einzelne Bilder in meinem Kopf, aber sie sehen so dunkel und verschwommen aus; und immer, wenn ich mich darauf konzentrieren will, ist es so, als könne ich mich auch daran plötzlich nicht mehr erinnern."

Er hob den Blick.

"Ich weiß gar nichts mehr. Ich kann mich nicht erinnern, wie meine Eltern aussahen, und wie ihre Stimmen klangen, und wie sie gerochen haben, und wie sie mit mir umgegangen sind. Ich weiß gar nichts mehr."

Mit tiefer Trauer im Blick starrte Seigi seinen Neffen an. Dann ging er zu ihm hin, umarmte ihn fest und hob ihn hoch. Er begann, von Keibi und Megami zu erzählen und suchte alte Fotoalben heraus. Und dort sah Mamoru zum ersten Mal in seinem neuen Dasein, wie seine Eltern überhaupt ausgesehen hatten. Er suchte in den Bildern vor allem den Ring, denn der war im Augenblick das Einzige, woran er sich orientieren konnte – der einzige Anhaltspunkt, den er überhaupt noch besaß.

Als Seigi und Kioku später den Film aus einer Kamera aus Keibis und Megamis Wohnung entwickeln ließen, kam darauf zum Vorschein, dass Ôkami-haha tatsächlich ein Geschenk war, das Mamorus Eltern ihm gemacht hatten – an dem Tag, als der Unfall geschehen war. An seinem sechsten Geburtstag. Dem Tag seines Schicksals.
 

Erschöpft seufzend beendete Mamoru seine Erzählung. Er hielt die Arme noch immer hinter seinem Nacken verschränkt, auch wenn ihm in dieser Position allmählich die Schultern wehtaten. Aber gemütlicher ging es auf dem harten Untergrund der Ladefläche des Pick-Ups nun mal nicht. Trotz der Wolldecke als Unterlage.

Sein Blick streifte in die Ferne. Das hatte er schon die ganze Zeit getan, während er Elyzabeth von der schwersten Zeit seines Lebens berichtet hatte, aber erst jetzt, wo er sich nicht mehr auf seine Worte konzentrieren musste, sah er den Sternenhimmel wieder bewusster an.

Inzwischen war es richtig kalt geworden. Mamoru störte sich daran kaum, obwohl er sonst die Kälte immer sehr hasste. Nur Elyzabeth hatte es auf der Decke nicht mehr ausgehalten und war darunter gekrabbelt und nun drückte sie sich nah an Mamoru, wobei sie ein leichtes Bibbern unterdrückte.

Doch die Kälte hatte nicht nur Schlechtes an sich. Je kälter es wurde, umso strahlender und funkelnder erschien der Himmel über ihnen. Vor kurzer Zeit erst war der Mond aufgegangen. Ein abnehmender Halbmond – ganz genau so, wie in der Nacht, als das Auto mit Mamoru und seinen Eltern die Klippe hinuntergestürzt war. Und auch diesmal sah er so unglaublich riesig aus, wie er sich über den Horizont schob und allmählich weiter und weiter den Himmel erklomm. Es war ein beeindruckendes Schauspiel der Natur und der Lichter.

Mamoru kam es so vor, als habe er eine Ewigkeit damit verbracht, Elyzabeth von dem bisschen zu erzählen, an das er sich von seinem Unfall noch erinnern konnte. Das meiste, was er noch wusste, hatte er sich zusammengereimt oder die Rettungskräfte hatten es ihm erzählt. Alles, was er wirklich mit Sicherheit erzählen konnte, waren die Geschehnisse danach. Das Einzige, was er dabei verschwiegen hatte, war die Sache mit Fiore. Es war seltsam, aber irgendwie zweifelte Mamoru an seiner Existenz. Er konnte sich gut an ihn erinnern, aber im Laufe der Jahre war er zu dem Schluss gekommen, dass er sich den kleinen, einsamen Außerirdischen nur eingebildet hatte. Ein Junge mit spitzen Ohren und einer grünen Haut, der ebenso alt und ebenso einsam gewesen war wie Mamoru selbst, und der ohne Raumschiff durch das All fliegen konnte ... das war doch blödsinnig. Wohl nichts weiter als die Ausgeburt seiner Fantasie – erschaffen, um sich selbst nicht mehr so einsam und verlassen zu fühlen. Zwar mit einer täuschend realen Wirkung, aber bekanntlich war die Fantasie eines Sechsjährigen eben sehr ausgereift. Zumal, wenn man bedachte, in welcher misslichen Situation er sich damals befunden hatte.

Andererseits war Mamoru immerhin der Herr und Krieger der Erde, verfügte über einen der mächtigsten Kristalle dieses Planeten und kämpfte gegen ein ganzes Königreich von wahrscheinlich Jahrtausende alten Monstern und Dämonen ... dagegen war ein außerirdischer Freund sogar noch richtiggehend etwas Normales!

Nach langer Zeit des Stillschweigens hob Mamoru endlich wieder seine Stimme an:

"Es tut mir Leid, dass ich Dich so lange mit meiner Lebensgeschichte gelangweilt habe, Elyzabeth. Ich hätte mich wirklich kürzer fassen können."

"Nein", sagte sie leise. Sie lächelte sanft. "Ganz im Gegenteil. Ich könnte Dir noch stundenlang zuhören. Es liegt mir sehr viel daran, jedes Detail Deines Lebens zu erfahren. Und ich freue mich über alle Maßen, dass Du Dich mir so anvertraust. Es ... zeigt mir, dass ... ich in Deinen Augen vertrauenswürdig bin. Und das ist eine überaus kostbare Entdeckung für mich."

"Eine ... überaus ... kostbare Entdeckung?", fragte Mamoru verunsichert nach. "Wie darf ich das denn verstehen?"

Er blickte leicht irritiert in ihre Richtung. Es war eigenartig ... das Mondlicht war eigentlich zu schwach, Farben erkennen zu lassen. Immerhin sah Mamoru nun endlich wieder die Konturen seiner Umgebung deutlicher und die Prärie war nicht mehr ganz so schwarz und tiefenlos, als ob man Tinte darüber ausgeschüttet hätte. Seine unmittelbare Umgebung konnte er sogar sehr gut erkennen, wenn auch nur in verschwommenen Grauabstufungen. Aber dennoch schien es ihm so, als würde er auch jetzt wieder Ellys grüne Augen mit einem deutlichen, leuchtenden, bläulichen Schimmer sehen. Aber nur kurz. Doch das war unmöglich. Wahrscheinlich hatte sich der Mond in ihren Pupillen gespiegelt. Mamoru war heute wirklich nicht ganz bei sich.

"Na ja", erklärte sie nun endlich, "ich mag es wirklich gerne, in Deiner Nähe zu sein. Ich fühle mich einfach irgendwie wohl dabei. Du hast ... diese besondere Ausstrahlung an Dir, die ich nicht näher zu beschreiben vermag. Wenn ... Du bei mir bist ... dann ... bin ich ... glücklich. So glücklich wie sonst nie. Ich kann das gar nicht erklären. Es ist so, als ob ... so wie ... wie..."

Mamoru sah sie aus großen Augen an. Und dann lächelte er sanft. Er erhob seinen Oberkörper von der Ladefläche, rutschte um ein paar Zentimeter näher an sie heran und wisperte tonlos:

"...wie Zauberei?"

Sie lächelte schüchtern. Doch in ihren Augen stand ein Glanz, der den funkelnden Sternen am Himmel Konkurrenz machte. Sie nickte ihm bejahend in einer zarten Bewegung zu.

Eine große Ruhe und Sicherheit überkamen Mamoru. In ihm breitete sich ein warmes Kribbeln aus. Er wusste einfach genau, was er zu tun hatte.

"Dann ergeht es Dir ja genau wie mir", erklärte er – und legte sanft seine Lippen auf die ihren.

Das Gefühl war berauschend.

Kein anderes Wort konnte die Situation so gut beschreiben wie dieses. Es war, als existierten nur diese beiden Körper – Mamorus eigener, und der von Elyzabeth – und sonst nichts. Alles war egal geworden. Der kalte Wind war egal geworden. Die harte Unterlage, zu der die Ladefläche des etwas älteren Wagens geworden war, war egal geworden. Die gesamte Welt um die beiden herum schien zu existieren aufgehört zu haben. Alles, was noch zählte, war die elektrisierende – ja, fast schon energetische – Berührung ihrer Lippen. Pure Hitze strömte von einem Körper in den anderen. Es konnte Einbildung sein, aber es schien Mamoru fast so, als könnten ihrer beider Körper von innen heraus aufleuchten und hell strahlen; heller noch als das Licht des gewaltig groß erscheinenden Halbmondes dort drüben knapp über dem Horizont.

Beide klammerten sich an einander, als wollten sie sich in Ewigkeiten noch nicht loslassen. Das Gefühl von Zufriedenheit, von tief empfundenem Vertrauen, aber auch von Neugierde auf mehr wuchs bei beiden in die Unendlichkeit und trieb sie voran, das Spiel ihrer Lippen mehr und mehr zu vertiefen.

Aus den Sekunden wurden Minuten, in denen sie ihre Körper fest an einander pressten und ihre Lippen sich um nichts in der Welt von einander lösen wollten. Als sie sich dann doch wieder trennten, um keuchend frischen Sauerstoff in ihre Lungen zu ziehen, da sahen sie sich an. In ihren Augen glitzerten Lebenslichter, die alles, was der Sternenhimmel an Pracht aufweisen konnte, bei weitem übertrafen.

Mamoru lehnte seinen Rücken gegen die Führerkabine des Wagens, legte die Wolldecke über Elyzabeth, die halb auf ihm lag und ihren Kopf an seine Brust lehnte, und schlang dann seine Arme um sie. Es bedurfte keiner weiteren Worte zwischen den beiden. Sie lagen einfach da, genossen die Nähe zu einander, lauschten der leisen Musik, die noch immer aus dem Radio durch die offen stehenden Türen des Wagens hindurch drang, sahen in den Himmel und bestaunten das helle Glitzern der Sterne. Es war ein unglaublich schönes Empfinden des Friedens und der Ruhe.

Irgendwann nach zwei Uhr morgens – der Mond war schon ein gutes Stück weiter aufgegangen und wirkte inzwischen irgendwie nicht mehr ganz so groß – machten sich die beiden nun doch auf. Die Decke wurde wieder auf den Rücksitzen der großen Doppelkabine verstaut, die Abdeckplane über der Ladefläche befestigt, und Mamoru klemmte sich wieder hinters Steuer, um Elyzabeth nach Hause zu fahren. Er parkte den Wagen am äußersten Rand des Hofes der Mustang-Ranch, weil er nicht wusste, ob das Motorengeräusch nicht vielleicht irgendwen wecken konnte. Er stieg aus und begleitete seine Freundin den Rest des Weges bis zur Haustüre.

"Was wird jetzt aus Terra?", fragte er so ganz nebenbei. In all der Zeit hatte er schon längst wieder vergessen, dass Elly ja eigentlich auf der Suche nach ihm war.

Sie winkte ab.

"Er ist immerhin ein Wolf, vergiss das nicht. Er wird schon auf sich aufpassen können. Oder vielleicht liegt er schon längst hinten im Garten und schläft tief. Ich weiß es nicht. Er wird schon wieder auftauchen."

"Auch wieder wahr", antwortete er. Beide blieben stehen.

Auch ohne, dass sie nur ein Wort sagte, wusste Mamoru, was sie dachte. Ihr Wunsch stand ihr unübersehbar in den Augen geschrieben. Er lächelte sanft, beugte sich zu ihr runter, legte die Arme um sie und drückte ihr einen sanften Kuss auf. Sie erwiderte ihn mit aus tiefster Seele empfundener Freude. Endlose Sekunden verstrichen, in denen sie ihre Lippen einfach nicht von seinen lösen wollte.

Doch auch dieser Kuss fand irgendwann ein Ende.

"Endlich", flüsterte das Mädchen glücklich, "das habe ich mir so lange gewünscht."

"Ich war blind", erklärte Mamoru. Er lächelte, aber in seinem Gesicht stand eine Spur von Enttäuschung geschrieben, die er sich selbst gegenüber empfand. "Ich hätte es viel früher bemerken müssen..."

"War es denn so offensichtlich?", fragte sie schüchtern nach.

"Also ... eigentlich...", stammelte er, "...vielleicht. Ja. Jetzt, im Nachhinein betrachtet, gab es da schon Dinge, die mir hätten auffallen müssen. Weißt Du ... vor gar nicht mal so langer Zeit ... da gab es ... in meinem Leben ... dieses Mädchen..."

Sie unterbrach ihn:

"Hast Du Empfindungen für sie?"

Sie sah ihn ernst und erwartungsvoll an. Er lächelte sanft und schüttelte den Kopf.

"Schon lange nicht mehr."

"Dann ist doch alles in Ordnung!", strahlte sie. "Jetzt bin ich in Deinem Leben. Das ist alles, was für mich zählt. Egal, was in entfernter Vergangenheit gewesen ist, es ist unwichtig geworden. Wir beide haben eine gemeinsame Zukunft, und alles andere interessiert mich nicht!"

Mamoru schmunzelte amüsiert.

"Dann hoffe ich mal, dass Du damit Recht hast ... ich würde es mir jedenfalls wünschen... Ich liebe Dich."

Sie strahlte überglücklich. "Und ich liebe Dich auch – mehr, als Du Dir vorstellen kannst!"

Noch ein letztes Mal küsste er sie.

"Gute Nacht. Schlafe gut, Elyzabeth."

"Elly", korrigierte sie schüchtern.

"Was? Aber ich dachte, Du magst es nicht, wenn..."

"Du bekommst eine Sondergenehmigung, mich so zu nennen", erklärte sie.

"Wenn Du es so wünschst, dann gerne", erwiderte er lächelnd. "Dann also gute Nacht, Elly. Hab süße Träume."

"Das wünsche ich Dir auch", wisperte sie. Ihr glückliches Lächeln weckte wieder dieses ganz besondere, warme Kribbeln in seinem Bauch. "Gute Nacht!"

Sie winkte ihm zu, öffnete dann die Haustür, schenkte ihm noch ein Lächeln zum Abschied und verschwand im Haus.

Auch er hob die Hand um zu winken. Dann kehrte er um und ging zu seinem Wagen zurück. Oder vielmehr: Er schwebte dort hin, schon beinahe wie von Wolke sieben getragen. Er setzte sich hinters Lenkrad, wendete den Wagen und fuhr zurück in Richtung SilverStar-Ranch. Er war noch nicht ganz dort angekommen, da wich das sanfte Lächeln aus seinem Gesicht und machte einem Ausdruck purer Sorge Platz.

Was sollte er nur tun, um sein Problem mit der unstillbaren Gier des Goldenen Kristalls aus der Welt zu schaffen?

Er wusste nicht, ob ihm seine Tante sein Handeln je wieder zu verzeihen vermochte. Er konnte sich nur gut vorstellen, dass sie die Welt nicht mehr verstand. Was mochte sie wohl von ihm denken? Sie hatte immerhin keine Ahnung. Nicht vom Goldenen Kristall, nicht von den Monstern und Dämonen, nicht von den Sailorkriegern und nicht von dem Schattenwesen. Das alles hatte mit einander zu tun. Auch, wenn Mamoru noch nicht verstand, wie. Doch das war im Augenblick zweitrangig.

Wichtig war nur, dass er Tante Kioku irgendwie davon überzeugte, dass er nicht bösartig war oder ihr hatte Schaden zufügen wollen. Nur wie sollte er das anstellen?

Doch so sehr er sich das Gehirn zermarterte, ihm kam einfach keine Idee.

Er fuhr auf den Hof der SilverStar-Ranch ein und das Erste, was ihm auffiel, waren die Fenster des unteren Stockwerkes, die zum Wohnzimmer gehörten. Sie waren noch immer voll erleuchtet. Mamoru fragte sich, ob sie womöglich inzwischen Onkel Seigi angerufen und sich bei ihm ausgesprochen hatte. Er parkte das Auto in der Garage, überquerte den Hof, schlich sich an eines der Fenster heran und riskierte einen Blick hindurch.

Kioku hockte eingesunken auf einem Sessel und vergrub das Gesicht in ihren Händen. So, als habe sie die ganze Zeit über ununterbrochen geweint. Mamoru fühlte sich richtiggehend schäbig, dass er weggelaufen war und sich mit anderen Dingen ablenken wollte, anstatt hier zu bleiben und die Sache wie ein Mann zu klären. Doch dann kam ihm wieder in den Sinn, mit welcher Wut und schier nackter Hysterie sie ihn aus ihrer Wohnung gejagt hatte. Nein, er hätte nicht bleiben können. Es hätte nichts gegeben, das er für sie hätte tun können. Und auch jetzt konnte er nichts tun. Seine Tante brauchte einfach Zeit für sich, um die Geschehnisse zu verdauen. Er konnte höchstens in ein paar Stunden, nach etwas Schlaf und viel Zeit zum Nachdenken, wieder zu ihr gehen und dann versuchen, ein klärendes Gespräch in Gang zu bringen. Das war seine einzig verbliebene Hoffnung.

Er schlich sich in seine Wohnung und legte sich schlafen. Was ihm allerdings nicht sonderlich leicht fiel. Er drehte sich lange hin und her und konnte kein Auge zu machen, da seine Gedanken sich wieder und wieder abwechselnd um Elly und um seine Tante Kioku drehten. Aber irgendwann fand er doch noch seinen Schlaf.

Finster dreinblickend beobachtete Sardonyxyte, wie sein Monster einen wehrlosen Menschen nach dem anderen mit seinen haarigen Tentakeln ergriff und ihnen ihre Lebensenergie stahl. Der Adjutant aus dem Königreich des Dunklen war äußerst unzufrieden. Er hatte die letzten paar Tage damit zugebracht, hier, im Herzen Südamerikas, seinem Herrschaftsgebiet, etliche winzige Dörfer abzuklappern und den Bewohnern ihre Kraft zu rauben. Und sowohl Qualität als auch Quantität dieser Energie war sehr dürftig. Aber immerhin war das besser, als mit leeren Händen vor Königin Perilia dazustehen.

Sardonyxyte hasste diese Arbeit. Er war ein Krieger durch und durch, und keine Melkmaschine für drittklassige Sterbliche! Er gehörte auf das Schlachtfeld. Er wollte lieber im Krieg seine Arme und Beine verlieren, als nur die Hände in den Schoß zu legen und seine Monster von Dörfchen zu Dörfchen zu jagen, um an winzige Quäntchen an Energie zu kommen.

Doch etwas anderes blieb ihm momentan kaum übrig. Die wirklich großen, lohnenswerten Städte wurden von den Feinden beschützt. Diese elende Bande von Sailorkriegern! Eines Tages würde Sardonyxyte jedem einzelnen von ihnen die Kehle aufschlitzen! Er hatte keine Angst vor ihnen. Aber seine Diener waren so schrecklich schwach, und sein Königreich unterstellte ihm einfach keine stärkeren Dämonen. Er war nun mal ein Soldat niederen Ranges.

Andere Krieger seines Volkes hatten in den Großstädten dieser Welt mehr Glück. Sie stahlen die Energie mit List und Tücke. Sie lockten die ahnungslosen Menschen in ihre Falle, und nur in den wenigsten Fällen wurden diese irgendwann einmal von den verhassten Sailorkriegern aufgedeckt. Doch zumeist hielten sich die Hinterhalte eine Ewigkeit. Sonderlich helle waren die Feinde schon mal nicht.

Sardonyxyte hielt allerdings nichts von der Methode seiner Mitstreiter. Die Taktik auf dem Schlachtfeld war seine Stärke; aber was er tun musste, um gewöhnliche Menschen zu täuschen, das wusste er nicht. Und es war auch nicht seine Art. Fallen – so seine Meinung – waren etwas für Feiglinge, Verlierer und Schwache. Hätte er nur mächtigere Kämpfer unter sich! Er würde das offene Gefecht mit den Sailorkriegern suchen. Er würde in Ruhe einen nach dem anderen abschlachten, und dann würde der großen Herrscherin nichts mehr im Wege stehen! Die Welt befände sich schon lange im Besitz des Königreichs des Dunklen!

Alles, was der hochgewachsene Soldat mit der Glatze jetzt tun konnte, war hoffen, dass er entweder schon bald endlich mächtigere Diener unterstellt bekommen würde, oder besser noch, in seinem Rang aufsteigen und einer der Generäle des Reiches werden konnte.

So grübelte er vor sich hin – mit vor der Brust verschränkten Armen, wie er es immer gerne tat – und schmiedete Mordpläne gegen die verfluchten Feinde, während er dabei zusah, wie sein Monster unter den wenigen Dutzend Dorfbewohnern wütete. Er wandte seinen Blick auch nicht ab, als er bemerkte, dass sich hinter ihm ein Raum-Tor öffnete, und sein Zwillingsbruder heraustrat. Alles, was er tat, war, die Arme vor seiner Brust zu entknoten, um mit den Fingern der einen Hand an der Spitze seines feuerroten Ziegenbartes mit den etlichen, winzigen Löckchen herum zu zwirbeln.

"Hey, Brüderchen!", tönte der sich ihm nähernde Karneolyte in seiner verdammten, ewig guten Laune.

"Nenn mich noch ein einziges Mal so, und ich löse Dich in Salzsäure auf!", fauchte der hochgewachsene Soldat auf seine typisch mürrische Weise. "Was willst Du? Siehst Du denn nicht, dass ich beschäftigt bin?"

"Ja. Ist nicht zu übersehen", antwortete Karneolyte trocken, als er an seinem Bruder vorbei sah und dem Monster dabei zuschaute, wie es die verängstigten Menschen fing und ihnen die Energie stahl. "Aber das kann warten. Ich brauche Deine Hilfe."

"Das <Bitte> muss ich wohl überhört haben", grummelte Sardonyxyte, da wurde ihm auch schon der Energindikat unter die Nase gehalten. Das Gerät war inzwischen wieder zusammengesetzt und in einwandfreiem Zustand. Mehr noch: Das dunkle Material, das sonst so stumpf wirkte wie die Oberfläche eines glattgeschmirgelten Steines, glänzte nun wie poliert.

"Meister Zoisyte hat ihn nach wochenlanger Arbeit endlich reparieren können", verkündete Karneolyte, machte dabei aber ein eher weniger begeistertes Gesicht. "Und jetzt darfst Du dreimal raten, was ich nun Feines machen darf! Ich soll für den Meister das Gerät testen!"

"Überanstreng Dich nicht", schnaubte Sardonyxyte und richtete sein Augenmerk wieder auf die schreienden und panischen Menschen.

Der letzte Rest an Humor, den Karneolyte noch besessen hatte, verging ihm nun auch noch. Er begrüßte es nicht sonderlich, wenn man so abfällig von ihm sprach. In ernstem Ton erklärte er:

"Unterschätze diesen Auftrag nicht. Denn der Meister erwartet einen Bericht von mir, der bestimmt wieder so lang sein soll wie die chinesische Mauer!"

Und schon war sein Feixen zurück gekehrt.

"Wenn wir es schlau anstellen, können wir die Arbeit vielleicht an einen anderen abdrücken..."

"Wir?", brummte der andere Adjutant. "Was hat das mit mir zu tun?"

"Sagen wir ... Du leihst mir Deine ... schlagenden Argumente ... und dafür nehme ich Dich an einen ganz wunderbaren Ort mit! Ich habe in meinem schönen Afrika eine große Stadt gefunden, die von keinem Sailorkrieger beschützt wird! Herrliche Energie von tausenden von Menschen! Stell Dir das doch mal vor! Wir können uns Tonnen von Energie aneignen, ohne gestört zu werden! Und Du brauchst nicht immer bloß diese kleinen, verarmten Dörfchen am Rande der Welt abzuklappern, deren Bewohner nicht mal die nötige Nahrung haben, um sich großartig auf den eigenen Beinen halten zu können! Und alle größeren Städte sind momentan noch in den Händen unserer grässlichen Feinde... Wer hätte gedacht, dass so viele von ihnen wieder in dieses Leben gesetzt worden sind? So eine Plage! ...Na, was sagst Du also? Für uns der Ruhm, so viel Energie gesammelt zu haben ... und für Amethysyte die Arbeit mit dem Bericht."

"Und Zoisyte?", fragte Sardonyxyte kurzgebunden nach.

Karneolyte winkte ab.

"Ich weiß, was Du sagen willst. Wie will ich ihm erklären, warum nicht ich den Auftrag ausgeführt habe, den er mir auferlegt hat? Aber lass das mal ganz meine Sache sein, ich lasse mir schon was einfallen. Du kennst meine großartigen, rhetorischen Fähigkeiten. Ich kann ihn davon überzeugen, dass dieser Schritt zwingend notwendig war oder so..."

"Ich weiß", unterbrach ihn Sardonyxyte augenrollend. "Du könntest ihn sogar so lange zulabern, bis er überzeugt ist, ein Kaktus zu sein."

Karneolyte lachte geschmeichelt auf, ehe er fortfuhr: "Alles, was zählt, ist, dass wir beide aus dem Schneider sind! Ich will immerhin keine auf den Deckel kriegen, nur weil Meister Zoisytes Erfindung womöglich im entscheidenden Moment den Geist aufgibt! ...Na, was sagst Du also?"

Er grinste seinen Zwillingsbruder siegessicher an.

Dieser seufzte nur und kratzte sich nachdenklich an seinem kahlen Hinterkopf. Dass dieser Vorschlag irgendwie verlockend klang, musste er sich schon eingestehen, und es war immerhin besser, als den Rest des Tages Däumchen zu drehen. Er hatte sowieso Spaß daran, dem Herrn Australiens eins auszuwischen.

"Meinetwegen", räumte er ein. "Amethysyte kann auch mal seinen müden Arsch bewegen. Wird auch mal Zeit, dass er was Besseres tut, als in seiner Bar zu sitzen und diesen unterbelichteten Sterblichen Bier einzuschenken. Soweit ich weiß, hatte er in der letzten Zeit ein paar Fehlschläge zu viel... Tut ihm vielleicht auch ganz gut, wenn er mal wieder was hat, wo er seinen Posten als Adjutant verteidigen kann. Sonst endet er noch als königlicher Tellerwäscher."

"Wie rücksichtsvoll von Dir, so lieb an ihn zu denken", stichelte Karneolyte.

"Noch so ein Spruch und ich zeig Dir mal, wie lieb meine Faust zu Dir sein kann. Also schön, Aufbruch!"

Er schnippte mit den Fingern und sein Monster ließ von dem kleinen Jungen ab, der inzwischen schon so kraftlos war, dass er, wie alle anderen auch, das Bewusstsein verloren hatte. Das Kind landete unsanft auf dem staubigen Boden, als der Dämon den Griff seines fellbesetzten Tentakels lockerte und den Knaben wie ein Spielzeug achtlos fallen ließ. Das Monster wandte sich seinem Meister zu und verschwand mit ihm und Karneolyte durch ein Raum-Tor ins Basislager des Dunklen Königreiches.
 

<Miserabel> war nicht das richtige Wort, um Mamorus Zustand an diesem Morgen zu beschreiben. <Katastrophal> traf es da schon eher. Obwohl auch das noch weit untertrieben war.

Er war erst nach Ewigkeiten eingeschlafen, war zwischenzeitlich etliche Male aufgewacht und als der Morgen anbrach, fühlte er sich sogar noch viel zerschlagener, als wenn er gar nicht geschlafen hätte. Doch es half alles nichts, er musste sich früh aus seinem Bett quälen und sich für die Schule bereit machen. Doch er beeilte sich dabei und räumte sein Schulzeug viel zu früh in seinen blauen Pick-Up, damit ihm noch genug Zeit blieb, seiner Tante einen kurzen Besuch abzustatten. Er machte sich Sorgen um sie. Er könnte es ihr nicht verdenken, wenn sie ihn hassen würde. Womöglich würde er nicht anders reagieren, wenn ihm im Umkehrfall so etwas geschehen wäre...

Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie er – Du lieber Himmel, das war keine zehn Stunden her! – die Kontrolle über die Gier des Goldenen Kristalls verloren und sich im Wahn auf seine Tante gestürzt hatte, um ihr die Energie zu stehlen, als sei sie der schlimmste aller Feinde!

Es war nur zu verständlich, dass sie da mit Misstrauen gegen ihn reagiert hatte.

Ihm tat sein Handeln in der Seele weh. Jedoch ändern konnte er nun, im Nachhinein, nichts mehr daran. Aber er würde es kein zweites Mal zu so einer Situation kommen lassen; nie mehr! Er gab sich selbst ein heiliges Ehrenwort darauf. Lieber setzte er sein Leben aufs Spiel, als das noch ein einziges Mal zuzulassen. Und er war fest davon überzeugt, dass er nun, durch diese schwierige Situation, endlich die Kontrolle über den Willen seines Kristalls erlangt hatte. Er bedauerte nur, dass zuerst etwas derart Schlimmes passieren musste, ehe ihm in vollem Ausmaß bewusst wurde, welche Macht und auch welche gewaltige Verantwortung da auf seinen Schultern lastete, und wie wichtig es war, den Goldenen Kristall, dieses mächtigste aller Werkzeuge auf der Erde, mit menschlichem Verstand zu führen, anstatt ihn seinen eigenen, animalischen Instinkten zu überlassen.

Mamoru hatte aus seinen Fehlern gelernt und er war wild entschlossen, sein Vergehen wieder gut zu machen. Er legte seine Hand auf den Türgriff der Haustür zum Haupthaus und atmete tief durch. Dann erst drückte er die Klinke nach unten. Es war nicht abgeschlossen; eine Angewohnheit, die man hier draußen im Outback ziemlich schnell verinnerlichte. Leise drückte er die Türe auf und setzte dann einen Schritt in die Wohnung. Er ließ zuerst einen Blick durch das dahinter liegende Wohnzimmer schweifen, ehe er sich weiter vor bewegte.

Er entdeckte seine Tante, wie sie zusammengekauert in einem der Sessel saß, die Knie an den Körper gezogen und das Gesicht in ihren Händen vergraben. Dann und wann schluchzte sie leise auf. Ihr Körper zitterte sachte. Sie schien ihn noch nicht gehört zu haben. Mamoru beschlich das dumpfe Gefühl, sie habe die ganze Nacht hier verbracht, und zwar nicht schlafend. Er betrat das Zimmer nun ganz und drückte vorsichtig die Tür ins Schloss. Mit bedächtigen Schritten näherte er sich ihr, wobei seine schweren Stiefel leise, klackernde Geräusche auf dem Holzfußboden machten.

Wie er so langsam auf sie zu ging, hob sie endlich ihren Kopf und blickte in seine Richtung. Ihre Augen wirkten glasig und trüb und waren von dicken, schwarzen Rändern umgeben. Die Haut außenrum war angeschwollen und rot von den vielen Tränen, die darüber hinweg gelaufen waren; ansonsten wirkte sie sehr blass. Ein feiner Film von Schweißperlen hatte sich auf ihrer Stirn und ihren Schläfen angesammelt. Sie sah irgendwie sehr krank aus und schien geschwächt zu sein. Sie hatte ihre dunklen Augenbrauen überrascht angehoben; wahrscheinlich hatte sie jetzt nicht mit dieser Art von Besuch gerechnet. Doch schon nach wenigen Sekunden wich ihre Verwirrung und es bildete sich eine steile Falte auf ihrer Stirn, als sie missbilligend die Brauen zusammen zog. Ein äußerst zorniger Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht, der Mamoru mitten im Schritt verharren ließ.

"Du schon wieder", zischte sie erbost. "Was liegt jetzt an – willst Du mir als nächstes vielleicht das Genick brechen oder mir die Leber aus dem Leib reißen?"

Sie ließ ihre Hände, in denen gerade noch ihr Gesicht gelegen hatte, nun sinken, und so hatte Mamoru zum ersten Mal freien Blick auf die dunkelblauen Blutergüsse an ihrem Hals, die deutlich die Konturen seiner schlanken Hände nachzeichneten. Der Junge trat geschockt einen Schritt zurück und legte sich die Finger an den Mund. Sein schlechtes Gewissen tobte in seinem Inneren und ließ sein Herz schier zerbrechen. Er machte einen schüchternen Schritt auf sie zu und streckte ihr sachte seine Hand entgegen.

"Tante..."

Sie wich zurück und presste ihren Rücken stärker gegen die Sessellehne, als sie ihn anfauchte:

"Wag es ja nicht, mir näher zu kommen!"

"Aber... Ich will doch nur..."

"...Dein Werk vollenden und mich endgültig umbringen?!", kreischte sie ihm entgegen.

"Nein", hauchte er heiser. Er spürte Tränen der Verzweiflung in seine Augen schießen, doch er kämpfte sie mühsam zurück. "Ich will Dir helfen."

"Auf diese Hilfe kann ich getrost verzichten!", schnaubte sie verächtlich.

Niedergeschmettert ließ Mamoru Kopf und Schultern hängen. In dieser vertrackten Situation wusste er weder ein noch aus. Aber irgendwie musste er ihr doch helfen und ihr Vertrauen zurück gewinnen!

"Es tut mir so schrecklich Leid", hauchte er. "Wenn Du mich zumindest erklären lassen würdest..."

"Werde ich aber nicht!", giftete sie. "Und jetzt verlass gefälligst mein Haus!"

"Aber ich kann Dich doch nicht einfach so hier zurücklassen; ganz allein und ... verwundet...", begehrte er auf.

"Das hättest Du Dir vorher überlegen sollen!", war prompt ihre Antwort. "Und nun sieh zu, dass Du Land gewinnst!"

"Das kann ich leider nicht", erklärte er leise. "Erst muss ich ... das hier ... wieder gutmachen." Er wies mit ausgestrecktem Finger auf die Hämatome an ihrem Hals, während er sich ihr mit langsamen Schritten näherte. Und je mehr die Entfernung zwischen ihnen beiden schrumpfte, umso deutlicher zeichnete sich ein Ausdruck nackter Panik auf Kiokus Gesicht ab. Mamoru musste sie irgendwie beruhigen, das war ihm klar; nur wie? Er konnte nicht riskieren, ihr in ihrem jetzigen Zustand zu nahe zu kommen und sie so dazu zu provozieren, wild um sich zu schlagen.

Er konzentrierte sich. Er versuchte nun etwas zu vollbringen, was er bislang nie hatte tun müssen: Er wollte seine heilenden Kräfte schon auf eine größere Entfernung hin aktivieren. Nun gut, man mochte den guten Meter, den ihn von seiner Tante trennte womöglich nicht als <Entfernung> bezeichnen, doch wenn man die Tatsache bedachte, dass er dafür bislang immer Körperkontakt hatte, dann machte dies die Sache doch schon komplizierter. Sogar wesentlich komplizierter, als Mamoru sich das vorgestellt hatte. Er riss sich innerlich zusammen und forderte seine gesamte Konzentration, doch er spürte, dass der größte Teil der Energie auf dem Weg durch die Luft verloren ging. Und dennoch schien ein kleines Stück sein Ziel zu erreichen. Auch auf die Distanz hin empfing der Herr der Erde, wie sich etwas in der Gefühlslage von Kioku veränderte. Es fiel ihm schwer, das Empfangene zu beschreiben ... aber es war, als spürte er, wie sich eine innere Ruhe allmählich in ihr auszubreiten begann. Zunächst verebbte langsam ihre Angst, dann folgte eine Verminderung ihres Misstrauens. Je weniger sie sich gegen ihn wehrte, umso näher kam er ihr; langsam, Schrittchen für Schrittchen. Und je weniger Entfernung noch zwischen ihnen beiden lag, umso stärker wurden seine beruhigenden Impulse. Als er vorsichtig ihre Hände in seine nahm, waren zwar ihre – eigentlich nachvollziehbaren – Zweifel noch nicht völlig zerstreut, aber dennoch deutlich abgeklungen. Es machte fast den Eindruck, als würde ihre Skepsis allmählich durch Neugierde ersetzt. Sie spürte wohl diese gewissermaßen völlig grundlose Ruhe in sich und wunderte sich, woher diese kam und sie fragte sich des weiteren, was nun geschehen würde, denn immerhin kannte sie das Verhalten, das ihr Neffe gerade an den Tag legte, überhaupt nicht.

In der Sekunde, in der seine Hände die ihren berührten, konnte der Fluss an heilender Energie ungehindert fließen. Mamoru war sich bewusst, dass er seiner Tante wohl erneut einen ziemlichen Schock versetzen würde, und dass er ihr daraufhin eine Erklärung schuldete. Doch das musste er akzeptieren. Er hatte einen großen Fehler begangen, als er den Goldenen Kristall nicht unter Kontrolle gehabt hatte, und nun musste er dafür gerade stehen. Eigentlich – so dachte er sich für den Bruchteil einer Sekunde – wäre es doch gar nicht so schlecht, sich alles von der Seele zu reden. Davon zu erzählen, wer er war ... was er war ... was es mit dem Goldenen Kristall und dem Königreich des Dunklen auf sich hatte – zumindest das, was er selbst bislang in Erfahrung gebracht hatte. Er fragte sich, wie sie wohl reagieren würde.

Und ob sie ihm überhaupt glauben würde.

Doch vielleicht war es besser für sie, so wenig wie nur irgend möglich zu wissen? Wenn sie sich nicht in den Krieg einmischte, wenn sie nicht wegen der Informationen erpresst werden konnte, wenn sie nicht aus Panik falsch reagierte ... dann konnte er eher für ihre Sicherheit sorgen. Er würde ihr seine heilende Fähigkeit irgendwie anders erklären müssen. Eine Lüge. Ein Vorwand. Irgendwas. Er musste sich was einfallen lassen. Nur was das sein würde, wusste er noch nicht.

Er behandelte Kiokus Verletzungen. Die blauen Flecke verblassten zusehends und verschwanden schließlich ganz. Sie bekam nun außerdem wieder etwas mehr Farbe im Gesicht. Doch ihre Hände fühlten sich heiß an. Sie hatte leichtes Fieber bekommen, möglicherweise war ihr Körper in einer Nacht voller Tränen und ohne Schlaf – und besonders ohne Energie – geschwächt, sodass Krankheiten bei ihr leichteres Spiel hatten. Doch darum konnte sich Mamoru nun nicht kümmern, so gerne er das auch getan hätte. Aber er brauchte noch Kraft. Der ganze Tag, und davon noch ein Großteil in der Schule, lag noch vor ihm. Er würde sich um dieses Problem bemühen, sobald er wieder zurück war, versprach er sich selbst im Stillen.

Er zog seine Hände zurück und seufzte leise. Seinen Blick wandte er zu Boden. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Mit fast schon schmerzhafter Verzweiflung suchte er nach Worten.

Kioku indes tastete behutsam mit ihren äußersten Fingerspitzen über ihren Hals. Ihre Zweifel waren inzwischen vollkommener Verblüffung gewichen. Der Schmerz war gänzlich vergangen und ohne, dass sie es sich hätte erklären können, fühlte sie sich besser – oder zumindest so, als ob sie wenigstens zwei oder drei Stunden geschlafen hätte.

"Was...?", flüsterte sie verwundert. "Wie hast Du...?"

Sie hob den Blick und sah ihn fassungslos an.

Mamorus Gehirn überschlug sich fast auf der Suche nach einer Antwort, doch es blieb erfolglos. Schließlich hob er leise seufzend wieder den Blick und seine Augen verharrten drei scheinbar endlose Sekunden auf ihren. Dann drehte er sich um, schritt zur Türe und murmelte dabei etwas, das wie "ich muss in die Schule" klang. Dass Kioku ihn nicht zurückrief oder sonst wie aufhielt, lag einzig und allein an ihrer Verwirrung.
 

Ein hässliches Ächzen entwich Amethysytes Kehle, als sein Rücken hart gegen die Wand prallte. Zwei Sekunden lag hatte er Schwierigkeiten zu atmen. Ihm gegenüber standen Karneolyte und Sardonyxyte, die beide nur siegessicher grinsten.

"Willst Du Dir jetzt vielleicht in Ruhe unser ... Angebot ... durch den Kopf gehen lassen?", meinte Sardonyxyte mit Genugtuung. Seine Tonlage verkündete, dass dies weniger eine Frage als umso mehr eine Drohung war.

Karneolyte gab Amethysyte gar nicht erst die Zeit, eine Antwort zu geben, und erklärte herablassend: "Im Grunde kannst Du gar nicht ablehnen. Sieh doch: Es ist nur zu unser aller Vorteil! Du hast endlich wieder einen Erfolg zu präsentieren, und wir sind unsre lästige Verpflichtung los."

"Ja", stimmte ihm sein Zwillingsbruder zu. "Genau genommen ist es doch unglaublich nett von uns, dass wir Dir überhaupt so großzügig unsre verantwortungsvolle Aufgabe überlassen."

Amethysyte, der inzwischen wieder zu Luft gekommen war, fletschte die Zähne. "So könnt ihr nicht mit mir umspringen."

"Du sieht, dass wir es können", entgegnete Karneolyte einfach. Sardonyxytes Antwort bestand darin, wieder seine Muskeln anzuspannen.

Die Auseinandersetzung war inzwischen kaum eine Minute alt, doch der Herr von Australien wusste, dass er unterlegen war. Er konnte sich einfach nicht mit den Zwillingen anlegen – nicht zuletzt, weil Sardonyxyte unter Lord Kunzyte diente, und so als Adjutant des befehlsstärksten Generals auch der Führer der Adjutanten war. Also kniff er knurrend den Schwanz ein.

"Ihr habt gewonnen", erklärte er und streckte die Hand aus, damit Karneolyte ihm den Energindikat übergeben konnte.

"Sehr brav", lobte dieser gehässig lachend. Er und sein Bruder wandten sich zum Gehen um. "Und beeil Dich ... Du kennst Meister Zoisytes unglaublich kurze Geduldsspanne!"

<Vor allem kenne ich zwei hässliche Gesichter, in die ich gerne reintreten würde>, dachte Amethysyte stumm bei sich. Noch ehe die Zwillinge in einem Raum-Tor verschwinden konnten, öffnete der hellblonde Adjutant die Tür, die aus dem kleinen, kahlen Raum hinausführte, und stand in der Küche der Tenebrae. Geschäftiges Treiben empfing ihn dort, denn einige Monster des Königreiches – hier als Menschen getarnt – waren voller Elan dabei, Getränke zu mixen, Mahlzeiten zu bereiten und Bestellungen weiterzugeben. In diesem heillosen Chaos suchte Amethysyte nach Jaspisyte. Endlich fand er ihn. Der jüngste der Adjutanten war dabei, einige der winzigen, energiesaugenden Kristalle, die in das Besteck eingelassen waren, nachzujustieren. Sie sollten ihr Werk immerhin sehr subtil verrichten, anstatt zu viel Kraft zu stehlen. Als Amethysyte wutschnaubend anmarschiert kam, blickte Jaspisyte von seiner Arbeit hoch und setzte eine sorgenvolle Mine auf.

"Ist etwas passiert?"

"Wie hast Du das denn erraten, Meister Oberschlau?", giftete der Blonde schlecht gelaunt. Dass sein zornesrotes Gesicht Bände sprach, schluckte Jaspisyte jetzt lieber einfach herunter.

"Stell Dir das nur mal vor!", wetterte Amethysyte, während er den Energindikat hervorzeigte. "Die beiden haben ja wohl nur Mist in der Birne! Ich soll für sie die Drecksarbeit machen und dieses Scheißding testen! Weiß der Teufel, was General Zoisyte mal wieder da fabriziert hat! Verdammt, ich habe Besseres zu tun, als mich mit so einer Spielkonsole zu befassen!"

Leise warf Jaspisyte ein: "Wenn man damit zumindest spielen könnte..."

Amethysytes Todesblick brachte ihn sofort wieder zum Schweigen.

"Jedenfalls muss ich jetzt raus und schauen, was dieses Ding alles kann. Meine Fresse, das kotzt mich ja schon wieder an. Echt, ich würde dieses Gerät am liebsten den Grand Canyon runter werfen."

"Dann lass ... mich ... es doch machen", schlug Jaspisyte schüchtern vor. "Dann kannst Du Dich um die Sachen kümmern, die Du besser zu tun hast. Ich nehme Dir die Arbeit gern ab, wenn es Dich glücklicher macht."

"Nein!", zischte sein Gegenüber und presste den Energindikat plötzlich so fest an sich, als bestehe er aus purem Gold. "Und riskieren, dass Du Mist baust und das dann ein schlechtes Licht auf mich wirft? Vergiss es! Wenn ich will, dass es richtig gemacht wird, dann muss ich es schon selbst machen." Mit angewidertem Gesicht hielt er den Indikator wieder weiter von sich fort. "Schaffst Du es, für ein paar Stunden alleine die Tenebrae zu führen, ohne alles in Schutt und Asche zu legen?"

"Klar doch!", strahlte der Jüngere und salutierte artig.

"Ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich Deine Fresse sehe", klagte Amethysyte. "So glücklich kann auch nur der größte Idiot auf Erden sein! Und so was soll zu einer so erstklassigen Rasse wie der unseren gehören... Unfassbar!"

Er drehte sich kopfschüttelnd ab, wählte eines der in der Küche beschäftigten Monster aus und bedeutete diesem, ihm zu folgen.
 

Der Zug zischte so schnell über die Gleise dahin, dass es schwierig wurde, Details in der so schon eintönigen Landschaft auszumachen. Für Mamoru sah es so aus, als zögen nur die hellen, beigebraunen Kleckse der Steppe am Fenster vorüber, nur dann und wann von einer Stadt durchbrochen. Er schaute hin, aber er sah dabei dennoch weder die Häuser noch den Sand.

Mamorus Gedanken kreisten noch immer unaufhaltsam um seine Tante. Er fragte sich ununterbrochen, wie es ihr wohl inzwischen ging; ob sie in der Zwischenzeit etwas Schlaf gefunden hatte oder ob er sie mit seiner Heilkunst so sehr geschockt hatte, dass sie einfach keine Ruhe zu finden vermochte. Wie er sie kannte, hatte sie längst das FBI und die Armee bestellt...

Er seufzte lautlos in sich hinein. Nein, das hätte sie mit Sicherheit nicht getan, schalt er sich selbst in Gedanken einen Narren. Sie hätte es ihm womöglich angedroht, wäre alles nur ein Scherz gewesen – doch das war es ja immerhin nicht. Das war es ganz und gar nicht.

Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, so musste er eingestehen, dass er Angst vor dem nächsten Zusammentreffen hatte. Er konnte Kiokus Reaktion nicht abschätzen, die sie haben würde, wenn die beiden sich das nächste Mal sehen würden. Sie konnte ihm ebenso gut in die Arme fallen wie ihm einen Vorschlaghammer gegen den Schädel werfen – vielleicht würde sie das auch in genau dieser Reihenfolge tun – und eine ihrer Reaktionen würde mit Sicherheit sein, ihn zu fragen, was denn überhaupt geschehen war. Und das konnte er ihr nicht erklären, wie auch? Verzweifelt suchte er schon den ganzen Tag nach Worten, doch er fand keine. Vielleicht, so dachte er einen Moment lang bei sich, gab es in keiner menschlichen Sprache die nötigen Begriffe, um das Geschehene zu erklären...

Der Schultag war miserabel verlaufen. Nicht einmal zwei zusammenhängende Minuten lang hatte es der junge Herr über die Erde geschafft, sich auf das Geschehen vorne an der Tafel zu konzentrieren. Sein Glück war nur gewesen, dass dies niemandem aufgefallen war. Unbehelligt hatte er den Tag überstehen können. Jedoch wäre es ihm lieber gewesen, hundert Klausuren zu schreiben und tausend schlechte Noten zu bekommen, wenn er dafür ungeschehen hätte machen können, was er vergangenen Abend seiner Tante angetan hatte.

Die Bahn bremste etwas unsanft (derselbe Idiot, der jeden Donnerstag diesen Zug führte, saß wohl auch dieses Mal wieder in der Lok. Dieser Saftsack hatte seine Zulassung sicherlich beim Preisausschreiben für den landesweit größten Deppen gewonnen!) und fuhr in den Bahnhof von Orendaham ein. Eine Ansage tönte aus den Lautsprechern, die kaum zu erraten war. An und für sich hätte Mamoru diesen breitesten texanischen Kauderwelsch verstanden, hätte der Mann nur nicht so höllisch genuschelt und würde die miserable Qualität der Lautsprecher nicht auch noch ihr Übriges dazutun. Dann blieb der Zug vollends stehen und seine Türen öffneten sich. Mamoru schnappte sich seinen Schulranzen, wie es auch Fala, Elyzabeth und Tony taten, und gemeinsam verließen sie erst das Fahrzeug, dann den Bahnhof. Wie jeden Nachmittag stand Rick schon wartend auf dem Parkplatz, lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Minibus und hatte einen Lutscher im Mund. Als er seine Freunde näher kommen sah, schob er seinen Hut etwas weiter in den Nacken und grinste. Er öffnete für die Mädchen schon mal die Tür, zeigte mit einer Hand auf Mamorus Pick-Up auf dem Parkplatz daneben und fragte:

"Wir seh'n uns dann gleich?"

Normalerweise hätte Mamoru diese Frage bejaht und wäre in seinem Wagen auch mit zur Mustang Ranch gefahren. Doch heute fand er keinen Nerv dafür. Ein Lächeln aufsetzend, damit niemand von den andren Verdacht schöpfte, schüttelte er den Kopf und antwortete:

"Heute mal nicht, Rick. Tut mir Leid. Aber meiner Tante geht es nicht gut, und ich will lieber mal nach ihr sehen. Sie ist wohl krank geworden, weißt Du? Und sie ist ganz alleine daheim..."

Das war noch nicht einmal gelogen. Sie wäre zwar auch dann alleine gewesen, wenn sein Onkel Seigi nicht wegen einer Geschäftsreise nach Oklahoma City gefahren wäre sondern den Tag in seinem Büro verbracht hätte wie sonst auch, aber diese Tatsache ließ er jetzt einfach eiskalt unter den Tisch fallen.

Das Grinsen wich aus Ricks Gesicht und er nickte.

"Verstehe. Sach ihr ma' nen schönen Gruß und ne gute Besserung von mir, wa?"

"Mach ich", versprach Mamoru. Damit winkte er, ließ sich schwer in den Sitz seines Autos fallen und fuhr zur SilverStar-Ranch. Er bemerkte in seiner geistigen Abwesenheit nicht mal, wie ihn Elyzabeths Blick aus Ricks Minibus heraus fixierte und unbeschreiblich traurig wurde, als er davonfuhr, ohne sich von ihr zu verabschieden.
 

"Lauf doch mal da drüben hin", brummte Amethysyte übellaunig. Sein Blick haftete dabei ununterbrochen auf dem Display des Energindikat.

"Jawohl, Meister! Nag-nag-nag!", antwortete die quiekende Stimme des Dämonen. Das plumpe Wesen, das entfernt wie eine Mischung aus Präriehund und Maulwurf aussah, indes allerdings beträchtlich massiver war, krabbelte mit unbeholfenen Bewegungen über den sandigen Erdboden. Wäre es tatsächlich ein Präriehund gewesen, hätte diese Bewegung wohl um ein Vielfaches eleganter gewirkt; doch da es annährend die Größe eines Schäferhundes hatte, dabei aber auf kurzen Ärmchen von den Proportionen eines Maulwurfes über die Erde robbte und dabei auch noch massige Speckröllchen hinter sich her zog, sah seine Art der Fortbewegung nur noch lächerlich aus.

Dennoch hatte Amethysyte dieses Monster aus guten Gründen ausgesucht.

"Bleib stehen", wies er an und drückte lustlos ein paar Knöpfe des Gerätes in seinen Händen. "Und nun runter mit Dir, Moymo."

Das Monster gehorchte. Es bewegte seine krallenbewährten Pfoten mit einer Geschwindigkeit, die sein plumpes Äußeres Lügen strafte und buddelte in Sekundenschnelle einen Tunnel in den Boden. So hilflos und langsam es über der Erde war, so flink und wendig war es darunter. Es grub sich mal hierhin, mal dorthin, änderte ständig die Richtung, war mal tiefer unter der Erde, mal knapp unter der Oberfläche, und schließlich nach wenigen Minuten streckte es den Kopf aus einem Erdloch heraus. Das türkisfarbene Juwel auf seiner Stirn brach die Sonnenstrahlen, die darauf fielen.

Die beiden waren nun schon bestimmt zehn Minuten damit beschäftigt, den Energindikat zu testen. Zu diesem Zweck hatte Amethysyte den Dämonen zuvor veranlasst, Energie aus dem Kristall anzuzapfen, der sich in der Tenebrae befand und die Kraft in sich speicherte, die den Gästen des Lokals entzogen worden war. Nun tat Moymo nichts anderes, als von Punkt A nach Punkt B gescheucht zu werden, damit sein Herr der Bewegung dieser Energie mit dem Energindikat folgen konnte.

"Seid Ihr zufrieden, Meister? Nag-nag?" Es hielt den Kopf schief, als es Amethysyte fragend ansah.

"Super, Moymo", keifte dieser mit vor Sarkasmus triefender Stimme. "Du kannst Dir nicht vorstellen, wie ich mich freue, dass Du es tatsächlich schaffst, das eine fertig zu bringen, wofür Du erschaffen wurdest: das Buddeln. Echt, reife Leistung. Mir scheint die Sonne aus dem Ar... Ach, was ist das denn?" Seine Stimme bekam einen interessierten Klang und er zog erstaunt die Augenbrauen hoch, als er an einem Rädchen am Energindikat drehte.

"Nag-nag-nag? Was denn, Meister?", fragte Moymo nach einer Weile, als der Adjutant nicht weitersprach.

Amethysyte schwieg verbissen. Konzentriert starrte er das Gerät in seinen Fingern an und bediente einige weitere Knöpfe und Schalter. Erst nach einigen Minuten ließ er sich endlich zu einer Antwort herab:

"Dieses Mistding! Beim Herauszoomen habe ich doch gerade eben ein Signal empfangen! Und nun ist es wieder weg."

"Ein Signal? Nag? Also ist etwas in der Nähe? Eine Energiequelle?"

"Energiequelle?", äffte der Krieger ihn nach und rollte mit den Augen. "Wie kommst Du auf Energiequelle? Dieses Ding hier sucht nach Sandkörnern, davon gibt es hier nämlich viel zu wenige..."

Moymo zog es vor, darauf lieber keine Antwort zu geben. Vielleicht rettete ihm diese Entscheidung das Leben.

Nach einigen derben Flüchen und weiterem Auf-Knöpfen-herum-Gedrücke hielt Amethysyte wieder inne und erstarrte zur Salzsäule.

"Da ist es wieder", hauchte er leise. Er bewegte sich keinen Millimeter, als habe er Angst, das Signal durch eine unbedachte Vibration wieder zu verlieren. "Es ist nur sehr schwach. Womöglich nur ein gewöhnlicher Mensch. Aber immerhin endlich mal etwas! Ich finde, wir sollten dort hin und nachsehen. Nur, um zu schauen, was es ist, was hier gemessen wird. Und vielleicht können wir unserer Königin etwas wertvolle Energie mitbringen! ...Oder vielleicht machen wir ja sogar aus, wo sich unsere Feinde verkrochen haben, diese elendiglichen Würmer!" Er lachte böse auf und zeigte in eine Richtung. "Wir müssen dort lang!"

Sie machten sich auf. Amethysyte hatte den Blick starr auf das schwarze Gerät in seinen Händen gerichtet, als sei es ein Kompass, der nicht nach Norden sondern geradewegs auf den Schatz selbst zeigte. Moymo schaufelte sich stattdessen lieber einen unterirdischen Tunnel. Es hätte mit dem strammen Marsch seines Meisters wohl sonst nicht mithalten können.

Nach einer Viertelmeile quer durch die Pampa erreichten die beiden endlich ein Ranchgelände. Die kleinen Häuschen drängten sich dicht an dich auf engstem Raum, ein Zaun war drum herum gesetzt, es gab einen kleinen Gemüsegarten, einen lächerlich kleinen Stall ... alles in allem konnte Amethysyte nur den Kopf schütteln. Er als der Herr Australiens war offenes Gelände und gigantische Ranches gewohnt, und eigentlich fand er diese auch in diesem Teil von Texas – wenn sie auch nicht so groß und schön waren, wie in seiner Heimat, wie er fand – aber das da als Ranch zu bezeichnen weigerte sich sein Verstand. Vielleicht war sie es früher mal gewesen, doch von der alten Pracht war nichts mehr als ein kleines, nettes Häuschen geblieben. Er kontrollierte nochmals die Anzeige auf dem Energindikat, näherte sich dann vorsichtig dem Stall und blieb in dessen Schatten stehen. Es war zu still. Er war sich sicher, dass es keine Pferde oder sonstiges Vieh auf dem Gelände gab.

<Nicht mal das>, moserte er in Gedanken. <Wer will denn in dieser Einöde wohnen, so ganz ohne ordentliche Farm? Womit verdienen diese Greenhorns eigentlich ihr Geld?>

Doch er scherte sich sehr bald nicht weiter drum. Er hatte Wichtigeres zu tun, als sich um das Wohlergehen einiger unbedeutender Menschen zu kümmern.

Moymo grub sich zu seinen Füßen aus dem Erdboden und meldete:

"Ich habe mich mal vorne an der Straße umgesehen, Meister. Auf dem Schild an der Einfahrt steht der Name des Anwesens: <SilverStar-Ranch>."

"Was interessiert mich das?", keifte Amethysyte. "Kümmere Du Dich lieber mal um die Energiequelle, die irgendwo hier ... Still!", zischte er, drückte sich hastig tiefer in den Schatten des Stallgebäudes und zog sich hinter eine der Ecken zurück. Moymo verschwand einfach wieder in seinem Erdloch, doch seine Augen funkelten noch knapp unter der Erdoberfläche ins Freie.

Die Tür des größeren der beiden Wohnhäuser schwang auf und eine Frau trat heraus. Sie war klein und schlank. Amethysyte konnte auf die Entfernung erkennen, dass sie müde wirkte; ja, geradezu krank. Ihre Bewegungen waren fahrig, langsam und kraftlos. Sie schwankte ein wenig beim Gehen, als sie einen Eimer Wasser vor sich her schleppte, den sie einige Schritte weiter auf der Veranda abstellte und damit begann, die Fenster zu putzen.

"Was zum Teufel soll das werden, wenn es fertig ist?", wisperte Amethysyte verständnislos vor sich hin. Er würde diese Menschen nie verstehen. Wie konnte jemand, der offensichtlich so entkräftet war, sich nur um etwas so Unwichtiges wie den Hausputz kümmern?!

Jedenfalls, so beschloss er, würde ein Energieraub bei diesem ausgemergelten Klappergestell da vorne mehr Schaden als Nutzen einbringen.

Doch offensichtlich sah sein Diener das etwas anders.

"Ich werde mich sofort um sie kümmern!", wisperte es triumphierend und begann schon in rasender Geschwindigkeit damit, einen Tunnel in ihre Richtung zu bohren.

"Nein!", zischte Amethysyte, "bloß nicht!"

Doch er hatte diese drei Worte lauter ausgesprochen als er eigentlich beabsichtigt hatte.

"Ist da jemand?", kam es unsicher von der Frau, die sich in die Richtung des Geräusches gedreht und auch prompt den Krieger aus dem Königreich des Dunklen erblickt hatte, wie er sich halb um die Ecke des Stalles lehnte. Ihre Stimme verwandelte sich in ein wütendes Keifen. "Was in drei Teufels Namen tun Sie denn hier auf meinem Grundstück, Sie Affe? Schwingen Sie Ihre goldgelockte Matschbirne mal bitte dahin zurück, wo sie herkommt, bevor hier alles voller Fruchtfliegen ist!"

Amethysytes Gesicht färbte sich dunkelrot vor Zorn. Er änderte seine Entscheidung von gerade eben schlagartig.

"Moymo", so wandte er sich an seinen Diener, der irgendwo auf halbem Wege zwischen ihm und der Frau unter der Erde stehen geblieben war und verharrte. Er wusste, der Dämon würde ihn durch den Tunnel hindurch hören. "Stopf diesem Weibsbild gefälligst das Maul!"

Die Fremde setzte erneut zu einer schnippischen Bemerkung an, doch ihr blieben die Worte im Halse stecken, als die Erde nur knapp vor ihr aufbrach und zusammen mit einigen Steinchen und Erdklumpen ein hässliches Vieh mit spitzer Schnauze und scharfen Nagetierzähnen ausspie. Moymo überwand so flink, wie es seine Stummelbeinchen zuließen, die Treppe zur Veranda und richtete sich dann auf. Ein Satz scharfer Krallen erschien aus seinen Pfotenspitzen.

Einen Schreckensschrei ausstoßend taumelte die Frau wenige Schritte weit weg und stolperte über ihren Wassereimer. Sie landete unsanft auf dem Holzboden und krabbelte rückwärts davon, den entsetzten Blick nicht von dem Monster nehmend.

Mit kleinen Schrittchen trippelte Moymo auf sie zu, das hässliche Gesicht zu einem triumphalen Grinsen verzerrt. Seine Krallen näherten sich langsam aber stetig den Beinen seines Opfers.

Mit einem Kreischen trat die Frau nach ihm, doch sie schien zu geschwächt zu sein, um wirklich etwas gegen ihren zwar kleinen aber dennoch massigen Gegner ausrichten zu können. Amethysyte hatte mit seiner Einschätzung, sie sei nicht gerade in kräftigster Verfassung, Recht gehabt. Spielend leicht konnte Moymo die lächerlichen Attacken abwehren. Es packte irgendwann kurzerhand zu und hielt das Fußgelenk seiner Kontrahentin einfach fest. Der türkisfarbene Stein auf seiner Stirn begann heller zu strahlen, als der Dämon damit begann, sich die Kraft der Frau anzueignen. Sehr bald schon hatte diese kaum noch die Kraft, sich zu wehren. Viel würde es allerdings nicht sein, was das Monster an Stärke aus ihr gewinnen könnte, das spürte es schon nach wenigen Sekunden. Doch es würde nicht ein Quäntchen davon verschwenden, und so viel mitnehmen, wie es nur kriegen konnte. Doch ließ es überrascht von der Frau ab, als es ein Geräusch hörte und sich fragend umsah.

Von der Straße her bog gerade ein alter, blauer Pick-Up in den Hof ein. Der Motor jaulte hoch, als das Gaspedal bis zum Anschlag durchgetreten wurde. Erst kurz vor der Veranda wurde das Steuer herumgerissen und die rostigen Bremsen gaben ein unwilliges Quietschen und Knirschen von sich. Der Wagen schlitterte noch eine kurze Strecke durch den Staub und kam zum Stehen. Der Fahrer riss die Tür auf, stieg aus dem Pick-Up und brüllte in Moymos Richtung: "Wage es, ihr auch nur ein Haar zu krümmen, und ich mache mir ein Paar Pantoffeln aus Deinem Fell!"
 

Mamoru traute seinen Augen nicht, als er sich der SilverStar-Ranch näherte und da dieses unförmige ... Ding ... sah, welches seine Tante angriff. Erbarmungslos jagte er sein Auto die Einfahrt hinauf, legte ein scharfes Bremsmanöver hin, riss die Tür auf und schrie das Monster an. Er dachte nicht nach und warf nur wild mit Drohungen und einem guten Dutzend Flüchen um sich, um den Dämon davon abzuhalten, seine grausame Tat zu Ende zu bringen. Und es wirkte. Das Monster ließ von Kioku ab und wandte sich Mamoru zu. Unschlüssig stand es da und wusste offensichtlich nicht, was es nun tun sollte.

Um ein paar weitere Schritte näherte sich Mamoru und blieb dann in wenigen Metern Sicherheitsabstand stehen. Er wollte dieses Viech nicht dazu provozieren, Kioku etwas anzutun. Seine Hände zitterten leicht vor Aufregung. Fieberhaft dachte er nach, was er nun tun sollte.

"Ziemlich überheblich für einen Bengel wie Dich", tönte es hinter Mamoru. "Du hättest Dich lieber nicht einmischen sollen. Kannst Du überhaupt schon Deine Schuhe zubinden?"

Ruckartig wandte Mamoru sich um und entdeckte erst jetzt den Krieger aus dem Königreich des Dunklen, der bislang in einem so ungünstigen Winkel hinter dem zur Garage umfunktionierten Stall gestanden hatte, dass er ihn bisher noch nicht entdeckt hatte. Triumphierend zwirbelte Amethysyte an seinem Bart herum, als er sein Gegenüber nun musterte.

Zorn ließ die Augen des Herrn der Erde aufblitzen.

"Ziemlich überheblich für einen Yeti wie Dich", antwortete er trocken. "Aus welchem Zoo bist Du denn ausgebrochen? Weißt Du, ich schau meinem Gegenüber gerne ins Gesicht, also rasier erst mal diesen Wildwuchs an Deinem Kinn ab, ehe Du es wagst, jemand Zivilisiertes wie mich anzusprechen."

Amethysyte erbleichte, doch Mamoru konnte nicht wissen, dass dies nicht an seiner Beleidigung lag. Nun, wo der Junge ihm nicht mehr den Rücken zugekehrt hatte, sondern ihn direkt ansah, erkannte Amethysyte ihn. Er fragte sich, welchen üblen Scherz das Schicksal mit ihm spielte, dass er nun ausgerechnet auf den Kerl traf, der regelmäßig in der Tenebrae sein Gast war. Nicht, dass es schade darum wäre, ihn zu töten und seine Lebenskraft der großen Herrscherin zu opfern, deswegen hatte Amethysyte nun wirklich keine Skrupel. Doch allein die Tatsache, dass die Spur des Energindikat ausgerechnet zu ihm geführt hatte...

Der Energindikat!

Kaum, dass der Gedanke durch Amethysytes Kopf geschossen war, hob er das Gerät vor seine Augen ... und erstarrte. Die dünne, grüne Linie hüpfte wie wahnsinnig geworden über den Bildschirm. Eine gewaltige Energie musste das empfindliche Instrument völlig durcheinander bringen. Aber woher sollte so plötzlich ... der Junge?!

Der Krieger des Königreichs des Dunklen sah irritiert auf. Was war das? Es war doch unmöglich, dass ein gewöhnlicher Sterblicher wie dieser Junge da... Amethysyte weigerte sich, seinen Gedanken zu Ende zu denken. Er musste unbedingt herausfinden, was dahinter steckte.

Doch nicht nur seine Gedanken rasten wie irr im Kreis. Auch Mamoru überlegte fieberhaft, wie er seinen Gegner von hier weglocken konnte. Er musste seine Tante außer Gefahr bringen, um jeden Preis. Er war sich nicht sicher, ob sie noch bei Bewusstsein war oder ohnmächtig ... oder schlimmeres. Er wusste nur, dass er sich schnell etwas einfallen lassen musste, ehe der Dämon neben ihr auf die Idee kam, sie zu benutzen um Mamoru unter Druck zu setzen. Doch was sollte er tun? Was, was, was?

Er sah wieder zu Amethysyte zurück. Er hatte keine Ahnung, wer dieser Bursche war, auch, wenn es ihm vorkam, als sollte er ihn kennen. Doch das war nun nebensächlich.

Ohne zu wissen, wie ihm diese Idee hatte kommen können, schoss ihm mit einem Mal der Gedanke durch den Kopf:

<Was würde Rick in dieser Situation tun?>

Und ihm kam ein Einfall.

Langes Nachdenken hätte ihn zu viel Zeit gekostet, also handelte er nur noch rein instinktiv. Er setzte das breiteste Grinsen auf, zu dem er nur fähig war, wies mit ausgestrecktem Arm auf seinen Feind und rief:

"Jetzt mal ehrlich: Was soll dieses verwahrloste Bärtchen da eigentlich in Deiner Fresse? Siehst Du ohne etwa noch scheußlicher aus? Oder brauchst Du dieses ... dieses Fusselgewirr da ... um damit den Boden aufzuwischen, wenn jemand wegen Deiner Hässlichkeit gekotzt hat?"

"WAS?!", fauchte Amethysyte. Sein Gesicht nahm eine dunkelrote Farbe an. So eine Unverschämtheit war ihm nie untergekommen.

"Ach, und schwerhörig bist Du wohl auch noch?", stichelte Mamoru weiter. "Wenn ich Du wäre, würde ich mich lachend in einen Fleischwolf stürzen! Aber Du würdest Dich wohl noch auf dem Weg vom Trichter zum Schnitzelwerk verlaufen."

"Das reicht!", brüllte der Herr Australiens und wandte sich an sein Monster, das die ganze Zeit über nur wie eine zu fett geratene Puppe aus einer Geisterbahn dagesessen war und Löcher in die Luft gestarrt hatte. "Moymo! Kümmere Dich um dieses Großmaul! Sorg dafür, dass nie wieder ein Piepton über seine Lippen kommt!"

"Piep!", rief Mamoru und hüpfte wieder in seinen Wagen. Mit aufjaulendem Motor wendete er und brauste davon. Er kannte seine Feinde zwar noch immer nicht so gut, dass er all ihre Fähigkeiten genau einschätzen konnte, aber er ging davon aus, dass ein Mitglied eines Volkes, das durch schwarze Tore in diese Welt hineingehen und auch wieder daraus entfliehen konnte, auch keine Probleme hatte, ihm zu folgen, obwohl er seinen Wagen mit mehr als halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Straße hinweg jagte. Jedenfalls hatte er diese Dimensionssprünge bei Jedyte kennen gelernt – er zweifelte nicht im Geringsten daran, dass sein jetziger Gegner auch so tolle Tricks auf Lager hatte.

Er riss unvermittelt das Steuer herum und lenkte den Pick-Up auf offenes Gelände, in der Hoffnung, so die Wahrscheinlichkeit weiter zu verringern, dass er – selbst in dieser Einöde – auf unschuldige Fremde treffen und sie unwillentlich mit in den Schlamassel ziehen würde. Eine riesige Staubwolke folgte seinem Weg quer durch die Prärie und mehr als nur einmal fragte sich Mamoru, wie lange die Stoßdämpfer noch mitmachen würden auf seiner holprigen Fahrt über Stock und Stein, durch Löcher und über dorniges, vertrocknendes Gestrüpp hinweg. Er zermarterte sich verzweifelt das Gehirn auf der Suche nach der Antwort darauf, wie er ganz alleine gegen diesen übermächtigen Gegner bestehen sollte.

Im allerletzten Moment sah er, wie sich nur knapp vor der Kühlerhaube seines Wagens irgendetwas aus der Erde bohrte. Aus einem Reflex heraus riss er das Steuer herum und trat auf die Bremse, dass das Fahrzeug gefährlich ins Schlingern kam und schließlich stehen blieb. Den Dämonen hatte er so wirklich nur um haaresbreite nicht erwischt. Er hätte nun wohl wieder das Gaspedal durchtreten und seine wilde Flucht fortsetzen können, doch Mamoru sah ein, wie sinnlos das gewesen wäre. Das Monster hatte gerade bewiesen, dass es unter der Erde schneller war. Es war egal, wohin der Junge auch flüchten mochte, dieser Ort war genauso gut wie jeder andere. Kioku war außer Gefahr, das war alles, was zählte.

Zitternd streckte er die Hand aus und stellte den Motor ab. Sein Herz klopfte wie wild, denn er fürchtete sich vor dem bevorstehenden Kampf, und der Aufprall, den er soeben gerade noch hatte verhindern können, tat sein Übriges. Seine Ruhe, seine Kaltblütigkeit, das war alles nur Fassade gewesen, die nun abbröckelte wie eine Maske aus dünnem, trocknendem Lehm. Er zog die Spieluhr unter seinem Hemd hervor – das Einzige, was ihm nun noch Hoffnung und Mut spenden konnte. Als der Deckel aufsprang und die leise Melodie durch die Fahrerkabine zog, spürte Mamoru für einen kurzen Augenblick ein absurdes Gefühl der Geborgenheit, doch er wusste tief im Inneren, dass es nur Einbildung war. Ein letztes Mal atmete er tief durch. Dann öffnete er die Wagentür und stieg aus.

Moymo saß noch immer genau da, wo es aufgetaucht war und verharrte halb in seinem Tunnel. Grinsend entblößte es seine scharfen Nagetierzähne.

"Nag! Es ist eine gute Wahl, Dich mir hier und jetzt zu stellen, Menschling. Nag-nag! Du ersparst mir damit eine unnötige und zeitraubende Hetzjagd."

Die letzten Töne der Spieluhr verklangen, als Mamoru in einer entschlossenen Bewegung den Deckel wieder schloss und einen zornigen Blick auf das Monster warf. Trotz der immer stärker werdenden Furcht in seinem Inneren bemühte er sich um eine ruhige Stimme:

"Wie wäre es, wenn Du mir auch etwas ersparen und Dich einfach in Luft auflösen würdest?"

"Tut mir Leid, dass ich Deinen Vorschlag leider ablehnen muss. Aber – nag-nag – ich verspreche Dir, es wird Dir nicht allzu sonderlich weh tun."

Damit krabbelte Moymo endlich ganz aus seinem Tunnel heraus und trottete auf allen Vieren in lächerlich wackelnden Bewegungen auf seinen Gegner zu. Als es angekommen war, richtete es sich auf seinen Hinterbeinchen auf und streckte seine krallenbewährte Pfote in Mamorus Richtung. "Und nun halt still, während ich – nag-nag – Deine Kraft an mich nehme..."

Das war genau der Moment, auf den der Junge gewartet hatte. So, wie Moymo jetzt vor ihm stand, war es ein perfektes Ziel. Mamoru nahm mit seinem Bein Schwung und trat so heftig zu, dass sein Fuß unter dem Aufprall schmerzte. Moymo gab ein überraschtes und peinerfülltes Quieken von sich und rollte wie ein pelziger, überdimensionierter Fußball davon. Wäre es ein gewöhnliches Tier gewesen, so wären ihm dadurch bestimmt die Rippen gebrochen worden. Doch so rollte der Dämon nur weiter, bis er zum Stehen kam, blieb einen kurzen Moment auf dem Boden liegen und richtete sich dann wieder mit einem wütenden Zischen auf. Aber ehe Moymo diese Bewegung ganz zu Ende hatte bringen können, war Mamoru bereits heran und setzte mit einem präzisen Faustschlag nach. Die Haut über den Knöcheln platzte auf und fing zu bluten an, als sie den Schädel des Monsters berührte, und Mamoru prallte mit einem schmerzerfüllten, nur halb unterdrückten Schrei zurück.

Als Moymos Hinterkopf wieder Bekanntschaft mit dem harten Boden machte, blieb der Dämon einen Augenblick lang benommen liegen. Dann erhob er sich erneut langsam und mit einem zornigen Zischeln.

"Naaaaag! Das wirst Du bereuen, Menschenkind!"

Es stellte sich auf seine Hinterbeine und senkte den Schädel, als wolle es ihn wie einen Rammbock benutzen.

Mamoru machte sich auf alles gefasst. Doch er hatte nicht damit rechnen können, dass die Attacke seines Gegners ganz anders ausfallen würde: Das türkisfarbene, runde Juwel auf seiner Stirn begann zu glühen und schoss nur zwei Sekunden später einen grünlich-bläulichen Lichtstrahl ab, der sich in Mamorus Brust grub und ihn meterweit davonschleuderte.

Der junge Herr der Erde schlug so hart mit dem Rücken auf dem Boden auf, dass ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde und feurige Schmerzpfeile durch seinen Rücken schossen. Einen endlosen Augenblick hatte er Schwierigkeiten, Luft zu holen. Keuchend blieb er einen Moment liegen und wartete, bis die Welt um ihn herum aufhörte, sich zu drehen. Dann stützte er sich auf seine Ellenbogen und arbeitete sich daraufhin langsam wieder auf die Beine.

"Die Diener des Königreichs des Dunklen sind eben nicht zu unterschätzen!", rief eine spöttische Stimme hinter Mamoru. Als er den Kopf in die Richtung drehte, schwebte Amethysyte dort knapp über dem Boden, die Beine übereinandergeschlagen und dieses komische Gerät in seiner Hand haltend. Hinter ihm zerfaserten die letzten Reste des schwarzen Nebels vom Raum-Tor, durch das er diesen Ort betreten hatte. Triumphierend hielt er den Apparat etwas höher und erzählte seinem Diener:

"Stell Dir vor, so ganz kaputt ist der Energindikat wohl doch nicht. Er hat mich zielsicher hier her geführt, als ihr beiden verschwunden seid."

Vergnügt drehte er an einem Knopf und fuhr dann fort:

"Wahrscheinlich ist bloß die Feineinstellung noch nicht perfekt ... aber ansonsten scheint das Gerät intakt zu sein. Und wenn..." Er setzte ein breites Grinsen auf und taxierte Mamoru mit seinen dunklen Augen. "...ich diesem Gerät glauben darf – was ich einfach mal tue – dann trägt dieses Bürschchen mit der großen Klappe eine enorme Menge an Energie in sich!"

Mamorus Gesicht verlor mit einem Schlag alle Farbe. Ein Gerät, mit dem man Energien messen konnte? Das hieße, selbst wenn ihm heute die Flucht gelänge, würden ihn die Feinde immer und immer wieder finden können, solange er den Goldenen Kristall in sich trug. Er musste das Gerät zerstören – aber wie sollte er zuerst an diesem Dämonen und dann auch noch an dessen Herren vorbei?

Indes murmelte der Adjutant aus dem Königreich des Dunklen weiter mit selbstsicherem Unterton vor sich hin:

"Ich sehe es schon direkt vor mir! Ich – der große Amethysyte von Australien – werde den Ruhm und die Ehre von unserer Königin erhalten, die mir gebühren! Wenn ich diese immense Energie, die mir dieses Gerät verspricht, unsrem Königreich opfere, wer weiß – vielleicht werde ich sogar befördert! Dann werde ich es Karneolyte und Sardoyxyte zeigen, diesen aufgeblasenen Wichtigtuern!"

"Nag-nag! Großartige Idee, Meister!" Moymo versuchte zu klatschen, aber selbst, wenn ihm seine Speckrollen nicht im Weg gewesen wären, hätten seine Ärmchen bloß gerade noch so genug Länge dazu besessen. So wedelte es bloß wild mit seinen Krallen herum, was einfach nur lächerlich aussah.

Amethysyte verzog die Lippen und kommentierte den übermütigen Ausbruch seines Dämonen nur mit den Worten:

"Spar Dir die Heuchelei und kümmere Dich lieber darum, dass unser ... Gast..." Er grinste höhnisch. "...heute Nacht so müde ist, dass er ganz besonders gut schlafen kann ... für immer!"

Das war für Moymo das Stichwort, sich innerhalb weniger Sekunden in die Erde zu buddeln, um dann kurz hinter Mamoru wieder hervorzubrechen und sich auf sein Opfer zu stürzen.
 

"Etwas ist nicht in Ordnung", wisperte es.

Das Tier legte seine Stirn in Falten. "Was meinst Du?"

"Den Ruf des Herren", erklärte es mit wachsender Unruhe. "Ich höre ihn. In der letzten Zeit hat er uns nur schlechte Nachrichten gebracht."

"Du meinst ... das Ziel...?", fragte das Tier nach.

Es wusste genau, was ihm sein Freund mitteilen wollte und nickte. "Ja, das Ziel. Es ist in Gefahr."

Ein versöhnliches wie auch spöttelndes Lächeln huschte über die dünnen Lippen des Tieres. "Dieser Junge ... er scheint uns wirklich nichts als Ärger zu machen ... wie immer."

Geflissentlich überging es diesen Kommentar, wie das nun mal seine Art war. Stattdessen meinte es nur kühl:

"Wir sollten uns vergewissern, ob der Herr uns tatsächlich braucht."

"Wenn er das tut", antwortete das Tier nun ebenso ernst, "solltest Du alleine zu ihm gehen. Ohne mich bist Du schneller – beeile Dich!"

Einen kurzen Moment lang blickte es das Tier an, dann drehte es sich brüsk um und machte sich auf den Weg.

Erst, als das Tier alleine war, seufzte es in die Stille hinein:

"Alles Gute ... mögest Du Erfolg haben, mein Freund, damit der Herr der Erde erwachen und für unsere Ziele kämpfen kann. Und vielleicht ... vielleicht wird sogar Dein Traum wahr. Denn in der Tat – auch Du hast Dir etwas Glück verdient nach all den Jahrtausenden des Leids."
 

Moymo hatte sich mit seiner Attacke gewaltig verschätzt. Es griff Mamoru zwar von einer Seite an, die dieser nicht hatte vorausahnen können, aber was es nicht wusste war, dass er ein geübter Karatekämpfer war, und dass man einen solchen, der sich auch noch voll und ganz auf seinen Kampf konzentrierte, nicht wirklich leicht überraschen konnte – und dieser Umstand wurde dem Dämon zum Verhängnis.

Mamoru erahnte seinen Gegner eher, als dass er ihn sah, aber er reagierte rein instinktiv richtig. Er knickte mit seinem linken Bein ein und ließ sich fallen, vollführte aber noch in der gleichen Bewegung eine halbe Umdrehung und ließ sein rechtes Knie in den Körper seines Kontrahenten krachen. Durch eine komplizierte Drehung konnte er zum größten Teil sein eigenes Gewicht abfangen, ehe er auf dem Boden aufkam. Er warf sich herum und kam sofort wieder auf die Beine, gerade noch rechtzeitig, um sich mit einem gewaltigen Sprung vor einer weiteren Lichtblitzattacke Moymos in Sicherheit zu bringen – offensichtlich konnte der Dämon gut einstecken. Vielleicht waren es auch die Fettpolster, welche die gröbste Wucht aus den Angriffen nahmen. Doch davon ließ sich Mamoru nicht entmutigen. Einem weiteren Energiestrahl ausweichend machte er einen Satz zur Seite, stieß sich dort sofort ab und landete mit beiden Füßen genau in der Magengrube seines Feindes. Moymo wurde in den Boden gerammt, wo er röchelnd und mit wild rudernden Ärmchen um sich schlug. Vom Schwung nach vorne gerissen machte Mamoru noch ein paar Schritte weiter, doch sein Gleichgewicht hatte er rasch wiedergefunden. Mit drohend erhobenen Fäusten baute er sich auf und beobachtete das vor ihm liegende Fellknäuel skeptisch. Seine Hand schmerzte höllisch an der Stelle, wo die Haut bei dem Schlag vorhin aufgesprungen war, doch er versuchte es zu ignorieren. Er konnte die Wunde auch später irgendwann noch verheilen lassen, wenn er außer Gefahr war ... falls es ein Später gab...

Keuchend und würgend rollte sich Moymo herum und kämpfte um Atem. Es war erstaunlich, welch harte Mittel nötig waren, um es endlich so zu treffen, dass es zumindest für einen winzigen Moment lang kampfunfähig war. Doch genau dieser Moment war viel zu schnell vorüber. Als Moymo sich wieder aufrichtete, reckte er seine scharfen Krallen hervor und ein drohendes Zischen erklang aus seiner Kehle. Einen endlosen Augenblick lang musterten sich die beiden Kontrahenten, belauerten einander, wollten den nächsten Schritt des jeweils Andren abschätzen. Aus Sekunden wurden Minuten.

Mamorus Muskeln waren zum Zerreißen angespannt. Er wartete. Sein Instinkt würde ihm sagen, wann der passende Moment gekommen war. Seine Sinne, die in diesem Kampf ums nackte Überleben überdurchschnittlich scharf waren, registrierten jede kleinste, verräterische Bewegung seines Feindes. Er musste sich gedulden. Nur noch einen Augenblick. In schweren Schlägen pulsierte das Herz in seiner Brust. Der Schweiß rann in Strömen über sein Gesicht. Er lauerte ruhelos. Und schließlich wurde seine Geduld belohnt: Ein rasches, heftiges Muskelzucken fuhr durch das Fell des Dämonen und kündete seine neue Attacke an. Während Moymo sich kräftig abstieß und auf Mamoru zusteuerte, hatte dieser bereits die richtigen Schlüsse gezogen und eine entsprechende Gegenmaßnahme eingeleitet. Sein Fuß, mit gewaltiger Kraft gelenkt, schnellte vor und seinem Feind entgegen. Doch es waren ausgerechnet die langjährig geschulten Reflexe eines Kämpfers, die ihm zum Verhängnis wurden: Er war schlicht und ergreifend Gegner gewohnt, die mehr als doppelt so groß waren wie Moymo. Der Schuh glitt pfeifend durch die Luft und zischte nur knapp am Kopf des Dämonen vorüber, während dieser mit den Vorderpfoten auf den Boden kam, um sich ein letztes Mal zu seinem eigentlichen Angriff abzustoßen. Sein massiver Körper prallte mit dem Mamorus zusammen. Der Herr der Erde, der nach seiner missglückten Attacke noch nicht sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, fiel nun hintenüber, konnte nur durch eine geschickte Bewegung das Gröbste des Sturzes abfangen und wurde sodann halbwegs zerquetscht von dem Zentnergewicht der Fellkugel über ihm.

Moymo stieß indes einen triumphierenden Kampfschrei aus und grub seine spitzen Klauen in Mamorus Arme. Sie rissen Kleidung und Haut auf und hinterließen blutige Striemen. Der Junge brüllte vor Schmerz auf und warf sich herum, in der Hoffnung, der grausamen Pein so zu entgehen, doch er bewirkte damit nur, dass sich die Krallen tiefer in seinem Fleisch vergruben. Keuchend sammelte er den letzten Rest seiner Kraft und Konzentration zusammen. Ein Ruck ging durch seinen Körper, als er die Muskeln anspannte und seine Beine anzog; sie schlangen sich um Moymos Körper und zogen ihn blitzschnell von Mamoru herunter und in eine Beinschere, aus der sich der wütend fauchende Dämon so schnell nicht wieder befreien konnte. Bei dieser Aktion waren einige neue tiefe Kratzer entstanden, in denen sich der beißende Sand eingrub, der stets vom Wind mitgetragen wurde. Nun war es Mamoru, der seinen Feind durch eine kompliziert anmutende Haltung seiner Beine strangulierte und so in die Schranken wies. Er gewann so etwas Zeit, zu Atem zu kommen und seiner Konzentration das Letzte abzuverlangen, damit er die höllischen Schmerzen in die hinterletzten Ecken seines Geistes verdrängen konnte.

Moymo warf sich solange hin und her, rang um Luft und kämpfte um seine Freiheit. Er krallte seine Pfoten in Mamorus Beine, bis dieser die erneute Pein nicht mehr aushalten konnte und locker lassen musste. Der Dämon entwand sich seiner Falle, rollte sich ein Stück weiter weg in die geglaubte Sicherheit und nahm einige tiefe Atemzüge. Doch so leicht wollte Mamoru sich nicht geschlagen geben. Er grub seinen Fuß halb in den Wüstensand hinein und katapultierte den Dreck in das Gesicht seines Gegners – und verharrte ungläubig starrend, als Moymo nicht mal Anstalten machte, sich den Staub aus den Augen zu wischen.

Hinter den beiden erscholl ein gehässiges Lachen.

"Das meintest Du doch wohl nicht ernst?!", rief Amethysyte aus. "Moymo ist ein Dämon der Erde. Ich hätte doch gedacht, das sei ein nicht zu übersehender Fakt. Du könntest ihn mit Erdboden nur so überhäufen – er würde sich pudelwohl fühlen!"

<Verdammt!>, schoss es Mamoru durch den Kopf. Er hätte von selbst drauf kommen sollen – drauf kommen müssen! Doch das ganze Ausmaß seines Fehlers wurde ihm erst eine Sekunde später bewusst ... denn er hatte seinen Feind so auf eine Idee gebracht. Noch ehe er seinen Arm hätte schützend vor das Gesicht halten können, hatte ihm Moymo seine Attacke von gerade eben gleichgetan. Staub und Sand rieselten in dicken Schwaden auf ihn nieder, gruben sich in seine frischen Wunden, verklebten ihm die Augen und hinterließen einen unangenehmen, knirschenden Geschmack in Mund und Rachen. Würgend wischte er sich über das Gesicht, was das brennende Gefühl nur verstärkte und ihm die Tränen in die Augen trieb. Und als ob das noch nicht genug war, wurde Mamoru nun auch noch von einem weiteren Energiestrahl Moymos getroffen und davongeschleudert. Er landete hart auf felsigem Untergrund und blieb liegen, schweratmend, blind, hilflos und von übermächtigem Schmerz erfüllt. Wenn nicht bald ein Wunder geschah, war es aus mit ihm.

<Der Goldene Kristall...> Zäh wie Sirup floss der Gedanke durch seinen Kopf. <Lieber riskiere ich meine Entdeckung und gehe kämpfend unter, als diesen Bastarden freies Spiel zu lassen. Ich muss...> Doch diesen Satz brachte er nicht mehr zu Ende, denn der Dämon war bereits herangewatschelt, streckte seine Pfote nach ihm aus, und begann hämisch grinsend damit, ihm seine Lebensenergie zu stehlen. Es dauerte nur einen winzigen Augenblick und Mamoru verlor das Bewusstsein.

"Ich bin mal gespannt, was es denn nun mit dieser sagenhaften Energie auf sich hat, die uns der Energindikat angezeigt hat", erklärte Amethysyte und warf einen zufriedenen Blick auf das Gerät in seinen Händen, während sein Diener das pure Leben aus dem jungen Herrn der Erde saugte. Noch immer hüpfte die grüne Linie auf dem Display auf und ab und verhieß ein immenses Maß an Energie in unmittelbarer Nähe. Wenn Amethysyte auf einige Knöpfe drückte, konnte er den Fokus des zu überprüfenden Objektes verändern. Anstatt nun die ganze Umgebung zu scannen, stellte er fest, welche Menge an Energie auf den Dämon überfloss. Ein schmieriges Grinsen legte sich auf seine Lippen. Doch schon nach wenigen Augenblicken gefror es ihm wieder, als er merkte, mit welcher Geschwindigkeit der Strom an Kraft zwischen dem Jungen und dem Monster nachließ. Stirnrunzelnd erweiterte der Herr von Australien das zu untersuchende Gebiet wieder und stutzte. Wo war die unglaubliche Energie abgeblieben, die er zu Anfang noch gemessen hatte? Da war ... irgend etwas ... das Kraft abstrahlte, aber es war ... weit weg? Der Junge trug nun wirklich kein Quäntchen mehr davon im Körper. Alles, was Moymo gerade noch daraus aussaugte, war die letzte Reserve an Lebensenergie, die der Mensch nur noch für Notfallsituationen in sich trug. Bald würde er sterben. Doch darum kümmerte sich Amethysyte gerade einen feuchten Dreck. Der Energindikat schlug ihn ganz in seinen Bann, denn er gab Informationen von sich, die sich der Adjutant nicht erklären konnte. Da war tatsächlich Energie, noch dazu ein nicht unwesentliches Maß daran, doch es lag nicht bei dem Jungen... Ungläubig weitete er den zu scannen Bereich noch weiter aus. Tatsächlich, die Kraft war da ... sie schien von der ganzen Umgebung gleichmäßig ausgestrahlt zu werden. Als stamme sie aus jedem Stein, jedem einzelnen vertrockneten Grasbüschel, jedem noch so kleinen Staubkorn. Was gab diesen Dingen eine solche Energie? Aber so gründlich er sich auch umsah, er entdeckte nichts und niemanden. Ein Messfehler? Ein unsichtbarer Feind? Oder konnte man sich womöglich doch kein bisschen auf die Ergebnisse von Zoisytes unsäglichem Energindikat verlassen?

"Von wegen eine ungewöhnlich hohe Energie bei diesem Jungen!", knurrte Amethysyte durch die Zähne hindurch. "Moymo! Ich vertraue diesem Gerät nicht mehr weiter, als ich es werfen könnte!"

"Ihr könntet es sicherlich sehr weit...", setzte der Dämon an, doch sein Meister unterbrach ihn unwirsch:

"Hör verdammt noch mal mit Deiner Arschkriecherei auf! Lass uns abhauen, unsre Arbeit ist getan."

"Ich bitte um Vergebung, Meister..."

"Was ist denn noch?", blaffte Amethysyte ihn an.

"...Nun..." Etwas verlegen wies Moymo mit seinem Stummelfinger auf den reglos daliegenden Mamoru. "Ein winziger Rest an Kraft ist noch in ihm übrig. Wenn Ihr erlaubt, Meister... Unsre Königin wird uns sicherlich dankbar sein, selbst für jedes kleinste Bisschen an Energie, das wir ihr liefern..."

Augenrollend redete ihm Amethysyte dazwischen:

"Meinetwegen; Tu, was Du nicht lassen kannst."

Er wollte sich nicht extra die Mühe machen, seinem Diener zu erklären, dass es nicht mehr drauf ankam, ob die abgelieferte Energie um einen Promillepunkt höher war oder nicht. Ein Raum-Tor öffnete sich vor Amethysyte und er trat hindurch, wohlwissend, dass sein verblödeter Diener ihm nach vollendeter Arbeit ins Basislager folgen würde. Hinter ihm verschwand der dunkle Nebel wieder.

Indessen hatte Moymo seine Krallen wieder an den Leib des Jungen gelegt und fuhr nun damit fort, ihm die Kraft zu stehlen. Als er den letzten Rest Energie gesammelt hatte, der sein Opfer vom Tod trennte, spürte der Dämon einen deutlichen Ruck im Energiegefüge seiner Umgebung ... und die Kraft im Inneren des Jungen war höher, als sie es zu Beginn der Auseinandersetzung gewesen war.

"Hmmm? Nag-nag? Was ist das denn nun?"

Moymo verstand es nicht. Wie hätte es auch? Es wusste immerhin nichts von der Existenz des Goldenen Kristalls, der im Körper des Jungen verharrt hatte. Nun, da ebendieser Körper keine eigenen Energiereserven mehr besaß, sprang das Selbsterhaltungssystem des Kristalls an, das den Wirt zu schützen versuchte, indem die fehlende Energie durch die des Kristalls ersetzt wurde. Ein wenig verwirrt stand Moymo noch so da und schüttelte verständnislos den Kopf. Doch dann zuckte es mit den Schultern und nahm den Effekt von der positiven Seite: Es konnte nun umso mehr Energie sammeln, um diese dann Königin Perilia darzubringen. Wenig zaghaft streckte es seine Finger wieder in die Richtung des Jungen, wobei seine Krallen unachtsam leicht in die Haut des Jungen eindrangen und sich ein dünner, blutiger Rinnsal aus der frischen Wunde ergoss. Der Dämon störte sich nicht daran. Er war nur erstaunt über die unglaubliche Menge an Energie, die sich ihm so plötzlich geöffnet hatte.

Doch seine Freude wurde sehr schnell getrübt, als Moymo einen schrillen Aufschrei hinter sich vernahm:

"NEIN!!!"
 

"Ich muss mich beeilen!", sprach es zu sich. Mit schnellen Flügelschlägen sauste es durch die flirrende Hitze der Wüste. Nur zu deutlich spürte es, dass das Ziel in Gefahr sein musste. Seine Instinkte hatten es in diesem Punkt noch nie betrogen. Mit verbissenem Gesichtsausdruck trieb es sich zu noch höherer Geschwindigkeit an.

<Was tut das Ziel bloß in dieser abgelegenen Einöde?>, fragte es sich. Doch schon bald entdeckte es etwas, das ihm alle Gedanken auf einmal aus dem Kopf fegte. Dort vorne lag der junge Herr der Erde, regungslos, dem Tode schon näher als dem Leben.

<Nein... Das darf nicht sein!>

Unermesslicher Zorn kochte in ihm hoch. Mit einem Ruck faltete es seine Flügel zusammen und ließ sich im Sturzflug niedersausen. Die Wut ließ es seine Selbstbeherrschung völlig verlieren.

"NEIN!!!" Mit diesem durchdringenden Gebrüll jagte es heran und fegte den Dämon, lange noch ehe dieser reagieren konnte, von den Füßen...
 

Moymo hatte nicht einmal die Zeit, sich herumzudrehen und das Etwas anzusehen, das da auf ihn zugerast gekommen war, da fühlte der Dämon schon, wie mit ungeheurer Wucht etwas Schweres mit seinem Körper zusammenstieß, ihn meterweit über den Boden schleifte und ihn dann gnadenlos in einen Felsen hinein rammte. Der Stein splitterte sogar unter dem wilden Aufprall.

Es konnte gerade noch verhindern, selbst durch den eigenen Schwung in den Brocken hinein getrieben zu werden, indem es sich rechtzeitig mit einigen kräftigen Flügelschlägen schräg nach oben katapultierte. Wie ein Pfeil sauste es durch die Luft und beschrieb dort einen engen Bogen, um dann genau zwischen seinem Schützling und dem Monster zu landen.

Der Diener des Königreichs des Dunklen brauchte nicht lange, um sich von der Überraschung zu erholen. Er arbeitete sich unter den Trümmern hervor. Ganz unbeschadet war er nicht davongekommen: Er hatte sich am scharfkantigen Gestein eine langgezogene Wunde am Rücken aufgeschrammt, und noch weitere kleine Verletzungen verunzierten die Haut unter dem dichten, dunklen Fell. Angriffslustig bleckte er seine Nagetierzähne.

"Naaaaaaaag! Wer bist Du, und warum beschützt...?"

Doch es ließ Moymo nicht ausreden:

"Du..." Mit finstrer Mine zeigte es auf seinen Gegner und fuhr fort. "...Du kleines, unbedeutendes Biest bist es nicht wert, dass ich Dir irgendwelche Fragen beantworte! Du bist nicht mal die Zeit wert, die ich mit Dir verschwende! Du wirst bitter bereuen, Dich jemals in Angelegenheiten eingemischt zu haben, die Dich nichts angehen. Nun wirst Du die Konsequenzen dafür tragen..."

"Nicht, wenn ich es – nag-nag – verhindern kann!", rief Moymo aus. Es hatte sich in einigen Metern Entfernung vor ihm aufgebaut und senkte nun den Schädel. Das Juwel auf seiner Stirn begann zu strahlen.

Als hätte es geahnt, was der Dämon vorhatte, machte es einen gewaltigen Satz in die Luft und breitete die Schwingen aus. Doch Moymo folgte der Bewegung. Ein türkisgrüner Strahl gebündelter Energie zuckte aus seinem Juwel hervor und bahnte sich seinen Weg in seine Richtung. Doch was Moymo nicht wusste war, dass es diesen Sprung nicht getan hatte, um sich selbst aus der Schusslinie zu bringen, sondern im Gegenteil den Strahl auf sich zu lenken ... fort von dem reglos daliegenden Jungen hinter ihm. Es nahm in Kauf, getroffen zu werden. Im letzten Moment riss es noch seine Arme hoch und positionierte sie schützend vor seinem Körper, da erfasste ihn die Attacke auch schon und schleuderte ihn höher in den Himmel empor, ehe es wieder mit den Beinen auf dem Boden aufkam. Der dünne Stoff über seinen Handgelenken hing in Fetzen, die Haut darunter war blutig. Doch sonst hatte es keinen Schaden davongetragen.

"Ist das alles, was Du kannst?", fragte es mit eiskalter Stimme.

Ängstlich keuchend wich Moymo einen Schritt zurück. Es hatte mit allem gerechnet ... mit einem direkten Gegenangriff, oder damit, dass sein Gegner ihn beleidigte, oder auslachte, oder abwertend ansah ... doch was es in den Augen seines Feindes sah, war ... nichts. Leere. Absolute Gefühlskälte. Ein fast schon magisch wirkender, bläulich-silbriger Schimmer leuchtete ihm aus den Augen des Wesens entgegen, doch wirkte eben dieser Schimmer eher, als sei das Licht selbst in dieser Kälte, aus der es stammte, bis in alle Ewigkeit eingefroren. Selbst in der Dunkelheit und dem ewig währenden Hass, aus dem Moymo stammte, hatte es nie eine solche Abwesenheit jeglicher Emotionen kennen gelernt. Da war kein Zorn, keine Rache im Ausdruck der fremdartigen Augen, nur ... greifbare, erdrückende, absolute Leere.

Als der Dämon auch nach einem langen Augenblick noch keine Antwort gegeben hatte, gab es das Warten auf. "Dann bin ich nun wohl am Zug", erklärte es. Mit diesen Worten hob es seinen rechten Arm empor. Dort am Handgelenk erschien ein silberner Schimmer, und nur Sekunden später materialisierte sich dort etwas, das entfernt aussah, wie der Handschuh einer Rüstung, nur dass er nicht aus einer durchgängigen Fläche bestand. Er sah eher aus, als hätten sich Rosenranken um den Arm geflochten und seien dann zu Metall erstarrt. Als es nun den Arm vorstreckte, sodass sich die Handfläche dem Dämonen entgegenreckte, sah Moymo das nicht ganz handtellergroße, kreisrunde Loch darin, und genau an dieser Stelle begannen winzige, grünlich-bläuliche Blitze zu zucken, deren Intensität allmählich zunahm.

Inzwischen hatte der Dämon seinen Schrecken soweit überwunden, dass er sich wieder mehr auf das konzentrieren konnte, was er vor sich sah, und er verstand, dass dies sein Ende bedeuten konnte. Doch so leicht wollte er sich nicht ergeben.

"Nimm das!", rief Moymo, sammelte wieder Energie und feuerte einen weiteren Strahl aus seinem Juwel ab. Zeitgleich nahmen die zuckenden Lichter um seinen Handschuh zu, formten sich zu einem großen Blitz und wurden dem Dämonen entgegen geschleudert. Die beiden Strahlen trafen sich in der Mitte zwischen den Kämpfenden und ein explodierender Lichtball entstand, der von beiden Seiten weiter und weiter mit neuer Energie gespeist wurde, während er Sand und Steine davonschleuderte und schwarze, verkohlte Löcher in den Boden brannte. Dampf wallte auf, wo das grelle Feuer die Umgebung berührte. Ein immer mächtiger werdender Wind, erzeugt von den Explosionen zwischen den beiden Kontrahenten, strömte unkontrolliert an den beiden Kämpfern vorüber und zerrte an Fell und Stoff und heulte mit einem ohrenbetäubenden Pfeifen davon.

"Naaaaaaaaag!", gab Moymo triumphierend von sich, "wie lange kannst Du meiner Kraft noch standhalten?"

Doch es büßte wieder an Siegesgewissheit ein, als es den Ausdruck auf dem Gesicht seines Gegners sah: Da war keine Reaktion. Keine abfällige Antwort. Kein überflüssiges Muskelzucken. Nicht mal das Anzeichen einer Anstrengung oder von vollster Konzentration. Nichts.

Eisige Leere.

Und da wusste Moymo, dass es verloren hatte.

Das Wesen gab dem Dämon noch einen kurzen Augenblick Zeit, um das volle Ausmaß der Niederlage zu begreifen. Dann, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, verdoppelte es die Energie seiner Waffe. Moymo ging in einer Explosion aus Staub und Lärm und Licht unter. Alles, was von ihm übrig blieb, war ein kokelndes, tiefes Loch im Boden.

Die Blitze verebbten und hörten schließlich ganz auf. Es hob sich seinen Handschuh vor Augen und musterte ihn. "Meine treue Waffe ICTUS...", murmelte es noch vor sich hin. Doch dann wandte es sich um und trat in ruhigen, fast schon majestätischen Schritten auf den Jungen zu. Der Handschuh verblasste derweil wieder und verschwand dann im Nichts. Zaghaft kniete es sich neben dem Herren der Erde nieder, fast so, als schliefe dieser nur ruhig und solle nicht gestört werden. In sachten Bewegungen streckte es seinen Finger nach dem Jungen aus und fühlte seinen Puls. Der war etwas langsam, doch nicht besorgniserregend. Als nächstes überprüfte es den verbliebenen Energiehaushalt von Mamoru. Es konnte feststellen, dass der Goldene Kristall ein gewisses Maß seiner Kraft eingebüßt hatte. Das war nicht lebensbedrohlich, doch wäre es nur einen einzigen Moment später gekommen, hätte der Goldene Kristall sicherlich all seine Pforten geöffnet und versucht, das Energiedefizit seines Herren durch die eigene Kraft auszugleichen. In diesem Fall hätte das Wesen Mamoru nicht mehr helfen können. Aber nun, wo die Gefahr überwunden war, würde der Kristall seine eigene Energie und die seines Herren alleine regenerieren können. Er brauchte nur etwas Zeit ... und sein Träger brauchte Ruhe und ärztliche Versorgung.

Mit routinierten Bewegungen überprüfte das Wesen die Verletzungen: Kratzspuren an Armen und Beinen, die aufgeplatzte und inzwischen halbverkrustete Stelle an den Fingerknöcheln und etliche Punkte, die in Kürze zu ausgewachsenen blauen Flecken mutieren würden. Sand hatte sich in den Wunden eingenistet und war mit Schweiß und Blut an die Haut geklebt. Einzeln betrachtet waren die Risse und Schrammen nicht lebensbedrohlich, doch es machte sich Sorgen, ob deren Gesamtheit gefährlich werden könnte, besonders unter dem Aspekt betrachtet, dass der Schmutz in den Wunden Entzündungen würde verursachen können. Doch es wusste um die Fähigkeiten, die in diesem Jungen schlummerten. Es beschloss, sich zukünftig intensiver in der Nähe von Mamoru aufzuhalten, um ihn zu unterstützen, sollte er mit seinen Verletzungen alleine nicht zurechtkommen. Und um ihn von nun an rechtzeitig vor den Dämonen des Königreichs des Dunklen zu beschützen.

Das Wesen erhob sich und sah sich zögernd um. Der einzige Ort, wo sein Schützling vor dem Staub der Wüste in Sicherheit war, mochte wohl nur der alte Pick-Up sein. Rasch war die Fahrertür bis zum Anschlag geöffnet, woraufhin es die Arme unter den Körper des Herrn der Erde schob, ihn vorsichtig anhob und dann sachte in den Fahrersitz des Wagens setzte. Als es sich davon überzeugt hatte, dass keine der Wunden neu aufgebrochen war, dass der Junge nicht im Schlaf verrutschen und sich erneut verletzen konnte, und dass er wirklich nicht mehr in Lebensgefahr schwebte, da blieb das Wesen noch einen Moment lang neben ihm stehen und betrachtete ihn eingehend.

Mamorus Brustkorb hob und senkte sich unruhig im Takt seiner Atemzüge. Kalter Schweiß perlte ihm von der Stirn. Die Haut wirkte blass trotz der Sonnenbräune, die er sich im Laufe der Zeit angeeignet hatte.

Behutsam strich das Wesen ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wenn man es so ansah, konnte man fast meinen, all die Kälte und Erbarmungslosigkeit, die es sonst wie eine zweite Haut trug, würden von ihm weichen, um Platz zu machen für eine unbeschreibliche Fürsorglichkeit und Vertrautheit. Doch es steckte noch etwas ganz anderes hinter dieser Berührung: Als das Wesen seine Finger auf die Stirn des Herren der Erde legte, empfing dieser wieder einen wunderschönen Traum, in dem eine Prinzessin mit goldenen Haaren vorkam, die mit ihrer lieblichen Stimme lockte und mit traurigem Blick um den Silberkristall und um das Herz der Erde bettelte.

"Nicht mehr lang...", wisperte es lautlos, "...und Du wirst Dich unserer Sache anschließen. Schon bald wird Dein Geist soweit sein..."
 

"Wo, zum Teufel, bleibt dieses hirnrissige Vieh bloß?", knurrte Amethysyte vor sich hin und marschierte weiter durch die endlosen, düsteren Gänge. "Ich habe Moymo doch gesagt, es soll nicht ewig in der Menschenwelt rumgammeln. Verflucht, so viel Energie kann dieser Bengel doch gar nicht mit sich rumtragen! Oder hat sich diese Mistmade von einem Dämon in der eigenen Hosentasche verlaufen?"

Er kochte innerlich vor Wut. Egal, welchen Diener man ihm unterstellte – keiner von ihnen war zu etwas nütze. Er konnte mit diesem unterbelichteten Pack von Bediensteten einfach nicht arbeiten.

Als Amethysyte hinter sich eine Verzerrung im Raum wahrnahm, drehte er sich schnaubend in die Richtung des neu entstehenden Raum-Tores um und begann bereits zu zetern: "Da bist Du endlich, Du Flohtüte! Wieso hast Du so lange...?"

Er stockte, als er sah, dass es nicht sein Diener war, der da aus dem Raum-Tor geschritten kam. Stattdessen stand nun Karneolyte vor ihm. Das schmierige Grinsen, das dieser sonst auf seinen Lippen trug, war verschwunden.

"Du suchst etwas, mein Bester?", fragte er im spöttischen Ton.

"Was ich mit meinen Dämonen anstelle, geht Dich einen feuchten Dreck an!", blaffte ihn der jüngere Adjutant an.

"Ich fürchte, ich muss Dir da wiedersprechen." Der ungewohnt ernste Ton in seiner Stimme ließ Amethysyte aufhorchen.

"Was ist geschehen?", fragte der Blonde also skeptisch.

Karneolyte zögerte etwas mit der Antwort. Trotz der offenbar so ernsten Situation liebte er es, sein Gegenüber zappeln zu lassen. Erst, als Amethysyte kurz vorm Explodieren zu sein schien, ließ sich der Mann mit den feuerroten Locken zu einer Erklärung herab:

"Ich habe in Erfahrung bringen können, dass der Ordnungshüter unter den Dämonen kein Lebenszeichen mehr von Deinem Haustierchen erhält. Und der Energiefluss ist auch unterbrochen, schlimmer noch: Dein Diener scheint wohl gekämpft zu haben, denn er hat plötzlich weit mehr Kraft verbraucht, als er überhaupt geliefert hat. Erkläre mir dieses Defizit. Und wo Du schon dabei bist, erläutere mir doch mal, wozu Du ihn überhaupt gebraucht hast in der Menschenwelt! Unser Auftrag war doch klar und deutlich! Wir haben Dir unmissverständlich befohlen, den Energindikat zu testen. NUR – EIN – VERDAMMTER – TEST! Und Du Scherzkeks hast offenkundig nichts Besseres zu tun, als die sauerverdiente Energie zu verballern, die wir Andren mit Müh und Not für unsere große Herrscherin gesammelt haben. Also, Blondchen, möchtest Du Dich zu der Sache äußern? Wo zum Geier warst Du eigentlich, als Dein Diener mit wehenden Fahnen untergegangen ist?"

Moymos Tod ärgerte Amethysyte. Nicht etwa, weil es schade um den Lakaien gewesen wäre, sondern nur aus dem Grund, weil dieser Fellklumpen sogar zum Überleben zu dämlich gewesen war. Und weil es an seinem Ego kratzte, dass Karneolyte nun die Schuld für das Versagen Moymos auf ihn übertrug.

"Hab keine Ahnung, gegen wen er gekämpft hat", knurrte er nur knapp. In ebenso säuerlichem Ton fügte er hinzu: "Es bleiben da aber nicht viele übrig."

Mit Zeigefinger und Daumen massierte sich sein Gegenüber die Nasenwurzel, als wollte er damit eine anwallende Migräne verhindern. "Du spielst auf die Sailorkrieger an."

"Diese verfluchte Pest!", nickte Amethysyte übellaunig. "Ich glaube zumindest nicht, dass er so dermaßen bescheuert gewesen ist, dass er sich auf einen Kampf mit einem Starkstromzaun eingelassen hat. Obwohl, man weiß ja nie."

"Und Du lässt so was alleine da oben rumrennen?" Karneolyte zog eine Augenbraue nach oben.

Amethysyte zuckte mit den Schultern. "Unser Test war beendet. Es war seine Idee, noch eine kleine Weile dort zu bleiben. Wieso sollte ich denn unbedingt länger in der Jauchegrube stehen, als unbedingt nötig? Deswegen hab ich mich wieder hier her zurück gezogen. Das willst Du mir doch wohl jetzt nicht ankreiden?"

Das breite Grinsen war auf Karneolytes Lippen zurückgekommen, als er spöttisch antwortete:

"Wahrscheinlicher ist doch, dass Du die Hosen voll hattest und Dich nicht getraut hast, Dich mit diesen Kriegern anzulegen! Du könntest ja von einer Horde Weiber verdroschen werden!"

"Ich sagte doch, ich bin da weg, ehe dieser Vollidiot sich mit wer-weiß-wem angelegt hat!", jaulte Amethysyte stocksauer. Sein Gesicht nahm allmählich eine leuchtendrote Farbe an.

Sein Gesprächspartner machte eine wegwerfende Handbewegung. "Unwichtig! Was nun noch zählt, ist das Ergebnis des Tests! Was habt ihr beiden Mädels denn rausgefunden, oben an der Oberfläche?"

"Dass die Menschenwelt Scheiße ist, aber das ist ja nichts Neues", grummelte Amethysyte in seinen Bart. Dann berichtete er zähneknirschend, dass der Energindikat sich noch immer sehr seltsam verhielt, dann und wann korrekt ausschlug und im nächsten Moment doch wieder einen totalen Blödsinn maß. Schließlich einigten sich die beiden Männer darauf, dass dieses Gerät wohl noch nicht so einsatzbereit war, wie es wünschendwert gewesen wäre.

Karneolyte seufzte schlussendlich theatralisch auf.

"Na gut", meinte er noch und wandte sich zum Gehen um. "Dann werde ich Meister Zoisyte eben beibringen müssen ... dass Du es mal wieder vergeigt hast!"

"Dass ... WAS, BITTE? Ich hör wohl nicht recht!"

Doch Karneolyte hörte den Einwand schon nicht mehr. Er war in einem Raum-Tor verschwunden und ließ Amethysyte in den weiten, einsamen Gängen des Königreichs des Dunklen alleine zurück. Sollte dieser doch so lange Zeter und Mordio schreien, wie er lustig war!
 

Nur sehr langsam und zögerlich hob Mamoru seine Augenlider wieder. Verwundert blickte er sich um. In seinem Kopf schwirrten die Gedanken und Erinnerungen umher und er versuchte zunächst erfolglos, sie wieder zu ordnen. Es fiel ihm schwer, Realität von Traum zu unterscheiden, doch sein schmerzender Körper zeigte ihm auf, dass er sich zumindest den Kampf gegen den Dämon nicht eingebildet hatte. Er fuhr tastend über seinen Körper und machte sich so ein Bild von seinem Zustand. Er war genauso lädiert, wie er sich fühlte. Aber da Selbstmitleid alleine keine Veränderung brachte, konzentrierte er sich lieber auf andere Dinge. Zum Beispiel auf die Frage, wo der Dämon inzwischen abgeblieben war. Und warum er wieder in seinem Auto saß, angeschnallt und mit geschlossener Tür ... und vollkommen allein. Er löste den Sicherheitsgurt wieder, öffnete die Tür und machte sich daran, aus dem Auto wieder herauszuklettern. Das war einfacher gedacht als getan, seine Muskeln schmerzten höllisch und hätten ihm beinahe den Dienst versagt, hätte er sich nicht noch rechtzeitig an den Türgriff geklammert. Mit zusammengebissenen Zähnen verharrte er, bis die bunten Kreise, die vor seinen Augen tanzten, wieder verschwanden. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als auf der Stelle nach Hause zu fahren und sich ins Bett zu legen, doch er musste zuerst sicher sein, dass die Gefahr gebannt war ... oder ob der Dämon noch hinter einer Ecke auf ihn lauerte. Auf wackeligen Beinen arbeitete er sich voran und stützte sich dabei unentwegt an der Karosserie seines Wagens ab.

Was er da vor sich sah, verschlug ihm den Atem. Wenige Dutzend Schritte entfernt erstreckte sich vor ihm ein pechschwarzes, verkohltes Loch im Boden von sicherlich guten drei Metern Durchmesser. Unerbittliche Gewalten hatten es in die Erde gerissen und zugleich Steine und Staub hinfort gewirbelt. Mamoru fragte sich, welch ein Kampf hier gewütet haben musste – und vor allem: wer gegen wen?

Einen langen Augenblick stand er einfach da und betrachtete verwirrt die Szenerie. Er versuchte sich einen Reim auf die Dinge zu machen, die er da vor sich sah, doch er wurde nicht wirklich schlau aus den verwaschenen Spuren im Sand. Irgendwann gab er es auf und wandte sich um. So weit er auch sah, die Gegend schien ihm so verlassen zu sein, wie irgend ein Ort auf diesem blauen Planeten nur sein konnte. Kein Dämon. Kein feindlicher Soldat. Aber auch keine Mitstreiter. Keine Menschenseele, die ihm erklärt hätte, was geschehen war. Niemand, der sich um seine Wunden kümmern oder die wirren Gedanken aus seinem Kopf vertreiben konnte. Kein Mensch, der ein Wort des Trostes für ihn gehabt hätte. Selbst das sonst so penetrante Jaulen des Windes schien wie auf magische Weise verstummt. Selten zuvor in seinem Leben hatte Mamoru eine so erdrückende Einsamkeit verspürt. Seufzend schleppte er sich zur Fahrerkabine seines Pick-Ups zurück. Wenn er wenigstens wie sonst auch zu seiner Tante könnte, um sich abzulenken. Nie könnte er ihr all die Dinge erklären, die in letzter Zeit so sehr auf seiner Seele lasteten, doch ihr sonniges Gemüt konnte ihn immer zum Lachen bringen, egal wie düster die Welt auch immer war.

Ob es ihr überhaupt gut ging?

Bei seiner überstürzten Flucht von der SilverStar-Ranch hatte er nicht die Zeit gehabt, sich um sie zu kümmern. Er wusste nicht einmal, ob sie den Angriff des Dämons überhaupt überlebt hatte.

Doch daran wollte er gar nicht erst denken.

Kaum hatte er sich hinters Steuer gesetzt, schlug er in seiner Verzweiflung gegen das Armaturenbrett, das hilflos knarrte, dem Zorn seines Fahrers aber dennoch verbissen standhielt. Mamorus Hand schmerzte höllisch, aber er hatte etwas gebraucht, um endlich mal Luft abzulassen. All seine Muskeln begannen vor Qual und Müdigkeit zu zittern, doch er verdrängte diese Tatsache mit aller Gewalt aus seinem Bewusstsein. Es gab nun nur noch eins, woran er denken sollte, und das war seine Tante Kioku.

Er drehte den Zündschlüssel herum, schnallte sich an, ließ den Motor hochjaulen und trat auf das Gaspedal.

Dass sich ein fremdartiges Wesen nur einige Dutzend Schritte entfernt in den Schatten eines Felsens gedrängt und ihn lautlos beobachtet hatte, sollte er nie erfahren.
 

"Das Ziel hat überlebt", wisperte es, als es dem Staub aufwirbelnden Wagen nachsah. "Den nächsten Schritt wird wieder das Schicksal bestimmen."

Als es sich sicher sein konnte, dass der Herr der Erde es nicht mehr würde entdecken können, breitete es seine Flügel aus, hob sich in die Luft und machte sich auf den Weg zu seinem Versteck. Es wusste, jetzt konnte dem Ziel nichts mehr geschehen. Sein Auftrag war für heute getan.
 

Mit zusammengebissenen Zähnen kletterte Mamoru aus dem Wagen. Er fühlte sich wie von einer Elefantenherde übertrampelt. Mit einem lauten Knall schlug er die Tür zu und wandte sich den Gebäuden der SilverStar-Ranch zu. Der reglose Körper seiner Tante lag noch genau dort, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Er humpelte auf sie zu und ließ sich dann schwer neben ihr auf die Knie fallen.

"Tante Kioku?"

Ängstlich zitternd streckte er die Hand aus und tastete nach ihrem Puls. Ein eiskalter Schauer überkam seinen Körper, als er keine Bewegung unter seinen Fingerspitzen fühlte, da war nur unnatürliche Kälte. Er grub seine Finger tiefer in ihre Haut am Hals ... und vernahm endlich das sanfte, langsame Pochen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich auch nur unmerklich. Doch sie lebte.

Mamoru atmete erleichtert auf. Er wusste nicht mehr, wie lange der Kampf überhaupt gedauert hatte, wie lange er danach bewusstlos gewesen war. Doch ihm wurde bewusst, dass seine Tante in dieser Gluthitze wohl nur deshalb überlebt hatte, weil sie im Schatten der überdachten Veranda gelegen hatte. Doch sie war viel zu kalt... Ihr Körper hatte wohl nicht mehr die Energie, sich selbst auf der normalen Temperatur zu halten, geschweige denn, das Fieber zu erzeugen, das Kioku am Morgen noch gehabt hatte.

Mamoru öffnete die Haustür, schlang dann seine Arme um den ausgemergelten Leib und zog seine Tante in das Haus hinein. Im Wohnzimmer angekommen, fehlte ihm beinahe die Kraft, sie auf die Couch zu heben. Erst deckte er sie zu, dann holte er eine Schüssel Wasser und ein Tuch und begann, sie vorsichtig von Staub und Schweiß zu befreien, tupfte ihr Gesicht und den Hals ab und wusch ihre Arme und Beine.

Dann hockte er sich neben sie auf den Boden und hielt ihre Hand fest. Bedrückt schaute er in ihr blasses Gesicht.

<Es muss etwas geben, was ich für sie tun kann. Irgend etwas!>

Die eine Hand löste er von der ihren und fuhr sich damit über die Brust, als wolle er nach dem Goldenen Kristall tasten. Lange saß er so da und dachte nach. Und dann fasste er einen Entschluss.

<Es ist meine Schuld, dass das alles so kommen musste. Ganz allein meine. Und ich werde alles riskieren, um ihr zu helfen. Alles.>

Als er die Hand wieder von seiner Brust löste, rief er den Goldenen Kristall zu sich und ein blasses Leuchten erschien in seiner Hand. Sachte drückte er den Kristall gegen Kiokus Handfläche und umschloss ihre Finger mit den seinen. Das sanfte Leuchten tauchte in ihre Haut ein und durchdrang von dort aus ihren Körper.

Ein unangenehmes, schmerzhaftes Pochen im Rhythmus seines Herzschlages machte ihm klar, dass er Energie hergab, die sein eigener Körper genauso dringend benötigte, doch er ignorierte es mit zusammengebissenen Zähnen. Er traute dem Goldenen Kristall inzwischen so einiges zu, und er war sich sicher, trotz des Angriffs des Dämons war noch so viel Kraft in ihm, dass der Kristall sowohl seine Tante als auch ihn retten konnte. So verharrte er weiter, wartete, hoffte, und schwankte hin und her zwischen Verzweiflung, Vertrauen, Angst und Zuversicht. Er verfluchte sich selbst und den vergangenen Abend, verfluchte seine eigene Schwäche, verfluchte die Feinde, verfluchte seine Ohnmacht und verfluchte das Schicksal, das ihm all das angetan hat und fluchte schließlich auf die ganze Welt, in der er lebte. Und als ihm nichts mehr einfiel, was er noch hätte verwünschen können, hob er seine freie Hand und strich sachte über Kiokus Gesicht ... und es hatte endlich wieder die Temperatur angenommen, die für eine kranke Frau normal war: ein wenig erhöht, aber zum Glück nicht mehr am Rande des gesundheitlichen Abgrunds.

Vorsichtig entfernte Mamoru den Goldenen Kristall aus ihrer Hand und ließ ihn in seinem Brustkorb verschwinden. Ein letztes Mal kontrollierte er, ob mit seiner Tante wirklich alles – den Umständen entsprechend – in Ordnung war, dann erhob er sich und wankte dem Ausgang entgegen. Ihr ging es gut genug, dass er sich einen Moment entfernen konnte, um sich um sein eigenes Wohlergehen zu kümmern. Er humpelte mehr zu seiner Wohnung als dass er ging und seine Wunden brannten höllisch unter seiner Haut, aber er getraute sich einfach nicht, die Kraft des Goldenen Kristalls zu nutzen, um seine eigenen Wunden zu behandeln. Zu sehr fürchtete er sich davor, dass er dann einfach kraftlos zusammensacken und nie wieder aufwachen könnte. Das konnte er immer noch nachholen, wenn er einmal ordentlich geschlafen hatte. Doch zunächst brauchte er eine kalte Dusche. Der Wüstensand brannte wie Feuer in seinen Wunden und scheuerte selbst die wenigen unverletzten Stellen seiner Haut auf. Bei dieser Gelegenheit konnte er endlich auch andre Klamotten anziehen. Was er nun auf dem Leib trug, hing größtenteils in Fetzen. Wenn Kioku endlich aufwachte, sollte sie nicht sofort vor Schrecken in Ohnmacht fallen, wenn sie ihn ansah.

Das Wasser, das Augenblicke später über seinen geschundenen Körper perlte, biss unsäglich in den Wunden, aber die Abkühlung tat gleichzeitig auch gut. Doch im gleichen Maße, in dem sich sein Körper langsam von den Strapazen erholte, verhedderten sich Mamorus Gedanken in seinem Kopf, kreisen immer wieder um die vergangenen vierundzwanzig Stunden und führten einen wilden Veitstanz hinter seiner Stirn auf. Sie ließen sich nicht abschütteln. Immer und immer wieder flammte ein Gefühl von Schuld in ihm auf, wie ein böser Geist, der in seinem Kopf saß und ihn fortwährend daran erinnerte, was geschehen war. Er wusste, wenn seine Tante nicht bald aufwachen und ihm verzeihen würde, dann würde er wahnsinnig werden. Er musste zu ihr, musste bei ihr wachen, musste sich vergewissern, dass es ihr gut ging. Es war ein innerer Zwang, eine laute Stimme, deren Ton immer drängender wurde, bis sein Schädel zu zerplatzen drohte und er es keine Sekunde länger in der Dusche aushielt.

Er trocknete sich ab und legte frische Kleidung an, nur Augenblicke später saß er wieder neben Kioku. Sie war noch immer nicht erwacht, aber sie machte schon einen sehr viel gesünderen Eindruck. Doch was sollte Mamoru ihr sagen, wenn sie denn endlich mal aufwachte? Wie erklärte man, warum einer von einem pelzigen Dämon angegriffen worden ist? Und was sollte er auf die Frage antworten, wohin das Biest inzwischen verschwunden war?

Mamoru verkniff es sich, grübelnd im Kreis zu rennen, das würden seine Beine in diesem Moment wirklich nicht mitmachen. So blieb er da hocken, wo er war, am Boden, neben der Couch, auf der Kioku schlief. Er verließ seinen Platz nur dann und wann, um frisches, kühles Wasser zu holen, in dem er wieder und wieder einen Waschlappen tauchte, um die fiebrige Stirn seiner Tante zu kühlen und den Schweiß abzuwischen.

Irgendwann – nach Stunden, wie es ihm schien – wurde ihm der Boden doch zu ungemütlich, und er zog sich einen Sessel heran. Das weiche Polster förderte nicht gerade seine Versuche, wach bleiben zu wollen. Genaugenommen war es schon ein kleines Wunder, dass er nicht schon vor einer Ewigkeit eingeschlafen war. Es gab wohl im Moment nur eines, das ihn aktiv am Schlaf hinderte, und das waren die Schmerzen. Ihrer überdrüssig starrte Mamoru auf die verkrustete Haut seiner Fingerknöchel. Er hatte inzwischen einen Punkt der Verzweiflung und Erschöpfung erreicht, der ihn seine Angst, den Goldenen Kristall einzusetzen, vergessen ließ. Er wollte nur noch schlafen. Tage- und nächtelang schlafen. Eine kleine Weile sah er zu, wie die verkrustete Haut sich wie in Zeitraffer erholte, bis nicht mal eine Narbe übrig geblieben war. All die größeren und kleineren Wunden an seinem Körper schrumpften auch allmählich zusammen, doch sie ganz verheilen zu lassen, dazu fehlte ihm nun doch endgültig die Kraft. Das Letzte, was er sah, ehe er einschlief, war Tante Kioku.
 

"Du musst das Herz der Erde finden, bitte! Und suche nach dem Silberkristall! Du musst diese beiden Steine finden, Herr der Erde! Bitte, finde sie ... Kurzer..."

Irgendetwas an diesen Worten kam Mamoru seltsam vor. Er schlug die Augen auf und fand sich im Wohnzimmer des Haupthauses der SilverStar-Ranch wieder. Er erinnerte sich dunkel daran, dass er in seinem Traum wieder die Prinzessin des Mondes gesehen hatte, und...

"Kurzer? Alles klar bei Dir?" Die Stimme von Kioku. Es tat so gut, sie zu hören. Und wie lange war es her, dass sie ihn das letzte Mal beim Kosenamen gerufen hatte? Es schien ihm eine Ewigkeit zu sein.

Er war noch ein wenig schlaftrunken, und er spürte ein leichtes aber nervtötendes Stechen in seinem Körper wie von einem Muskelkater; Der letzte Rest seiner Verletzungen meldete sich bei ihm. Aber von all dem abgesehen fühlte er sich nun schon wesentlich besser.

Letzteren Eindruck hatte er auch von Kioku, als er in ihre Richtung sah. Sie lag noch auf der Couch, so blass und von einem feinen Schweißfilm überzogen, wie er sie zuletzt gesehen hatte, aber in ihre Augen war Leben eingekehrt. Sie stützte sich auf einen Ellenbogen und sah ihm verwirrt entgegen. Sie wirkte etwas verloren, fast so, als wisse sie nicht, ob das, was geschehen war, nur einem langen Fiebertraum entsprungen sein konnte oder pure Wirklichkeit war.

Mamoru lächelte sie müde an, auch wenn ihm – fast schon schmerzhaft – zu Bewusstsein kam, dass er noch immer nicht wusste, wie er ihr all die seltsamen Geschehnisse erklären sollte.

"Klar ist alles klar", antwortete er und hoffte, sie würde ihm das abkaufen. Ihre sonst so scharf ausgebildete Fähigkeit, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden, schien tatsächlich durch ihren geschwächten Zustand beeinträchtigt zu sein. "Wie fühlst Du Dich?"

"Als hätte mich ein Zug überfahren. Fünf Waggons, mindestens. Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen", erwiderte sie und fasste sich an den Kopf. "Wie bin ich hier rein gekommen?"

Mamoru verzog gequält das Gesicht, als sie diese Frage stellte. Er wusste noch immer nicht, wie er ihr beibringen wollte, was sie gesehen und erlebt hatte.

"Wir zäumen das Pferd mal von hinten auf", schlug er also vor, "was ist das Letzte, an das Du Dich erinnern kannst?"

Einen Moment lang sah sie ihn schweigend an. Sie dachte konzentriert nach, aber sie konnte sich auf ihre Gedanken wohl keinen Reim machen, denn sie schüttelte dabei verwirrt den Kopf.

"Ich wollte draußen die Fenster putzen", erklärte sie dann zögernd. "Und dann war da dieses Vieh. So was wie eine Bisamratte oder so. Ich ... bin mir nicht mehr sicher, was dann passiert ist. Es ist so, als würde ich einen Traum sehen, der sich wie eine Decke über der Wirklichkeit ausbreitet..." Sie brach den Satz ab. Ihr schien die eigene Aussage so verworren zu sein, dass sie diese selbst nicht glauben wollte. "Ich habe Fieber", lenkte sie deswegen ab und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. "Meinst Du, ich habe nur einen merkwürdigen Traum gehabt?"

Ihr Neffe wusste nur allzu gut, dass nichts davon nur ein Traum gewesen ist. All das war so real wie das unangenehme Gefühl, das sich gerade in ihm ausbreitete. Doch er musste nun so tun, als wisse er nicht, wovon sie gerade sprach.

Darum antwortete er:

"Ich weiß nur, dass ich Dich ohnmächtig auf der Veranda gefunden habe." Auf diese Aussage folgte eine lange, angespannte Stille voller unausgesprochener Gedanken. Er fragte sich, ob er jemals würde aufhören können, ein Lügengeflecht nach dem andren zu stricken. Aufregung wallte in ihm hoch, wenn er sich vorstellte, er würde all seine Lügen eines Tages nicht mehr aufrecht erhalten können; wenn er sich ausmalte, er könnte sich selbst durch eine Unachtsamkeit verraten und die ganze Wahrheit über ihn würde ans Licht kommen.

Als ihm die Stille unerträglich wurde, wollte er sie mit einer Frage auflockern:

"Wie kommst Du überhaupt auf die Idee, in Deinem Zustand Fenster zu putzen?"

Er bereute die Frage in der Sekunde, in der er sie gestellt hatte, denn die unendlich tiefe Trauer und Verletztheit, die seit dem gestrigen Abend in ihren Augen gelegen hatten, kehrten nun wieder zurück.

"Ich wollte mich ablenken", erklärte sie. "Von dem, was gestern Abend..." Abermals unterbrach sie sich selbst. Nachdenklich zog sie ihre Augenbrauen zusammen und sah ihren Neffen schief von der Seite an.

Diesem ging ein eiskalter Schauer den Rücken runter. Das Letzte, was er nun gebrauchen konnte, war dass sie sich erinnerte, was er ihr angetan hatte. Wenn er nur gekonnt hätte, er hätte sich in diesem Augenblick am liebsten den Kristall aus der Brust gerissen und mit solchem Volldampf gegen die Wand gepfeffert, dass der Stein in tausend Stücke zerschellt wäre.

Doch der größte Schock überkam ihm, als Kioku die folgende Frage stellte:

"Was war eigentlich gestern Abend?"

Fieberhaft dachte er nach. Das war die Frage. Die eine Frage, vor der er sich mehr gefürchtet hatte als vor dem größten Feind dieser Welt. Tausendmal war er in Gedanken durchgegangen, wie er ihr erklären konnte, weshalb er nach ihrer Lebensenergie getrachtet hatte. Doch von all diesen tausend Gedanken war nicht einer in seiner Erinnerung zurückgeblieben. Sein Kopf war völlig leer. Je mehr er sich zu konzentrieren versuchte, desto weniger wollten ihm die Gedanken gehorchen. Nach einem endlosen Augenblick der Stille konnte er ihrem Blick nicht mehr standhalten und richtete seine Augen dem Boden entgegen. Was sollte er ihr nur sagen? Was bloß?

"Ich meine", nahm Kioku nun doch zögernd wieder das Wort auf, "Du bist doch gestern Abend hier gewesen ... oder?" Die Denkerfalten auf ihrer Stirn vertieften sich. "Oder?"

Das war der Moment, wo Mamoru seinen Kopf langsam wieder hob und seine Tante verwirrt anstarrte. Sie konnte doch nicht ... hielt sie etwa all das, was da gestern gewesen ist...?

Ein wahnwitziges Funkeln trat in Mamorus Augen. Er befand sich – metaphorisch – blind am Rande eines Abgrundes, und wenn er einen Schritt rückwärts gehen konnte, war er gerettet. Wählte er aber die falsche Richtung, war alles umsonst gewesen. Deswegen wählte er seine Worte nun sehr bedacht:

"Natürlich war ich gestern hier. Ich lasse Dich doch nur sehr ungern alleine, wenn Du krank bist. Weißt Du etwa schon nicht mehr? Du hast früh am Abend Fieber bekommen und Dich nicht wohl gefühlt. Ich habe mir Sorgen um Dich gemacht und wollte mich ein wenig um Dich kümmern, deswegen habe ich die Zeit bei Dir verbracht. Du hast allerdings sehr unruhig geschlafen."

Er wusste nicht, ob er sein Theater auf die Spitze trieb, doch er fügte trotzdem nach kurzem Zaudern – und mit stark beschleunigtem Herzschlag – den Satz hinzu:

"Hattest Du etwa einen Alptraum?"

"Es kam mir aber gar nicht vor wie ein..." Doch Kioku beendete ihren Einwand selbst und schüttelte den Kopf. Stattdessen legte sie ein Entschuldigung heischendes Lächeln auf und erklärte:

"Aber das ist doch typisch für einen Fiebertraum, oder?"

Erleichtert seufzte Mamoru auf. "Japp ... lästige, kleine Viecher. Kommen einem öfters mal realer als die Realität vor."

"Das wird es sein", nickte auch sie.

Die Angelegenheit schien endlich erledigt. Doch einen aller letzten Schritt musste Mamoru noch gehen, damit er sein Gewissen endgültig beruhigen konnte:

"Sag mal, wenn es Dir wieder besser geht ... magst Du dann mit Onkel Seigi zu mir kommen, auf ein Abendessen? Ich würde euch dazu ganz gern mal einladen."

Endlich setzte Kioku wieder eines ihrer spitzbübischen Grinsen auf, als sie fragte:

"Dosenfraß und selbstgekaufte Hamburger?"

Mamoru mimte den Eingeschnappten und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Was denkst Du eigentlich von mir? ...Wofür gibt es denn den Pizza-Service?"

"In dieser Einöde?" Kioku zog eine Augenbraue hoch. "Bis da einer kommt, sind wir verhungert."

Beide lachten herzlich. Es war Mamoru, als sei ihm ein ganzes Gebirge vom Herzen gefallen. Ihm tat es so gut, so unermesslich gut, endlich wieder mit seiner Tante lachen zu können.

Und genau in diesem Moment ging die Tür auf und ein wohlbekanntes Gesicht erschien darin.

"Ihr lacht? Ohne mich?", fragte Seigi im Scherz, als er eintrat. "Oder lacht ihr gar über mich?"

"Immer", meine Mamoru.

"Ununterbrochen", kam es von Kioku.

"Du bist quasi unsere Zielscheibe Numero Uno.", ergänzte ihr Neffe wieder.

"Ein ganzes Repertoire an Zielscheiben."

"Die Mutter aller Zielscheiben."

"Wenn mich einer nach DER Zielscheibe schlechthin fragen würde, dann würde ich ihm ein Bild von Dir zeigen."

"...und dann drauf schießen."

"...und DANN auf Dich selber schießen", beendete Kioku eifrig nickend.

Kopfschüttelnd, aber noch immer mit einem sanften Lächeln auf den Lippen, antwortete Seigi:

"Ich hab euch beide auch lieb."

"Willkommen zu Hause", lachte Mamoru. Und als er einen Blick durch das Fenster warf und feststellte, dass es draußen längst dunkel war, fügte er hinzu:

"Apropos <zu Hause> ... es ist schon reichlich spät. Ich würde mich unglaublich gerne ins Bett machen, heute war ein anstrengender Tag."

"Für mich auch", erwiderte sein Onkel und fuhr sich durch das Gesicht, um die Müdigkeit zu vertreiben. "Bist Du morgen zum Frühstück hier? Dann könnte ich euch beiden von meiner Reise erzählen! Oklahoma City ist wirklich eine interessante Stadt!"

"Gerne!", nickte Mamoru. Er küsste seine Tante zum Abschied auf die Stirn, wünschte seinem Onkel eine gute Nacht und verschwand schließlich durch die Haustür, um sich in seine eigene Wohnung zurückzuziehen.

"Du bist heute krank?", fragte Seigi besorgt, als er sich neben seine Frau hockte und ihr sachte über das Gesicht strich.

"Mir geht es schon wieder besser", lächelte sie darauf tapfer. "Morgen wird alles nur ein böser Spuk gewesen sein."

"Das hoffe ich", nickte Seigi. Auch er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. "Ich bringe schnell den Koffer hoch, dann komme ich noch mal zu Dir."

"Brauchst Du nicht", winkte Kioku ab, "ich gehe nun auch schlafen. Geh schon mal vor, ich hole mir nur noch schnell etwas zu trinken."

"In Ordnung."

Er stand auf, schnappte sich seinen Koffer, nickte ihr noch einmal zu und verschwand dann in Richtung Treppe.

Kioku indes hievte sich von der Couch hoch und schlurfte müde in die Küche, wo sie sich ein Glas mit Saft befüllte. Es war ihr ein seltsames Gefühl, hier zu sein. Hier war es, zumindest laut ihrem seltsamen Traum, wo ihr eigener Neffe sie angegriffen haben soll ... doch das war vollkommener Blödsinn. Er würde das nie tun, das wusste sie. Dennoch war sie den ganzen Tag über so kindisch gewesen, dieses Zimmer nicht zu betreten. Sie hatte in all der Zeit nichts gegessen, hatte aber auch keinen Hunger gehabt aufgrund ihrer Krankheit und wegen all des Schwachsinns, den sie sich selbst eingeredet hatte. Sie hatte sogar nur Leitungswasser im Bad getrunken, um nicht in die Küche zu müssen. Wie sie sich doch angestellt hatte, und das nur, weil sie einen Traum nicht von der Wirklichkeit hatte unterscheiden können!

Sie stellte das leere Glas in die Spüle und wandte sich zum Gehen um, da verharrte sie noch einen Moment und schaute auf den Boden. Da lag doch etwas. Sie beugte sich vor und sah genauer hin. Ihr Gesicht verlor alle Farbe.

Blut.

Eine winzige Lache geronnenen Blutes.

Bilder überkamen ihre Erinnerungen, wie Mamoru über sie hergefallen war, und wie sie ihm daraufhin im verzweifelten Kampf die Suppenkelle gegen die Schläfe geschlagen hatte. Doch vorhin war ihr an ihm nicht ein Kratzer im Gesicht aufgefallen. Wie um alles in der Welt konnte nur...?

"Schatz?", tönte Seigis Stimme leise aus dem oberen Stockwerk zu ihr. "Kommst Du?"

Einen Moment schloss Kioku die Augen. Sie versuchte wie wild, die Gedanken hinter ihrer Stirn zu ordnen, doch diese wollten einfach kein logisches Muster ergeben.

"Ich bin gleich da!", rief sie schließlich zurück.

Da nahm sie schnell etwas Küchenpapier, befeuchtete es am Wasserhahn und wischte das Blut vom Boden auf. In der Sekunde, als sie das schmutzige Tuch in den Mülleimer katapultierte, beschloss sie, niemals wieder an den vergangenen Abend zu denken. Sie entschied, gerade eben ein Puzzleteil aus einem fremden Spiel gefunden zu haben, das in ihrem Satz an Puzzleteilen nichts verloren hatte. Also warf sie es weg und verschwendete nie wieder einen Gedanken daran, welches Bild sich aus diesem Teil ergeben hätte.
 


 

[Anmerkung des Autors]
 

Ich lebe noch! ^^

Tut mir Leid, dass ich so lange gebraucht hab, das neue Kapi zu schreiben. ^^°°°
 

Ich bleibe dabei: Diese Story wird nicht abgebrochen! Die schreib ich fertig, und wenn es das Letzte ist, was ich tu!

(Und wenn es hundert Jahre dauert...)
 

Ich kann aber nicht versprechen, dass neue Kapis regelmäßig kommen. VERSUCHEN werd ich es ... Aber wie heißt es so schön? Ich verspreche nichts - doch das halte ich auch.
 

Jedenfalls...

Dieses Kapitel widme ich ganz besonders meiner guten Freundin RallyVincento, weil sie heut Geburtstag hat. ^^ Happy Birthday.
 

Bleibt mir treu! ;)
 

Euer

theDraco



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Von: abgemeldet
2008-11-04T12:45:24+00:00 04.11.2008 13:45
Jetzt ist es zu ende!!! :( und dabei würd ich sooo gern weiterlesen... aber was soll ich weiterlesen, wenn es noch nichts gibt... weißt du denn schon in etwa, wann ein nächstes kapitel erscheinen könnte??? ich hoffe doch, dass es sich nicht um jahre handeln wird ;-)

dein kapi war natürlich wieder erste sahne! ;) du schreibst so toll und es war wieder so fürchterlich spannend! aber aus ES werd ich noch immer nicht schlau... ich komm einfach nicht dahinter! -.-
Mamo hatte da echt Glück im Unglück, dass sich Tantchen nicht mehr erinnern konnte, ob sein Übergriff real war oder nicht. Gut, sie hat zwar einen kleinen Beweis gefunden, aber wenn sie ihn entfernt (ich würde es au nicht glauben, wenn ich nicht wüsste, dass Mamo sich heilen kann^^) ...

ich bin auf jeden fall tierisch gespannt, wie es weitergeht!!! bitte halt uns nicht so lange hin! *lieb zu dir rüber schau*

achso, noch ne anmerkung*g*: als ich angefangen hatte zu lesen, hatte ich ja eigentlich gedacht, dass bei Kapitel 59 längst schon Bunny auftauchen würde ---> aber so kann man sich täuschen! ^^ echt erstaunlich, wie du deine story so ziehen kannst, ohne, dass es langweilig wird! mir kommt es im nachhinein sogar vor, als hätte ich die hälfte der kapis gar nicht gelesen, so schnell ging es vorbei!

mach fein weiter so!

Liebe Grüße,

die Dleeni
*drück dich*
Von: abgemeldet
2008-11-04T07:42:40+00:00 04.11.2008 08:42
Jetzt hab ich doch tatsächlich nur noch ein kapitel zum lesen... was mach ich dann nur ab morgen... *verzweifelt ist*
was hat mamo da nur angestellt? ich bezweifel ja irgendwie, dass seine tante ihm das verzeihen wird... ist das dann sein beweggrund, wieder nach japan zurückzukehren? dabei ist er ja grad so glücklich mit elly...
aber das mit dem schattenwesen versteh ich auch schon wieder nicht... mir war dann fast so, als wäre er fiore und im nächsten moment hab ich die idee wieder abgetan! ^^ bin gespannt, was da noch rauskommt...

ich setz mich heut dann mal an das letzte kapü! *schnief*
Von: abgemeldet
2008-10-30T08:58:19+00:00 30.10.2008 09:58
ach nöööö... nur noch vier kapitel! *wein*
hehe, nach dem gespräch mit der gruseligen oma sind meine fragen noch genauso unbeantwortet wie vorher! *gg* ich trau der fala iwie kein stückchen mehr... die macht mir angst! =P

bist du eigentlich schon mit kapi 60 beschäftigt? *liebguck* :)
das wär toll! <3
Von: abgemeldet
2008-10-28T13:12:14+00:00 28.10.2008 14:12
nur noch 10 pitelchen zum lesen *schnief* was mach ich nur, wenn ich damit fertig bin... ich rate dir, schnell weiter zu schreiben, ich brauch bald nachschub! *gg*

ist wieder ne menge passiert... jaspi tut mir ganz schön leid... von allen wird er vollgemeckert... dabei ist der so lieb! ^^ wie der sich an die truppe klettet, ist richtig putzig! ^^ der passt echt net ins dunkle königreich!
ich staune aber, dass mamoru nichts sonderlich gemerkt hat von dem energienraub O.O
und ich vermute ja, dass ES in fala steckt! *g* anfangs dachte ich noch im raben, aber da es ja mit in der bar war... *demnach schlussfolger*

mich würd ja interessieren, ob sich mamoru mal wieder bei motoki meldet... scheint ihn ja vor lauter trubel glatt zu vergessen.

hehe, das mit dem entschuldigen war eher witzig gemeint, obwohl ich mir es wirklich vorgenommen hatte, jeden tag zu schreiben! ^^ aber du siehst ja selbst, wie gut das klappt! *hust* :(

naja, ich bin dann mal weiterlesen! ^^
tschüüühhhüüüü
Von: abgemeldet
2008-10-22T07:55:47+00:00 22.10.2008 09:55
da bin ich wieder! ^^
kaum wird ein rätsel gelöst, kommen wieder neue fragen auf! *gg*
mittlerweile scheint ES ja gutartig zu sein... immerhin kämpft es ja gegen das königreich des dunkeln... aber was hat es damit auf sich, dass mamoru nach amerika soll?! hmm... *nachdenk*

hikari... ist also doch ein miststück... fast hätte ich das gute in ihr gesehen! ;) armer mamoru, aber er trifft ja in geraumer zeit noch seine frau fürs leben! hihi

ich werd dann mal weiterlesen :) c ya
Von: abgemeldet
2008-10-17T13:10:22+00:00 17.10.2008 15:10
manno, bin ich schon bei der hälfte angelangt! :(
ja, ich hab versprochen, jeden tag zu schreiben, aber ich war gestan auf nem geburtstag und da konnt ich ja nicht! ;) *um verzeihung bitt*gg*

das war ja mal nen kampf... kam mir vor, als würde der stundenlang ausgetragen werden! ^^ aber immerhin ham sie jedyte vorerst geschlagen! aber aus dem schattenvieh werd ich immer noch nicht schlau... mal denk ich, es ist gut, dann wieder nicht... immerhin will es mamoru loswerden, indem es nach amerika zieht.. *nix versteh* manchmal dachte ich es wäre luna oder so, aber das ist ja auch quatsch... also was heißt das? ---> du sprichst in rätseln! =P naja, gott sei dank werden sie ja noch gelöst! *g*

bin gespannt, wie sich mamo entscheiden wird... ich glaub, er zieht erst gar nicht nach amerika... oda doch vllt. kurz??? ... ach ich weiß auch nicht, ich warts halt ab! :P

wünsch dir ein schönes wochenende!! bis nächste woche dann, da les ich dann weiter! hihi
gruß, dleeni :)
Von: abgemeldet
2008-10-14T16:51:24+00:00 14.10.2008 18:51
hahahaha, hausarrest bis er 77 ist! *lol* der arme, kann einem aber auch wirklich leid tun! gg
hikari schmeißt sich ganz schön an mamochan ran... ich hoffe, dass sie es ernst meint... aber selbst mamo spürt ja ab und an, wenn auch nur kurz, zweifel... bin echt gespannt, was da noch alles passiert!

Ich bin echt gespannt, wer oder was dieses "ES" ist! O.O anfangs dachte ich, es wär jedyte oder perilia oda so... aber wenn sie jedyte jetzt erst den auftrag gibt??? hmm ... gut, ich werd wohl warten müssen bis donnerstag, dann kann ich wieder weiterlesen! hihi

also bis dahin - wir lesen uns beim nächsten kommi oda auch eher gell? ^^
ganz lieber gruß von mir! :)
Von: abgemeldet
2008-10-13T19:01:16+00:00 13.10.2008 21:01
was passiert hier nur alles! O.O
ich bin echt beeindruckt! aber ich muss sagen... mamo prügelt sich ganz schön oft! ^^ das mit motoki ist natürlich ein ganz schöner schlag... mamoru hätte reika widerstehen sollen...is ja klar, dass motoki ausrastet... hoffentlich versöhnen sie sich wieder, das mit der kassette hat ja "nicht ganz so gut" funktioniert! ^^

die hikari - iwie interessiert sie sich doch erst für mamoru, seit der neuen frisur oder?
*juhu* der erdenprinz ist erwacht! *Freu* aber wie erklärt er das hikari? (hab das kap 27 noch net zu ende gelesen, aber morgen gg) ich hoffe, der ihr typ lässt mamoru jetzt endlich in ruhe! -.- und ich bin gespannt, was tantchen zum reiß-aus sagt! ^^ *ärger vorprogrammiert ist*

sooo, wie du siehst, viele fragen! ^^ aber morgen werden sie beantwortet! *g* ich schreib dann morgen wieder nach dem lesen! :)
find deine ff soooo toll! :)
ganz lieber gruß,
die dleeni
Von: abgemeldet
2008-10-09T17:09:48+00:00 09.10.2008 19:09
Huhu!!! Ab heute hast du einen neuen Fan! :)

Hab heute angefangen deine Story zu lesen! Bis Kapitel 13 bin ich schonmal gekommen! :)
Ich finds echt genial, mal eine Story zu lesen, wo es an sich komplett um Mamoru geht! Ich finde zwar, dass er mir momentan nicht wie 16 vorkommt, sondern eher 10-12, aber das wird sich sicherlich auch noch ändern! :D sonst wär er jetzt nicht so, wie er jetzt halt ist! ^^ vllt. liegt das auch daran, dass er so von seiner tante betüdelt wird! hihi

ich freu mich auf jeden fall, dass ich noch genügend lesestoff habe, bis ich am letzten kapi angekommen bin und dass du dann auch schneller weiterschreibst! hab gesehn, das vorletzte kapi lag ja dann doch schon "ein weilchen" zurück! :)

Sei lieb gegrüßt von der dleeni :)
Von:  MangaMaus85
2008-10-09T06:02:09+00:00 09.10.2008 08:02
Endlich ein neues Kapitel und dann gleich so eins ^^
Ich bin wirklich begeistert, von deiner ganzen Story!
Ich hoffe, du läßt uns nun nicht wieder so lange auf ein neues Kap warten!

Ich muss erstmal wieder die restliche Story überfliegen, damit ich mich wieder richtig an alles erinnere ^^


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