Der Künstler im Moor von Lupus-in-Fabula (Halloweenevent) ================================================================================ Prolog: -------- Tagebucheintrag 18XX 3. Januar Verzweiflung durchdringt mich. Weshalb sieht man in mir noch ein Kind, das sich spielend in eine Blumenwiese den Tagträumen hingibt? Erblühe ich nicht? Bin ich stets die einte Blume, welche schüchtern ihr Köpfchen geschlossen hält? Fromm und gütig soll ich sein. Gottes Liebe mein Herz erfüllen lassen. Jedoch spüre ich in mir was Reifen, wovon ich mich fürchte.   [***]   Widerwillig musterte Linda die alten Bücher. Warum bloss liebte es ihre Schwester, auf Trödelmärkten zu stöbern? Das Smartphone piepste laut. Eine neue Push-Benachrichtigung wollte gelesen werden. Sie scrollte ihren Instagramfeed gelangweilt durch, verteilte Likes und Smileys. Wieder dachte Linda an ihre Schwester. Sie machte Urlaub in Frankreich. Wollte sich erholen, während sie einem Geheimnis auf den Grund ging. Mit Kultur und ohne das oberflächigem „Shoppen gehen und Party machen.“ Linda verdrehte ihre Augen, fluchte leise und warf sich auf ihr Bett. Kultur. Jedes Mal kam sie mit Kultur. Museum da, Ausstellung hier. Warum konnte sie keine normale Schwester haben? Die mit ihr fett feiern geht, für sie Geld ausgibt und eine Kariere in den Sozialen-Medien startet? Noch eine Push-Benachrichtigung. Sie griff automatisch nach dem Smartphone. Sah sich das TikTok an. Schmunzelte kurz, bevor sie wieder in ihre Gedanken versank. Morgen würde sie zu ihrer Schwester fliegen. Alle sagten, wie nett das wäre. Das Ferienhäuschen war bezahlt. Das Mietauto für Erkundungen ebenso. Ihre ach so tolle Schwester würde niemals nie einen Fehler machen. Linda stellte die Lautstärke auf Maximum. Ihr Lieblingslied dröhnte durch das Zimmer, liess eine Krähe erschreckt davon fliegen, der sich auf dem Fenstersims niederliess. Linda warf die letzten Klamotten in den Koffer. Eilte ins Bad, suchte ihre Reisehaarbürste und Föhn und kramte in ihrer Schublade mit den Haaraccessoires. Endlich hatte sie das gefunden, was sie gesucht hatte. Mit dem Accessoire würde sie die langweiligen Museumsbesucher allemal schocken. Sie dachte an wieder an ihre Schwester. Stets perfekt. Stets kultiviert. Der Liebling aller Verwanden und Lehrkräfte. Bescheiden und begabt zugleich.   Es klingelte an der Türe. „Ich komme!“, rief die Frau. Breit grinsend übergab die Lieferantin das bestellte Essen. Linda mochte sie. Lebte ihr Leben, wie sie es wollte. Die beiden fanden sich sofort sympathisch und freundeten sich auf der Stelle an. Zusammen zogen sie durch die Strassen, unternahmen Wochenendreisen. Wenn die beiden quirligen Frauen unterwegs waren, überstrahlten sie alles. Linda war einige Tage richtig wütend, da ihre Seelenverwandte nicht mitkommen konnte. Die Nichte wollte mit der „coolen Tante“ ein Wochenendtrip nach London unternehmen. Linda verstand das Mädchen. Sie hätte es gefeiert, wenn jemand von ihrer Verwandtschaft mit ihr solche Dinge getan hätte. Ausflüge. Shopping. Geschenke. So wäre sie sicher weniger auf den Strassen und Bars herumgegammelt. „Sis, bist du bereit?“, fragte die Frau mit dem Essen. Linda stöhnte und machte eine abwertende Handbewegung. „So sorry Sis! Ich denk an dich. Muss los, bin busy!“, sprach die Lieferantin und gab Linda einen Kuss auf den Mund.   Während sie sich das Essen in Mund stopfte, betrachtete Linda das Tagebuch. Warum brach ihre Schwester wirklich nach Frankreich auf? Hatte es mit diesem Tagebuch zu tun? Linda sah zu ihrem Koffer, der immer noch nicht fertig gepackt war. Ein merkwürdiges Gefühl stieg in ihr hoch. Als würde ihre Schwester in Schwierigkeiten sein. Linda hielt den Atem an. Sie konnte den Blick nicht von dem Tagebuch abwenden. Das Smartphone vibrierte. Auf dem Display sammelten sich die Symbole der digitalen Benachrichtigungen. Von Draussen drang der Lärm des Feierabendverkehrs in das Schlafzimmer. Vorsichtig erhob die Frau sich vom ungemachten Bett. Sie nahm das Tagebuch und blätterte es durch.   [***]   Tagebucheintrag 18XX 22. Mai Ich möchte ihr nicht verzeihen. Meine eigene Schwester hinterging mich. Der Zorn verbrennt meine Seele. Ich möchte in ihrem Gesicht Schmerz sehen. Jedoch, verdient sie dies? Sie ist meine Schwester, die ich bewundere und verehre. Mein Herz zieht sich zusammen. Meine Seele ist in Flammen. Gott soll über mich wachen.  [***]   Linda wurde von dem Geräusch eines ungeduldigen Autofahrers geweckt. Verschlafen sah sie auf das Smartphone. Der Akku zeigte mickrige 10 % an. Amüsiert stellte sie fest, dass sie eingeschlafen war. Schnell gab sie ihrem elektronischen Helferlein Leben, bevor sie auf das Klo ging. Das Hupkonzert ging weiter, begleitet von lauter Musik und Geschreie. Das amüsierte Linda sehr. Sie ass ihr nun kaltes Essen, hörte weiterhin zu und liess der Natur ihren Lauf. Kapitel 1: Der Friedhof ----------------------- Dieser liebliche Duft! Die Frau drehte sich im Kreis. Die Leute der Ferienhausvermietung sahen zu ihr, lächelten und freuten sich über die Fröhlichkeit. Die zwei Koffer stellte sie an den Wiesenrand. Sie sah in die Sonne und streckte ihre Arme Richtung Himmel. Ihr Taxifahrer wartete geduldig. Er half der Frau, die Koffer hereinzutragen, bevor er sich mit einem Handkuss verabschiedete. Sie war sofort verliebt! Die schlichte und doch rustikale Dekoration. Die Blumen, die ihren Duft auch im Haus verbreiteten. Langsam schritt die Frau durch das Haus. Sog jedes Detail des ländlichen Hauses ein. Lächelte entzückt oder schaute interessiert. Automatisch nahm sie das Handy und knipste Fotos. Sie würde später ihren altmodischen Fotoapparat holen und sich erneut auf die Pirsch nach bezaubernden Motiven machen. Das Gesicht der Frau erhellte sich bei dem Gedanken, sich auf die Veranda zu setzen und zu skizzieren. Die Sonne schien durch die Fenster, lockte mit ihrer Wärme. Allerdings musste sie zuerst auspacken. Richtig ankommen. Sich ausruhen. Der Hunger meldete sich. Sie atmete tief ein und aus. Der Duft von Lavendel kitzelte in ihrer Nase. Von draussen hörte man den Gesang der Vögel. Das Summen der Insekten. Hier würde sie arbeiten und nachforschen können. Auf dem Küchentisch stand ein kleines Willkommensgeschenk. Ein Esskorb mit Produkten aus der Region. Lina schnitt sich Brot und Käse, zupfte ein paar Weintrauben und goss sich ein Glas Milch ein. Sie bewunderte die Rosen, die wunderschön in einer Vase arrangiert wurden. Mit den Fingern zeichnete sie die Buchstaben ihres Namens nach. Im Gegensatz zu ihrer Schwester mochte sie ihren Namen sehr und vermied ihren Spitznamen. Während sie sich einen Imbiss gönnte, kreisten die Gedanken. Das Leben konnte so wunderschön sein. Sie hatte solches Glück, in einer liebevollen Familie aufgewachsen sein. Eine Schwester zu haben, die energisch dem Leben entgegenschritt. Ein lautes Lachen entschlüpfte spontan aus ihrem Mund. Ja, sie bewunderte ihre Schwester und sie war ihr Vorbild. Daher entschied sie sich, ihren eigenen Weg zu gehen. Die Kunst.                                                                                       [***] Tagebucheintrag 18XX 03.Juni Unsicher sehe ich in meine Zukunft. Was hat Gott mit mir vor? Soll ich seinem Pfad folgen? Oder einen anderen Weg gehen? In der heiligen Messe kommt mein Herz nicht mehr zur Ruhe. Ich empfinde Neid in meiner Seele. Stets sehe ich sein Gesicht, bevor ich den Schlaf sinke. Sehe seine Augen. Voller Daseinsfreude. Sehe sein Lächeln. Schelmisch. Möchte in seinen Armen versinken. Wäre nicht meine Schwester.                                                                                         [***] Die Sonne schenkte weiterhin ihre Wärme der Natur. Die Frau schlenderte durch den Friedhof. Sie hatte in ihrem ledergebunden Notizbuch das Wichtigste mit blauem Marker angestrichen. Kopien aus Kunstbänden waren in einem edlen Hefter aus Rosenholz verwahrt. Hier sollten die Informationen zu finden sein, die sie suchte. *Ein Geheimnis von einer adeligen Familie. Das bis unentdeckt in der Zeit verweilte.* Die Frau setzte sich auf eine Holzbank. An einigen Stellen war das Holz morsch. Käfer krabbelte herum. Sie musste sich beherrschen, nicht ihre Kamera herauszunehmen und einige Schnappschüsse einzufangen. Noch einmal ging sie die Notizen durch. Eine Familie mit hohem Ansehen. Wurden verdächtig, sich mit Magie zu beschäftigen. Hatten ein Familienwappen, welches sich rätselhaft änderte. Ohne erwähnenswerte Begründung. Der Namen ihrer Kinder verschwanden auf mysteriöse Weise aus dem Familienstammbaum. Merkwürdigerweise wurden ein Detail nur einmal in einem Brief erwähnt. Ungeduld kroch in ihr hoch. Wie konnte diese Familie einfach aus der Geschichte verschwinden? Natürlich mahlte der Zahn der Zeit an einigen Familien und löschte dessen Existenz aus. Aber so? Verbissen suchte sie in den Worten und Zahlen nach einem Anhaltspunkt, den sie übersehen hatte. Plötzlich fühlte sie in sich eine Unruhe. Sie konnte es nicht in Worte fassen. Unruhig huschten ihre Augen zwischen ihren Notizen und Bilder hin und her. Ihr Atem ging schneller. Sie schwitzte. In ihren Ohren rauschte es. Stimmen und Erinnerungen. Gerüche und Musik. Sie verlor sich in einen Strudel, der sie verschlingen versuchte. Ein Schatten lauerte über ihren Kopf. Streckte die Hand nach ihr aus. „Mademoiselle, darf ich mich setzten?“ Erschrocken sprang die Angesprochene auf. Errötet nickte sie und nahm ihre Unterlagen. Als der Mann sich setzte, fühlte sie sich entspannter. Sie schenkte dem Mann ein Lächeln. Seine Haare waren schwarz wie Pech, mit leichten weissen Strähnen. Im Licht betrachtet gab es ein faszinierendes Spiel dieser beiden Farben. Sein Gesicht war bleich. Obwohl er eine ältere Person war, wie seine Altersflecken verrieten, war sein Gesicht faltenfrei. Sein Lächeln makellos. Dennoch war das Anziehende seine Augen. Ein Grau, wie nicht von dieser Welt. Ein Grau, das Barmherzigkeit ausstrahlte. Die Frau konnte ihren Blick nicht von diesen Augen lassen. Der Fremde sah sie freundlich an. Väterlich, als würden sie sich schon lange kennen. Fast hätte sie gefragt, ob er sich Fotografien lassen würde. Eine Weile schwiegen sie. Der Fremde sah in den Himmel. Worüber dachte er nach? Immer wieder spähte die Frau zu den älteren Herren. Er trug seine Haare zu einem Pferdeschwanz. Er schützte sich mit einem altmodischen Hut vor der Sonne. Seine schwarzen Lederschuhe waren poliert. Seine dunkelgrauen Hosen zierten Bügelfalten. Sein Hemd war schneeweiss, was ihn noch bleicher erschienen liess. Eine weinrote Weste rundete sein Outfit ab, in deren Tasche eine schmückende Spinnenlilie platziert war. Achtsam versuchte sie sich jedes Detail zu merken. Irgendwie konnte sie das Gefühl nicht loswerden, ihn zu kennen. [***]   Tagebucheintrag 18XX 06.Juni Ich sprach mit meiner Mutter. Sie versteht meine Sorgen nicht. Meine Schwester blüht mit jeglichem Tag ein Stück mehr auf. Bloss Vater schenkt mir seine ganze Liebe. Wird Gott mir weiterhin seine Güte schenken, so wie es Vater tut?                                                                                       [***] „Wirklich?“ Der Fremde nickte und lächelte freundlich. Aufgeregt sammelte die Frau ihre Habseligkeiten, um ihn zu folgen. Der Mann führte sie zu einem Teil des Friedhofes, von dem nur Eingeweihte wussten. Die Fusswege wurden nicht mehr gepflegt, die Hecken nicht geschnitten. Unkräuter wucherten in den Beeten. Verzaubert konnte sie es nicht lassen und schoss einige Fotos. Der Mann wartete geduldig. „Mademoiselle, wir sind angekommen.“ Der Fremde zeigte mit einer leichten Verbeugung das Familiengrab. Der Rosenstrauch umschlang die hünenhafte Tafel. Moos hat sich in den Buchstaben festgesetzt, Flechten haben sich in den Stein gefressen. Das Wappen war noch zusehen. Die Frau blinzelte. Wieder kam dieses Gefühl in ihr hoch. Es fühlte sich an, als wäre sie zu Hause.                                                                                        [***] Die Schwestern sassen sich gegenüber. Beide attraktiven Damen aus edlem Hause. Brav studierte die Einte die Heilige Schrift. Ihre feinen Hände hielten das Buch. Sanft atmete sie ein und aus. „Sœur, bitte überlege es dir gut.“ Schweigend sah die Lesende auf. Ihre Hände zitterten leicht. Ihr Herz schmerzte bei diesen Worten. War dies eine Prüfung? Wollte ihre Sœur … „Bitte! Ich möchte dich vor Leid bewahren.“ Die Bibel glitt zu Boden. Ohne ein Wort verliess sie das Zimmer.                                                                                        [***] Das Abendrot färbte den Friedhof in ein rötliches Licht. Ihr Magen knurrte. In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken. Sie war erschöpft. Ihre Augen tränten. War sie eingeschlafen? Einen Moment war sie sich nicht mehr sicher, wo sie war. Erst, als sie die Stimme des Fremden hörte, fand sie wieder zu ins hier und jetzt. „Mademoiselle? Fühlen Sie sich unwohl? Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“ Vorsichtig blinzelte die Frau. Bewegte ihre Hände und kreiste ihren Kopf. Es knackte leicht. Sie blickte in das Gesicht des Mannes, der ihr seine Hand hinhielt. Sie blinzelte erneut. „Ich habe Hunger. Habe beim Erforschen die Zeit vergessen.“ Fürsorglich nickte der Mann. „Ich habe noch Brot und Käse“, sprach er und lächelte. Sie nahm dankbar seine Hand und das Angebot an. Während sie zusammen sassen, schwiegen beide. Die Atmosphäre war malerisch. Das Essen schmeckte trotz seiner Einfachheit deliziös. Er begleitete sie zu einem Taxi. Sah ihr besorgt nach. Sie hatte keine Namen ausgetauscht. Und trotzdem murmelte er ihren Namen beim Abschied. Kapitel 2: Ankunft in Frankreich -------------------------------- Kaugummis schmeckten super. Besonders dann, wenn man beim Kauen dabei den Leuten auf die Nerven ging. Die Beamtin sah Linda mehrmals mahnend an. „Frau Weber, Sie können gehen“, sagte sie in schlechten Deutsch. Linda nahm die ID. Sie blickte der Beamtin lange in die Augen. Die Menschen hinter ihr warfen den Beiden ungeduldigen Blicken zu. In perfektem Französisch verabschiedete und bedankte Linda sich. Ungläubig starrte die Beamtin ihr nach, die Leute schüttelten ärgerlich die Köpfe. Ein kleines Kind fragte laut auf Deutsch: „Die Frau ist doof. Warum schimpft keiner?“ Sie spuckte den Kaugummi in den nächsten Mülleimer. Die Blicke machten ihr nichts aus. Im Gegenteil. Sie motivierten Linda, noch einen daraufzusetzen. Laut spielte sie Musik ab. Nahm sich das Recht, einen Tisch im Wartebereich für sich selbst zu beanspruchen. Ihre Füsse auf dem Tisch, der wie die anderen Tische und Sitzgelegenheiten farblich einen harmonischen Kontrast zu den Böden und Wände gab, ass sie irgendwas von einer Fast-Food-Kette. Linda! Sicher bist du überraschst, weshalb ich dir auf diesen altmodischen Weg eine Nachricht zusende. Das Tagebuch liegt bei dir. Wollte wohl noch länger bei dir bleiben. :) Zuerst wollte ich dich bitten, mir das Tagebuch zu schicken. Aber ich möchte dich gerne einladen! Etwas Zeit miteinander verbringen. Klingt gut, oder? ;) Schick mir eine WA. Da können wir den Rest bequatschen. Gruss aus dem wunderschönen Frankreich. Deine dich liebende Schwester Rosalina Der Timer des Smartphones piepte. Der Brief wurde sorgfältig zurück in die Handtasche gelegt. Linda gähnte laut, dehnte sich ausgiebig. Die Verpackungen des schnellen Festmahls mit einem lauten „Ab ins Körbchen!“ in den Mülleimer geworfen. Linda stopfte sich einen weiteren Kaugummi in den Mund, stolzierte aus dem Flughafen. Winkte das nächste Taxi zu sich. Der Mann, ein stämmiger Franzose mit einem feschen Barett, stieg aus. Linda gefiel sein Gesichtsausdruck. Griesgrämig. Nicht la Vie est belle. Eher la Vie est dure. Er öffnete den Kofferraum, warf fluchend ihre zwei Koffer hinein und stampfte zur Fahrertüre. Die Frau, die schon Platz auf dem Beifahrersitz genommen hatte, grinste. Sie bot ihm einen Kaugummi. Er brummte und schüttelte den Kopf. Sie fuhren aus dem Flughafenbereich. Während der Fahrt fragte, er auf sehr schlechtem Englisch, wohin sie möchte. Als sie auf Französisch antwortete, erhellte sich seine Miene schlagartig. Sie sprachen über die Liebe, die Unterschiede zwischen Frankreich und der Schweiz und ärgerten sich gemeinsam über unfähige Politiker und Politikerinnen. „Darf ich rauchen?“, fragte Linda. Natürlich wusste sie, dass es gesetzlich verboten war. Lässig griff er Fahrer in seine Hosentasche und zog ein Feuerzeug heraus. „Ein Freundschaftsgeschenk“, sprach er, bevor er heftig auf das Gas drückte.                                                                    [***] „Mücken und Fliegen. Cool. Natur ist so booooooring.“ Linda sah sich um. Hier würde sie eingehen. Zum Glück gab es Internet. Einen Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es Mittag war. Warum roch es nicht nach Essen? Ihre ach so perfekte Schwester machte doch keinen Fehler. Sie hatte mindestens ein 6-Gänge-Menü zubereitet, ihr Bett frisch bezogen und ein warmes Bad eingelassen. Den Kaugummi spuckte sie in den nächsten Blumenkübel. An der Türe hing eine Nachricht. Linda hob die Augenbrauen. „Ist meine Sis zu fein, das schwarze Schaf zu begrüssen?“, brüllte die Frau. Wütend stampfte sie um das Ferienhaus. Schaute in jedes Fenster hinein. Das Licht war in den Räumen gelöst. Ein Fenster war gekippt. Wo steckte sie?                                                                     [***] Weshalb tat sie dies? Verstand sie nicht, wie sie sich ins Unglück stürzte? Die Frau sah aus dem Turm. Die Krähen beobachten sie neugierig. Ihr Liebling, Joséphine, sass auf ihrer Schulter. Natürlich hörte ihre Schwester nicht auf ihre Worte. Zorn quoll in der Frau hoch. Warum suchte sie die Gunst dieses Mannes? Einen Mann, der nicht ihr Herz mochte, sondern ihren Adelsstand. Die Krähen flatterten auf und ab. Der Abend brach herein. Die letzten Vögel kamen nach Hause. Laut wurden diese begrüsst. Es wurde nach ihr gerufen. Welche Worte soll sie noch versuchen, um ihre Schwester vor sich selbstretten? Weshalb möchte sie diesem Mann gefallen? Er ist ihrer nicht würdig! Lieber würde sie es sehen, wie ein Tagelöhner ihr Schwager werden würde. Wiederholt wurde nach ihr gerufen. Joséphine plusterte sich auf. „Dieser Schuft darf niemals siegen“, rief die junge Frau leidenschaftlich. Die Krähen erhoben sich in die Lüfte. Federn segelten auf die Frau hinunter. „Rosalinde!“ Die Stimme der Mutter drang die Treppen des Turmes hoch. Sanft strich der Vater über die Wangen seiner Tochter. Sie waren eiskalt. „Pass auf dich auf“, flüsterte er. Er konnte sie nicht mehr davon abhalten, diesen Weg zu gehen. Die Tochter lächelte glücklich. In ihrem blauen Abendkleid sah sie aus wie ein Engel, ihre Haare leicht gelockt und hochgesteckt. Er sah ihr nach, als sie sein Arbeitszimmer verliess. Erhob sich, ging zum Fenster. Er zog die schwere Gardine. Sein Blick blieb bei der Kutsche haften. Seine Tochter schritt einem jungen Mann entgegen. Ob sie mit ihm ein gutes und glückliches Leben führen könnte? Einige Zweifel plagten den Mann. Er seufzte, bevor er sich wieder an seinen Schreibtisch aus Rosenholz setzte. Faltete seine Hände zum Gebet. Die Schritte holten ihn aus seinem Gebet. „Hast du gehorcht?“ Rosalinde nickte. In ihren Augen sah man den Zorn, welchen sie für den Verehrer ihrer Sœur empfand. Der Vater erhob sich. Sah seine zweite Tochter lange an. Joséphine krähte laut. Der Vater entfernte eine Feder von der bebenden Schulter, schenkte Rosalinde ein schwaches Lächeln. „Du musst ihr verzeihen“, sprach der Mann leise. „Ich bitte dich zum letzten Mal. Geh nicht mehr zu diesem Maler.“ Rosalinde fixierte ihre Sœur. Diese sah traurig zu ihr. Vor einigen Minuten war sie vergnügt und augenblicklich war ihre Miene versteinert. „Er liebt die Gemälde. Seit ich ihm das Erste schenkte, schenkt er mir sein Lächeln. Und sicherlich einst seine Gunst.“ Verärgert schüttelte Rosalinde ihren Kopf. „Dieser Schuft spielt mit deinem Herzen! Erkenne das.“ „Schweig! Du, dessen Schönheit und Anmut jeden Mann verführt!“ „Lauf in dein Leid. Erwarte keine Hilfe mehr von mir. Ich wollte dich beschützen, Lina.                                                              [***] Das Smartphone vibrierte. Linda öffnete ihre Augen. Verwirrt sah sie auf das Gerät. War das ein Traum? Es füllte sich so echt an. Automatisch erledigte sie ihre Dinge am Smartphone. Likte, verteilte Emojis, drehte ein TikTok-Video und machte ein Foto für Insta. Telefonierte mit ihrer Freundin. Sie fühlte sich überhaupt nicht gut. Linda hatte auf einmal Angst. Angst um ihre Schwester.                                                           [***] Das Moor lag am Ende der Ländergrenze. Die Kutsche hielt an. Widerwillig stieg der Kutscher vom Bock. Er öffnete die Türe und half dem Fräulein aus gutem Hause ins Freie. Verweint blickte sie zum kleinen Haus. Das Gemälde. Es musste fertiggestellt werden. Der Maler stand schon vor der Türe. Väterlich blickte er die Besucherin an. „Mademoiselle? Fühlen Sie sich unwohl?“ Die Frau schüttelte den Kopf. Sie sah in seine grauen Augen, die voller Mitgefühl waren. Eine Krähe flog Kreise um das Haus. Sie setzte sich auf das schiefe Dach des Hauses. „Joséphine?“, sprach Lina überrascht. Der Künstler nahm die Hand der Frau. „Eure werte Schwester sorgt sich um Eurer Wohlergehen, Mademoiselle. Kehrt nach Hause zurück.“ Einen Augenblick sah es aus, als würde die Frau den Rat befolgen. Doch dann berührte ihre Finger ein Armband. Die blauen Edelsteine glitzerten in der Abendsonne. Sie lächelte selig. „Bitte malt das dritte Gemälde zu Ende. Ich würde mein Leben dafür geben.                                                           [***] „Bist du nicht willig, so brauche ich verdammte Gewalt!“ Mit einem letzten Tritt gab die Eingangstüre auf. Linda rannte in das Ferienhaus. Das Beil, das sie im Gartenbereich gefunden hatte, warf sie in die nächste Ecke. Beinahe hätte sie die Blumenvase umgeworfen, aber das war ihr sowas von egal. In der Küche war das alte Geschirr. Fruchtfliegen flogen um die langsam gammelten Früchte. Einige Fenster waren halb geöffnet. Das Bett nicht gemacht. Die Badewanne nicht geputzt. Der Hahn tropfte. Auf dem Schreibtisch lagen die gesammelten Informationen. Auf einigen Notizen stand in Schnörkelschrift Noé. Linda sah zum Boden. Fotos lagen zerstreut auf dem Teppich. Es gab noch mehr Hinweise, dass ihre Schwester voreilig das Ferienhaus verlassen hatte. Linda setzte sich auf den Boden. Sie würde auf ihre Schwester warten. Kapitel 3: Der Schatten der Vergangenheit ----------------------------------------- Einige Tage vorher Sie hatte nicht nach seinem Namen gefragt. Rosalina setzte sich senkrecht in die Badewanne. Dieser alte Mann hatte was an sich, dass sie anzog. Erinnerungen kamen in seiner Nähe hoch, die sie nicht haben konnte. Langsam tauchte eine Gestalt vor ihren Augen auf. Ein Mann in einem edlen Anzug. Seine Augen waren wunderschön, sein Lächeln schmeichelhaft. Er streckte seine Hand aus und sprach mit charmanter Stimme. Machte ihr Komplimente. Schenkte ihr ein Armband. Sie wollte zu ihm. Sie brauchte ihn. Mit lautem Herzklopfen griff die Frau nach der Seife. Wusch sich, während sie versuchte, diesen Mann zu vergessen. Sie ass den Rest des Willkommenkorbes, was nicht mehr so viel war, und ging diesen Tag durch. Es war bloss schade, dass ihre Schwester nicht da war. Auf einmal vermisste Rosalina Linda sehr. Ihr Herz schmerzte. Sie fühlte sich schwach und alleine. Vorsichtig tapste sie ins Schlafzimmer. Kramte kurz in ihrem Nachttischchen. Bis sie es fand. Ein laminiertes Foto von ihrer Schwester und ihr. Ihre ersten selbstgemachten Faschingskostüme. Sie war ein Schwan und ihre Schwester ein Krokodil. Ihre Schwester war stets die Stärkere. Apropos Schwester! Sie musste ihre Schwester kontaktieren. Das alte Tagebuch blieb bei ihr liegen, als Rosalina kurz vor der Abreise sie besuchte. Linda war nicht begeistert. Sie zeigte ihr den Vogel und sagte genervt: „Sis, du bist lost!“ Trotzdem hörte sie ihr zu, während sie ihre Nägel lackierte. Über das Geheimnis der Familie Hénin. Über ein verschollenes Gemälde. Einem unbekannten Künstler mit einem düsteren Mysterium. Bevor Rosalina ging, sagt Linda zu ihr: „Sis, bitte überlege es dir gut. Warum willst DU dieses Geheimnis lösen?"                                                                                      [***] Der Maler schüttelte den Kopf. „Bitte geht nach Hause, Mademoiselle. Morgen ist heiliger Sonntag.“ Die Adelige nickte. Sie war müde. So müde. Die Gerüchte stimmten. Dieser Maler hatte ein unheimliches Talent. Seine Gemälde waren voller Leben. Seine Porträts unbeschreiblich. Was man sich auch wünschte, wird in Erfüllung gehen. Er malte, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Allerdings bezahlte man eines Tages den höchsten Preis … Die Krähe folgte ihr bis zur Kutsche. Sie schwieg. Das Armband wiegte auf einmal schwer. Es brannte regelrecht auf ihrer weichen Haut. „Was soll ich nur tun? Oh, gnädiger Gott. Bitte hilf mir“, flehte sie. Das Flehen schmerzte den Kutscher. Auch er betete für das Seelenheil seiner Herrin. Im Kerzenlicht griff sie nach ihrem Tagebuch. Mit Tränen in ihren Augen schrieb sie den letzten Tagebucheintrag. In diesem Leben würde sie keine Lösung finden können.                                                                                          [***] „Ja, werde ich tun. Nochmals Danke für die Hilfe. Das Häuschen ist wunderschön! Ja, ich werde die Grüsse ausrichten. Ich werde vorsichtig sein mit meinen Nachforschungen.“ Während die Uhr Elf schlug, sah die Frau aus dem Fenster. Auf dem Dach sass eine Krähe. Als sie wegflog, erschrak Rosalina heftig. „Ich muss mich beruhigen. Vielleicht habe ich mich … Ich werde jetzt schlafen gehen.“ Der Schlaf war nicht erholsam. Ihre Träume waren wirr. Noé, der Mann aus den Notizen, sprach mit ihr. Er wartete auf sie. Er liebte sie immer noch von Herzen. Der alte Mann blickte mit seinen grauen Augen wohlwollend zu ihr. Wollte er sie vor was warnen? Sie sah ihre Schwester in einem altertümlichen Kleid. Mit ihren bunten Haaren und Piercings passte es einfach nicht. Überall waren Krähenfedern. Farbe, dessen Geruch ihr Übelkeit verursachte. Und der Duft von Weihrauch und Rosen. Sie schwitzte. Ihr drehte sich der Magen. Sie wachte auf. Jemand war mit ihr im Raum.                                                                                        [***] Tagebucheintrag 18XX 08. Dezember Mein Körper kann nicht länger auf der Welt verweilen. Mein Herz zersprungen. Ich versuchte, meine Schwester zu überflügeln. Ihre Schönheit und Anmut ist nicht zureichen. Sie wird der Familie Ehre machen. Ich versuchte, mit Hexerei und sündigen Methoden Rosalinde zu übertrumpfen. Ihr Herz ist voller Liebe zu mir. Sie schickte mir Joséphine, um über mich zu wachen. Und ich? War voller Missgunst und Eifersucht. Noé, was hast du mit meiner Seele getan? Ich liebe dich. Hoffentlich werden wir uns eines Tages wieder sehen. Warte auf mich.                                                                                     [***] Der Künstler blickte zum Mond. Hätte er dem Fräulein nicht helfen sollen? Er dachte, sie könnte den Fluch brechen. Dennoch, auch sie war zu schwach. Sie hatte sich von der Vergangenheit einlullen lassen. Langsam schritt er zurück in seine Hütte. Sein Blick glitt zu dem unvollendeten Gemälde. Ein Porträt einer hübschen jungen Frau mit unglücklichem Lächeln. Ihre Augen waren matt. Ganz anderes als das erste Porträt, das er für sie pinselte. Eine lebensfrohe junge Frau, die musikalische Talente besass. Die für eine Schwärmerei die Liebe ihrer Familie aufgab. Der Künstler seufzte und holte tief Luft. Langsam veränderte sich seine Gestalt. Sein Körper wurde knochiger. Seine Haare fielen aus. Seine Kleidung zerfloss. Aus seinem Schatten flog ein pechschwarzer Vogel hervor. „Joséphine? Du bist eine treue Begleiterin“, sprach er. Die Krähe plusterte sich auf. „Wir werden die Sœur deiner Herrin retten können.“ Kapitel 4: Der Maler -------------------- „Ich werd noch crazy! Wo bist du Sis?!“, brüllte Linda in das Smartphone. Der Morgen brach an und von Rosalina gab es immer noch kein Lebenszeichen. Sie kam nicht zurück ins Ferienhaus. Reagierte nicht auf WA, Anrufe oder irgendwas. In ihrer Panik versuchte Linda Bekannte von ihrer Schwester zu erreichen. Einer sagte ihr, dass er erst kürzlich mit ihr telefonierte. Hastig wimmelte Linda ihn ab. Sie hatte keinen Bock auf dumme Fragen. Rosalina war zuverlässig. Niemals würde sie das Ferienhaus so verlassen. Niemals würde sie nicht da sein, wenn sie jemanden einlud. Niemals wäre sie so schlampig. Niemals würde sie ihre Unterlagen so behandeln. Sis, wo bist du? Bist mit irgendeinem einem Creep mitgegangenen? Bist du verascht worden? OMG, Girl! Das Magenknurren ignorierend, ging sie aufs Klo. Danach verschwand sie im Schlafzimmer. Nicht um sich auszuruhen, sondern um die Koffer ihrer Schwester auseinanderzunehmen. Regelrecht zerfledderte die Frau diesen. Nahm ein Messer, schnitt den Boden auf, die Zwischenfächer. Durchsuchte den perfekt eingeräumten Kleiderschrank. Die Schubladen des Nachttisches. Der Schreibtisch. Smartphone vibrierte. Eine Pusch-Benachrichtigung nach der anderen erschien auf dem Display. Ihre beste Freundin schrieb und schickte Nachrichten. Linda fühlte sich hilflos. Vor Wut griff sie nach dem Tagebuch und warf es an die Wand. Langsam glitt es hinab. Linda fing laut und hemmungslos an zu heulen. Der Polizei vertraute sie nicht, seid einem Zwischenfall vor 15 Jahren. Auf dessen Hilfe konnte sie verzichten. Musste sie verzichten. Vertraue niemanden, ausser dir selbst! Plötzlich kam ihr der Zettel in den Sinn. Sie kletterte über die kaputte Türe. Wie durch ein Wunder war das Blatt Papier nicht beschädigt. Die Nachricht war in einer veralteten Schreibweise geschrieben. Mit einer wunderschönen Handschrift bat der Schreiber, der sich schlicht der Maler nannte, auf ein Treffen. Gemächlich erhob sich der Mann von der Sitzbank. Er verbeugte sich leicht. „Mademoiselle, bitte folgt mir“, sprach er. Knurrend folgte Linda ihm. Natürlich war es nicht klug, ohne jemanden zu informieren, zu dem Treffen zu gehen. Sie hatte nicht geschlafen und Hunger hatte sie genauso. Wenn dieser Kerl nur den kleinsten Hinweis besass, wo ihre Schwester sein könnte, würde sie ihn überall hin folgen. Dieser Creep sollte nicht denken, sie sei hilflos! Sollte er was Komisches versuchen, würde sie seinen klapperigen Körper in das nächste Grab verfrachten. Er führte sie zu dem Familiengrab, wie einige Tage zuvor ihre Schwester. Im Gegensatz zu Lina war sie nicht hingerissen. Linda stampfte hinter dem Mann her, liess ihn nicht aus den Augen. Ab und zu warf sie einen Blick hinter sich, als würde sie einen Hinterhalt vermuten. Sie hielt in ihrer Hand die Schlüssel zwischen den Fingern. Bereit, diesen als Waffe zu benutzen. „WO ist meine Sis?“, die Stimme von Linda hallte durch den Friedhof. Ihre Augen funkelten. Eine Krähe, die im Baum das Grab beobachtete, hüpfte aufgeregt auf und ab. „Mademoiselle, liegt Eure Schwester Euch am Herzen?“ „Versuch ja keine Show! WO IST SIE?!“ Die Krähe hüpfte auf Linda zu. Die Frau merkte es nicht. Auch nicht, wie die Krähe auf ihre Schulter flog. Ihr Haarschmuck wurde vom Wind entrissen. Ihre gefärbten Haare flatterten im Wind. „Wollt Ihr, Mademoiselle, wahrlich die Wahrheit erfahren?“ Der Künstler betrachtete die junge Frau aus der Schweiz. In ihren Augen war eine Stärke zu sehen, die der anderen Schwester fehlte. Eine Frau, die alles erreichen konnte. Sie konnte die Wahrheit ertragen. Die ganze, verrückte Wahrheit.                                                                           [***] Ihr war so kalt. Warum konnte sie ihren Körper nicht mehr bewegen? Was war passiert? Bewegte sie sich? Ihr war kalt. Warum war sie in diesem alten Gebäude? War dies ein Chateau? Überall waren Spinnweben. Warum fühlte sie sich hier zu Hause? Eine Ratte quietschte. Sie mochte keine Ratten. Warum war sie hier? Warum lief sie hier herum? Warum trug sie ein Armband? Sie musste zu ihrer Schwester! Welcher Wochentag war heute? Glas klirrte. Hatte sie gerade eine Vitrine zerschlagen? Sie erinnerte sich daran, mitten in der Nacht aufgewacht zu sein. Sie hatte einen merkwürdigen Traum. Die Kälte lähmte ihre Gedanken. Die Spinnweben störten sie nicht. Aber die Ratten verängstigten sie. Sie waren schmutzig und waren die Träger der Pest. Nein. Das war nicht wahr. Ratten waren niedlich. Ihre Schwester hatte früher Ratten. Linda wollte sich wieder ein paar zulegen. Hatte sie sehr alte Bekleidung angezogen? Der Stoff juckte. Der Geruch moderig. Warum tat sie das? Ihr Körper wollte einfach nicht gehorchen. Sie konnte nicht schreien, obwohl sie es wollte. Kurz blitze eine Erinnerung hoch. Es war Nacht und sie war aufgewacht. Eine Gestalt starrte sie an. Eine junge Frau. Ihre Augen schwarz, ihr Mund riesig. Sie verlangte nach dem Körper, weil er ihr gehörte. Tränen. Weshalb weinte sie? Warum machte sie sich hübsch? Warum wollte sie zu dem Künstler im Moor? Linda … Sie musste zu ihrer Schwester Linda! Warum wurde sie so müde …? Nein … Sie durfte nicht einschlafen … Sie musste Kämpfen! Nein … nicht einschlafen … Sie durfte nicht aufgeben. Warum spürte sie keine Schmerzen? Weshalb tat es nicht weh, als sie in Spiegel schlug? Wie sah sie aus? Ihre Haare zu einer altmodischen Frisur frisiert und auch so geschminkt. Sie sah aus wie … das Edelfräulein, worüber sie forschte. Rosalina Hénin. Kapitel 5: Schwesternbanden brechen nicht ----------------------------------------- Das Moor war ruhig. Kein Zeichen von Leben. Als würde die Zeit still stehen. Die Schritte der Frau waren zögerlich. Als würde etwas in ihr gegen ihren Willen kämpfen. Das ärgerte sie mehr, als sie zugeben würde. Dennoch niemals würde sie Unanständiges sagen oder es zeigen, wie sehr sie sich echauffierte. Stolz erhob sie ihren Kopf. Sie atmete tief ein und aus. Das Armband an ihrem Arm entlockte ihr ein seliges Lächeln. Endlich würde das Porträt fertig werden. Sie würde mit Noé zusammen glücklich werden. Ihr Körper zitterte. „Nein. Halte mich nicht auf … Bitte. Ich möchte bloss glücklich werden …“, hauchte die Frau. Sie würde beenden, was sie nicht zu Enden bringen konnte. Sie sah ihn vor der Hütte warten. Seine Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Trug einen Hut, obwohl es tiefe Nacht war. Seine schwarzen Lederschuhe waren sauber, obwohl er in einem Moor lebte. Seine dunkelgrauen Hosen und sein schneeweisses Hemd waren, obwohl er ein Maler war, nicht mit Farben befleckt. Seine ikonische weinrote Weste und passende Blume erkannte sie sofort. Ihr Maler. Ihr Heilbringer. Als sie seine Stimme hörte, konnte sie vor Erleichterung nicht aufhören zu lachen. „Willkommen, Mademoiselle Rosalina Hénin.“ Sie sah sich nicht um. Ignorierte die moderneren Gegenstände, welche in der Hütte waren. Ein Radio spielte klassische Musik ab. Ein Fernseher stand in der Ecke. Ein Wasserkocher war ausgesteckt. Rosalina verachtete die Veränderungen. Wollte sie nicht sehen. Ihr Körper zitterte wieder. „Mademoiselle, dies ist nicht Euer Körper“, sprach der Künstler väterlich. Die Frau schwieg. Sie streichelte das Armband. „Malt es fertig“, hauchte sie. Bevor der Künstler antworten konnte, schrie jemand durch das Fenster. Die vulgären Worte liess Rosalina erschaudern. Sie blickte auf. Die Nacht verschluckte ein Teil des Gesichtes. Doch die zornigen Augen konnte die Dunkelheit nicht schlucken. „Wer ist diese Dame?“, fragte Rosalina angewidert. Der Künstler beantworte die Frage, was ihr nicht gefiel. „Sie darf mich nicht aufhalten!“, sprach sie hastig. Ihre Stimme wurde schrill. Die Augen waren rot. Ihr Körper zitterte unnatürlich. „Weshalb ist dieses WEIB hier? Sie soll gehen!“ „Mademoiselle, Ihr solltet den Körper verlassen.“ Wie eine Marionette bewegte sich der Körper der Frau auf das Fenster zu. Jeder Mensch hätte bei diesem Anblick Angst bekommen. Jedoch Linda war vorbereitet und fürchtete sich vor nichts. Der Künstler hatte schon vieles gesehen. Er selbst war ein Wesen, das weder an Zeit noch Raum gebunden war. Er selbst war Herr über das Leben und Gebieter über den Tod. Dennoch war er sehr über Linda überrascht. Sie zeigte keine Angst vor dem verfluchten Körper ihrer Schwester. Im Gegenteil. Menschen überraschten ihn immer wieder. Sie lachte über Rosalina Hénin. Lachte darüber, wie abhängig sie sich machte. Lachte über ihre charakterliche Schwäche, für einen Kerl sich selbst aufzugeben. Mademoiselle Hénin zitterte. Sie konnte es nicht ertragen, von so jemand auf diese Weise verspottet zu werden. „Wie kannst du mich verspotten? Wie kannst du wagen …“ „Bitch, halt dein Maul! Wenn du nicht freiwillig den Körper verlässt, werde ich dich for ever verfolgen. Und deinen Kerl werde ich dir ausspannen, ich schwör!“ Der Spuk und der wahrhaftige Tod sahen sich baff an. Linda hatte wahrlich keine Angst vor Gespenstern.                                                                          [***] Vorsichtig nährte sich der Künstler Rosalina. Diese schwebte einige Meter über dem Boden, ihre Augen waren weit geöffnet. „Seht ihr nicht, Mademoiselle? Dieser Körper gehört Euch nicht. Dieser Körper gehört jemanden, der sehr geliebt wird.“ Traurig schüttelte die Gestalt den Kopf. „Warum darf ich nicht glücklich werde?“, fragte sie. Bevor der Künstler antworten konnte, rannte Linda in die Hütte. Sie warf das Tagebuch knapp an der Gestalt vorbei. „Du dachtest die ganze Zeit an dich. Girl, hast du versucht, mit deiner Sis zureden?“ Langsam hob die Gestalt das Tagebuch hoch. „Sie wollte mir meinen Liebsten …“ „HAT SIE NICHT!“ Erschrocken zuckte Rosalina zusammen. Ihre Füsse berührten nun den Boden. Sie blätterte durch die alten Seiten. „Warum kann ich nicht glücklich werden?“ Bevor der Künstler antworten konnte, reagierte Linda. Sie war immer noch zornig. Trotzdem fühlte sie ein kleines bisschen Mitleid. „Deine Sis war mega sad über deinen Tod. Sie machte sich mega Vorwürfe. Girl, meine Sis hat mir die Ohren voll gelabbert über deine Geschichte. SIE verschwand und man fand sie nie wieder.“ Rosalina schrie. Sie wollte es nicht hören. Linda umarmte sie. Sie sprach weiter und weiter. Ignorierte, wie ihre die Hülle ihrer Schwester sie angriff. Biss. Kratzte. „Deine Sis tat alles für dich. Sei 'ne eifersüchtige Bitch, aber Rosalinde liebte dich.“ Rosalina schrie. Zum letzten Mal wollte sie ihren ganzen Hass zum Ausdruck bringen. Als sie in das Gesicht von Linda sah, konnte sie erkennen, wie sehr diese ihre Schwester liebte. „Es tut mir Leid…“, flüsterte die Gestalt. Aber sie wollte diesen Körper nicht aufgeben. Linda knurrte, als sie die eiskalten Hände um ihren Hals spürte. „Ich schwör dir, ich werde dich verfolgen. Dich und deinen Kerl. Dann verfolge ich dich eben als Ghost. „ Der Künstler war über den starken Willen der jüngeren Schwester nicht überrascht. Auch damals war Rosalinde energischer. Dennoch … So hätte er sich es nicht vorgestellt.                                                                [***] Die Morgensonne erhellte das Moor. Eine Krähe flog über eine kleine Hütte. Ein alter Mann sah zu den zwei schlafenden jungen Frauen. Beide waren verletzt, aber lebten. „Bitte begleite Mademoiselle Hénins Seele ins Jenseits.“ Joséphine flatterte zu dem unfertigen Bild. Als der Vogel es berührte, verschwand die Farbe. Sie lief zum Boden. Die Farbe nahm die Form von Rosalina Hénins an. Sie lächelte befreit. Das Armband zerschellte. Aus den Federn der treuen Krähe trat Rosalinde hervor. Sie streckte ihrer Schwester die Hand entgegen. „Du hattest recht, Linda. Dieser Schuft hat mich nicht verdient“, sprach Rosalina demütig. Ihre Schwester schüttelte den Kopf. „Ich habe deine Gefühle nicht verstanden. Lina, ich bereue es, dir nicht richtig zugehört zu haben“, antwortete sie. Der Künstler nahm seine wahre Form an. Er breitete seine knochigen Arme aus und lächelte väterlich den beiden Schwestern zu. „Mademoiselle Rosalina. Mademoiselle Rosalinde. Bitte folgt mir“, sprach er, während er eine leichte Verbeugung andeutete. Epilog: -------- „Nicht möglich!“ Der Taxifahrer tippte an seinen Kopf, um seine Ungläubigkeit zu zeigen. Er zeigte auf die beiden jungen Frauen. „Ihr heisst wie die beiden Schwestern aus dieser alten Legende?“ Linda grinste. Sie holte ihre ID aus ihrem BH. Triumphierend tippte sie auf den Namen. „Ich bin Rosalinde Weber aus Basel“, sprach sie, während sie Rauch aus der Zigarette bliess. Lina, die gerade an ihrem Kräutertee nippte, suchte in ihrer geblümten Handtasche nach ihrem Portmonee. Sie zeigte dem Taxifahrer ihre ID. Rosalina Weber stand da. Der Mann trank aus seinem Feierabendbier, bevor er nochmals den Kopf schüttelte. Sie unterhielten sich lange. Die beiden unterschiedlichen Schwestern, die natürlich alle Blicke auf sich zogen, amüsierten sich köstlich. Der Taxifahrer, den die beiden Frauen aus dem Moor holte, schüttelte nochmals den Kopf. Was sie da machten, wollte er nicht wissen. War ihm auch gleich. Sie luden ihn zum Abendessen und einen Schlummertrunk ein. Welcher Mann würde so ein nettes Angebot von zwei charmanten Ladys ablehnen? Er fragte nicht, was sie dort machten. Weshalb die einte ein altes Kleid trug. Und warum sie leichte Verletzungen hatten. Gerade als er gehen wollte, tippte ihn Linda an die Schulter. Sie streckte ihn ein paar Bonbons entgegen, die berühmt waren aus der Schweiz zu stammen, und sagte „Ist ein Freundschaftsgeschenk.“                                                                            [***]   Kennt ihr die Erzählung des geheimnisvollen Malers? Er lebt in einem Häuschen im Moor. Ein freundlicher, älterer Herr. Seine Kunst ist sein ganzer Lebenssinn. Wie alt er ist? Niemand weiss es. Woher er stammte? Niemand weiss es? Allerdings kennt er dich. Egal, wer du bist. Ob Arm oder Reich, Mann oder Frau. Sein Talent ist Gott gegeben. Wenn er dich malt, wird sich das Glück zu dir gesellen. Deine Lieblichkeit wird erblühen, deine Courage wachsen. Er verlangt keine Gegenleistung. Nichtsdestoweniger wirst du einen hohen Preis bezahlen. Der Maler ist nicht von dieser Welt. An ihm klebt der Hauch der Verdammnis. Halte dich von ihm fern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)