Mutterliebe von _Delacroix_ ================================================================================ Es war einmal an einem schönen Wintermorgen, die ersten Schneeglöckchen hatten gerade erst ihren Kopf aus dem Schnee geschoben und das Eis glänzte in der warmen Morgensonne. Hier und da tropfte es von den tief hängenden Dächern und kündigte den kommenden Frühling an. Bald würde auch die letzte Eisscholle im Hafen geschmolzen sein, und wenn es so weit war, würde es nicht mehr lange dauern, bis die Männer zurückkehrten. Geirhildr summte glücklich, während sie das Fell zusammenfaltete, das sie als Decke nutzte. Ein Monat noch höchstens zwei, dann würde Lokkr wieder bei ihr sein. Und vielleicht brachte er ihr ja einen Armreif mit. Einen schönen, goldenen mit einem Greifen, einer Schlange oder einer anderen Kreatur darauf, die im Sonnenlicht funkelte, als würde sie gleich zum Leben erwachen. Ihre Freundin Fulla hatte so einen Reif. Er war schön und schwer und sie zog ihn immer sorgsam aus, bevor sie mit der Wäsche zum Bach ging, damit das Wasser ihn nicht berührte. Geirhildr würde mit ihrem Reif dasselbe tun. Jedenfalls wenn Lokkr ihr wirklich einen schenkte.   Die Melodie noch in den Ohren strich Geirhildr ihr langes, blondes Haar zurück und trat an die Wiege. Lokkr hatte sie im letzten Sommer aus dem Holz einer Ulme geschnitzt. Ein wundervolles Geschenk für ihre kleine Tochter. «Guten Morgen», flüsterte Geirhildr, so wie sie es in den letzten Monaten oft getan hatte. Und so wie immer erwartete sie voll und ganz ignoriert zu werden. Ihre kleine Bjǫrg war eine richtige Langschläferin. Doch heute Morgen blinzelte das Mädchen sie bereits mit großen Augen an. Die Mundwinkel der Kleinen zuckten nach oben, als Geirhildr sich weiter über ihre Wiege beugte, und kurz glaubte sie tatsächlich den Anflug eines Lächelns auf ihren Lippen zu erkennen. Geirhildrs Hand fuhr über Bjǫrgs strohblonden Schopf, ihre andere wanderte zu ihrem Po hinab. «Na du? Wollen wir frühstücken?», fragte sie leise. Bjǫrg öffnete den Mund ... Und spuckte.   Fassungslos blickte Geirhildr an sich herab. Ein riesiger, feuchter Fleck zeichnete sich auf ihrem grauen Kleid ab. Und Bjǫrg? Die lächelte, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Geirhildr seufzte. «Warte nur bis dein Vater erfährt, dass du jetzt schon besser spucken und rülpsen kannst als er», tadelte sie scherzhaft. Erneut beugte sie sich über die Wiege und streckte die Arme nach ihrer Tochter aus. Bjǫrg gluckste, als Geirhildr sie aus ihrem Bettchen hob, und sie gluckste immer noch, als sie sie schließlich sicher auf dem Arm hatte. Sie konnte ihre Händchen auf ihrer Schulter spüren. Das leichte Stupsen niedlicher Babyfinger an ihrem Ohr und schließlich ... «Au!», entfuhr es Geirhildr und ein scharfer Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. «Nicht an meinen Haaren ziehen!» Bjǫrg hörte nicht. Wenn möglich zerrte das kleine Mädchen sogar noch kräftiger an ihrem Haar. Geirhildr ging in die Hocke, um Bjǫrg auf dem Boden absetzen zu können.   Eilig begann sie die Finger der Kleinen von ihrem Haar zu lösen. «Das tut Mama weh», versuchte sie dem Mädchen zu erklären, doch das guckte sie nur verständnislos an, die Finger noch immer um einige ihrer blonden Haare geschlungen. Einen Moment lang geschah gar nichts weiter, dann öffnete Bjǫrg den Mund und begann zu schreien.   Bjǫrg schrie das ganze Frühstück hindurch und auch noch, als Geirhildr danach begann, ihre Hütte zu putzen. Sie schrie, als Geirhildr die Karotten für das Mittagbrot schnitt und als sie den Kessel schließlich auf das Feuer stellte. Egal ob Geirhildr für ihre Tochter sang oder sie zu wiegen versuchte. Bjǫrg schrie und schrie. Als das Wasser im Kessel schließlich zu kochen begann, war das Gesicht der Kleinen so rot, dass Geirhildr Sorge bekam, dass es vielleicht für immer so bleiben würde. Doch egal was sie auch versuchte, Bjǫrg schien einfach untröstlich zu sein.   Als Geirhildr das Mittagessen in die Schalen füllte, sah Bjǫrg so verheult aus wie noch nie. Ihre schönen blauen Augen waren verquollen, ihre Fingerchen zu Fäusten verkrampft und ihr Kleidchen war nass von all den vergossenen Tränen. Mit zitternden Händen tauchte Geirhildr den hölzernen Löffel in die Schale und pustete, bis der Eintopf eine angenehme Temperatur erreicht hatte. Dann hielt sie der Kleinen den Löffel entgegen. «Komm, ich weiß, dass du das gerne isst», versuchte sie ihr Töchterchen zu überreden. Und tatsächlich verstummte das heulende Kind. Mit wässrigen Augen musterte es den Löffel, dann öffnete es den Mund und begann zu essen.   Bjǫrg aß und aß. Sie leerte die Schüssel und die von Geirhildr noch dazu und egal wie oft ihre Mutter sie auch nachfüllte, nie schien es dem hungrigen Kind genug zu sein. Und so aß die kleine Bjǫrg schließlich den ganzen Kessel leer. Und als er leer war und Geirhildr partout nichts mehr aus ihm herauszukratzen vermochte, da begann die kleine Bjǫrg ein weiteres Mal zu weinen.   Und sie weinte und weinte. Sie weinte immer noch, als Geirhildr zum Bach ging, um die Schüsseln auszuspülen und sie weinte, als ihre Mutter zurück in die Hütte trat. Sie weinte, als Geirhildr ihre Haare kämmte und sie weinte, als sie die ersten Vorbereitungen für das Abendessen zu treffen begann. Inzwischen schien es Geirhildr, als hätte ihre Tochter noch nie etwas anderes getan. Und wenn sie so darüber nachdachte, dann war ihr selbst zum Weinen zumute. Was war bloß in ihr braves Mädchen gefahren?   Ein leises Klopfen lenkte sie von ihren trüben Gedanken ab. Es war ihre Freundin Fulla. Geirhildr erkannte es an dem Rhythmus, in dem ihre Finger über das Holz fuhren, wenn sie klopfte und an der kurzen Pause, die sie immer machte, bevor sie schließlich in die Hütte trat. Fulla sah so strahlend aus wie eh und je. Sie hatte ihr goldenes Haar zu einem festen Kranz geflochten und trug eines dieser Kleider, das ihre Hüften besonders betonte. Sie lächelte Geirhildr und Bjǫrg entgegen. «Na, was macht ihr zwei Schönes?», fragte sie. Geirhildr schenkte ihr ein Lächeln. «Bjǫrg hat heute einen schlechten Tag», erzählte sie ihr. «Sie will einfach nicht aufhören zu weinen.» Fulla runzelte die Stirn. «Dieser kleine Sonnenschein?», fragte sie ungläubig. Und tatsächlich, Bjǫrg saß auf dem Boden, von Tränen keine Spur. Sie gluckste sogar, als Fulla ihr ein Lächeln schenkte. Geirhildr war fassungslos. «Ich schwöre dir, sie hat den ganzen Tag geschrien», erzählte sie. Fulla blickte von ihr zu Bjǫrg und wieder zurück. «Vielleicht sind es ja die Zähne», schlug sie leise vor. «Wenn sie kommen, werden Kinder schon mal unleidlich.» Geirhildr musterte ihre Tochter. An die Zähne hatte sie bislang noch gar nicht gedacht. «Wenn du willst, bringe ich dir morgen eine Veilchenwurzel mit. Da kann sie drauf herumkauen und die Schmerzen werden besser. Du wirst sehen. Meinen hat das sehr geholfen.» Geirhildr nickte dankbar. Das klang nach einer guten Idee. Und wenn es Fullas Jungs geholfen hatte, würde es Bjǫrg sicher auch helfen können. Fulla lächelte sie an. «Was meinst du? Wollen wir uns den Übeltäter einmal ansehen?», fragte sie. Geirhildr legte den Kopf schief. «Du meinst ...», begann sie, doch ihre Freundin war bereits heftig am Nicken. «Den Zahn, natürlich», beeilte sie sich klarzustellen. «Vielleicht ist ihr Mundraum ja entzündet. Dann könnten wir ihr etwas Honig zum Lutschen geben, oder die alte Hreiðunn nach einer Kräutermischung fragen. Für heute Nacht.» Geirhildr nickte langsam. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, die alte Hreiðunn um etwas zu bitten, aber wenn es Bjǫrg half, würde sie es natürlich tun. Letztlich war die Alte auch nur ein bisschen unheimlich, mit ihren milchig weißen Augen und der Stimme, die immer klang, als hätte sie zu lange am Feuer gesessen. Hreiðunn war schon alt gewesen, als Geirhildr noch ein kleines Mädchen gewesen war, und vielleicht würde sie es auch noch sein, wenn Bjǫrg eines Tages ein eigenes Kind an ihrer Seite haben würde, aber letztlich kannte sich auch niemand so gut mit Kräutern und Tinkturen aus wie sie. Fulla hatte recht. Wenn es wirklich eine Entzündung war, würde sie ein oder zwei gute Felle zusammenpacken und sie der Alten im Tausch für einen Trank anbieten. Und vielleicht würde ihre kleine Bjǫrg dann morgen früh schon wieder lächeln.   Vorsichtig blickte sie zu ihrer Tochter, die nach wie vor brabbelnd auf dem Boden saß und erhob sich dann langsam. «Sie hat heute früh schon mal gespuckt», warnte sie Fulla, die sich bereits vor ihr erhoben hatte. Doch Fulla lachte nur. «Keine Sorge», wiegelte sie ab, «Nach drei Jungs kenne ich mich mit Spuckattacken wirklich aus.» Geirhildr atmete auf. «Ich dachte nur, wegen deines Kleides», begann sie zu erklären, doch ihre Freundin ging bereits vor Bjǫrg in die Hocke. «Kleider kann man waschen», erklärte sie und streckte ihre Hand nach dem Kopf des Mädchens aus. Einen Moment lang fuhren ihre Finger durch Bjǫrgs strohblondes Haar. «Sagst du einmal Aaaah?», fragte sie das Mädchen lächelnd, das mit großen, blauen Augen zu ihr aufschaute. «Aaaaah», machte sie die Übung für die Kleine vor. «Aaaaaaaaah», entgegnete Bjorg eifrig.   «Ahhhh!», entfuhr es Fulla plötzlich. Sie zog so schnell die Hand zurück, dass sie das Gleichgewicht verlor und auf dem Hintern landete. Geirhildr eilte ihrer Freundin zu Hilfe. «Was ist? Was hast du?», fragte sie, während sie versuchte Fulla wieder auf die Beine zu ziehen. Zusammen stolperten sie ein gutes Stück zurück. «S-Sie ...», stotterte Fulla, das Gesicht aschfahl, «Sie hat mich gebissen!» Geirhildr blickte zu Bjǫrg, die noch immer artig auf dem Boden saß, dann flog ihr Blick zurück zu ihrer Freundin. Fulla zitterte, etwas, was sie bei ihr noch nie gesehen hatte. Sie hatte ihre Hand dicht an ihre Brust gepresst und große, dunkle Flecken auf dem schönen, grauen Kleid. Es dauerte einen Moment bis Geirhildr klar wurde, dass es sich um Blut handeln musste. «Sie hat mich gebissen», flüsterte Fulla noch einmal. Geirhildr schluckte. «Fulla, das tut mir leid», versuchte sie ihre Freundin zu beschwichtigen, doch die wich nur noch weiter zurück. «Sie hat mich gebissen!», entfuhr es ihr fassungslos. Geirhildr blickte zu ihrer Tochter und die blickte unschuldig zurück. Dann öffnete sie ganz langsam den Mund. «Aaaaaaaaah», wiederholte sie artig, bevor sie freudig zu kichern begann. Ein dünnes Rinnsal aus Blut lief ihren Mundwinkel hinab und Bjǫrg kicherte und kicherte. Vorsichtig machte Geirhildr einen Schritt zurück, dann noch einen, dann rannte sie aus dem Haus.   «Oh Fulla, es tut mir so leid», flüsterte sie, den Blick auf den blutigen Finger ihrer Freundin gerichtet. «Ich weiß wirklich nicht, was mit Bjǫrg los ist. Sie war doch immer so ein liebes Kind.» Tränen traten ihr in die Augen. Irgendwo über ihnen krächzte ein Rabe, ein anderer krächzte düster zurück. Geirhildr wagte einen Blick zum Haus, aus dem sie in Panik geflohen waren. Wäre Lokkr hier, er hätte sich gewiss zurückzugehen getraut. Geirhildr schluchzte. Was sollte sie ihm bloß sagen, wenn er zurückkam? Das ihr Baby verrückt geworden war? Das sie sich nicht in ihr Haus zurück traute, weil ihr Baby sie mit blutigen Zähnchen angelächelt hatte? Seit wann hatte es überhaupt Zähne? Ein Zittern ging durch ihren Körper, während sie die Zähne zusammenbiss, um irgendwie Herrin ihrer Tränen zu werden. Nein! Das konnte sie nicht zulassen. Sie konnte sich nicht von ihrem eigenen Kind aus dem Haus vertreiben lassen, nicht so. Nicht jetzt ...   Vorsichtig blickte sie zu Fulla, die noch immer fassungslos die blutende Wunde musterte. «I-Ich bringe dich gleich nach Hause», erklärte sie, «aber vorher will ich nur schnell ...» Sie deutete wage in Richtung des Hauses. Fulla schüttelte den Kopf. «Mach das nicht», flüsterte sie, die Stimme kaum mehr als ein Wispern. «Geirhildr, ich bitte dich ...» Geirhildr schüttelte den Kopf. «Ich muss», entgegnete sie schwach, auch wenn sie am Liebsten mit Fulla um die Wette gelaufen wäre, um sich mit ihr gemeinsam in ihrer Hütte vor dem seltsamen Kind zu verstecken. «I-Ich werde nur einen kleinen Blick riskieren. Links von der Tür, da ist ein Balken, den Lokkr noch nicht ausgetauscht hat. Er ist alt und löchrig und ich kann von dort in das Haus hineinsehen. Ich werde nur gucken, ob da drinnen in Ordnung ist und dann ...» «In Ordnung?», schnappte Fulla fast schon hysterisch, «Da drinnen ist überhaupt nichts in Ordnung!» Geirhildr hätte ihr am Liebsten recht gegeben, doch sie wusste, sie konnte es nicht. «Es wird nur einen Moment dauern», versicherte sie Fulla noch einmal, dann wandte sie sich ab und schlich in Richtung Haus zurück.   Über ihr krächzten die Raben, während sie so leise wie möglich auf die Tür zu hielt, durch die sie gerade erst geflohen war. Vielleicht war das alles ja ein schreckliches Missverständnis? Vielleicht hatte Bjǫrg einfach nur Angst bekommen, als Fulla ihren Finger in ihren Mund zu stecken versucht hatte. Vielleicht ... Geirhildr dachte an Bjǫrgs Gekicher und spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Das war ganz sicher kein dummer Unfall gewesen. Bjǫrg hatte sie ausgelacht. Sie verhöhnt. Ihr kleines Mädchen, es ... Geirhildr spürte, wie ihr das Herz vor Sorge schwer wurde. Was sollte nur aus Bjǫrg werden, wenn sie weiterhin solche Dinge tat? Was würden die Leute sagen und wie lange würden sie sich so ein Verhalten gefallen lassen? Geirhildr wusste es nicht. Sie wusste nicht einmal, was sie zur Verteidigung ihrer Tochter vorbringen sollte. Was auch immer sie falsch gemacht hatte, es musste etwas ganz Schreckliches sein. Ein kurzes Gebet an Frigg auf den Lippen drängte sie sich an die Hauswand heran, an die Ecke, die sie Lokkr hatte ausbessern lassen wollen und die dann doch so geblieben war, wie sie war. Alt, modrig und mit ersten Löchern versehen.   Vorsichtig presste Geirhildr ihr Auge auf das Loch. Es dauerte einen Moment, bis es sich an das schummrige Licht in der Hütte gewöhnt hatte und noch einen, bis Geirhildr merkte, dass Bjǫrg nicht mehr auf dem Boden saß. Erschrocken blickte sie von rechts nach links, so weit es das Loch im Holz halt zuließ. Doch egal wohin sie blickte, Bjǫrg war nirgendwo zu sehen. Geirhildr spürte, wie sich ihr Atem beschleunigte, wie ihr Herz zu rasen begann. Das konnte doch nicht wahr sein. Jetzt war ihr Kind auch noch verschwunden! Einen Augenblick lang schloss sie die Augen und versuchte sich zu fassen. Das war einfach nicht möglich. Bjǫrg konnte nicht weg sein. Es gab nur eine Tür und die hatten sie bei ihrer Flucht ganz sicher geschlossen. Bjǫrg war viel zu klein, um eine so große Holztür alleine aufzuziehen. Sie musste noch da drinnen sein. Dass sie sie nicht sah, musste am Winkel liegen, in dem sie in das Haus hinein blickte. Wenn sie es noch einmal tat, würde sie die Kleine bestimmt erblicken. Sie musste nur - Vorsichtig öffnete Geirhildr die Augen, blinzelte mehrfach und spähte noch einmal in das Haus hinein. Zunächst sah sie wieder nichts, doch gerade als sie sich enttäuscht abwenden wollte, bemerkte sie aus den Augenwinkeln doch eine Bewegung. Dort oben, knapp unterhalb des Daches, sprang ein Schatten von Balken zu Balken. Geirhildr presste sich die Hand auf den Mund, um nicht zu schreien. Dieses Wesen konnte unmöglich ihre Tochter sein.   Sie wusste nicht, wie lange sie vor der Tür gesessen und geweint hatte, doch als ihre Tränen endlich versiegten, war es bereits dunkel geworden. Fulla musste allein nach Hause gegangen sein, doch Geirhildr konnte es ihr nicht verübeln. Vermutlich hoffte sie darauf, dass sie ihr folgen würde, sobald sie so weit war. Und vielleicht sollte sie das auch tun. Zu Fullas Haus gehen, anklopfen und Asyl erbitten für die Zeit bis Lokkr endlich zurückkehrte und mit gezückter Axt vor ihr in das Haus marschieren konnte. Doch nein, das wollte sie nicht. Dieses Wesen da drinnen mochte nicht ihre Tochter sein, aber irgendwo musste die echte Bjǫrg geblieben sein und Geirhildr wollte auf keinen Fall, dass sie länger als nötig in diesem Irgendwo ausharren musste. Sie musste jetzt mutig sein. Sie musste dieses Wesen stellen, aber dafür musste sie wieder in das Haus hinein.   Die Tür knarrte, als Geirhildr sie öffnete, und fast war es ihr, als wäre es eine letzte gut gemeinte Warnung der Welt, dass ihr Vorhaben zum Scheitern verurteilt war. Doch sie beschloss es einfach zu ignorieren. Warme, rauchige Luft kam ihr entgegen und hüllte sie ein, während sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ. «Bjǫrg, ich bin zurück», rief sie in die Hütte hinein. Und tatsächlich. Dort, neben dem Bett, saß das Kind, als hätte es sich in den letzten Stunden sicher nicht wie eine Katze die Wand hinauf bewegt. Geirhildr bemühte sich um einen neutralen Ausdruck. «Ich werde jetzt das Abendessen fertigmachen», erklärte sie. Bjǫrg klatschte in die Händchen, als wäre das eine besonders gute Idee. Und mit Blick auf die Mengen, die das Ding zum Mittag verspeist hatte, war es das vielleicht ja auch. Sicher wurde man hungrig, wenn man heimlich von Dachbalken zu Dachbalken sprang. Geirhildr trat an ihren Kessel heran. «Was meinst du? Machen wir heute dein Lieblingsgericht?», fragte sie süßlich. Bjǫrg jauchzte als Antwort. Geirhildr griff nach einer ihrer Schüsseln und warf sie kommentarlos in den Kessel hinein, dann folgte einer ihrer Schlüssel, ein halber Krug voll Wasser und schließlich eine Handvoll Körner, die sie in einem tönernen Krug aufbewahrt hatte. Dann ging sie betont langsam um den Tisch herum, bis zu ihrer Truhe, die am Fußende des Bettes stand und zog ein rotes Haarband hervor. Sie hatte es immer gerne getragen und fand, dass es ihr gut stand, aber für Bjǫrg würde sie es opfern. Für Bjǫrg würde sie alles opfern. Lächelnd faltete sie das Band zwischen ihren Finger zusammen. «Das wird dir sicher schmecken», erklärte sie. «Ich werde es nur schnell in den Topf geben, dann hole ich das Ziegenhaar und wir können essen.» Sie lächelte, während Bjǫrgs Augen groß und immer größer wurden. «Was hör ich da? Eintopf voll mit Ziegenhaar? Am Tissø wuchs einst dreimal Wald, das weiß ich, denn ich bin so alt. Doch nie in meinem Leben sah ich Eintopf mit Haarbändern und Ziegenhaar. Das kannst du alleine fressen!» Bjǫrg schlug wütend mit den Fäustchen auf den Boden, während ihre Haut dunkel und immer dunkler zu werden schien. Schwarzer Rauch stieg von ihr auf, sie fauchte, dann war sie verschwunden und Geirhildr starrte einsam in die Dunkelheit.   Irgendwann, sie wusste nicht, wie lange sie auf die Stelle gestarrt hatte, an der Bjǫrg sich aufgelöst hatte, löste sich ein leises Glucksen aus ihrer Kehle. Es war schiefer Ton, halb voll von Erleichterung, halb voll von Angst. Auf den Ersten folgte ein Zweiter und noch bevor sie wirklich wusste, was sie tat, war sie bereits am Lachen. Geirhildr lachte und lachte. Erst nur ganz leise, doch bald laut und immer lauter, bis ... Bis ein leises Weinen sie schließlich zum Verstummen brachte. Geirhildr fuhr auf dem Absatz herum und eilte zu der Wiege. Und dort lag, ordentlich in seine Felle gebettet, ihr kleines Mädchen und starrte sie aus großen Augen an. Zitternd streckte Geirhildr die Finger nach ihr aus. Sie fuhr über Bjǫrgs warme Wange und über ihre Stirn. Schließlich fanden ihre Finger den Weg in ihr Haar und sie stutzte. Dort wo bisher immer nur strohblonder Flaum gewesen war, wuchs nun eine einzige schneeweiße Strähne. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)