Antinoos von tobiiieee (Tod Auf Dem Nil) ================================================================================ Kapitel 6: Tod Auf Dem Nil -------------------------- Eigentlich hätte es mir besser gehen müssen. Die Angst vor meinem nahenden Tod war gebannt! Der Ibis war kein Todesomen! Es gab zwar keinen Anhaltspunkt, was er dann war, aber zumindest verfolgte mich nicht der Tod!             Aber warum hinderte mich zum wiederholten Male ein Gefühl am Schlafen, als ob noch jemand im Zimmer war? Mit den Augen sah ich, dass nur der Kaiser neben mir lag, in tiefen Schlaf versunken, das Gesicht schlaff im hereinfallenden Mondlicht. Doch ich war überzeugt von einer Anwesenheit. In meinen Ohren rauschte es wieder, wie wenn man eine Muschel daran hält, und irgendwo zwischen diesem Rauschen wisperten mir ferne Stimmen etwas zu, was ich allerdings noch nicht verstehen konnte.             Mein Blick suchte erneut den Raum ab, fand aber niemanden; ich beugte mich sogar aus dem Bett und schaute darunter nach, doch wieder nichts. Ich lag in mir selbst versunken da und suchte nach den Göttern, die mir vielleicht einen Hinweis geben konnten, fand aber natürlich nicht den Himmel über mir. Die Schatten auf der Zimmerdecke wogten wie Tang auf dem Grund eines reißenden Flusses. Ich setzte mich auf und beobachtete fasziniert das Spiel, versuchte ein Muster zu erkennen, wo keines war, keines sein konnte, bis – und das Herz wurde mir schwer – ich schließlich wieder ihn sah.             Den Ibis.             „Was willst du von mir?“, formten meine Lippen stumm. Der Ibis beäugte mich von der Seite, den Schnabel gesenkt; sein Blick musterte mich von oben bis unten, dann setzte er sich in Bewegung. „Halt, warte!“, wollte ich ausrufen, einen Arm nach ihm ausgestreckt. Ich sprang auf und folgte ihm, stieg durch die Decke, und fand mich urplötzlich an einem sonnenüberfluteten Ort nahe einem Ufer wieder. Vertraute Pinien verrieten mir, wo ich war.             „Pontos ...“, murmelte ich. Ich blinzelte gegen die Sonne meiner Heimat. Wo immer ich hinschaute, war nirgends jemand zu sehen. Nur der Ibis, bei jedem Schritt mit dem Kopf ruckelnd, schritt vor mir zum Wasser voran. Auch ich ging auf das Ufer zu, wobei ich den Vogel immer im Blick behielt. Sein Gang war elegant und es gab keine Anzeichen, dass er mich angreifen wollte. Ab und an blickte er sich um, doch sobald er sah, dass ich ihm noch immer folgte, richtete er seine Augen wieder nach vorn.             Vor den Wellen ließ er sich im Sand nieder. Ich setzte mich ihm gegenüber. Es ging kaum eine Brise und die Wogen, die auf den Strand schwappten, waren sehr schwach. Der Pontos wirkte fast wie ein glatter See, nicht wie ein aufgewühltes Meer. Er spiegelte den hellen, wolkenfreien Himmel, der sich über uns ewig zu ergießen schien, blau wie an seinen schönsten Tagen, heiter, ohne Unheil. Ich genoss die Ruhe um uns herum und in meinem Kopf und beschaute mir dabei den Ibis. Der Schnabel, fast so lang wie sein ganzer Hals, glänzte schwarz wie glattes Leder. Das ebenfalls schwarze Kleid wurde durch einzelne weiße Federn durchbrochen. Sein neugieriges schwarzes Auge  betrachtete mich genauso wie ich ihn.             Behutsam streckte ich ihm meine Hand entgegen. So recht wusste ich zwar nicht, was ich damit beabsichtigte: Er konnte sie immerhin unmöglich wie zum Vertragsabschluss schütteln. Stattdessen aber legte er zu meiner Überraschung seinen Kopf in meine Handfläche.             „Du möchtest gestreichelt werden?“, fragte ich ihn. Sein schwarzes Auge blinzelte mir entgegen. Ich rückte näher an den Ibis heran und fuhr sanft mit meinen Fingerspitzen über seine weichen Federn. Er schloss die Augen und legte seinen Kopf an mein Bein.             Warum bist du mir immer erschienen?, grübelte ich. Was möchtest du, wenn du mich nicht vernichten willst?             Nach einigen Momenten, in denen ich dem Ibis weiter übers Federkleid strich, hüpfte er unvermittelt auf die Beine und lief langsam und sich weiter an mich schmiegend um mich herum, wobei ich meinen Kopf drehte, um ihm mit meinem Blick zu folgen. Schließlich blieb er hinter mir stehen und fuhr mit der Spitze seines langen Schnabels über meinen Nacken. Ich berührte die Stelle unwillkürlich mit der Hand, doch da war er schon fertig; anschließend kribbelte mein Hals angenehm. „Das ist besser“, sagte ich und wandte mich wieder zu dem Ibis um. „Danke –“ Aber da war er schon verschwunden.             Mit verwundert zusammengezogenen Augenbrauen schaute ich mich um, aber der Ibis tauchte nirgends wieder auf. Ich war also allein an diesem spiegelglatten Ufer, an dem ich grenzenlos frische, unverbrauchte Luft einatmen konnte, umgeben von blauem Wasser, hellem Sand und dunkelgrünen Bäumen. Das Vogelgezwitscher war das einzige klare Geräusch, das ich vernahm, und obwohl die Sonne vom Himmel schien, brannte meine Haut nicht. Alles war genau richtig. Ich sank langsam zu Boden und bettete mich an diesem mir so vertrauten Strand, um vielleicht endlich den großzügigen Schlaf zu bekommen, der mir seit Wochen verwehrt blieb. Meine Augenlider fielen allmählich zu, der Vogelgesang dämpfte sich wie unter Wasser, verblasste, schwand ... Da hörte ich meinen Namen.             „Antinoe“, sagte eine Stimme, und der Sand in meinem Nacken fühlte sich plötzlich wärmer an als zuvor. Ich fuhr auf. „Deliciolae.“ Als ich die Augen aufschlug, hatte sich der Himmel zugezogen und der Wind peitschte die Wellen vor sich hin, dass mir die Gischt von der Farbe von dunklem Blut geradezu ins Gesicht spritzte; der Sand hatte ein bräunliches Rot angenommen. Vor mir stand der Kaiser, der Mantel um seinen Brustpanzer die Farbe von roter Tinte.             „Was machst du hier?“, fragte ich, ohne aufzustehen.             „Du musst mit mir kommen“, sagte der Kaiser. Er streckte seine Hand nach mir aus.             „Nein“, sagte ich, heftig den Kopf schüttelnd. Der Himmel verfärbte sich schwarz. „Nein. Nein, nein, nein!“ Die Schwärze des Himmels breitete sich aus, verschluckte die Umgebung, dann den Kaiser und zum Schluss mich.             Ich fuhr aus meinem Albtraum auf, schweißgebadet und schwer atmend. Ich versuchte, trotz meiner trockenen Kehle zu schlucken, was mir beinahe unmöglich war, ohne zu ersticken. Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, stieg ich aus dem Bett und lief ein paar Schritte hin und her. Schließlich blieb ich vor dem Fenster stehen, das Herz in meiner Brust ein Hagel aus Trommelschlägen. Ich versuchte, mir einen Reim auf meinen Traum zu machen. Schon wieder ein Ibis. Warum immer Ibisse? Und was sollte dieser Sturm? Und dann diese ...Schwärze ...             Ein Kribbeln in meinem Nacken ließ mich schaudern. Da war es schon wieder, dieses Gefühl, nicht mit dem Kaiser allein zu sein. Noch während ich erschauderte, kam mir allerdings ein Gedanke. „Du“, murmelte ich, und langsam drehte ich mich um. Ich spürte eindeutig eine Finsternis. „Du bist diese schwarze Präsenz.“ Die Dunkelheit schwebte über dem Bett, in dem der Kaiser schlief. Eine Idee schoss mir blitzartig durch den Kopf. Gehen. Fliehen. Weglaufen, so schnell mich meine Füße trugen, nie mehr zurückschauen und all dem Blut und der Finsternis für immer entrinnen.             „Und wohin willst du dem Kaiser entkommen?“, flüsterte mir plötzlich Thanatos ins Ohr. „In die Wüste hinein?“             „Natürlich nach Hause“, erwiderte ich.             Thanatos musterte mich mit einem spöttischen Lächeln von der Seite. „Bist du sicher?“             Ich überlegte kurz. Thanatos hatte recht. Ich würde nicht durchkommen. „Irgendwann werde ich ihm zu alt werden, dann kann ich in meine Heimat zurückkehren.“             „Du bist das Eigentum des Kaisers.“             Ich wand mich. „Dann werde ich mich freikaufen.“             „Und wenn schon“, sagte Thanatos herablassend, wobei er mir so nah kam, dass unsere Gesichter vielleicht zwei Fingerbreit voneinander entfernt waren. „Dein Nacken wird für immer verbrannt bleiben, du wirst nie heilen. Du wirst ihn nicht loswerden.“             „Antinoe?“ Thanatos verschwand ohne jede Spur. Der Kaiser stützte sich im Bett auf einen Arm und blinzelte gegen das Mondlicht. „Deliciolae, komm wieder ins Bett.“             „Sebaste“, sagte ich gehorsam, ehe ich mich zurück zu ihm legte. Wir brachen noch vor dem Morgengrauen auf, um vor der Mittagshitze in der nächsten Stadt den Nil aufwärts anzukommen. Ich setzte mich an den Rand des Bootes und beobachtete abwechselnd die erlöschenden Sterne und die lärmenden Fluten, die sich um uns herum eröffneten. Unwillkürlich überkam mich der Gedanke, was passieren würde, wenn ich spränge, doch ich schüttelte das Bild in einem erzitternden Schauer ab. Der Nil trat jährlich über die Ufer, um die Felder zu überschwemmen und so den Boden fruchtbar zu halten. Das schwarze Schwemmland war Ägyptens Segen, das es allerdings auch dazu verfluchte, dem immer gierigen Rom als Kornkammer zu dienen. Rom nahm sich aus der Welt, was immer es wollte, ohne zu überlegen, was es für diese Welt bedeutete.             Für mich zum Beispiel.             Der Kaiser lief an meinem Rücken vorbei und ließ kurz seine Fingerkuppen über meinen Nacken streichen. Ich zuckte zusammen und meine Hand fuhr augenblicklich an die Stelle. Er grinste zu mir herab und ging weiter. Ich ließ meine Hand sinken und umklammerte den Bootsrand mit verkrampfenden Fingern. Meine Brust schnürte sich zusammen, als ich ihn nur ansah. Es schüttelte mich, obwohl es zu dieser frühen Stunde warm war in Ägypten. Das Rauschen in meinen Ohren war mittlerweile beinahe so laut angeschwollen wie das des Nils und ich wandte den Blick vom Kaiser ab, um weiter den Fluss und sein Ufer zu betrachten. Beim nahenden Morgengrauen hatten sich dort Ibisse eingefunden, um zu trinken. Ibisse. Schon wieder Ibisse.             Was hatte der Priester noch gesagt? Thoth, der Ibisgott, stand für den Mond, Schrift und Weisheit und war dabei, wenn den Toten das Herz gewogen wurde. Wollte der Ibis, der mich verfolgte, mir also einen weisen Rat geben, damit mein Herz leicht blieb? Er hatte mich davon abhalten wollen, den Löwen zu jagen ... im Gefolge des Kaisers mitzulaufen ... am Gelage des Kaisers teilzunehmen ... offenbar hatte er ... mich vom Kaiser ... weggeführt ...             Ich betrachtete den Kaiser am anderen Ende des Bootes, wo er ins Gespräch vertieft stand. Wie sollte ich den weisen Rat des Ibisses befolgen? Thanatos hatte recht, ich konnte nicht einfach vor dem Kaiser weglaufen, er hatte alle Macht, mich sofort wieder einfangen zu lassen. Meine Nägel bohrten sich in das Holz des Bootes.             Getrieben von Segeln und Rudern, kam es nur langsam gegen die Strömung voran, was mir genug Zeit ließ, die Ibisse am Ufer zu beobachten. Sie tranken von dem Wasser und ich fragte mich, ob auch das ein weiser Rat sein sollte. Irgendetwas mit dem Wasser des Nils. Vielleicht hatte es heilige Kräfte, die mir helfen konnten.             Wieder erschien Thoth zwischen den Ibissen, doch diesmal erschrak ich nicht. Er war kein bösartiger Gott, sondern ein Helfer und Begleiter. Ich musste keine Angst haben, auch nicht, als er mich anvisierte und winkte. Mich. Zu sich winkte. Gestikulierte, dass ich ... zu ihm ... kommen sollte ...             Und mit einem Mal verstand ich.             Das Rauschen in meinen Ohren erstarb und zum ersten Mal konnte ich die wispernden Stimmen vernehmen.             „Du wirst leiden“, sagte eine tiefe, männliche Stimme unter mir.             „Aber nur kurz“, sagte eine krächzende Stimme am Ufer. „Du wirst schnell bewusstlos werden. Trotzdem werden es die längsten, qualvollsten Momente deines ganzen Lebens.“             „Aber er“, sagte eine helle Frauenstimme irgendwo in meiner Nähe, „er wird leiden bis an sein Lebensende.“             „Und darüber hinaus. Sein Herz wird schwer sein“, sagte eine bellende Männerstimme von weit, weit her. „Deines leicht wie eine Feder.“             „Wer seid ihr?“, fragte ich in die Stille hinein.             „Ich dachte, das wüsstest du“, sagte Thanatos, der wieder neben mir erschienen war. Er streckte mir seine Hand entgegen, die Flügel angewinkelt. Und ich verstand, wer gesprochen hatte. Ich verstand, was sie sagten. Thoth hatte mich nie wirklich verfolgt. Er hatte nur gewartet.             Zusammen mit Thanatos.             Der schloss hinter mir stehend sanft seine Arme um meinen Brustkorb. „Du brauchst keine Angst zu haben“, hauchte er mir ins Ohr.             „Es ist viel zu früh für mich“, sagte ich mit trockener Kehle. „Ihr könnt mich zu nichts zwingen.“             „Wir wollen dich zu nichts zwingen“, sagte Thanatos. Er ließ mich los und setzte sich vor mir auf den Bootsrand. „Wir wollen dir nur helfen.“             Instinktiv wollte ich weglaufen – doch wohin? Zum Kaiser? Ich begann, mit den Fingern an meinem Nacken zu kratzen, wobei meine empfindliche, gereizte Haut einen vom Holz gesplitterten Nagel wahrnahm. Ohne darüber nachzudenken führte ich den Finger an den Mund, um den Nagel wieder in Form zu beißen.             Nicht der Ibis war der Anfang gewesen. Er ... er ... war die Finsternis ... der Ursprung ... bei ihm ... liefen alle Fäden zusammen ... Er hatte ... damals ... und auch jetzt ... Er war der Grund ...             „Antinoe, nicht“, sagte der Kaiser, der zu mir zurückgekehrt war. Er nahm meine Hand in seine, über die ein Blutrinnsal lief. „Man darf die Nägel niemals mit den Zähnen abbeißen“, belehrte er mich, ehe er meinen Finger an seine Lippen führte und seine Zunge das Blut von meinem Finger nahm.             Aller Atem war aus mir gewichen. Die blutroten Hallen. Das blutrote Gewand. Der blutrote Wein. Blut, Blut, Blut, überall Blut. Hatte ich die ganze Zeit recht gehabt? An diesen Händen klebte buchstäblich Blut. Und er ließ und ließ mich nicht los, stand dort, meine Hand in seiner, und trank mein Blut. Ich war erstarrt, obwohl mein Kopf schrie, dass ich rennen sollte. Aber wohin?             Er ließ von meinem Finger ab. „Nicht an den Nägeln kauen“, sagte er noch einmal, dann drehte er sich um und ging wieder das Boot entlang. Am Heck nahm er sein Gespräch wieder auf. Angeblich wollte er den Mann, mit dem er sprach, zum Nachfolger ernennen. Wie dem auch gewesen sein mochte. Mein feuchter Finger trocknete schnell im Fahrtwind auf dem Nil.             Und Thanatos nahm zärtlich meine Hand in seine, woraufhin ich einen Schritt auf ihn zuging. Ich schloss die Augen und lauschte den Stimmen, während er mir mit erstaunlich sanften Händen übers Haar fuhr, über die Wangen streichelte, sich seine Fingerkuppen über meinen Hals bewegten ... schließlich legte er seine Hand auf mein Herz.             Und ich fasste einen Entschluss.             Ich öffnete meine Augen und schaute in diejenigen des Thanatos. Er nickte, breitete die Flügel aus und verschwand geräuschlos vom Boot. Ich wandte mich um.             „Hadrian!“, rief ich, die Beine über den Rand geschwungen. Freudestrahlend winkte mir der Kaiser zu, ehe er begriff. Und so verband sich sein Moment des größten Glücks mit dem größten Unglück seines Lebens, als ich mich abstieß.             „Antinoe!“, hörte ich ihn ein letztes Mal rufen, bevor sich die Fluten über mir schlossen. Thoth hatte recht gehabt. Nie in all den Jahren, in denen ich mit dem Kaiser hatte schlafen müssen, hatte ich solch eine Folter erlebt. Die Wogen waren schwerer als gedacht, rissen meinen Kopf in die eine, den Rest meines Körpers in die andere Richtung, drohten, meine Schultern auszukugeln, ich schluckte Unmengen an Wasser, Osiris‘ Fluss war überall und zerriss mich beinahe schlimmer, als jede Harpyie es gekonnt hätte, Thanatos zog mich an meiner Tunika in Richtung des Grundes, meine Brust brannte, als ich trotz allem zu atmen versuchte, und schließlich, nach der längsten Ewigkeit in meinem Leben, erbarmte sich Thoth und schloss meine Augen.             Kein Antinoe mehr, kein deliciolae, nur noch ... Totenstille. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)