Bis dass der Tod uns findet von Maginisha ================================================================================ Kapitel 2: Der Mann am Fenster ------------------------------ Um sie herum trubelte das Leben. Menschen unterhielten sich, lachten, tauschten Neuigkeiten aus oder führten hochphilosophische Gespräche. Zumindest wenn man die Gruppe von Hipstern mit in die Rechnung einbezog, die sich in einer Ecke niedergelassen hatten und dort gewichtige Mienen zum in ihren Augen zweifelhaften Mainstream-Spiel machten. Teller klirrten, Besteck klapperte und die gleich hinter der Theke gelegene Küche kündigte die fertigen Bestellungen an. Die menschliche Geräuschkulisse mischte sich mit dem ätherischen Loungesound, der über allem schwebte und die verschiedenen Klänge zu einem großen Ganzen verband. Kurzum, alle Welt war guter Dinge, wie immer, wenn Nathan und Marvin um diese Zeit im Sam’s saßen. In ihrer Nische jedoch herrschte eisiges Schweigen.   „Hast du mir eigentlich zugehört?“   Nathan hatte seinen Teller kaum angerührt, was ihm die mit Artischocken und Spinat gefüllte Quesadilla persönlich übelzunehmen schien. Sie rächte sich, indem sie langsam kalt und matschig wurde. Er beachtete sie jedoch nicht, sondern starrte stattdessen seinen besten Freund an, der auf der anderen Seite vollkommen ungerührt sein BLAT-Sandwich und eine Portion Süßkartoffel Pommes frites verdrückte.   „Marvin!“   Nathan tippte ungeduldig mit dem Finger gegen sein Wasserglas. Sein Freund grunzte.   „Natürlich hab ich dich gehört“, erklärte er und nahm einen großen Schluck von seinem Eistee. „Ich überlege nur gerade, wie ich dir möglichst schonend beibringen kann, dass du dir dringend einen Psychiater suchen solltest. Diese Halluzinationen klingen besorgniserregend.“   „Hallu… WAS?“ Nathan riss die Augen auf. „Du meinst, ich habe mir das alles nur eingebildet?“   Marvin schnaufte.   „Was soll ich denn sonst glauben? Etwa dass mitten in der Nacht Männer vor deinem Wohnzimmerfenster herumlungern? Ich bitte dich. Du weißt selbst, dass das nicht wirklich passiert ist.“   „Es waren keine Männer. Es war nur ein Mann,“ korrigierte Nathan halbherzig.   Im Grunde konnte er es ja selbst kaum glauben. Vor allem, weil er, nachdem er sich geschlagene zwei Stunden in seinem Badezimmer eingeschlossen und darauf gewartet hatte, dass der Einbrecher seine Wohnung ausräumte oder sich gewaltsam Zugang zu der kleinen Nasszelle verschaffte, vor dem Fenster keinerlei Spuren einen Einbruchs hatte entdecken können. Noch dazu hatte er keine Idee, wie derjenige überhaupt dorthin gekommen sein könnte. Die Feuerleitern befanden sich allesamt auf der anderen Seite des Gebäudes.   „Und wie ist dann ein Mann vor dein Fenster gekommen?“, nörgelte Marvin, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Du weißt, dass das ausgemachter Blödsinn ist. Wahrscheinlich hattest du einfach nur einen Alptraum. Also hör auf, dich deswegen verrückt zu machen.“   Ein Traum. Natürlich. Nathan wusste, dass sein Freund recht hatte. Aber warum hatte es sich dann so echt angefühlt? So bedrohlich?   Vielleicht sollte ich mir wirklich etwas verschreiben lassen. Ein Beruhigungsmittel und etwas, damit ich schlafen kann. Sonst fange ich vielleicht wirklich bald an, kleine grüne Männchen zu sehen.   Marvin, der ihn eine Zeit lang beobachtet hatte, griff nach einer neuen, besonders knusprigen Kartoffelstange.   „Weißt du, was ich denke?“, fragte er und deutete mit der braunen Köstlichkeit auf Nathan, „Ich denke, du brauchst mal wieder ein bisschen Spaß. Du isst zu wenig, du schläfst zu wenig und du arbeitest zu viel. Das ist es, was zu diesen komischen Träumen führt. Und natürlich dein abgedrehter Exfreund. Man, der hatte echt einen Schaden. Aber ich hab eine Idee, was wir da machen können.“   Nathan ahnte, was jetzt kam. Er fragte trotzdem.   „Und was machen wir?   Marvin strahlte.   „Na ist doch ganz klar. Wir gehen aus.“   Nathan rollte mit den Augen.   „Das hatten wir doch letztes Wochenende gerade erst“, wandte er ein, aber Marvin ließ sich nicht beirren.   „Ich weiß, ich weiß“, plapperte er munter weiter. „Aber ich rede nicht von einem Clubbesuch, ich rede von einem Date. Einem Doppeldate, um genau zu sein. Ich mit Felipe und du mit Jomar.“   Marvins Gesichtsausdruck erinnerte Nathan an einen kleinen Jungen am Weihnachtsmorgen, kurz bevor die Tür geöffnet wurde, damit er ins Wohnzimmer stürmen und nachsehen konnte, wie viele Pakete Santa Claus gebracht hatte. Erwartungsvoll. Hoffnungsvoll. Mit leuchtenden Augen und rosigen Wangen. Nun ja, so ungefähr wenigstens. Und Nathan war in dieser Geschichte der Grinch. Er mochte die Rolle nicht, aber er spielte sie trotzdem.   „Ich bin nicht interessiert“, meinte er lapidar und beschloss, sich nun doch endlich seinem Mittagessen zu widmen. Die Salsa, die sie hier servierten, war wirklich ausgesprochen köstlich. Nathan versuchte immer noch herauszufinden, was außer gerösteten Paprika sie noch dafür verwendeten. Tomaten und Knoblauch waren mit dabei, so weit war er sich sicher. Aber der Rest …   „Nathan Augustus Bell!“, kam es prompt von der anderen Tischseite. „Hör gefälligst auf, dich wie ein Arsch zu benehmen. Du weißt, ich brauche dieses Date.“   „Dann geh allein hin“, gab Nathan zurück. Marvin schnaubte.   „Was soll ich denn bitteschön alleine bei einem Doppeldate?“   Nathan verkniff sich den augenscheinlichsten Kommentar.   „Dann mach halt nur ein Date mit Felipe ab. Immerhin hat er dir seine Nummer gegeben, wie du nicht müde wirst, mir zu erzählen. Er hat also Interesse. Es sollte daher doch kein Problem sein, wenn ihr beiden allein ausgeht.“ „Du meinst, so wie du und Christian?“   Autsch, das hatte gesessen. Nathan ließ die Quesadilla Quesadilla sein und hob den Blick zu seinem Freund, der ihn über den Tisch hinweg süßsauer anblickte. Sofort meldete sich Nathans schlechtes Gewissen. Er benahm sich wirklich wie ein Arsch. Oder hatte sich wie einer benommen in der Zeit, in der er sich zu Christians Schoßhündchen mutiert war. Und er hatte es nicht einmal gemerkt.   „Hör zu, Marvin …“   Sofort hob sein Freund die Hand.   „Du brauchst nichts zu sagen, ich versteh das schon. Ich fand ihn ja auch schnuckelig. Aber seien wir mal ehrlich, es gab schon Anzeichen dafür, dass da was nicht ganz koscher ist. Zum Beispiel dass er sich so gut wie jedem gegenüber wie der absolute Oberarsch aufgeführt hat.“   Nathan seufzte leise.   „Ja, nur mir gegenüber nicht. Zumindest nicht am Anfang.“   „Tja, ich sag’s dir“, referierte Marvin und machte kurzen Prozess mit dem Rest seiner Mahlzeit. „Die Typen ändern sich nicht, egal, was sie dir erzählen. Deswegen tust du gut daran, dir einen zu suchen, der von Anfang an ehrlich zu dir ist. Und Jomar ist so einer. Er sieht gut aus, hat einen Job, er ist nett und witzig. Sein einziges Problem ist, dass er nicht auf mich steht. Aber er mag dich und er würde dich gerne wiedersehen.“   Nathan horchte auf.   „Ihr habt über mich geredet?“   Marvin grinste.   „Klar haben wir das. Jomar war ziemlich gekränkt, als du einfach so verschwunden bist. Also hab ich ihm von Christian erzählt und …“   „Du hast was?“ Nathan starrte seinen Freund fassungslos an. „Du kannst doch nicht einfach irgendwelchen Fremden meine Lebensgeschichte vor die Füße kotzen.“   Eigentlich wäre es jetzt an Marvin gewesen, betreten dreinzuschauen, sich zu entschuldigen und damit die ganze Sache abzuhaken. Aber er tat es nicht. Stattdessen ballte er das Gesicht zur Faust.   „Ach ja? Hätte ich also lieber zusehen sollen, wie mir die erste reelle Chance seit Monaten durch die Lappen geht, nur weil mein bester Freund beschlossen hat, sich wie eine Primadonna aufzuführen, die eine schlechte Kritik bekommen hat?“   Nathan starrte Marvin an.   „Aber ich hab doch nur …“   Marvin ließ ihn nicht ausreden.   „Du hast Jomar stehen lassen. Das kam quasi einem Tiefschlag gleich. Er war echt geknickt. So sehr, dass Felipe drauf und dran war, sich mehr um ihn zu kümmern als um mich. Also hab ich ihnen gesagt, dass du gerade eine schwere Trennung verarbeitest. Nichts weiter. Ich hab nicht mal Namen genannt. Also komm wieder runter von deinem Trip und geh gefälligst mit mir zu diesem Date. Das bist du mir schuldig.“   Nathan schluckte. Er wusste, dass es stimmte, was Marvin sagte. Aber gleichzeitig war da noch etwas anderes. Marvin hätte nie so reagiert, wenn da nicht noch etwas im Busch gewesen wäre. Etwas, das über ein verpatztes Date hinausging.   „Was ist los?“, fragte er daher und wusste, dass er nicht erklären brauchte, warum er das fragte. Er und Marvin kannten sich lange genug. Trotzdem versuchte sein Freund sich rauszureden.   „Ich weiß nicht, was du meinst“, behauptete er und sah sich gespielt desinteressiert um. An einem Tisch versuchte gerade eine Mutter zwei Kinder daran zu hindern, sich gegenseitig mit Sirup vollzuschmieren. Und plötzlich wusste Nathan, was los war.   „Ist zu Hause etwas passiert?“   Marvins Gesicht nahm einen ertappten Zug an. Er senkte den Blick.   „Tara heiratet.“   Die Nachricht ließ Nathan erst einmal verstummen. Dann blinzelte er zweimal.   „Tara?“, echote er schließlich. „Aber sie ist erst …“   „22. Ja genau. Vier Jahre jünger als ich und trotzdem hat meine kleine Schwester es bereits geschafft, sich einen Mann zu angeln. Vermutlich bekommt sie demnächst auch einen Haufen Babys. Zum Knutschen süße, kleine Wonneproppen, die meine Mum in den höchsten Himmel loben wird. Endlich Enkelkinder. Halleluja! Gelobt sei der Herr!“   Nathan räusperte sich.   „Na ja … äh … Sie könnte auch promovieren wie Ruby. Oder Abteilungsleiterin werden wie Annabeth“, versuchte er anzubieten, aber er wusste, dass er auf verlorenem Posten stand. Beinahe hätte er nach Marvins Hand gegriffen.   „Hey“, machte er leise. „Du weißt, dass deine Mum stolz auf dich ist. Egal was du machst. Und dein Dad …“   „Mein Dad“, unterbrach Marvin ihn, „wird froh sein, wenn endlich ein richtiger Mann in die Familie einheiratet. Nicht dass Paul und Jacob keine guten Ehemänner wären, aber sie sind eben nicht so wie mein Vater sich das vorstellt. Paul beispielsweise hat keinerlei Ahnung von Football. Kannst du dir das vorstellen?“   „Du hast auch keine Ahnung von Football“, gab Nathan zu bedenken.   „Aber ich gucke es mir trotzdem an. Die Spieler sind ziemlich heiß.“   Marvin grinste kurz, bevor er erneut seufzte.   „Es ist nur … irgendwie wünsche ich mir das auch. Dass da jemand ist, mit dem ich mein Leben teilen kann. Der mir nach einem harten Tag sagt, dass es morgen wieder besser wird. Der mich nachts in den Arm nimmt und morgens nur in Boxershorts in meiner Küche steht und mir Kaffee kocht. So was will ich. Verstehst du das?“   Nathan nickte. Natürlich verstand er das. Er hatte schon immer gewusst, dass Marvin ein Familienmensch war. Und er hatte eine tolle Familie. Eine, die selbst Nathan aufgenommen hatte, als wäre er einfach ein weiteres Kind in der großen, bunten, lauten Runde, die sich regelmäßig um den großen Esstisch versammelte. Nathans Großeltern hatten nicht immer gerne gesehen, dass er mit „solchen Leuten“ verkehrte, aber Nathan hatte sich dort gut gefühlt. Sicher. Ein Gefühl, dass er jetzt vermisste.   „Und du denkst, dass du das mit Felipe haben kannst? Er ist doch auch nur irgendein Typ, den du in einem Club kennengelernt hast. Was macht dich so sicher, dass es mit ihm anders ist?“   Marvin fuhr mit dem Finger durch die Reste seines Ketchups.   „Ich weiß nicht. Es sind einfach so Kleinigkeiten.“   Nathan grinste.   „Soll das heißen, dass ihr bis zum dritten Date wartet, bis ihr Sex habt?“   Marvin blies empört die Backen auf.   „Natürlich nicht. Ich kauf doch nicht die Katze im Sack! Wo denkst du hin? Ein Mann hat Bedürfnisse, oder nicht?“   Er lächelte jetzt wieder. Es war ein warmes, besonderes Lächeln.   „Nein. Aber weißt du, was er am nächsten Morgen zu mir gesagt hat?“   Nathan schüttelte den Kopf. Marvin grinste.   „Er hat gemeint, ich solle leise auf der Treppe sein. Seine Mama wohnt nämlich im gleichen Haus und er wollte nicht, dass sie mich sieht.“   Nathans runzelte die Stirn.   „Weil sie nicht weiß, dass er …“   „Oh, nein, nein“, winkte Marvin ab. „Sie weiß Bescheid. Aber er hat gesagt, er wollte mich ihr lieber richtig vorstellen und nicht, wenn ich gerade nach einer durchvögelten Nacht mit den Schuhen in der Hand die Treppe runterschleiche.“   Nathans Augenbrauen hüpften in die Höhe.   „Er will dich seiner Mutter vorstellen?“ „Mhm-mhm.“ „Das ist krass.“   Marvins Grinsen nahm jetzt sein ganzes Gesicht ein.   „Ja, oder? Ich meine, wir hatten eine Nacht zusammen. Eine echt gute Nacht, so viel ist klar. Und wir beide wissen, dass man guten Sex mit der Lupe suchen muss, aber … es war halt nicht nur das. Wir haben uns auch unterhalten. Er hat gemeint, dass ihn meine Aktion am Tresen sehr beeindruckt hat. Und er mag, dass ich mich so extravagant kleide und dass ich so … na dass an mir was dran ist.“   Marvin zupfte an dem Ärmel seines Hemdes mit dem veilchenblauen Paisleymuster herum.   „Das findet man halt nicht so oft. Wenn jemand seinen Traumtypen beschreiben soll, wird er kaum mich dafür hernehmen. Oder dich, auch wenn du dich inzwischen in so eine Art heißen Harry Potter verwandelt hast. Aber die Wahrheit ist doch, dass jemand wie ich kaum eine Chance hat.“   Nathan dachte an den Blick, mit dem Jomar Marvin taxiert hatte. Es war einer in einer langen, langen Reihe von solchen Blicken. Und weiter als bis zu einem Blick kam man tatsächlich meist nicht. Swipe left und der Nächste bitte. Es war nur zu wahr.   Marvin sah ihn an.   „Ich sage ja nicht, dass du was mit Jomar anfangen sollst, wenn du das nicht willst. Ich möchte nur, dass wir uns zu viert einen netten Abend machen. Essen gehen, was trinken, vielleicht ins Kino. Alles ganz locker und ohne irgendwelche Verpflichtungen. Und wenn du dann immer noch sagst, dass es nicht passt, na dann eben nicht. Aber lass dir das nicht wegen Christian durch die Lappen gehen. Das ist er definitiv nicht wert.“   Nathan blickte hinab auf seinen Teller. Er hatte nicht einmal die Hälfte seiner Portion geschafft. Eine absolute Verschwendung. Er würde sich den Rest einpacken lassen. Mit einem Seufzen legte er die Gabel weg.   „Na schön“, sagte er endlich. „Aber nur Essen und Kino. Und ich zahle meine Karte selbst.“   „In Ordnung.“ Marvin grinste von einem Ohr zum anderen, bevor er plötzlich an Nathan vorbei zur gegenüberliegenden Wand sah. Er fluchte.   „Ah fuck, ich muss los. Mein Zwei-Uhr-Termin kommt gleich.“   Nathan runzelte die Stirn.   „Es ist doch noch nicht mal 20 vor.“   Marvin lachte.   „Das stimmt, aber Lady Pilkington wartet auf niemanden. Die ist wie Chuck Norris, nur älter. Und wenn ich nicht parat stehe, wenn sie der Meinung ist, dass ihre Hühneraugen jetzt sofort ein Bananencreme-Zuckerrohr-Peeling brauchen, dann ist der Teufel los.“   Nathan musste gegen seinen Willen schmunzeln. Er wusste, dass Marvin seinen Beruf liebte, aber die Vorstellung, älteren Damen die Füße zu massieren, war nichts, das Nathan unbedingt Schauer der Glücksseligkeit verpasste. Bei einem jungen, heißen Kerl hätte das eventuell anders ausgesehen, aber so? Er seufzte.   „Na schön, ich muss auch los. Hab noch eine Verabredung mit Shannon.“ „Auweia, was hast du angestellt?“ „Das hat sie mir nicht gesagt.“     Das Gebäude, in dem Nathan arbeitete, lag an einer der Hauptstraßen. Es war groß, es war modern und es war voller Menschen, die alle wussten, was sie taten. Alle außer Nathan. Das zumindest war die Meinung seiner Chefin, die ihn bereits in ihrem Büro erwartete, wie ihn gleich zwei farbige Zettelchen an seinem Schreibtisch informierten. Schnell entledigte er sich seiner Jacke und machte sich auf den Weg.   „Was, denkst du, ist das?“, schnappte Shannon auch schon, kaum das Nathan ihr schickes Eckbüro betreten hatte. Ihre spitzen, roten Fingernägel bohrten sich in einen Papierstapel, auf dem Nathan unweigerlich seine Handschrift erkennen konnte. Er schluckte.   „Ein Entwurf?“   Nathan hasste, dass es wie eine Frage klang. Noch viel mehr hasste er, dass Shannon ihn immer dazu brachte, so zu klingen. Egal, was sie wissen wollte, er hatte immer den Eindruck, dass seine Antwort die falsche war. Immer. Ohne Ausnahme.   „Das weiß ich selbst“, fauchte sie und begann, auf dem Stapel herumzutrommeln. „Meine Frage ist, warum ich ihn hier in Papierform vorliegen habe und nicht per Email, so wie angefordert. Wer soll denn das jetzt abtippen?“   „Das kann ich selbst machen“, erklärte Nathan hastig. „Es ist nur … ich kann besser schreiben, wenn ich nicht am Rechner sitze. Und mein Laptop ist kaputtgegangen, also hatte ich noch keine Zeit um …“   „Tatatata“, unterbrach Shannon ihn und wedelte mit ihrer Hand in der Luft herum. „Rede nicht herum. Deine privaten Probleme interessieren mich nicht. Ich will, dass du die Sachen druckreif ablieferst, verstanden?   „Ja, Shannon. Natürlich.“   Nathan wandte sich schon zum Gehen, aber er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Shannon war noch nicht fertig.   „Ganz davon abgesehen, habe ich ihn gelesen. Der Artikel ist gut. Sehr gut sogar. Du hast da eine absolut hieb- und stichfeste Argumentationskette abgeliefert. Und ich liebe diesen Titel.“   Nathan blinzelte überrascht.   „Ach tatsächlich?“   Shannons Mundwinkel bewegten sich, als fehle ihnen etwas. Nathan hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was das war. Zum Jahresbeginn hatte Shannon – mal wieder – aufgehört zu rauchen und das machte ihre Laune noch viel unterirdischer als ohnehin schon.   „Natürlich. ’Warum ein Steak Superman umgebracht hat’ … das ist provokativ, hat aber gleichzeitig Witz und einen Identifikationswert. So was mögen die Leser. Es gibt da nur ein winzigkleines Problem.“   Jetzt kam es also. Das Detail, das immer störte. Aber wenn es nur eine Kleinigkeit war …   „Du.“   Shannon betrachtete ihn mit gekräuselten Lippen und wartete auf seine Reaktion. Nathan verstand nicht.   „Ich?“, fragte er und versuchte, dabei nicht ganz so verwirrt auszusehen wie er sich fühlte. „Was meinst du damit?“   Shannons Lächeln erinnerte ihn an einen freundlichen Hai.   „Nun, weißt du, als ich dich einstellte, dachte ich: Toll! Endlich mal ein Mann, der sich für Kochbücher interessiert. Denn seien wir mal ehrlich: Kochbücher werden von Frauen gelesen, von Frauen gekauft, von Frauen geschrieben. Wenn ich eines zum Lektorat zu vergeben habe, stehen die Frauen Schlange. Nicht eine von denen will sich mal ans Webdesign wagen. Nein, sie lektorieren Kochbücher. Ha!“   Shannon stieß mit den ausgestreckten Fingern in die Luft, als wolle sie mit jedem von ihnen eine der armen Lektorinnen aufspießen. Nathan wagte nicht, sie in ihrem Monolog zu unterbrechen. Den Fehler hatte er einmal gemacht und es eine Woche lang bereut.   „Und dann kamst du“, fuhr Shannon ungerührt fort, „und ich war zwar nicht so beeindruckt, aber ich dachte, es ist immerhin ein männlicher Name. Das macht sich gut. Und siehe da, du interessierst dich für wichtige Dinge. Dinge wie Umweltschutz, Klimawandel und die patriarchalischen Machtstrukturen, die immer noch unsere Ernährung beeinflussen, obwohl wir im Zeitalter der Gleichberechtigung leben. Aber – und das ist ein großes Aber – du bist nun mal kein durchtrainierter, 1,90 m großer Naturbursche, den man auf einem Cover von 'Men's Health' finden würde. Und auch wenn mir das vollkommen egal ist, werden die Leser das anders sehen. Und ich verwende jetzt mit Absicht das Wort Leser, denn es geht hier um Männer. Männer, die denken, das alles, was man nicht mit einer Schrotflinte erschießen muss, bevor man es essen kann, nur für Weicheier und Schlappschwänze ist. Und wenn jemand wie du ihnen jetzt sagt, dass das nicht stimmt, dann ziehen sie dir die Unterhose bis zu den Ohren und stopfen dich in die nächste Mülltonne. Also sag mir bitte, wie ich diesen Artikel jetzt bringen soll, wenn dein Name darunter steht. Wie?!“   Das letzte Wort bohrte sich in Nathans Brust wie ein abgeschossener Pfeil. Wenn Shannon daran zog, würde sie sein Herz mit herausreißen. Ganz sicher.   „Du … du könntest einen anderen Namen darunter schreiben“, schlug er vor. „Einen erfundenen vielleicht?“   Shannon sah nicht überzeugt aus. Sie schob eine ihrer sorgfältig gezupften Augenbrauen nach oben.   „Und wenn mich dann jemand fragt, wer dieser neue, vielversprechende Autor ist? Was machen wir dann?“   Nathan verstummte. Darauf hatte er keine Antwort. Shannon presste die Lippen aufeinander.   „Na schön, ich überlege mir was. Und du kümmerst dich darum, dass der Artikel spätestens in einer Stunde in meinem Postfach liegt. Und zwar ohne Rechtschreibfehler, haben wir uns verstanden? Ich werde ihn an Robert weiterleiten. Mal sehen, was er dazu sagt.“   Nathans Mund wurde trocken. Robert war Shannons Vorgesetzter. Fast schon oberste Chefetage. Das war ein ganz heißes Eisen. Wenn das klappte, dann …   Shannon musterte ihn missbilligend.   „Du stehst ja immer noch da“, schnappte sie. „Na los! Zurück an die Arbeit mit dir!“   Nathan nickte hastig und sah zu, dass er rauskam. Zurück an seinem Schreibtisch äugte Amanda, die auf der anderen Seite der halbhohen Trennwand saß, neugierig zu ihm rüber.   „Nanu“, meinte sie gespielt verwundert, „dein Kopf ist ja noch dran.“   Nathan grinste schief. Es lag ihm auf der Zunge zu sagen, dass Shannon erwog, etwas von ihm drucken zu lassen, aber dann schluckte er die Worte doch wieder herunter. Noch war es zu früh, um mit seinen Lorbeeren anzugeben. Noch hatte Robert nicht zugestimmt.   Amanda, die seinen Gesichtsausdruck offenbar falsch gedeutet hatte, lächelte mitleidig.   „Nimm’s nicht so schwer. Wir haben alle mal klein angefangen.“   Nathan nickte, als hätten Amandas Worte ihre Wirkung getan, bevor er sich auf seinen Drehstuhl fallen ließ. Sein Blick wanderte zu seinen Notizen. Ein heißkalter Schauer überlief seinen Rücken.   Shannon wollte einen Artikel, also sollte Shannon auch einen Artikel bekommen. Und er würde ihn ihr liefern. Jetzt sofort.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)