Glanz und Glamour von _Delacroix_ (Türchen Nummer 18) ================================================================================ Glanz und Glamour ----------------- Jacques hatte wirklich keine Kosten und Mühen gescheut. Der ganze Pariser Ballsaal blitzte und blinkte. Lange, goldfarbene Stoffbahnen vor den Fenstern sperrten den Winter aus und kleine Tannenbäumchen standen in jeder Ecke. Goldgelbe Walnüsse hingen schwer von ihren Ästen. Hier und da hatten sich bereits kleine Grüppchen gebildet, die mehr oder weniger enthusiastisch ihren Champagner schlürften. Weiter hinten im Raum erhob sich eine kleine Bühne. Ein ausgewähltes Ensemble an Musikern spielte dort zum Tanzen auf. Jean ließ den Blick über die Paare schweifen, die sich dort zu einem schnellen Onestep versammelt hatten. Seit einiger Zeit war dieser Tanz beliebt. Vielleicht weil er relativ einfach zu begehen war. Enttäuscht musste Jean feststellen, dass ihm keiner der Tänzer bekannt vorkam. Noch vor wenigen Jahren hätte er sicher die Meisten von ihnen gekannt. Er spürte, wie sein Magen flau wurde, doch noch bevor er sich in dem Gefühl verlieren konnte, legte sich eine Hand auf seine Schulter. „Jean?“, fragte sein Begleiter.   Tichon schien in all dem Glanz und Glamour aufzugehen. Er hatte sich für einen schwarzen Samtanzug entschieden, der aussah, als hätte er ihn eigens für diese Feier schneidern lassen. Er saß perfekt. Seine dunkelblonden Haare strahlten mit dem Gold der Deko um die Wette und seine Manschettenknöpfe glitzerten in einem dunklen Rot. Er roch ganz leicht nach Sandelholz. Tichon musste gemerkt haben, dass er ihn musterte, denn er hob skeptisch die Augenbrauen. „Hast du mir nicht zugehört?“, fragte er. Jean merkte, dass er das tatsächlich nicht getan hatte. Er lächelte schuldbewusst. „Ich wollte wissen, ob du einen Plan hast“, wiederholte Tichon für ihn. Seine Augen funkelten verschwörerisch. Einen Moment lang war Jean fasziniert, dann schüttelte er eilig den Kopf. „Nicht wirklich“, gestand er ihm, „Ich hatte gehofft, wir gehen Jacques aus dem Weg und schauen, ob wir irgendwie hinter seinem Rücken mit einem der Geldgeber ins Gespräch kommen können.“ Tichon nickte. „Das kriegen wir –“ „Champagner, Monsieur?“, unterbrach ihn der Butler. Jean war überrascht. Die letzten Male hatte er den Dienern beinahe nachrennen müssen, um an ein Glas zu kommen. Jetzt bemühte sich der Hausvorstand persönlich um sie. Tichon griff routiniert nach zwei Gläsern. „Danke, Kasimir“, sagte er. Der Mann strahlte, als er sich höflich zurückzog. Jean sah ihm skeptisch nach, während er eines der Gläser von Tichon entgegennahm. „Kasimir?“, fragte er. „Hat er sich nicht vorhin noch als 'James' vorgestellt?“ Tichon nippte an seinem Champagner. „Hat er“, bestätigte er. „Aber das ist üblich. Wer sich kein britisches Personal leisten kann, bezahlt das Personal dafür, dass es so tut, als käme es von der Insel. Außer dem Koch, der heißt in neunzig Prozent der Fälle Jacques und kommt immer aus Paris.“ Jean prustete in seine Champagnerflöte. „Lass das bloß unseren Jacques nicht hören“, mahnte er glucksend. Tichon blieb ernst. „Natürlich nicht“, antwortete er. „Ich möchte Kasimir nicht in Schwierigkeiten bringen, weil er mir die Wahrheit gesagt hat. Übrigens kommt er aus Pilsen.“ „An jedem anderen Tag würde ich fragen, wie du das herausgefunden hast, aber ich habe ein wenig Angst vor der Antwort.“ „Ich habe ihn einfach nur gefragt, als ich ihm sein Trinkgeld gegeben habe.“  Jean runzelte die Stirn. „Du hast dem Butler ein Trinkgeld gegeben?“ „Natürlich“, erwiderte Tichon. „Das Personal arbeitet hart für solche Empfänge. Ein Obolus ist durchaus angemessen. Außerdem... Wenn du in der höheren Gesellschaft erfolgreich sein willst, ist es immer von Vorteil, sich mit dem Personal gut zu stellen. Niemand weiß so viel über die Herrschaften wie die Menschen, die täglich hinter ihnen aufräumen.“   Tichon hob sichtlich zufrieden sein Glas, betrachtete die langsam aufsteigenden Perlen in der goldgelben Flüssigkeit und trank. Jean beobachtete ihn dabei. Er musste zugeben, dass Tichon hier einen Punkt hatte. Der Butler eines Mannes sah mehr von ihm, als seine besten Freunde und war, mit etwas Glück, auch deutlich gesprächiger. Wenn Tichon es schaffte Jacques Butler für sich einzunehmen, würde er eine wertvolle Informationsquelle für sie sein.   „Also“, begann Tichon überraschend, „Hast du schon ein potentielles Ziel ausgemacht?“ Jean sah sich eilig um. Natürlich hatte er das nicht getan. Kasimir hatte ihn zu sehr abgelenkt. „Ich fürchte, ich kenne hier etwa genauso viele Leute wie du“, gestand er leise. „Ich kann dir also nicht sagen, bei wem wir es bestenfalls versuchen sollten.“ In diesem Augenblick lief eine Frau an ihnen vorbei. Sie trug einen glockenförmigen Filzhut, der mit silbernen und goldenen Federn verziert war. Jean musterte das eigenwillige Accessoire. „Wie wäre es mit ihr?“, fragte er. „Mit ihr?“, fragte Tichon zurück. „Wie kommst du ausgerechnet auf sie?“ Jean zuckte mit den Schultern. „Vielleicht weil ihr Hut so aussieht, als hätte sie viel Geld“ Tichon schüttelte den Kopf. „Ich finde eher, sie sieht aus, als hätte sie ihr ganzes Vermögen in diesen einen Hut gesteckt. Ihr ganzes Vermögen und ein Huhn.“ „Ein Huhn?“, fragte Jean. Tichon nickte. „Du musst zugeben, das Ding sieht doch so aus, als hätte es in seinem letzten Leben noch gegackert.“ Jean verbarg sein Grinsen hinter dem Champagnerglas. „Das ist gemein“, tadelte er Tichon leise. „Wir wissen doch gar nicht, wer sie ist.“ „Vielleicht die Erbin eines Geflügelimperiums?“ Jean bemühte sich um einen bösen Blick, welcher ihm ob der Vorstellung prompt misslang. „Du bist wirklich unmöglich“, stellte er fest. „Lass mir ein bisschen Zeit, dann fallen mir bestimmt noch ein paar Hühner-Witze ein“, entgegnete Tichon. „Und bis dahin sollten wir uns vielleicht nach einem geeigneteren Spender umsehen.“ Jean nickte. Auf die versprochenen Hühnerwitze konnte er zwar verzichten, aber Tichon hatte recht. Wenn die potentielle Erbin ungeeignet war, sollten sie sich Jemand anderes suchen.   Ein weiteres Mal blickte Jean in Richtung Tanzfläche. Die Massen dort hatten sich ein wenig gelichtet. Möglicherweise lag es daran, dass das Ensemble vom Onestep zum Foxtrott übergegangen war. Der Tanz war neu, schnell und noch ziemlich chaotisch. Trotzdem schien er den Tänzern viel Freude zu bereiten. Mit wilden Drehungen hüpften sie über das Parkett. Jeans Blick blieb an zwei besonders enthusiastischen Tänzern hängen. Irgendwie kamen ihm die Beiden doch bekannt vor. Es dauerte ein paar Sekunden, dann dämmerte es ihm. „Siehst du die blonde Frau im Anzug dahinten?“, fragte er Tichon und deutete unauffällig auf eine große Blondine. Sie hatte sich die Haare kurz schneiden lassen, deshalb hatte er sie nicht gleich erkannt. „Das ist eine Kollegin. Sie kommt aus Orléans. Ihr Name ist Cécile. Und ihre Tanzpartnerin, Claire, stammt aus Die.“ Einen Moment lang beobachtete er die kleine, etwas fülligere Brünette, die lachend über das Parkett schwebte. Es war wirklich lange her, seit er die zwei das letzte Mal getroffen hatte. Als er sich von ihrem Anblick losriss, bemerkte er, dass Tichon die Zwei ebenfalls beobachtete. „Ihr Foxtrott ist wirklich fantastisch“, schwärmte er. „Da könnte man fast neidisch werden. Ich würde jetzt auch gerne so ausgelassen tanzen.“   „Dann fordern Sie sie doch zu einem Walzer auf.“ Jean blickte sich um und musste sich bemühen, einen neutralen Ausdruck im Gesicht zu bewahren. Ihr Gastgeber hatte sich unbemerkt zu ihnen gesellt. Jacques trug einen dunkelgrünen Anzug mit einer goldfarbenen Krawatte, die überraschend gut zu seinen hellblonden Haaren passte. Außerdem roch er nach Apfel, was Jean spontan an einen geschmückten Weihnachtsbaum denken ließ. „Tichon? Darf ich dir Jacques vorstellen?“, brachte er trotz der seltsamen Assoziation hervor. Tichon betrachtete seinen Gegenüber. „Interessante Farbwahl“, bemerkte er in dem gleichen Tonfall, den er am Vortag verwendet hatte, um Jean darauf hinzuweisen, dass er keine Artischocken mochte.  Jacques, der eindeutig kein Gespür für Untertöne hatte, warf sich in die Brust. „Ja, nicht wahr?“, flötete er. „Meine Assistentin war tatsächlich der Meinung, dass das ein wenig zu dekadent wirken könnte. Lächerlich.“ Er lächelte und zeigte dabei seine strahlend weißen Zähne. „Wenn man keinen Geschmack hat, sollte man sich besser auf den Papierkram konzentrieren.“  Einen Moment lang spürte Jean Jacques‘ Blick auf sich, doch als er auf die Spitze nicht reagierte, beschloss dieser den Faden einfach weiter zu spinnen. „Um Eindruck auf die bessere Gesellschaft zu machen“, dozierte er, „muss man einfach ein bisschen angeben. Eine Feier bleibt denen nicht im Gedächtnis, wenn sie wirkt, als hätte ihr Butler sie zwischen Tee und Abendbrot organisiert. Man muss ihnen schon ein bisschen was bieten.“ Während Jean noch überlegte, seit wann Jacques eigentlich eine Assistentin hatte und ob die arme Frau von ihrem Glück überhaupt schon etwas ahnte, musterte Tichon Jacques abschätzig. „Mit Verlaub, ich denke, eine schlichte Feier würde den meisten von ihnen sehr wohl im Gedächtnis bleiben“, widersprach er ihm. „Die Wahrheit ist doch: Gold und Silber sehen diese Leute jeden Tag und jedes Mal, wenn jemand versucht ihnen aufzufallen, wird das Gesamtbild um sie herum noch ein wenig funkelnder. Natürlich bemerken sie solche Bemühungen, aber Walnüsse, deren natürliche Farbe man noch sehen kann, haben einige von ihnen bestimmt schon seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen.“  Jacques starrte ihn ungläubig an. „Worauf wollen Sie hinaus?“, fragte er skeptisch. Tichon hielt gelangweilt seine leere Champagnerflöte zur Seite. Es dauerte keine fünf Sekunden, da wurde sie ihm mit einem leisen „Monsieur“ aus der Hand genommen. Sein Blick blieb unverändert. „Was ich meine, ist: Es gibt zwei Möglichkeiten, um diesen Leuten in Erinnerung zu bleiben. Erstens, man übertrifft ihre Erwartungen. Das kann schnell teuer werden, denn ihre Erwartungen sind meist ziemlich hoch. Oder aber man vergisst den ganzen Schnickschnack und wagt etwas gänzlich neues. Das ist ein Schritt, der einiges an Kreativität und noch mehr Mut erfordert.“ „Wollen Sie behaupten, ich sei feige?“, fragte Jacques.  Tichon winkte ab. „Ich behaupte gar nichts“, antwortete er. „Ich sage nur, dass das der einfachste Weg in den Kopf eines reichen Mannes ist.“ „Und Sie kennen sich natürlich mit reichen Männern aus.“ Die Empörung ob der Kritik war Jacques jetzt deutlich anzuhören. Die meisten von Jeans Kollegen wären an dieser Stelle zurückgerudert. Sie hätten sich entschuldigt oder zumindest versucht, Jacques' empfindliches Ego zu beruhigen. Der Feier zuliebe. Tichon dagegen dachte nicht daran. „Richtig.“, antwortete er schonungslos.   Jacques' Wangen färbten sich erst rosa und dann zunehmend dunkler. Einen Moment lang sah es sogar so aus, als wollten sie die rubinrote Farbe von Tichons Manschettenknöpfen kopieren. Auch sein Nacken wurde zunehmend fleckiger. Doch überraschenderweise explodierte Jacques nicht. Er durchbohrte Tichon lediglich mit einem giftigen Blick, dann wandte er seine Aufmerksamkeit jäh den beiden Damen auf der Tanzfläche zu. „Entschuldigen Sie mich“, knurrte er mit vor Wut bebenden Schnurrbartspitzen, ,,aber ich muss das da beenden, bevor das Theater uns weitere Spenden kostet.“ Ohne sich noch einmal umzudrehen, stapfte er davon.   Tichon blickte ihm nach. „Ich habe keine Ahnung, was die Damen ihm getan haben“, murmelte er dann, „aber ich würde vermuten, dass sein Benehmen mehr Spender verschreckt, als ihr flotter Foxtrott.“ Jean seufzte. „Ich weiß das, und du weißt das, aber Jacques wird das wohl erst begreifen, wenn die beiden ihm vor den versammelten Spendern eine Szene machen.“ „Dann ist jetzt wohl kein guter Zeitpunkt, um dich um einen Tanz zu bitten?“ Kurz glaubte Jean, er habe sich verhört. Doch als er sich Tichon zuwandte, halb in der Hoffnung ein Lächeln zu sehen, das den Scherz als solchen entlarvte, wurde er enttäuscht. Er sah seinen Begleiter mit glänzenden Augen die Tanzfläche mustern und ihm wurde siedend heiß bewusst, dass der Scherz kein Scherz war. Langsam schüttelte er den Kopf. „Sie würden über dich reden“, erinnerte er Tichon. Dieser wandte den Blick nicht von der Tanzfläche ab. „Ich weiß“, entgegnete er. „Claire oder Cécile tanzen sicher gerne mit dir“, versuchte Jean es weiter. „Vermutlich“, stimmte Tichon ihm zu, „aber ich möchte nicht mit ihnen tanzen. Und auch nicht mit Yolande oder Euchariste.“ „Euchariste?“, fragte Jean skeptisch. „Man sagte mir, dass wäre ein französischer Vorname.“ „Es ist ein französischer Vorname. Oder so was ähnliches.“   Tichon schenkte ihm ein dünnes Lächeln. „Also? Überlegst du es dir, wenn ich dir versichere, dass es mir völlig egal ist, über wen Jacques morgen in seiner Mittagspause tratscht?“ „Er wird nicht zulassen, dass heute noch ein Foxtrott gespielt wird“, hielt ihm Jean entgegen. Tichon blickte zum Ensemble. Einer der Herren hatte sich tatsächlich von der Bühne hinunter gebeugt und nahm bereits die neuesten Anweisungen von Jacques entgegen. „Wir könnten auch einen Boston tanzen“, schlug Tichon vor. „Oder einen Tango. Ich liebe Tango.“ „Ich weiß nicht einmal, ob ich mich richtig an die Schritte erinnere“, gab Jean zu bedenken. Tichon musterte ihn einen Augenblick. „Und?“, fragte er dann. „Denkst du, dass Cécile alle Schritte kennt?“ „Es sah ziemlich danach aus.“ Tichon hielt kurz inne. „Na schön“, gab er dann zu. „Du hast recht. Aber was ist mit allen anderen hier? Was ist mit Claire? Oder Jacques? Denkst du, dass der fehlerfrei einen Tango tanzen kann?“ Jean blickte noch einmal zur Bühne, konnte Jacques jedoch schon nicht mehr entdecken. Vermutlich war er bereits zur nächsten „Katastrophe“ geeilt und sorgte nun dafür, dass die Eisskulptur nicht zu kalt gelagert wurde oder die Häppchen einen angemessenen Durchmesser beibehielten. „Ich weiß nicht“, antwortete er schließlich. „Ist auch nicht wichtig“, entgegnete Tichon. „Die Leute, auch die Reichen, sind hier, um Spaß zu haben. Da muss nicht jeder Schritt sitzen.“ „Kann es sein, dass du nur mit mir tanzen willst, um Jacques eins auszuwischen?“ „Ich würde lügen, würde ich sagen, dass das nicht auch eine Rolle spielt“, gab Tichon zu. „Aber es ist nicht der einzige Grund. Die Wahrheit ist, ich tanze einfach gern.“ „Besonders Tango?“ „Besonders Tango.“ Jean seufzte schwer. „Ich werde dir mit Sicherheit auf die Füße treten“, gab er schließlich nach. Tichon strahlte. „Mit der Gefahr komm ich zurecht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)