Ein neues Leben von Alaiya (Osteraktion 2022 | TrePhaCard) ================================================================================ Kapitel 1: Ein neues Leben -------------------------- Als Adrian von einem Schrei geweckt wurde, war er sofort hellwach. Noch im Halbschlaf wollte er nach seinem Schwert greifen, nur um einen Moment später zu realisieren, dass es nicht neben dem Bett lag. Es brauche einige Augenblicke, bis sein Geist realisierte, dass er nicht in einer Gefahrensituation war, sondern der Schrei von Sypha neben ihm im Bett kam. Noch einmal ließ sie ein schmerzerfülltes Stöhnen hören. „Was zur Hölle ist los?“, fragte Trevor zu ihrer anderen Seite aufgebracht. „Ja was wohl?“, fuhr sie ihn an. „Es geht los.“ Dann folgte ein weiterer Schrei. Die beiden Männer tauschten einen vielleicht zu langen Blick, ehe ihnen der Gedanke wohl gleichzeitig kam. Fast zeitgleich sprangen sie auf, nur um sich einen Moment später wieder verwirrt anzuschauen. Schließlich fasste Adrian einen Entschluss. „Ich hole Greta.“ „Und die Hebamme!“, ermahnte Sypha ihn. Trevor sah sich derweil verwirrt um. „Und ich ...“ „Du bleibst hier und holst mir Kissen. Und Wasser. Und Schmerzmittel.“ Ein hilfesuchender Blick traf Adrian, doch dieser schlüpfte bloß in seine Hose und verschwand aus dem Fenster, noch bevor Trevor ihn etwas fragen konnte. Nach vier Jahren sollte er eigentlich wissen, wo alles war – außerdem war es nun einmal nicht das erste Kind. Der Weg aus dem Fenster war weitaus schneller, als der lange Weg durch die Korridore und die Treppe hinab. Die Sonne musste bereits aufgegangen sein, war jedoch hinter einer Wolkenschicht verborgen. Dem Geruch in der Luft nach, würde es später heute noch regnen. Vielleicht eine gute Sache, brachte der Regen doch neue Frische in die Welt. Auf dem Boden angekommen, eilte er zu dem Haus, das dem alten Schloss am nächsten Stand. Das Haus Gretas, die so lange darauf bestand bei den Bewohnern des Dorfes statt im Schloss zu leben. Er hämmerte an die Tür. „Greta? Greta?“ Schritte erklangen im Inneren. Als Greta öffnete, war sie bereits vollkommen bekleidet und wirkte alles andere als verschlafen. „Ist ja alles gut. Nicht alle Menschen sind Langschläfer.“ „Sypha“, setzte Adrian an. „Die Wehen. Sie hat Wehen.“ „Wir sind heute sehr eloquent, was?“ Die Dorfführerin wirkte wenig überrascht und nicht nahezu so überfordert, wie Adrian sich fühlte. „Ich mache mich auf den Weg, ja?“ Gerne hätte er zu einer eloquenteren Antwort angesetzt, doch die Worte wollten einfach nicht über seine Zunge kommen. Stattdessen besann er sich auf das andere, worum Sypha gebeten hatte: „Ich hole Otilia.“ Greta lächelte und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Mach das. Und vergiss nicht zu atmen.“ Dabei hatte ihr Lächeln einen schelmischen Zug. Da waren zwei Geister in Adrians Inneren. Der eine Geist mochte ihn daran erinnern, dass es bereits Syphas zweites Kind war und sie dieses Mal, anders als beim letzten Mal, sogar eine Hebamme im Dorf hatten. Es würde schon gut gehen, zumal sie im Schloss Möglichkeiten hatten, die vielen Menschen in der Welt fehlten. Der andere Geist erinnerte sich jedoch schmerzlich daran, was er gelesen und so oft gehört hatte: Fast jede dritte Frau starb bei der Geburt eines Kindes. Es gab so viele Dinge, die schief gehen konnten. Infektionen. Blutverlust. Verletzungen der Organe. Davon abgesehen war so eine Geburt wohl eine schmerzhafte Sache. Er konnte die Schreie bis hierher hören – zusammen mit einem sehr vertrauten Weinen. Marie. Oh je. Aber das war jetzt wohl Trevors Problem. So beeilte er sich - was in seinem Fall bedeutete, dass er innerhalb weniger Sekunden die Hütte der Hebamme am anderen Ende des Dorfes erreicht hatte. Otilia war eine alte Frau, die erst vor zwei Jahren ins Dorf gekommen war. Sie war eine Kräuterfrau, die vielleicht in einigen Aspekten sehr in ihren Ideen gefangen war. Doch sie hatte allein seit sie hier war fünf Kinder im Dorf mit auf die Welt gebracht und zumindest laut ihren Erzählungen viele andere zuvor auch. Nun hämmerte er mit der Faust auch gegen ihre Tür. „Otilia?“ Er bemühte sich seiner Stimme einen beherrschten Klang zu geben. Das hier war nicht Greta, die er schon so lange kannte. „Otilia?“ Nichts rührte sich im Haus. Hörte ihn die alte Frau überhaupt? Die Dame war bereits jenseits der sechzig und ein einfacher Mensch. Wieder hämmerte er gegen die Tür, dann hörte er eine Bewegung im Haus. Eine sehr, sehr langsame Bewegung. Er musste an sich halten noch einmal zu rufen, wartete stattdessen, bis die Schritte langsam zur Tür geschlurft waren und öffneten. Die alte Frau, deren graues Haar noch offen über ihre Schulter hing, blinzelte ihn an. „Junger Lord Tepes, was kann ich für Sie tun?“ „Sypha. Sie hat ihre Wehen.“ „Ah, dann ist es soweit.“ Auch diese alte Frau klang weniger besorgt. „Warten Sie kurz, ich ziehe mich an.“ Damit knallte sie ihm die Tür vor der Nase zu. Adrian musste an sich halten, nicht zu entrüstet zu reagieren. Die Frau wusste, was sie tat. Dennoch stampfte er ungeduldig vor dem Haus auf und ab, während um ihn herum mehr und mehr Dorfbewohner erwachten. Ein verspäteter Hahn krähte. Aus dem Schloss hörte er vage weitere Schreie – und weiteres Weinen. Oh je, Marie war mit der Situation wahrscheinlich überfordert. Weiter und weiter ging er auf und ab, ehe endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit Otilia mit zurückgebundenem Haar und in ihrem Kleid aus einfachem grünem Leinen aus dem Haus kam. „Dann bringen Sie mich mal, junger Lord.“ Ihm gefiel es nicht, dass sie ihn so nannte. Er fühlte sich nicht wie ein Lord. Doch seit die alte Frau hier angekommen war, hatte sie darauf beharrt – wie zugegebenermaßen einige andere Bewohner des Dorfes, das in den vergangenen Jahres so gewachsen war. Leute waren aus allen Ecken der Walachei gekommen, wohl weil sich die Geschichten über das Dorf, das in relativer Sicherheit lebte und Technologien besaß, die in einigen Ecken des Landes als Hexenwerk bezeichnet wurden, verbreitet hatte. Technologien wie fließendes Wasser. „Sind Sie sich denn sicher, dass es die richtigen Wehen sind?“, fragte die alte Frau auf dem Weg. „Es können manchmal auch Scheinwehen sein, wissen Sie?“ „Ja, ich bin mir sicher.“ Eigentlich war er es nicht. Was wusste er schon vom Kinderkriegen? Sicher, er war auch schon bei der letzten Schwangerschaft dabei gewesen – und er hatte Bücher gelesen – aber da blieb eben die Tatsache, dass er selbst dergleichen nie erleben würden. Schon wieder ein Schrei. Wenigstens hatte Marie aufgehört zu weinen. Wahrscheinlich war Greta angekommen. Greta wusste, wie man mit den Dingen umging. Sie hatte auch massiv geholfen, Marie auf die Welt zu bringen. Endlich erreichten sie das Schloss und gingen die Treppe am Eingang hinauf. Adrian musste darauf achten, die alte Frau nicht hinter sich zurückzulassen, die so viel langsamer war als er selbst. So wartete er am Ende der Eingangshalle, wo die große Treppe in die oberen Geschosse hinaufführten. Die alte Dame seufzte, als sie auf die Treppe zuging. Ja, das Schloss hatte viele Treppen. Verdammt viele Treppen. Doch was erwartete man auch? Immerhin war das Schloss für einen Unsterblichen gebaut worden, jemanden, der nie alte Knochen haben würde. „Soll ich dich tragen?“, fragte Adrian. „Sie werden nichts dergleichen tun“, erwiderte die alte Frau, zog ihren Rock hoch und begann den Aufstieg. Sie war so, so langsam. Dennoch beherrschte Adrian sich. Eine Sache, die er gelernt hatte, war, dass Geburten Zeit brauchten. Oft sehr viel Zeit. Von den ersten Wehen bis zur Geburt hatte es bei Marie sechs Stunden gebraucht. Und auch wenn er gehört hatte, dass zweite Kinder manchmal schneller da waren, bedeutete „schneller“ meistens auch einige Stunden. Hier im Schloss konnte er das Stöhnen besser hören. Doch es war weniger geworden. Vielleicht wegen der Schmerzmittel. Vielleicht weil Greta da war und half. Auch Greta hatte schon einigen Kindern auf die Welt geholfen. Sie waren auf dem oberen Absatz der Treppe angekommen, als Otilia stehen blieb, um zu verschnaufen. Adrian schenkte ihr einen Seitenblick. Wenn er noch einmal anbot, sie zu tragen, würde er als unhöflich gelten. Ach, wäre doch nur Trevor gegangen, den solche Sachen nicht interessierten! Endlich holte Otilia tief Luft und setzte ihren Weg fort, während Adrian ihr voranging. Zwei Treppen waren noch vor ihnen. Vielleicht hatte Sypha Recht gehabt: Es wäre sinnvoll gewesen, ihre Schlafgemächer weiter nach unten zu verlegen. Immerhin hatte auch sie während der Schwangerschaft damit zu kämpfen gehabt. Da erklang wieder ein Schrei aus dem oberen Geschoss, gefolgt von einem Schluchzen. Der Schrei gehörte zu Sypha, das Schluchzen zu Marie. Jetzt konnte er auch Trevors Stimme hören, die deutlich überfordert klang. „Alles ist okay. Das gehört dazu, wenn dein kleines Geschwisterchen geboren wird.“ Die Nervosität in seiner Stimme strafte seine Worte Lügen. Nun, keine direkten Lügen. Es gehörte ja wirklich dazu. Nur hatte er genau so viel Sorge um Sypha, wie Adrian. „Ich will nicht, dass Mami stirbt!“, weinte Marie. „Mami stirbt nicht. Ganz sicher nicht.“ Dann ging das Weinen wieder los. „Ach komm. Du musst dir keine Sorgen machen. Dich hat Mami ja auch auf die Welt gebracht.“ Doch die Worte drangen nicht so richtig zu Marie durch. „Trevor. Nimm sie mit und mach etwas mit ihr“, sagte Greta. „Lenk sie ab.“ Ein weiteres schmerzerfülltes Stöhnen. „Atmen. Ruhig atmen.“ Greta klang gestresst. „Ich will aber bei Mami bleiben!“ „Es ist okay“, hauchte Sypha. „Geh etwas mit Papi essen, ja?“ „Wo ist Papa?“, kam es von Marie. Noch ein Geschoss. Adrian sah zu der alten Dame, die ihm nur bis zur Brust reichte und die sich mühselig die Treppe hinaufzog. Es brauchte so viel Beherrschung Otilia nicht zu nehmen und mit ihr die Treppe hochzurasen. Offenbar bemerkte sie seine Anspannung. „Eine alte Frau braucht eben ihre Zeit. Aber seien Sie sich dessen bewusst, Ihre Frau wird deswegen nicht sterben.“ Die Art wie sie „Frau“ sagte, hatte viele Untertöne. Während die Menschen von Danesti ob der Umstände der Dorfgründung sich sehr rasch mit dem komischen Dreiergespann im Schloss – und ihrer Lebensweise – angefreundet hatten, konnte man dies nicht für alle sagen, die im Dorf Zuflucht gesucht hatten. Schon gar nicht über die älteren Generationen, die Otilia. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten sie endlich die obere Stufe und damit den Flur erreicht, an dem ihr Schlafgemach lag. Schon entdeckte Marie sie. „Papa!“, rief sie und rannte auf sie zu. „Mami stirbt!“ Adrian seufzte und ging in die Hocke, um das kleine Mädchen in seine Arme zu schließen. „Nein. Mami stirbt nicht, das verspreche ich dir.“ „Das habe ich auch die ganze Zeit gesagt“, murmelte Trevor. Otilia schenkte dem Mädchen einen entgeisterten Blick. „Natürlich wird deine Mutter nicht sterben. Ich bin ja jetzt da. In meiner ganzen Zeit als Hebamme sind mir nur sechs werdende Mütter gestorben!“ Dies hatte nicht unbedingt die gewünschte Wirkung auf Marie, denn ihr Schluchzen wurde lauter. Trevor stöhnte genervt. Dann kam ein weiterer Schrei. „Ich schaue kurz nach“, sagte Greta und erschien einen Moment später in der Tür. „Oh gut, Otilia, Sie sind da.“ „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte“, murmelte die alte Frau und schlurfte durch die Tür. „Ich sehe, sie haben schon saubere Tücher geholt.“ „Und heißes Wasser“, fügte Greta zu. „Und Schmerzmittel.“ Dies entlockte Otilia einen weiteren entgeisterten Blick. Nun folgte auch Adrian ihr ins Zimmer. Schweiß stand auf Syphas geröteten Gesicht, während Greta unter ihr eine ganze Reihe Tücher ausgebreitet hatte. Ein Teil von Adrian wollte zu ihr eilen und ihre Hand nehmen, doch wenn er sich zu besorgt zeigte, würde das Kind auf seinem Arm nur noch mehr verzweifeln. „Alles in Ordnung?“, fragte er daher vorsichtig. Sypha keuchte. „Alles. Bestens. Verdammt.“ Das hatten sie schon bei der Geburt von Marie gelernt: Offenbar brachte eine Geburt auch Sypha zum Fluchen. Nun hatte Otilia das Bett erreicht. Mit geübten Augen erfasste sie die Situation. „Wann hat es angefangen?“ „Halbe Stunde“, keuchte Sypha. „Vielleicht. Verdammt. Etwas mehr.“ Die Frau ging zu ihr hinüber, fasste ihre Hand, fühlte den Puls. Dann ging sie ohne Umschweife um das Bett herum und schaute zwischen Syphas Beine. „Es wird noch etwas dauern“, stellte sie fest. „Fuck.“ Das war weniger das Problem Otilias. Stattdessen begutachtete sie das Zimmer. „Greta. Sie hätten die Vorhänge schließen sollen. Licht ist nicht gut bei einer Geburt. Das schädigt die Augen!“ Schon wollte Adrian zu einer Erwiderung ansetzen, dass dergleichen absolut jedweder wissenschaftlichen Grundlage entbehrte, doch Trevor legte ihm eine Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf. Doch auch das schien irgendwie die Missgunst Otilias auf sich zu ziehen. Sie wandte sich zu ihnen um. „Und ihr? Was macht ihr hier noch? Geburten sind Frauensachen. Raus!“ „Aber ...“, kam es über Trevors Lippen. „Kein Aber, junger Mann. Raus. Das ist Frauensachen. Ihr steht nur im Weg rum! Und das Kind gehört hier auch nicht hin!“ Greta seufzte. „Macht Frühstück. Esst mit Marie. Und beschäftigt sie etwas. Wir kriegen das hier schon hin.“ Unsicher tauschten die beiden Männer einen Blick, sahen dann zu ihrer Frau. „Sypha?“, fragten sie beinahe synchron. „Verdammt!“, schrie diese, ehe sie sich auf die Atmung besann. Sie keuchte. „Es ist schon gut. Nehmt Marie. Wir – scheiße – kriegen das schon hin.“ So wirklich gefiel Adrian die Sache nicht. Doch wenn er das weinende Kind auf seinem Arm bedachte, war es vielleicht doch die richtige Sache. Noch einmal schaute Trevor zweifelnd zu Sypha hinüber. Dann seufzte er. „Komm, alter Bastard. Du kannst besser kochen als ich.“ „Was du machst, ist auch nicht Kochen. Das ist ein Vergiftungsversuch.“ Trevor lachte leise, sah jedoch noch immer besorgt zu Sypha. Dann aber ging er, gefolgt von Adrian, ehe hinter ihnen die Tür zugeschlagen wurde. Adrian hatte Blinchiki gemacht, die zumindest auf Marie die erhoffte Wirkung hatten. Sie hatte aufgehört zu weinen und steckte sich nun eine der Pfannkuchenrollen, die mit Marmelade gefüllt war, in den Mund – natürlich nicht, ohne dass die Hälfte der Marmelade hinten rausrutschte und sich über ihre Hose verteilte. Trevor saß unruhig ihr gegenüber. Immer wieder wanderte sein Blick zur Küchentür, als wartete er darauf, dass Greta oder die alte Otilia hindurchkamen. Er hatte nicht den Fluch oder die Gabe von Adrians scharfen Gehör, das es ihm erlaubte, mehr als nur die Schreie ab und an wahrzunehmen. Er hörte auch die Gespräche, die zwischen den Frauen stattfanden. „Wie verdammt lange kann das noch dauern?“, fragte Sypha. Gretas Stimme antwortete: „Es wird gleich soweit sein.“ Adrian konnte sich bestens vorstellen, wie sie Syphas Hand tätschelte. „Haben Sie denn einen Himbeersirup da?“ Das war Otilia. Himbeeren und ihre Erzeugnisse wurden traditionell verwendet, um bei Wehen zu helfen. Jedoch war es bei weitem nicht so wirksam, wie die Medizin, die sie hierherstellen konnten. Ein Pflanzenextrakt namens Scopolamin. Es half gegen die Krämpfe. Außerdem hatten sie ein Extrakt aus Weidenrinne, was die Schmerzen weit stärker lindern konnte, als Baldrian, Melisse oder die unbehandelte Weide. Allerdings waren auch dies Dinge, gegenüber denen Otilia misstrauisch war. Nun, kaum ein Wunder. Die Menschen verstanden dieses Wissen einfach nicht. Dabei war es einfach. Es war nicht mehr als Kräutermedizin – nur dass sie Möglichkeiten hatten, deren Effekte zu potenzieren. Sein Gedanke wanderte zu seiner eigenen Mutter und er seufzte. Da glitt Marie von ihrem Stuhl hinunter und kam zu ihm hinüber. Mit ausgestreckten Armen deutete sie an, auf seinen Schoß zu wollen. Also hob er das Kind an, das Trevors braunes Haar, aber auch Syphas lockige Haarstruktur hatte. Marie holte tief Luft. „Und ihr seid euch sicher, dass Mami nicht stirbt?“ Die beiden Männer tauschten einen Blick. „Natürlich stirbt sie nicht“, sagte Trevor dann. „Aber warum schreit sie dann so?“ „Du musst sehen, dass wenn ein Kind geboren wird, einige Muskeln dafür gebraucht werden und die sich schmerzhaft zusammenziehen dabei“, setzte Adrian an, brachte Trevor jedoch dazu die Augen zu verdrehen. „Marie, schau. Als du geboren wurdest, warst du so groß.“ Er zeigte die Größe mit den Händen an. „Und das muss Mami jetzt aus sich raus pressen.“ Das Mädchen überlegte. „Dann habe ich Mami auch wehgetan?“ „Nein!“, platzte es aus Trevor hervor. „Ja“, sagte derweil Adrian. „Aber das ist in Ordnung. Das gehört zum Leben dazu. Mami hat das gern für dich getan und macht das auch gern für dein Geschwisterchen.“ Darüber dachte Marie einen Moment lang nach. „Also ich will dann keine Kinder, wenn das so weh tut.“ „Du musst auch keine bekommen“, erwiderte Trevor. Sie würden sehen, ob sich diese Meinung noch ändern würde. Immerhin war sie erst vier. „Wie wäre es, wenn wir ein wenig auf dein Zimmer gehen und spielen“, meinte Trevor nun. „Und dann warten wir, bis dein Geschwisterchen da ist.“ „‚Stehe Bruder, ich erliege den Sporen des Smeu‘“, las Trevor mit verstellter Stimme vor. Seine Anstrengung, beim Lesen nicht zu stocken, war ihm dabei deutlich anzumerken. Adrian übernahm den Erzähltext: „Das Füllen aber antwortete …“ „‚Ich stehe, wenn du den Smeu gegen die Wolken wirfst und dann zerreissest, wenn er herabfällt.‘“ Marie saß auf Trevors Schoß, während beide Männer auf dem Boden ihres Zimmers saßen, das alte Märchenbuch in der Hand. Es gehörte zu jenen „magischen“ Dingen, die man in der Bibliothek des Schlosses finden konnte, denn soweit Adrian wusste, gab es bisher wenige Bücher der Art. Er fuhr fort: „Und der Hengst schleuderte den Smeu gegen die Wolken, also, dass er zu Staub wurde, als zur Erde fiel. Dann kehrte luon mit Ruschullina zurück auf das Schloss. Sie feierten ein großes Fest, und lebten vergnügt bis an ihr Ende.“ Sie hatten zuvor schon eine ganze Weile mit den Holzfiguren Maries gespielt, um sie von den Dingen abzulenken. Es hatte – wenigstens nach einer Weile – funktioniert. Noch immer zierten allerdings die Marmeladenflecken ihre Hose. Nun schaute das Mädchen zu einem ihrer Väter auf. „Aber was will Ruschullina mit so einem wie Iuon?“ „Wie meinst du das?“, fragte Adrian. „Na, ist doch ganz einfach.“ Trevor schien es bestens zu verstehen. „Der hat doch allein gar nichts auf die Reihe bekommen.“ Das stimmte wahrscheinlich. Aber so war das eben manchmal in Märchen. Da bekamen die Leute – na ja, die männlichen Figuren zumeist – was sie wollten, weil irgendwelche göttlichen Wesen intervenierten. „Nun, vielleicht war Iuon ein netter Mann“, sagte Adrian. „Und das ist doch auch etwas wert, oder?“ „Nicht, wenn Monster angreifen.“ Marie verschränkte die Arme. „Aber er hat doch auch den dreiköpfigen Drachen getötet.“ „Aber nur, weil er ein magisches Schwert hatte.“ „Ich habe auch ein magisches Schwert“, gab er zu bedenken. „Aber du kannst auch ohne kämpfen.“ Das Mädchen beharrte auf ihrer Meinung. Auch dazu musste Trevor lachen. „Ich sehe schon, da wird später jemand große Ansprüche entwickeln.“ Adrian warf ihm einen Seitenblick zu. „Nun ja, wenn sie heiratet, muss es auch jemand sein, der dem Namen Belmont würdig ist.“ „Hmm. Das mag auch sein.“ Trevor strich über sein bärtiges Kinn. Da hörte Adrian etwas, das die innere Anspannung von ihm abfallen ließ: Den Schrei eines Kindes, eines Babys. Ganz automatisch drehte er den Kopf in Richtung der Tür. „Was ist los?“, fragte Trevor. „Das Kind ist da.“ Sofort war Trevor auf den Beinen – mit Marie auf seinem Arm. „Was ist los?“, fragte sie. „Dein Geschwisterchen ist da“, sagte Adrian. „Und was ist mit Mami? Geht es Mami gut?“ „Lass uns nachschauen, ja?“ Damit marschierte Trevor bereits los. Adrian folgte ihm rasch, einmal mehr darum bemüht, sein Tempo im menschlichen Maßstab zu halten. Wenn er wollte, hätte er innerhalb einer Sekunde da sein können. Auf halben Weg kam ihnen Greta bereits entgegen. Für einen Moment schien sie überrascht, ehe ihr wissender Blick Adrian fand. Sie lächelte. „Es ist vollbracht.“ „Was ist mit Sypha?“, fragten sie fast gleichzeitig. „Alles ist in Ordnung.“ Synchron atmeten sie auf, eilten dann jedoch dennoch gemeinsam mit Greta zum Zimmer zurück, von dem das beständige Schreien eines Babys ausging. „Sypha.“ Trevor bog in das Zimmer ein, Marie noch immer auf dem Arm. Adrian folgte ihm direkt. Das Zimmer war erfüllt von all den Gerüchen, die Menschen mit sich brachten. Schweiß, Urin, Blut, andere Körperflüssigkeiten. Die Tücher auf dem Bett waren von Blut und Wasser durchtränkt. Mitten auf dem Bett Sypha, das Gesicht noch immer gerötet, das Haar schweißnass an ihrem Kopf. Ihre Augen waren nur halb geöffnet. Das schreiende Kind lag auf dem Tisch, wo Otilia es gerade wusch. Zumindest starke Lungen hatte es. Die alte Frau sah sich zu ihnen um, schenkte ihnen einen missmutigen Blick. Vielleicht war es laut ihr noch nicht Zeit, dass die Männer dazu konnten. Wartete man traditionell nicht, bis die Nabelschnur abgebunden war? Dennoch sagte sie nichts. Auch sie wirkte erschöpft. Draußen regnete es und von einiger Entfernung rollte der Donner über den Wald des Dorfes Belmont. Manche hätten vielleicht gesagt ein schlechtes Omen, doch daran wollte Adrian nicht glauben. Er ging zum Bett hinüber, setzte sich auf den Rand und nahm Syphas Hand. „Hey“, flüsterte er. Sie blinzelte bloß in seine Richtung. „Hmm.“ Mehr kam nicht über ihre Lippen. Auf dem Schränkchen neben dem Bett stand eine Karaffe, die jedoch leer war. „Willst du etwas Wasser?“ „Das wäre wunderbar“, hauchte sie. Er nickte. „Dann hole ich dir das.“ „Mami! Mami!“, kam es derweil von Marie. Auch Trevor setzte sich auf das Bett, ließ Marie auf seinen Schoß, hielt sie jedoch davon ab, sich auf die erschöpfte Sypha zu schmeißen. „Lebst du noch, Mami?“ Ein leises Seufzen. „Ja, ich lebe noch.“ Adrian lächelte. Er wandte sich ab, um Wasser aus der Küche zu holen. Erleichterung hatte sich in seinem Inneren breit gemacht. Es schien alles in Ordnung zu sein – nun, so in Ordnung, wie es sein konnte. Als er mit einer gefüllten Karaffe in das Zimmer zurückkehrte, hatte das Kind aufgehören zu schreien, lag stattdessen in Trevors Armen, während Marie sich an ihre Mutter gekuschelt hatte. Wieder setzte sich Adrian an Syphas andere Seite. Er füllte den Becher dort mit Wasser. „Sypha?“, fragte er. Sie öffnete die Augen. „Kannst du sitzen?“ Statt zu antworten versuchte sie es, kam aber nicht weit. So schob er vorsichtig einen Arm unter ihre Schultern, um ihr so aufzuhelfen, selbst wenn sie dabei ein leises Stöhnen hören ließ. Er reichte ihr den Becher, den sie mit zitternden Händen entgegennahm. „Danke“, flüsterte sie und trank. Dann schaute sie zu dem kleinen Kind auf Trevors Arm. Dieser schien zu verstehen. „Willst du ihn auch einmal halten?“ „Ihn?“, fragte Adrian. Sein Freund lächelte. „Es ist ein Junge.“ Er hielt ihm das Kind entgegen, das mindestens genau so erschöpft war, wie seine Mutter. Vorsichtig nahm Adrian es und zog es an seine Brust. „Hallo, du“, flüsterte er und strich mit einem Finger vorsichtig über die gerötete Wange. Er merkte, wie sein Herz schneller schlug vor Glück. Greta setzte sich zu ihm. „Ich kann zumindest garantieren, dass alles dran ist.“ „Selbst wenn nicht“, hauchte Adrian, „wäre es schon okay.“ Otilia, die sich die Hände gewaschen hatte, wandte sich zu ihnen um. „Und wer von ihnen beiden ist nun der Vater?“ „Kein Schimmer.“ Trevor zuckte mit den Schultern. „Das wissen wir wirklich nicht“, erwiderte Adrian und sah zur alten Hebamme hinüber. „Wir sich zeigen. Wenn das Kind Fangzähne entwickelt, ist es seins. Wenn nicht vermutlich meins.“ Marie derweil schenkte der Hebamme nur einen bösen Blick. „Das sind beides meine Väter. Also sind sie auch beide seins.“ „Das ist auch wieder wahr“, stimmte Trevor zu. Adrian sah nur wieder auf das Kind in seinen Armen. Ja, am Ende war es egal. Denn vollkommen egal, aus wessen Samen dieses kleine Wesen entstanden war: Er würde es um jeden Preis beschützen. Dieses Mal von Anfang an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)