Longing von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: ----------- Allmählich begann Zadeis Körper, sich zu erholen. Die restliche Nacht und fast den ganzen nächsten Tag hatte er schlafend verbracht und er merkte, wie langsam seine Kräfte wieder zurückkehrten. Jetzt saß er wach in seinem Bett und dachte nach. In seinen Händen hielt er eine von Titius Federn, die der Engel hier an seinem Bett verloren hatte. Nachdenklich drehte er das strahlend weiße Objekt immer wieder zwischen den Fingern. Wenn er sonst schon kaum an etwas anderes denken konnte, als an das Wesen, das diese Feder hinterlassen hatte, so war es jetzt reine Besessenheit. Immer wieder überdachte er das Gespräch von gestern. All die Dinge, die Titius gesagt hatte. Er hatte gesagt, dass es zum Teil seine Schuld gewesen war, dass es so schlimm zwischen ihnen enden musste. Aber, was noch tausendmal wichtiger war, er hasste Zadei nicht. Das hatte er gesagt. Und warum hätte er lügen sollen? Nun ja, vielleicht spann er ja eine erneute Intrige gegen Zadei und hatte es gesagt, um ihn in die Irre zu führen, aber das konnte er ein- fach nicht glauben. Und selbst wenn es so war, dass sein Engel ihn erneut betrog, dann war es dieses Gefühl allein wert, welches diese Worte auch jetzt noch in Zadei auslösten. Aber Titius Augen hatten so anders ausgesehen als sonst... er musste einfach die Wahrheit gesprochen haben. Sein wunderschöner Engel... Es klopfte an der Tür und Zadei wurde sofort ganz aufgeregt. Kam Titius jetzt wieder zu ihm? Er war den ganzen Tag noch nicht bei ihm gewesen. „Herein!“ Auf seine Aufforderung hin öffnete die Tür sich langsam und Zadei sah freudig in die ent- sprechende Richtung, in der Erwartung, das Geschöpf zu entdecken, das er so sehr vermisste. Aber es war nicht Titius. „OH NEIN!“ Sherril trippelte herein, schloss die Tür hinter sich und sah kleinlaut zu Zadei rüber, der sich gerade überlegte, ob es möglich war, über den Balkon zu fliehen. Na ja, er befand sich in gut 50 Metern Höhe, aber wenn er vielleicht das Bettlaken in Streifen riss und verknotete... „Onkel Zadei, hast du kurz Zeit? Wie geht es dir?“ fragte die Kleine vorsichtig. „Bis du herein getreten bist, ging es mir eigentlich recht gut... Warum bist du hier, willst du mir jetzt endgültig den Gnadenstoß versetzen? Immerhin bin ich ja nur fast draufgegangen.“ „Du tust ja fast so, als hätte ich das absichtlich gemacht! Dabei wollte ich doch nur die Dra- chen sehen,“ versuchte Sherril sich zu verteidigen, stieß sich dabei aber von der Tür ab und trat auf das Bett zu, ließ sich schließlich auf dem gleichen Stuhl nieder, auf dem auch Titius gesessen hatte. Jetzt bemerkte sie auch die Feder in Zadeis Hand. Sie deutete mit einem Kopfnicken darauf. „Ist die von Titius?“ „Wer hat denn hier noch weiße Flügel? Und ich halte mir hier auch keine Hühner, die gerade in der Mauser sind.“ Angestrengt versuchte Zadei, seine Verlegenheit zu überspielen. Das sie ihn auch ausgerechnet so erwischen musste! Schnell legte er die Feder auf den Nachttisch. Sherril sah ihm jetzt direkt ins Gesicht und sah nun auch zum ersten Mal Zadeis blindes Auge. Sie hatte schon davon gehört und hatte versucht, sich darauf einzustellen. Aber als sie es sel- ber sah, die leblose trübe Leere, überkam es sie einfach wieder, ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Das mit deinem Auge... das tut mir so leid. Alles, alles tut mir so leid. Ich habe das echt nicht gewollt.“ Zadei überkam die blanke Panik, als er sah, wie Sherrils Augen sich mit Tränen füllten. „Wa-wa-warte, fang jetzt hier bloß nicht an zu flennen! Ich warne dich! HERR GOTT NOCHMAL!!“ Aber er konnte nicht verhindern, dass sich erste dicke Tropfen aus ihren Au- gen lösten und ihre Wangen hinunterliefen, auf den Teppich tropften. Warum hatte er nur geahnt, dass so etwas passieren würde?! „Hör zu Sherril! Wenn du heulen willst, dann geh zu deinen Eltern oder zu Titi. Aber nicht hier bei mir. Außerdem hast auch keinen Grund dazu. Mir geht es super und ich habe schon wesentlich schlimmere Sachen überstanden als das hier. Und ich habe noch ein vollkommen gesundes Auge, das reicht völlig aus!“ Schniefend sah Sherril ihn an. „Willst du damit sagen, du bist mir nicht böse? Du kannst mich noch leiden?“ Ihre Stimme bebte etwas. „Ich konnte dich schon vorher nicht leiden. Und das hat sich nicht geändert. Es ist noch alles genauso wie vorher!“ Urplötzlich schien sich Sherrils Miene aufzuhellen. Mit einer Hand wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und schon geschah das Unausweichliche: Sie warf sich Zadei in die Arme und klammert sich an ihm fest. „Danke. Ich bin so froh!“ „Waaah, lass los, geh sofort darunter! Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Ich habe gesagt, ich kann dich nicht leiden. Und jetzt runter oder ich vergesse mich!“ Damit packte er Sherril mit beiden Händen und wollte sie von sich runterzerren, aber sie hielt sich mit Leibes- kräften fest. „Ich weiß, du sagst mir immer, dass du mich nicht leiden kannst. Aber ich weiß, dass es nicht so ist. Und der beste Beweis ist, dass du mir das Leben gerettet hast. Das einzi- ge, was für mich zählt, ist, dass du gesagt hast, das sich im Vergleich zu vorher nichts geän- dert hat,“ erklärte sie fröhlich, während sie sich fast einen Spaß daraus machte, sich mit Za- deis Kräften zu messen, der noch immer versuchte, sie von sich weg zu ziehen, während sie sich immer weiter festkrallte. „Ich glaub, ich muss gleich kotzen! Lass endlich los du Mistvieh!“ Da er zu ihren Ausführun- gen nichts mehr sagen konnte, was ihn nicht weiter reinritt und er das Thema auch nicht wei- ter vertiefen wollte, konzentrierte er sich jetzt voll und ganz darauf, sie mit Gewalt von sich weg zu ziehen, was ihm mit einem kräftigen Ruck auch gelang. Mit einem lauten „Iiieks“ und einem dumpfen Plumps landete die kleine Prinzessin auf dem Boden. Etwas benommen rap- pelte sie sich nach ein paar Sekunden der Orientierung wieder auf. Dann jedoch stand sie mit verschränkten Armen wieder neben dem Bett und verkündete mit kühler Stimme: „Weißt du, Onkel Zadei, manchmal habe ich das Gefühl, du hast ein Problem mit sozialen Kontakten.“ „Ich geb‘ dir gleich soziale Kontakte! Was willst du eigentlich von mir?“ Plötzlich wurde ihre Miene wieder ernster, sie löste ihre Arme, die sie vor der Brust ver- schränkt hatte und nestelte nun am Saum ihres heute grünen Kleidchens herum. „Ich bin eigentlich gekommen, um mich bei dir zu bedanken. Und um mich zu entschuldigen. Aber diesen Punkt haben wir ja schon geklärt. Bleibt also nur noch die Sache mit dem Bedan- ken.“ „Na toll, dann bedank dich und hau ab!“ „Hm, so schnell geht das nicht, ich möchte mich nämlich noch revangieren. Oder vielmehr, möchte ich wieder gut machen, was dir passiert ist, weil du dich für mich eingesetzt hast.“ „Ich wüsste nicht, wie du dich revangieren könntest,“ meinte Zadei nur kühl. Diese Gefühls- duselei ging ihm allmählich mächtig auf die Nerven. „Oh, unterschätze mich nicht. Ich glaube, ich habe etwas, was dich brennend interessieren dürfte. Und ich kann natürlich nicht wieder gut machen, was du erlitten hast, als du von dem Feuerball getroffen wurdest. Aber ich kann die Folgen wieder gut machen.“ Damit holte sie aus ihrer Rocktasche ein kleines Ledersäckchen heraus. Dann holte sie eine Hand voll violett schimmerndem Staub daraus hervor. „Was ist das?“ fragte Zadei skeptisch. „Vertrau mir einfach. Schließ die Augen.“ „Dir vertrauen? Ich bin doch nicht lebensmüde!“ „Augen zu oder ich verrate Papa, dass _du_ mir den Jungdrachen gezeigt hast!“ Zadei sah sie überrascht an. „Du hast es ihm noch nicht gesagt?!“ Sie schüttelte empört den Kopf. „Natürlich nicht! Ich weiß, dass das alles meine Schuld war. Ich will doch nicht, dass du da mit reingeritten wirst! Das ist unser Geheimnis, nicht wahr?“ Und plötzlich konnte der Dämonengeneral nicht anders, er musste tatsächlich leicht Lächeln. „Mhm, ok. Unser Geheimnis...“ murmelte er, lehnte sich im Kissen zurück und schloss die Augen. „So ist’s gut,“ meinte Sherril und hob die Hand mit dem Pulver über Zadeis blindes Auge und ließ ganz langsam das Pulver darauf rieseln. Dann legte sie ihre kleine Hand über das Lid und konzentrierte sich. Zadei merkte, wie eine warme Welle ihn durchflutete, es wurde regelrecht heiß unter der Hand und sein Blut begann, in seinem Lid zu pochen. Außerdem wurde er selt- sam schläfrig. „Was machst du da?“ fragte er leise. „Shht, keine Sorge, vertrau mir. Du wirst jetzt etwas müde werden und vielleicht ein paar Stunden schlafen. Und danach ist alles wieder in Ordnung.“ Zadei spürte die Wärme weiter durch seinen Körper fluten, ausgehend von der kleinen Kin- derhand, aber es war nicht unangenehm, eher im Gegenteil. Es wirkte irgendwie so beruhi- gend und langsam merkte er, wie er wegdriftete. Er konnte noch spüren, wie sich die Hand entfernte, die angenehme Wärme aber blieb. Durch eine dicke Wand aus Watte hörte er noch eine leise, sanfte Stimme an seinem Ohr flüstern. „Danke für alles, Zadei.“ Leichte Schritte entfernten sich. Das war das letzte, was er wahrnahm, bevor er endgültig in tiefem Schlaf versank. *********** Langsam drückte Titius die Klinke der Tür zu seinem eigenen Zimmer und trat ein. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte er sich von innen dagegen und ließ nachdenklich den Blick durch seinen Raum streifen. Er war jetzt die letzten 48 Stunden nicht mehr hier gewe- sen. Und es war kalt hier. Es war bereits Nacht und es brannte keine einzige Kerze, kein Feuer im Kamin. Die einzige Lichtquelle war der Mond, der heute Nacht voll war und durch die großen Fenster hinein schien. Keine Farben hier, nur das silbrige Mondlicht und die dunklen Schatten. Mit einem Mal kam Titius sein eigenes Zimmer, in dem er jetzt schon so viele Jahre lebte, schrecklich unpersön- lich und fremd vor. Er seufzte. Den ganzen Tag war er nicht ein Mal bei Zadei gewesen. Er war nicht mal in die Nähe des Flures gekommen, in dem es lag. Stattdessen hatte er sich in Arbeit gestürzt, im- merhin gab es auch reichlich zu tun, nachdem er mehr als einen ganzen Tag ausgefallen war. Aber die Stimmung im Palast war wieder ausgelassen, von allen waren die Spannung und die Angst mit einem Mal abgefallen. Und alle freuten sich über den Neuankömmling in der Königsfamilie. Hilda war so glücklich, allein in ihrer Nähe zu sein, machte die Menschen um sie herum fröhlich. Alle schienen zu- frieden, nur Titius selber konnte nicht wirklich mit ihnen lachen. Zu sehr quälte ihn seine ei- gene Ratlosigkeit, die seit dem gestrigen Gespräch mit Zadei noch schlimmer geworden war. Außerdem empfand er etwas, was ihm große Angst machte. Er wusste nicht, wie er es nennen sollte, aber es zog ihn unweigerlich in Zadeis Richtung. Darum hatte er heute mit aller Kraft vermieden, ihm zu begegnen. Wie würde das alles noch enden? Titius schritt langsam auf sein weißes Himmelbett zu, an dem die fast durchsichtigen Seiden- vorhänge leicht im Luftzug wehten. Zadeis Bett war anders, kam ihm der Gedanke. Die Vor- hänge bestanden aus schwerem, dunkelrotem Samt und wenn man sie zuzog, war man im Bett bestimmt geradezu abgeschirmt von der Außenwelt. Bei Zadei war alles so unendlich viel anders als hier, überlegte Titius, als er den Vorhang zur Seite schob, hindurch schlüpfte und sich in sein Bett legte. Er hatte keine Lust, sich umzuziehen. Er zog die weiße Seidendecke über sich und versank in den weichen Daunenkissen. Und dann lag er einfach so da und starrte in die Dunkelheit. Er hätte eigentlich müde sein müssen, aber er war hellwach. Ein paar mal wälzte er sich hin und her, bis er schließlich auf dem Rücken lag und an die hohe Decke starrte, die größtenteils im Dunkel verbogen lag. Es war alles so still. Kein Geräusch drang von außen hier herein. Und es war noch immer so kalt. Die Decke wärmte ihn nicht wirklich. Titius zwang sich, die Augen zu schließen und wenigstens zu versuchen zu schlafen. Aber alles, was er sah, waren Erinnerungen. Zadeis Gesicht, als er ihn aus dem Kerker befreit hatte, Zadeis Gesicht, als dieser den Verrat durch Titius erkannte, Zadeis Gesicht, als er sich verab- schiedete, mit dem Versprechen, ihm ein neues Leben zu besorgen. Zadeis Gesicht, als er nach sieben Jahren wieder erwacht war und Titius zum ersten Mal ansah, Zadei gestern Nacht, das blinde Auge, so leer und ausdruckslos, das andere so voller Feuer. Doch dann wie- der die Bilder der Eiswüste. So kalt. So kalt wie hier. Zadeis Gesicht, als Titius sagte, er wür- de ihn nicht hassen... Titius schreckte auf. War er in einen Dämmerschlaf gefallen? Er setzte sich auf und vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich werde verrückt, ich werde verrückt...“ murmelte er schon tränenerstickt vor sich hin. Was sollte er nur tun? Er war sich plötzlich sicher, wenn er sich jetzt wieder hinlegte, würde es nur genau so weitergehen wie gerade. Was sollte er tun? Wach bleiben, bis der Morgen kam? Auf den Balkon gehen? Er befand sich wieder mitten in einer dieser trostlosen Nächte, in denen ihm seine eigenen Gefühle zur Last wurden. Und er war allein. Es gab niemanden hier, der ihm half. Wenn Sherril einsam war, konnte sie zu ihren Eltern gehen. Laures und Hilda hatten einander. Ja, Laures hatte Hilda. Er sorgte sich zwar um Titius, aber er war nicht derjenige, der für ihn da sein konnte, zu jeder Zeit. Das hatte Titius im Laufe der letzten Jahre begriffen. Es war nicht mehr so zwischen ihnen, wie damals. Und es würde auch niemals wieder so sein. Sie waren nicht mehr allein im Schloss und herrschten über die Dämonenwelt. Laures Leben hatte einen neuen Mittelpunkt. Es hatte keinen Sinn mehr für Titius, sich Tag und Nacht für ihn aufzuopfern. Früher hatte ihm das gereicht. Ja, die Pflicht war für ihn alles gewesen. Alles, was der Engelsdämon ge- wollt hatte, war, seinen Herrn glücklich zu machen. Etwas anderes hatte es für ihn nicht gege- ben. Aber er hatte einsehen müssen, dass nicht er es war, der für Laures‘ Glück zuständig war, denn das war allein seine Familie. Und mit einem Mal erschien Titius sein Leben so leer. Was blieb für ihn noch übrig, wenn er seines einzigen Lebensinhaltes beraubt wurde? Es war alles leer und kalt, wie dieses Zimmer. Er war einfach allein. Gab es denn wirklich keinen Menschen, der für ihn da war? Doch, den gab es und das wusste Titius ganz genau. Er musste es nur zulassen... Aber konnte er wirklich...? Was, wenn...? Wie unter Hypnose stand er auf, stieg aus dem Bett und bewegte sich langsamen Schrittes durch sein Zimmer. Ohne zu wissen, warum, stand er plötzlich vor seinem Kleiderschrank und öffnete eine der Türen. Und schon hielt er jenes Gewand in den Händen. Zögernd fuhr seine Hand über den weichen Stoff. Die Halsketten, die vorsichtig um den Kragen drapiert waren, klimperten leise. Titius Hand fuhr zitternd darüber, tastete am Kragen entlang. Die Verschlüsse ließen sich noch genau so leicht öffnen, wie am ersten Tag. Eine einzelne Träne rann über sein Gesicht, tropfte auf den Stoff, als er das schwarz-weiße Gewand an sich drückte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)