Ein Traum von morgen von Vulpa-Rubea ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1: Der Mann mit dem roten Mantel --------------------------------------------------- Kapitel 1: Der Mann mit dem roten Mantel     ⁺⋆ ☾ ⸙ ☀︎ ⋆⁺     Die Stadt war laut.   Kleine Schritte schlitterten barfuß über den regennassen Pflasterstein. Leuchtende Reklameschilder blendeten ihre Augen. Sirenen und Hupen hallten von allen Seiten der Straßen, doch obwohl die Geräuschkulisse vermuten ließ, dass dieser Ort vor Leben nur so strotzte, kreuzte keine einzige Menschenseele ihren Weg.   Nahidas Herz bebte in ihrer Brust. Bei jedem zweiten Schritt fuhr sie herum, nur um sicherzugehen, dass da niemand war, der ihr folgte. Der Junge mit dem Hut hatte versprochen, ihre Häscher abzufangen. Sie vertraute ihm, obwohl sie vorher nie auch nur ein einziges Wort mit ihm gewechselt hatte - und doch… Das Gefühl, beobachtet zu werden, wollte sie einfach nicht loslassen. Ganz egal, ob sie unter einen der Müllcontainer kroch oder sich in einen winzigen Spalt zwischen zwei Häusern presste, ihr Kopf wiederholte immer wieder dieselben Worte. Du bist in Gefahr.   Sie war noch nie so weit fort von dem Ort gewesen, den sie „Zuhause” nannte. Die Welt draußen hatte sie sich anders vorgestellt. Statt grünen Wiesen und hohen Bergen fand sie sich einer Wüste aus Beton gegenüber, mit tausenden blinkenden Lichtern und einem Gestank, der ihr das Atmen schwer machte. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Alles um sie herum war neu und sicherlich interessant, doch für den Moment fühlte sie sich nur überfordert und verängstigt. Jedes Geräusch war laut. Jeder Schritt schmerzhaft durch die vom Stein aufgerauten Füße.   Nahida rang nach Luft. Erschöpft duckte sie sich hinter einem stillstehenden Geländewagen gegen eine kalte Steinmauer. Beruhigen. Kräfte sammeln. Weitergehen. Der Regen prasselte unaufhörlich auf sie ein. Sie fröstelte fürchterlich in ihrem dünnen, weißen Kleid. Und doch war das hier besser als „Zuhause”. Sie hatte Angst, ihr war eiskalt und ihre Füße taten fürchterlich weh, aber all das war immer noch besser, als das Leben einer bedauernswerten Laborratte. „Jemand wie du gehört hier nicht rein” hatte der Junge mit dem Hut zu ihr gesagt. „Jetzt hau schon ab. Ich will deine trübselige Visage nicht mehr sehen müssen.” Doch Nahida hatte nur gelacht, denn alles, was ihre Ohren hörten, war „Lass dich bloß nicht von ihnen erwischen.” Der Junge hatte vielleicht ein böses Gesicht und eine scharfe Zunge, doch er hatte ihr auch diese große, neue Welt offenbart - und dafür würde sie ihm ewig dankbar sein. Nahida wollte jeden Tropfen kosten, solange sie die Chance dazu hatte. Ein süßlicher Duft stieg ihr in die Nase. Eine heiterere Melodie trällerte aus einem blechernen Radio auf die Straße und Nahida hob ruckartig den Kopf, um den Ursprung der Geräuschquelle auszumachen. Dort drüben, auf der anderen Straßenseite, hatte jemand eine Tür geöffnet. Vorsichtig drückte sie sich enger gegen die Wand, ging in Deckung im Schatten der dunklen Seitengassen, und lauschte. „Oh nein, es regnet?” Ein Mann in einem langen, roten Mantel tastete seufzend seine Taschen ab. „Da lässt man einmal den Schirm zuhause, um Platz zu sparen…” Nahida lugte neugierig hinter dem Wagen hervor. Der Fremde trug keinen Forscherkittel und schien nicht auch nur im Entferntesten über ihre Präsenz informiert. Stattdessen versuchte er seine vielen Taschen zu sortieren und quetschte dabei eine lange Röhre schnaufend unter Schal und Jacke, um sie vor dem Regen abzuschirmen. Er schien ungefährlich, doch die Angst, sie könnte sich irren, ließ ihre Füße zu Blei werden. Selbst wenn er nicht zu den anderen gehörte, was versprach ihr, er würde sie nicht sofort aushändigen, sobald sie sich ihm offenbarte? Warum sollte er ihrer Not Beachtung schenken? Nach allem, was sie wusste, wäre es gut möglich, dass er sie wie eine streunende Katze zurück auf die Straße schmiss. Nahida hatte gehofft, Menschen zu finden und sie um Hilfe zu bitten, doch jetzt, wo sie einem Fremden gegenüberstand, fehlte ihr der Mut. Würde er mit Abscheu reagieren, wenn er ihre matschigen, nassen Füße sah? Furcht zeigen wegen ihrer blassen Haut und dem übernatürlichen Schimmern ihrer grünen Augen? Doch was, wenn er auf die Knie sank und besorgt die Hände nach ihr ausstreckte? Vielleicht würde er sie ins Haus bitten, mit ihr Lieder singen und eine Blumenkrone mit ihr basteln, so wie es die Aranara taten. Der süße Duft kam von einer dampfenden Papiertüte, die während der Reorganisation seines Gepäcks achtlos auf dem Fenstersims abgelegt worden war. Nahida leckte sich unbewusst über die Lippen. Es würde ihr schon reichen, wenn sie einen Bissen, nur einen, von dem bekam, was sich darin verbarg. Der Duft von Honig und Marmelade flüsterte ihr verlockend zu, doch das Herz in ihrer Brust bebte so laut, dass sie fürchtete, es würde ihren Aufenthaltsort verraten.   „Aha!” Nahida zuckte zusammen. Augenblick fokussierten ihre Augen den Mann, der ihre helle, weißliche Form sicherlich zwischen den dunklen Gassen ausgemacht hatte und nun- Nein. Sie hatte sich geirrt. Der Mann hatte sie nicht bemerkt. Nahida zwang ihre Schultern, sich zu entspannen. Er hatte lediglich seine Freude darüber bekundet, sich selbst in einen menschlichen Jenga-Turm verwandelt zu haben. Stolz über diesen äußerst unbequem aussehenden Balanceakt von Kleidern und Taschen, tastete er ein letztes Mal seinen Körper ab und wandte sich anschließend zurück zu dem kleinen Kämmerlein, aus dem er gekommen war. Ein kurzes Surren ertönte und schon war das Radio verstummt und das Licht erloschen. Mit einem Blick gen Himmel verharrte er noch einen Moment auf der Türschwelle, gab sich dann jedoch einen Ruck und zog seufzend die schwere Tür hinter sich zu. Den Mantel zum Schutz wie eine Kapuze über sich gestülpt rannte er fort in die vom Sonnenaufgang durchleuchteten Straßen. Die dampfende Papiertüte blieb vergessen im Regen zurück.   Nahidas Augen leuchteten. Stehlen war falsch, das war ihr bewusst, doch ihr Magen war kurz davor, sich von innen nach außen zu stülpen. Sie könnte die moralisch richtige Entscheidung treffen und die einladend dampfende Tüte mit Köstlichkeiten ignorieren. Vielleicht realisierte der Mann seinen Fehler und würde schon bald umkehren und sein Essen an sich nehmen. Doch wenn nicht, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis die Tüte aufgeweicht und das Essen darin zu einer undefinierbaren Pampe geworden war. Der Duft von geschmolzenem Zucker würde Ratten und Insekten anlocken, die wieder und wieder zurückkehren würden, falls es noch einmal so einen Schatz zu holen gäbe. Rein logisch betrachtet tat Nahida ihm also einen Gefallen, wenn sie die Tüte an sich nahm. Der Fremde blieb von Ungeziefer verschont und Nahida konnte ihren schmerzhaft knurrenden Magen besänftigen. Unsicher ließ sie die Augen über die Straße wandern. Von dem Fremden keine Spur. Auch die Schritte möglicher Verfolger konnte sie schon seit einer Weile nicht mehr hören, doch je länger sie wartete, desto höher stieg die Chance, dass man sie einholen würde. Letztendlich gewannen Hunger und Erschöpfung gegen ihre Furcht und Nahida tapste eiligen Schrittes auf die andere Straßenseite. Die Fensterbank war fast so hoch wie sie selbst. Sie musste sich strecken und konnte die Tüte doch nicht mit beiden Händen umfassen, also verhakte sie die Finger in der kleinen Delle an der Seite und zog. Die Tüte gab nach und Nahida bereitete bereits die Hände aus, um sie aufzufangen, als etwas anderes, kleineres, vor der Tüte, klingelnd zu Boden fiel.   Bei dem vertrauten Blitzen von Metall schreckte Nahida zurück. Doch es war kein Messer, keine Nadel und auch kein Skalpel, das sie zu verletzen drohte. In der kleinen Pfütze auf dem Gehweg lag ein goldener Schlüsselbund mit einem niedlichen Löwenanhänger, der sie frech anlächelte. Unmöglich. Nahidas Ohren rauschten. Nie im Leben hätte der Fremde Essen und Schlüssel so achtlos vor seiner eigenen Haustür zurückgelassen. Die Vorsicht, die sie in all ihren Jahren unter den Ärzten fein säuberlich ausgebildet hatte, ließ sie mit flauem Magen einen Schritt zurück machen. Das war zu gut, um wahr zu sein. Irgendwo musste der Haken verborgen liegen. Irgendwo unter diesem Versprechen von duftender Süße und Schutz vor der Kälte lauerte die kalte, harsche Realität. Nadeln, die in ihren Körper stachen. Ein Brennen in ihren Lungen. Kaltes Eisen an ihren Füßen. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie hier nicht bleiben durfte. Doch ihr Bauchgefühl, das sie den ganzen Weg hierher weiter und immer weiter getrieben hatte, war verstummt. Jedwege Logik sprach dagegen, doch die Stimme in ihrem Herzen war überzeugt:   Dieser Ort ist sicher. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)