Milch und Mochi von Shiori-chan ================================================================================ Prolog: -------- H O R O H O R O     Für einen kurzen Moment beschleicht mich ich das dumpfe Gefühl, dass du mich womöglich nicht richtig verstanden hast.  Keine Reaktion, keine direkte Antwort. Als hätte ich mich gerade einer Wand offenbart. Lediglich ein leichtes Stirnrunzeln unter deinen karminroten Strähnen weist mich darauf hin, dass dein Hirn arbeitet, dass du vermutlich gerade abwägst, inwiefern ich dich möglicherweise nur auf den Arm nehmen will.  Verübeln kann ich es dir zumindest nicht. Dass ich diesen Satz gerade wirklich laut ausgesprochen habe, wirkt für mich genauso unreal und gleichzeitig absolut lebensmüde.   „Du verarschst mich“, schnaubst du verächtlich, trotzdem meine ich, irgendwo im dunkelsten, tiefsten Bereich deiner Stimme einen Hauch von Verunsicherung heraushören zu können.  Dein Blick ist immer noch in die Weite gerichtet, fixiert auf die in orangerotes Licht getauchte Bergkette, die sich vor uns auftürmt. Viel zu gelassen, fast schon zu ruhig, wenn man überlegt, was ich dir gerade für einen gigantischen Brocken an Chaos vor die Visage geklatscht habe. Sollte auch nur ein mikroskopisch winziger Teil von dir meinen Worten Glauben schenken, dann ist das hier eine schauspielerische Meisterleistung.  Theoretisch lieferst du mir gerade die perfekte Vorlage, um meine Aussage kurzerhand wieder zurückzunehmen.  Hahaha, hast recht, witzig von mir oder, hahaha.    „Nee.“   Vielleicht sollte ich mir endlich einen Maulkorb zulegen, denn anscheinend habe ich weder meinen Kopf noch mein bescheuertes Mundwerk im Griff. Letzterem könnte ich wenigstens durch eine Art Knebel entgegenwirken und mir somit weitere Dummheiten ersparen. Aber jetzt ist es zu spät. Als du endlich den Kopf zu mir drehst und mich ansiehst, kann ich spüren, wie plötzlich in mir kochende Hitze aufsteigt und sich meine Brust eng zusammenzieht. Dein Gesichtsausdruck befindet sich mittlerweile irgendwo zwischen angespannter Neugier und nervöser Empörung.  Jedenfalls wirkst du auf einmal nicht mehr ganz so gefasst wie soeben noch. Als könntest du nicht glauben, dass jemand wirklich so unfassbar dumm wäre, eine Freundschaft auf diese Art und Weise aufs Spiel zu setzen.   Fuck.    An der Art, wie du mich jetzt musterst, immer noch misstrauisch, zögernd, kann ich davon ausgehen, dass du nach wie vor denkst oder vielleicht sogar hoffst, Anzeichen in meinem Gesicht zu finden, die auf einen Witz schließen lassen. Auf einen bescheuerten, hirnverbrannten Witz, der besser ein scheiß Witz hätte bleiben sollen. Aber damit kann ich leider nicht dienen. Stattdessen merke ich, wie mir die Röte in die Wangen schießt und ich am liebsten im Erdboden versinken würde. Das ist kein Scherz, nein.  Und ich Vollidiot habe soeben dafür gesorgt, dass es real wird.   „Sorry“, platzt es dann aus mir heraus, weil ich diese gottverdammte Stille zwischen uns nicht mehr länger ertrage, und ich springe von der Bank auf die Beine.  „Ich, ah … das war so nicht geplant.“ War es wirklich nicht, aber irgendwas in meinem Walnuss-Gehirn hat mich wohl denken lassen, dass das hier die perfekte Gelegenheit für gefühlsduselige Scheiße ist. Während sich Yoh, Ryu und Manta am Schrein noch mit Snacks und Sake beladen, solange wir für ein paar Minuten zur Abwechslung mal nur zu zweit auf der Plattform sind. Vor uns die untergehende Sonne über den Bergen, im Hintergrund die sanften Festivalmelodien und Gesprächsfetzen der Spaziergänger und Tempelbesucher.  Eigentlich bin ich kein Stück romantisch, aber ich schätze, der beschissene Alkohol macht was mit mir. Nervös wippe ich von einem Bein auf das andere, weiß nicht so recht, wohin mit mir. Das feuchte hohe Gras, das sich durch die Öffnungen meiner hölzernen Getas bahnt, fühlt sich unangenehm kalt und nass an meinen Füßen an. Augenblicklich raffe ich mir meinen Kimono enger um meinen glühend heißen Oberkörper. Als könnte ich mich damit auch nur ansatzweise vor dem schützen, was jetzt kommt.  Mittlerweile hast du den Blick gesenkt, weil du dir wohl nicht mehr anders zu helfen weißt. Aber das schwache Licht reicht trotzdem aus, um zu erkennen, dass du mit dir haderst, dass dir absolut nicht mehr nach Feiern zu Mute ist. Sollte dir überhaupt jemals heute danach gewesen sein. Deine Arme sind fest über der Brust verschränkt, deine Fingerspitzen scheinen sich mit aller Macht in den fließenden Stoff des Kimonos bohren zu wollen.  Der winzige Hauch von Hoffnung auf eine mögliche Beidseitigkeit, den ich anfangs noch hatte, ist jetzt offiziell dahin.    „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Deine Stimme klingt auf einmal kratzig. Aber selbst jetzt, wo ich dich selten so kleinlaut und benommen erlebt habe, wirke ich neben dir immer noch wie ein Häufchen Elend. Der erbärmlichste, schmutzigste Häufchen, das sich möglicherweise aktuell in ganz Tokyo auffinden lässt. „Irgendwas wäre schon mal ein guter Anfang“, krächze ich gequält. Mittlerweile fühlt es sich so an, als würde mir jemand die Luft abschnüren. Das aggressive Pochen in meiner Brust wird mich höchstwahrscheinlich bald noch in den Wahnsinn treiben, wenn du diese Situation hier weiterhin unkommentiert lässt.   Dann höre ich, wie du plötzlich neben mir scharf einatmest. „Okay.“    Ich hebe erleichtert den Kopf, weil ich mir nichts weiter als ein schnelles Ende dieser Misere wünsche. Egal, wie auch immer das aussehen mag. Als du mich dann jedoch ansiehst, weiß ich deine Antwort schon, ohne dass du sie aussprechen musst.  Und dann will ich sie doch nicht mehr hören.  Was in aller Welt hat mich nur denken lassen, unsere ewigen Streitereien und Beschimpfungen wären auch dein scheiß Coping-Mechanismus, weil du deine Gefühle nicht anders zeigen kannst.   „Kein Sake für dich beim nächste Mal, Idiot. Der lässt dich noch mehr Schwachsinn faseln, als sowieso schon.“   Was? Ich versuche den riesigen Kloß in meiner Kehle herunterzuschlucken, doch es gelingt mir nicht. In meinem Kopf rasen die Gedanken nur so umher, weil ich absolut nicht verstehe, was du mir damit sagen willst. Aber dein Blick ist so durchdringend und ernst, als würdest du dir damit selbst bestätigen wollen, dass das hier gerade nicht stattgefunden hat.  Dass es nicht real ist.   „Kapiert?“   Deine bernsteinfarbenen Augen scheinen mich förmlich festzunageln, so stechend ist dein Blick. Festzunageln auf eine gemeinsame Übereinkunft, dass hier gerade absolut nichts passiert ist, das unsere Beziehung ins Wanken geraten lassen hätte können. Wahrscheinlich sollte ich dir sogar dankbar dafür sein, dass du mit deiner Aussage meine Schlinge soweit aufgelockert hast, sodass ich meinen Kopf wieder easy herauswinden kann. Weil du damit unsere Freundschaft rettest, die ich beinahe mit meiner impulsiven, unüberlegten, dummen Aussage zerstört hätte. Ja, sollte ich wohl.   Und dann nicke ich und zwinge mich zu einem verkrampften Lächeln.   „Total kapiert.“        Kapitel 1: Maki und Nigiri -------------------------- R E N      „Gibst du mir noch was vom Shoyu-Ramen? Den mag ich am liebsten.“ „Klar!“   Mit einem breiten Grinsen im Gesicht greifst du schnurstracks nach der Suppenkelle neben dem wohlig dampfenden Kochtopf vor dir, in der anderen Hand bereits die leere Suppenschüssel und beginnst eilig zu schöpfen. Selbstverständlich überrascht es mich bei deiner altbekannten Gefräßigkeit kein winziges Stück, dass dabei die Hälfte der salzigen Brühe auf der hellen Tischdecke landet, derart stürmisch füllst du die Schüssel. Dabei ist es nicht mal deine Portion. Selbst beim Zurückreichen der randvollen Schale nimmst du keine Kenntnis von der riesigen Sauerei auf dem Tisch, die du hier gerade veranstaltet hast. Typisch du. Idiot.   „Danke.“  Auch wenn ich ihr Gesicht nicht sehen kann, da du zwischen uns sitzt, kann ich beinahe hören, wie sie dich gerade anstrahlt, als sie dir die Schale abnimmt. Das tut sie schon den ganzen Abend. Was mir natürlich nur ganz am Rande aufgefallen ist, ist ja klar. Vermutlich gibt sie darauf acht, dass du dir nicht alle Knochen brichst, so tollpatschig, wie du dich seit unserer Ankunft verhältst. Als hättest du dir vorher 5 Tassen Kaffee hinter die Birne gekippt. Eventuell vor Aufregung, Vorfreude, weil wir es nach all den Jahren nun endlich geschafft haben, uns alle wieder hier zu versammeln.  Vielleicht aber auch nur aus mangelnder Intelligenz, wer weiß das schon. Bei dem ganzen Rumgezappel ist es jedenfalls gar nicht schlecht, dich im Auge zu behalten, bevor du jemandem noch ernsthaften Schaden zufügst. Dabei solltest du mittlerweile alt genug sein, um auf dich selbst aufzupassen.    Während die würzige, dunkle Brühe gemächlich im weißen Stoff versickert und die hölzerne Unterlage benetzt, komme ich allerdings nicht umhin, jene Annahme noch mal grundlegend zu überdenken, wenn nicht sogar zu bezweifeln. Ich runzle die Stirn, schiele kurz zu dir herüber. Ehrlich gesagt kann ich es gar nicht abwarten, mich über dein dumm dreischauendes, peinlich rot angelaufenes Gesicht zu freuen, wenn du deinen Fauxpas endlich registrierst. Doch nichts davon passiert. Weil du mit deiner Aufmerksamkeit immer noch ganz woanders bist, weil dein Blick durchgehend an ihrem Gesicht klebt wie ein völlig betörter Schoßhund am Bein seines ach so tollen Frauchens. Absolut lächerlich.  Als sie dich zu guter Letzt doch noch auf die Flecken aufmerksam macht, sehe ich endlich den lang ersehnten Rotschimmer auf deine Wangen aufglimmen. Aber seltsamerweise gibt mir dein plötzliches Schamgefühl nicht ansatzweise die Genugtuung, die ich mir erhofft hatte. Sollte ich in den letzten Jahren wirklich so massiv Fortschritte gemacht haben, dass selbst Schadenfreude keinen Platz mehr in meinem jetzigen Leben besitzt, werde ich mir ernsthaft überlegen, die Therapie frühzeitig zu beenden.   „Mist“, murmelst du und presst hastig mit ein paar der losen Servietten auf die feuchte Stelle, um die übrige Flüssigkeit aus der Tischdecke aufzusaugen. Eigentlich müsste dir das alles nicht mal unangenehm sein, denn niemand scheint sich für deine Bemühungen zu interessieren, scheint überhaupt Kenntnis von deinem Patzer genommen zu haben, den du hier mit hochroten Kopf versuchst zu bereinigen. Bis auf ein Paar stechender, bernsteinfarbener Augen am Ende des Tisches, das dein Tun im kleinsten Detail beobachtet, verblasst dein Fauxpas angesichts des dröhnenden Gelächters der Anwesenden und dumpfer Bassklänge beschissener Hip-Hop-Beats. Aber nicht vor Anna. Während ich im Augenwinkel ihre bedrohlich zuckende Mundwinkel unter den blonden Strähnen lediglich erahnen kann, kann ich mir nur zu gut vorstellen, wen sie nach dem Essen zum Abwasch verdonnern wird. Die raschen Entschuldigungen, die dir jetzt nur so über die Lippen stolpern, sind eindeutig nicht das, was unsere Gastgeberin besänftigt. Doch du hast Glück.  Glück, dass sie dir den Arsch rettet.   „Mein Fehler“, winkt Miya ab, ein sanftes Lächeln in den Augen, den Mund hörbar halb voll mit Reisnudeln, den sie hinter vorgehaltener Hand versteckt. Nach den letzten paar Stunden kenne ich sie noch nicht gut genug, aber zumindest scheint ihr euch absolut einig über die Inexistenz von Tischmanieren zu sein. Wie schön, „Schließlich hatte ich danach gefragt. Ich kümmere mich nach dem Essen darum.“  Dann wendet sie sich direkt an Anna. „Zeigst du mir später den Waschraum?“ Eines muss man ihr lassen: Sie hat die Situation sofort durchschaut und dich geschickt aus deiner drohenden Strafe heraus manövriert, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.  Ich sehe schon. Jetzt ist sie diejenige, die Aufpasserin spielen und dich zurechtweisen darf, wenn du mal wieder Mist baust. Auch wenn ich mir nach den letzten Stunden nur schwer vorstellen kann, dass überhaupt jemals ein strenges Wort ihren Mund verlassen hat. Wahrscheinlich ist sie mehr der Typ pädagogische Leitkraft, die dich ab und zu mit einem ganz sanften Stups zurück in die richtige Bahn schubst, damit du halbwegs zurechtkommst im Leben. Keine Aufpasserin, vielmehr eine Hüterin.  Mir ist das nur recht. Schließlich habe ich Besseres zu tun, hatte nie große Freude daran, dir hinterherzurennen und deine Schlamassel auszubügeln, wenn du mal wieder die Hälfte des Einkaufs vergessen oder beim Training versehentlich Annas frisch gepflanzte Kikus bis auf die letzte Faser vereist hast.  Ja, ich kann mich wirklich glücklich schätzen.   Anna mustert Miya keine drei Sekunden, bevor sie zustimmend nickt und sich dann grimmig ein Stück gebratenen Schrimp in den Mund schiebt. So wie ich sie kenne, ist es ihr schnurzpiepegal, wer am Ende die Decke reinigt, solange es nicht sie selbst ist.  Und so schnell die Spannung kam, so schnell ist sie schon wieder dahin.    Unter Schmatz- und Essgeräuschen, die von allen Seiten nur so auf mich einprasseln, löffle ich den Rest meiner Miso aus, schiebe die Schale ein Stück von mir und lehne mich zurück. Nach diesem Abend brauchen meine Ohren definitiv Sonderurlaub und ich bin froh, dass unsere Gruppe in den nächsten Wochen nicht an jedem Tag vollzählig sein wird. Ryus herzliches, basshaltiges Lachen ist dermaßen laut, dass ich mir einbilde, den Boden unter uns vibrieren zu spüren. Keine Ahnung, seit wann er angefangen hat, Chocos Witze lustig zu finden, aber so einen humoristischen Twist traue ich diesem Amateurkomiker selbst nach all den Jahren nicht zu. Doch als ich zu Yoh ans Tischende schiele, stimmt auch er schallend in Ryus Gelächter mit ein.  Vielleicht hätte ich besser hinhören sollen.    Es ist so lächerlich ironisch, dass mir das alles hier im selben Augenblick viel zu viel und gleichzeitig nicht genug ist. Dass ich mir einerseits wünsche, diese beiden Wochen würden vergehen wie zähes Kaugummi und ich mich andererseits schon wieder nach gewohntem Alleinsein und wertvoller Stille sehne. Dass ich mich so leichtfertig habe breitschlagen lassen, den ganzen Weg aus China für Neujahr hierher zu kommen, erscheint mir im Nachhinein völlig irre. Wenn man bedenkt, dass schon wenige Menschen an einem Ort ausreichen, mich an den Rande eines Nervenzusammenbruchs zu befördern, hätte ich mir wenigstens ein paar Minuten Bedenkzeit nehmen können.  Aber leider bist du ab und an entsetzlich gut darin, mich zu allem möglichen Blödsinn zu überreden. War wohl ein schwacher Moment. Nicht im Entferntesten liegt das daran, dass du ganz genau verstehst, wie ich ticke, dass du weißt, wie dus anstellen musst, was du sagen musst, damit ich anbeiße. So überhauptgarnullkommanicht.   „Jetzt guck nicht so, Ren“. Ich spüre, wie sich dein Ellenbogen in meine Flanke bohrt.  „Ich gucke wie ich will“, gebe ich kühl zurück.  Kein Blickkontakt. Will ich gerade nicht.  Ich greife zum Krug und gieße mir noch einen Schluck Sake nach, während ich von deiner Seite nur ein leises Grummeln wahrnehme, bevor du mir geschickt die Karaffe aus der Hand schnappst und dein eigenes Glas befüllst. Wie kindisch.  „Immer noch so infantil wie damals, mh?“ „Infa-was?“ „Vergiss es.“   Fast wirkt alles so wie früher, als wir hier nahezu täglich zusammensaßen und doch ist irgendwie alles anders. Wir sind anders.   Älter, erwachsen - zumindest, was das Äußere betrifft. Manta ist bestimmt gute 20 cm gewachsen, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben, trägt mittlerweile Drei-Tage-Bart und wirkt deutlich selbstsicherer. Fast hätte ich den Zwerg in seinem neumodernen Stil gar nicht wiedererkannt. Auch von Lysergs Baby-Face ist nichts mehr übrig, ganz zum Schweigen von seiner jungenhaften Statur. Vermutlich betreibt er neben dem Schamanen-Training jetzt noch Kraftsport, anders kann ich mir die geformten Schultern nicht erklären. Ryu muss ihn wohl ab und zu mitnehmen, seitdem er nach Japan gezogen ist. Ausschließlich die Frauen in unserer Runde, Anna und Tamao, sind die Einzigen, an denen ich kaum äußerliche Veränderungen ausmachen kann. Vermutlich dank guter Skin-Care und, zumindest im Falle der Itako, exzellenter Sklaventreiberei. Ich bin mir sicher, dass sie im Alltag kaum einen Finger rührt und sie dadurch ewig von Altersanzeichen verschont bleiben wird. Dass Tamao unter ihrer Herrschaft weiterhin fleißig im Gasthaus mithilft, ist für mich absolut unerklärlich, doch für sie scheint es in Ordnung zu sein. Ihren verstohlenen Blicken nach zu urteilen, ist das höchstwahrscheinlich ihrer immer noch vorhandenen Schwäche für Yoh zuzuschreiben. Dass er und Anna mittlerweile eine Ehe führen, seltsamerweise scheinbar sogar eine glückliche, scheint für sie kein Hindernis bezüglich ihrer Schwärmerei zu sein. Ich schätze, manche Dinge ändern sich nie.   Und dann bist da noch du.  Du, weswegen ich überhaupt hier bin.   „Ist er immer so miesepetrig drauf?“, raunt Miya dir jetzt ins Ohr, nicht ansatzweise so leise, wie sie es wahrscheinlich gerne getan hätte und meine Augen verengen sich zu Schlitzen. Beim Scannen der Truppe um den Tisch hatte ich sie vollkommen ausgeblendet. Im Augenwinkel sehe ich, wie du nickst und dich zu ihr lehnst. „Manchmal. Aber ist echt besser geworden. Früher haben wir-“  Und da ist sie wieder, die Enge in der Brust. Ich stehe auf und gehe unter dem Vorwand, mir noch einen Nachschlag holen zu wollen, in die Küche, damit ich mir den Rest des Möchtegern-Stille-Post-Spiels neben mir nicht anhören muss. Das letzte Mal ist gerade erst ein paar Stunden her, trotzdem trifft mich das Gefühl nicht mehr so sehr wie vorhin. Natürlich hätte ich mir darüber im Klaren sein müssen, dass viele Menschen auch Reibung bedeutet, dass es nicht einfach sein wird, sich zurückzuziehen. Und meine Reißleine ist kurz, das weiß ich.  Dennoch bin ich überrascht, wie kurz sie heute ist. Tatsächlich kostet es mich seltsamerweise gerade mit jedem Schritt in Richtung Küche jeden einzelnen Nerv in meinem Körper nicht die Beherrschung zu verlieren. Fast vergessen hatte ich das unkontrollierte Gefühl von Ärger und Wut, dass es mich beinahe schon wieder erleichtert. Weil ich diese Emotion trotz allem eben noch am besten kenne. Dank Dr. Izumi-san habe ich in den letzten fünf Jahren zwar gelernt, extreme Wutausbrüche zu vermeiden, aber die ansteigende Enge und Hitze in der Brust werden mit großer Wahrscheinlichkeit nie ganz verschwinden.  Wie auch, wenn man jahrelange Kindheitstraumata hinter sich herzieht wie ein riesiges, beschissenes Stück Blei. Warum ich genau jetzt wieder so reagiere, kann nur an einer Sache liegen: Nämlich, dass ich von unreifen, beschränkten Deppen umgeben bin, die ihre Finger nicht vom Alkohol und schlechten Witzen lassen können.  Glücklicherweise vergesse ich jedoch niemals, dass diese Idioten auch meine Freunde sind.   Ich stütze mich an einer der Küchentheken ab, zwinge mich zu ein paar halbherzigen, bescheuerten Atemübungen, um meinen Puls runterzukriegen. Vier Sekunden einatmen, sechs Sekunden halten, acht Sekunden ausatmen, wie ich es mir lange eingeprügelt habe. Lächerlicherweise hilft es. Nachdem ich mir sicher bin, dass die Beklemmung so gut wie verschwunden ist und mein Herz keinen Marathon mehr läuft, gehe ich ein paar Schritte auf die andere Seite der Küche und nehme mir etwas Alibi-Maki vom Teller auf der Ablage. Durch die Durchreiche in Richtung Esszimmer kann ich direkt auf deine Seite des Tisches sehen. Miya hat inzwischen ihre restliche Shoyu aufgegessen und sich mit ihrer Schulter an dich gelehnt, die Wangen leicht gerötet vom warmen Dampf der Suppe. Während du dir weiterhin löffelweise Curry in den Rachen stopfst und gelegentlich mit vollem Mund mitdebattierst, scheint sie das keineswegs zu stören. Gut für sie.    Ich rümpfe die Nase, schaffe es jedoch irgendwie nicht, den Blick abzuwenden. Seit wir angekommen sind, haben wir kaum ein Wort miteinander gewechselt, haben uns fast wie Fremde verhalten. Dabei sind es doch wir, die im Vergleich zu den anderen den meisten Kontakt halten, die sich am wenigsten von allen fremd sein sollten. Ich bin mir sicher, dass das anders gelaufen wäre, wenn du nicht den halben Tag wie ein verliebter Gockel an Miya geklebt hättest. Ich hoffe inständig, du lässt sie wenigstens alleine auf die Toilette.    In dem Moment, als du dir drei Nigiri auf einmal reinpfeifst, fällt mir wieder ein, dass sich ein Gespräch vermutlich auch andererseits mit ständig vollem Mund schwierig gestaltet hätte. Mir entweicht ein verächtliches Schnauben. Irgendwie lässt es sich kaum mitansehen, gleichzeitig ist auf eine ziemlich verstörende Art und Weise faszinierend, mit welcher Geschwindigkeit du dir Stäbchen um Stäbchen Reis ins Maul stopfst und es schaffst nicht daran zu ersticken. Jeder hat seine Talente. Im Gegensatz zu allen anderen fallen mir bei dir fast nie äußerliche Veränderungen auf. Liegt vermutlich daran, dass wir uns viel regelmäßiger via Videochat sprechen und sehen, wenn auch mittlerweile nur alle paar Monate. Das letzte Mal ist jetzt schon ein gutes halbes Jahr her, recht ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass dein Mitteilungsbedürfnis dem einer hungrigen Katze gleicht. Als du im August ein mittelmäßiges Exemplar eines Ito mit einem Speer aus dem Fluss in Hokkaido gefischt hast, war dieses Ereignis so aufregend und Anlass genug für dich, mich während einer Dienstreise nach Xiamen morgens aus dem Bett zu klingeln. Durch die heißen Sommertage während deines Aufenthalts in Tokio waren deine Haare kurzzeitig fast weiß, inzwischen schimmern sie wieder in einem eisigen Blau. Der Rest wirkt unverändert, weil du eben noch nie ein Freund von Trends oder - gottbewahre - Mode warst. Kultur hin oder her, niemand trägt diese dicken Nessel-Gewänder bei 30 Grad in Tokio. Und dieses grau verblasste, lockere Coca Cola-Shirt, dass du heute zur Abwechslung an hast, ist beim besten Willen auch kein Glanzstück in deinem Kleiderschrank. Du könntest dich wenigstens endlich mal dazu entscheiden, dieses bekloppte Stirnband abzulegen.   „Was glotzt du so?“, schallt es jetzt aus deinem Mund und ich hebe die Augenbrauen. Scheinbar bist du doch noch zu so was wie Multitasking fähig, denn gleichzeitig Essen schaufeln und Pöbeln stellt anscheinend absolut kein Problem für dich dar. „Stalkst du mich?“ Mir entfährt erneut ein abfälliges Schnauben, als du dir direkt darauf das nächste Nigiri reinstopfst und mich mit vollen Backen halb kauend angrinst.  Du bist wirklich kein Stück erwachsen geworden. Dein Feixen ist herausfordernd, provokativ, so wie früher, deine Augen leuchtend bei dem Gedanken an Ärger. Als würdest du nur darauf warten, auf die heiß ersehnte Prügelei auf dem Trainingsplatz oder die hitzigen Diskussionen am Frühstückstisch. Doch wir sind erwachsen und den Gefallen tue ich dir bestimmt nicht. Zumindest noch nicht. „Wenn dein grauenhaftes Essverhalten nicht gerade einem Autounfall gleichen würde, würde es mir vermutlich einfacher fallen, wegzusehen.“ Deine Antwort entpuppt sich als groteske Präsentation des halb zersetzten Nigiri in deinem Mund, während du mich nun nur noch breiter dümmlich angrinst. Und auch wenn ich angesichts deiner kindischen Reaktion nur fassungslos den Kopf schütteln kann, habe ich das Gefühl, dass wir langsam wieder zu unserer gewohnten Dynamik zurückfinden. Weil wir eben so sind.  Weil wir wissen, dass wir nicht anders können, dass unsere Freundschaft nur diese Art von Kommunikation zulässt. Als wären wir immer noch 15 Jahre alt, unfähig, dem anderen durch Nettigkeiten unsere Wertschätzung zu zeigen. Zumindest sagt das meine Therapeutin.  Ich dagegen bin mir zu 100 % sicher, dass du einfach nur nervst. „Bring wenigstens noch nen Topf Reis mit!“ „Hol dir selbst welchen.“ Wertschätzung hin oder her, ich bin schließlich nicht dein Laufbursche.    Auf dem Kurs zurück ins Esszimmer treffen sich unsere Wege, weil du dich widerwillig dazu entschieden hast, deinen Nachschlag nun doch selbst zu holen. Beim Vorbeigehen versperrst du mir dann jedoch die Richtung und greifst beherzt zum Teller voll Maki in meiner Hand. Ich muss wirklich höllisch aufpassen, dass ich dein schelmisches Grinsen nicht als Einladung für meine Faust in deinem Gesicht interpretiere. Ein Reflex aus vergangenen Zeiten nehme ich an, denn mir fällt beim besten Willen kein Grund dafür ein, warum du ausgerechnet jetzt eine Abreibung verdient hättest. Trotzdem juckt es mich seit heute Morgen in den Fingern. „Zwar kein Reis, aber hey danke. Wäre doch nicht nötig gewesen!“  Anscheinend hältst du dich immer noch für den Klassenclown der 2b, der meint, er wäre den Lehrern um ein Vielfaches überlegen. Doch bei mir zieht das nicht.  Ich rümpfe die Nase, antworte jedoch nichts. Als du merkst, dass ich weder den Teller loslasse noch auf deine Provokation eingehe, verzieht sich dein Mund überraschenderweise zu einem mitfühlenden Lächeln.  „Schon kapiert. Du hattest ne lange Anreise, ich versteh, dass du k. o. bist. Wir gehen auch bald schlafen.“ „Ich bin nicht müde“, erwidere ich trocken und nehme dir endlich den Teller aus der Hand. Bin ich wirklich nicht. Nur irgendwie … genervt. Du runzelst die Stirn.  „Was dann?“ Es ist absolut seltsam, dir nach all der Zeit plötzlich auf Augenhöhe zu begegnen - also im buchstäblichen Sinne. Während du bei unserem letzten Treffen vor fünf Jahren knapp einen Kopf größer warst, habe ich dich jetzt um ein ganzes Stück eingeholt, sodass sich deine eisblauen Augen nun fast genau in meinem Sichtfeld befinden. Es dürften keine fünf Zentimeter Unterschied sein. Befremdlich, wenn du mich fragst, aber wenigstens kann ich dich jetzt ansehen, ohne ne scheiß Nackenstarre zu bekommen. Was natürlich auf gar keinen Fall bedeutet, dass ich das je wollte.    Auf deinen fragenden Blick hin zucke ich mit den Schultern und lasse mir lediglich irgendeine bescheuerte Ausrede einfallen. Darüber, dass japanisches Essen nicht ansatzweise so gut wie die chinesische Küche ist und ich daher nicht ganz so erfreut über das Menü bin. Gelogen ist das zwar nicht, aber nicht gerade eine Meisterausrede. Noch bevor du jedoch irgendwas darauf erwidern kannst, schiebe ich dich auch schon bestimmt aus dem Weg und geselle mich schnell wieder zurück zur Gruppe.    „Es ist echt schön mit euch“, meint Miya.  Es ist das erste Mal, dass sie mich so direkt anspricht, ohne dass du dabei bist. Sie hat sich zu mir gedreht, das Kinn in die Handfläche gestützt und sieht mich erwartungsvoll an. Als würde sie sich wünschen, dasselbe von mir zu hören. „Hmm“, nicke ich widerwillig und nehme noch einen Schluck Sake. Doch überraschenderweise lässt sie mich nicht aus den Augen. „Horohoro redet ständig von euch und von damals. Nach all den Geschichten freue ich mich echt riesig, euch endlich kennenzulernen“. Sie ist wirklich erschreckend höflich. Keine Ahnung, wie du das mehrere Stunden lang aushältst. Weil ich mal wieder null Ahnung habe, was ich darauf antworten soll, stopfe ich mir stattdessen eines der Maki in den Mund. Mir ist schon klar, dass sie freundlich sein und einen guten Eindruck machen möchte, weil sie die Neue in unserer Gruppe ist. Doch wegen mir könnten wir diesen Schritt auch getrost überspringen, weil wir uns nach den zwei Wochen wahrscheinlich sowieso nie wiedersehen werden. Höchstens sie und Horohoro- „Und besonders von dir erzählt er immer sehr viel.“   Tust du das?    Ich hebe den Kopf, sehe sie zum ersten Mal richtig an. Miyas Züge sind unangenehm sanft und warm, ihre grün-grauen Augen groß und leuchtend. Zum Essen hat sie sich das schulterlange hellbraune Haar aus dem Gesicht geflochten, sodass man ihre Sommersprossen auf den runden Wangen tanzen sehen kann. Wenn sie lächelt, bilden sich kleine Fältchen um ihre Mund- und Augenwinkel. Ich kann mir vorstellen, dass sie trotz ihrer nervtötenden Niedlichkeit und mickrigen Körpergröße mit ihrer Aura augenblicklich jeden Raum füllt. Dass du darauf sofort reingefallen bist, wundert mich nicht im Geringsten.     Jetzt, da sie meine Aufmerksamkeit hat, dreht sie sich ein Stück weiter zu mir. Ich hebe eine Augenbraue. Irgendwie habe ich keine Lust, mich mit ihr zu unterhalten. „Von dir hat er nie was erzählt“, sage ich, viel bitterer, als ich es eigentlich vorhatte. Doch Miya bricht überraschend in Gelächter aus, anstatt sich gekränkt zu fühlen.  Ein bisschen kann ich verstehen, warum du sie mitgebracht hast, dass du gern mit ihr abhängst. Sie ist locker, nimmt sich nicht zu ernst. Irgendwie anders. Trotzdem komme ich ums Verrecken nicht um den Gedanken herum, dass ich sie vielleicht gar nicht mögen will. „Ich kann es ihm nicht verübeln“, gluckst sie jetzt, nachdem sie sich von ihrem Lachanfall erholt hat und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. "Weißt du, wir sind-"  Bevor sie jedoch weitersprechen kann, lässt du dich auch schon wieder zwischen uns nieder, einen Topf voll dampfendem Reis in den Händen. Miya rückt sofort ein Stück zur Seite, um dir Platz zu machen, während ich missbilligend in Kauf nehmen muss, wie sich deine Schulter und Arm kurzzeitig unbeholfen in meine Seite pressen.  Ich werde nie verstehen, wie jemand aus dem kältesten Teil Japans und mit fucking Eis-Oversouls eine derart hohe Körpertemperatur haben kann. Während du sogleich völlig schamlos mehrere Handvoll Reis auf deinen noch halb gefüllten Teller schüttest, rutsche ich jetzt doch noch ein Stück zur Seite. Denn um nichts in der Welt habe ich aktuell Lust darauf, dass meine feine Kleidung während deiner unkontrollierten Völlerei Ziel von Fettspritzern wird. Außerdem reicht mir die drückende Hitze in diesem lauten, stickigen, Esszimmer völlig aus. Deine Körperwärme ist wahrhaftig das Letzte, was ich gerade gebrauchen kann. „Gehtff wieder?“, fragst du mich, während du auf einem großen Stück Lachs kaust und es dann gierig hinunterschlingst. Ich verdrehe die Augen, weil ich mal wieder nicht fassen kann, wie viel Essen in deinem verfressenen Magen Platz findet.  „Mir gehts prima“, insistiere ich genervt. Meine Stimme klingt allerdings eher nach einem Befehl, als nach einer normalen Antwort. Bei dir scheint das ähnlich anzukommen. Nach einen kurzen Augenblick, in dem du scheinbar überlegst, inwiefern es momentan klug wäre, mir weiterhin mit pseudo-besorgten Fragen auf den Geist zu gehen und eine Abreibung zu kassieren, zuckst du nur mit den Schultern und wendest dich wieder deinem Abendessen zu.  „Bleib stark, hast deine chinesische Feinkost ja bald wieder.“ Ein weiteres Stäbchenpaar Reis verschwindet in deinem Mund. Als du mich dann angrinst, wohl gewollt ermutigend, kann ich mich fast in den Resten von Frittierfett auf deinen Lippen spiegeln. Ich bekomme Gänsehaut. „Ja. Zum Glück."   Und obwohl ich mir sicher bin, dass meine schlechte Laune nichts mit Anna und Yohs japanischen Menü auf sich hat, lege ich wie als Bestätigung die Stäbchen zurück auf meinen leeren Teller und versuche mich beim besten Willen nicht darauf zu konzentrieren, wie sich deine und Miyas Hand heimlich unter dem Tisch berühren.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)