Antinoos von tobiiieee (Tod Auf Dem Nil) ================================================================================ Kapitel 5: Der Ibis ------------------- Rot. Gelb. Blau. Rot. Rote Säulen empfingen uns vor dem Tempel. Jede dritte Säule war rot. Es war das helle Rot von frisch spritzendem Blut, das den Arm herunter rinnt und vom leblosen Finger tropft, um sich in einer Pfütze zu sammeln, die, wenn man nicht so genau hinschaut, auch rote Tinte sein könnte.             Der Kaiser, in sein Imperatorengewand gehüllt, schritt vor mir die Stufen zum Tempel in Hermopolis hinauf. Ich seufzte und zögerte zu folgen. Ich warf Thanatos neben mir einen Blick zu, um ihn stumm zu fragen, was er dachte. Er raschelte mit den Flügeln und wies mit den Händen in Richtung des Tempeleingangs. Langsam setzte ich mich in Bewegung. Als ich einen Blick zurück auf Thanatos warf, war er verschwunden.             „Du bist so still, deliciolae“, sagte der Kaiser vergnügt, als ich zu ihm aufgeschlossen hatte. „Man bemerkt dich fast nicht.“ Ich murmelte, ich hätte schlecht geschlafen, wurde allerdings vom Priester unterbrochen, der dem Kaiser und seiner Entourage den Tempel zeigen durfte. Die erste Tafel erklärte die Entstehung des Kosmos, von Zeit und Raum, der Erde und allem, was vor den Göttern war.             „Die hier präsentierte Achtheit ...“, sagte der Priester, doch er verlor meine Aufmerksamkeit an einen stehenden Sekundenschlaf. An den Rücken des Kaisers gelehnt, hörte ich nur Fetzen: „ ... den Tag und die Frau ... erschaffen die Sterne ... der ursprüngliche Ozean ... Tenem und Tenemu ... schöpfte die Welt ... Der Tod ... holt die Seinen ... ZU SICH!“             Ich schreckte auf und sah mich panisch um. Unmöglich konnte der Priester diese letzten Worte gesagt haben. Auch Thanatos war nirgends zu sehen. Der Kaiser sah mich über seine Schulter an. „Bei dir alles in Ordnung?“, fragte er leise.             „Ich dachte nur ...“, murmelte ich. Als ich den Satz nicht beendete, wandte sich der Kaiser wieder nach vorne. Unsere kleine Gruppe bewegte sich weiter im Tempel vorwärts; ich achtete nicht auf die Worte des Priesters, sondern nahm jede Ecke und jeden Winkel des Tempelraums in Augenschein. Dadurch ging mein Blick überall hin, nur nicht auf die nächste Tafel, vor der alle so plötzlich stehen blieben, dass ich fast in den Kaiser hineingelaufen wäre. Auch ich wandte mich der Hieroglyphentafel zu. Mein Körper gefror trotz der ägyptischen Hitze.                       „Das ist“, stotterte ich ins Ohr des Kaisers, „das ist ein Ibis – oder?“             Der Kaiser nickte unauffällig und beäugte mich von der Seite. „Hercle, denkst du immer noch an diese Vogelschau vom letzten Monat?“             Ich versuchte trotz meines wieder trocken werdenden Mundes zu schlucken, und zuckte die Schultern. Der Kaiser verdrehte die Augen und richtete seine Aufmerksamkeit erneut auf den Priester. „Thoth nun“, sagte dieser, „ist ein Gott ...“             Aber ich konnte nicht zuhören. Mein Instinkt sagte mir, dass ich den Ort des Ibisgottes sofort verlassen musste. Ich trat einen gleichzeitig panischen und vorsichtigen Schritt zurück und als mich niemand zu beachten schien, entfernte ich mich rückwärts laufend von der Gruppe und rannte schließlich aus dem Tempel und die Stufen herunter, vor denen ich von Rastlosigkeit getrieben nichts tun konnte, als hin und her zu laufen. Meine Brust fühlte sich zu eng an; ich hatte Angst, nicht mehr atmen zu können, wenn ich anhielt. Ich musste weiter laufen, laufen, laufen. Doch gehen konnte ich nicht: Ich war an den Kaiser gebunden, dessen Fähre später ablegen und weiter den Nil herauffahren würde.             „Verzwickt, vertrackt, verdammt!“, murmelte ich vor mich hin. „Verzeihung, Herr“, sagte ich abwesend zu dem Mann, in den ich fast hineingelaufen wäre; ich wandte mich ab und begann gerade in die entgegengesetzte Richtung weiterzugehen, als ich in einer plötzlichen Erkenntnis herumwirbelte. „Du!“             Vor mir stand gar kein Mann. Er hatte zwar Beine, Arme und Rumpf wie ein Mann und trug die ägyptischen Kleider, aber der Kopf war der eines ... Ibis. Ich wich unwillkürlich zurück, unfähig zu noch größerem Horror, als ich ihn ohnehin schon erlebt hatte. „Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?“, wimmerte ich kraftlos, als ich, mir die Haare raufend, gegen die Tempelstufen stieß. „Ich kann nicht mehr! Du jagst meine Träume! Verfolgst mich am Tage! Du bist überall! Bitte! Bitte! Bitte lass mich einfach sein ...“             Tränenüberströmt sank ich auf die Tempelstufen nieder. Im Grunde konnte ich nicht einmal mehr Angst haben. Ich wusste, dass der Ibis für meinen grausamen, gewaltsamen Tod stand: Die beinahe missglückte Löwenjagd hatte mir das gezeigt. Doch so langsam fürchtete ich das Ereignis nicht mehr; vielmehr wünschte ich einfach, dass es endlich kam. Wie oft noch sollte mich der Wahnsinn des Pans überkommen, wie oft noch sollte ich schweißgebadet aus dem Schlaf fahren, sicher, dass irgendetwas oder irgendjemand im Zimmer war, der dort nicht hingehörte? Wie oft noch sollte mir der Ibis meinen nahenden Tod prophezeien? War er nicht langsam nah genug? Ich wünschte mir nur noch das Ende meines Leids, nicht mehr und nicht weniger, egal, wie.             „Was machst du?“ Ich schreckte aus meiner Verzweiflung hoch. Der Kaiser war an mich herangetreten. Ohne ein Wort zu sagen wies ich in die Richtung, aus der mich der Ibisgott beobachtete. „Tja, wenn du dem Priester zugehört hättest“, sagte der Kaiser, während er sich ächzend wie der alte Mann, der er war, zu mir auf die Steintreppen setzte, „wüsstest du, dass das ein fast 500 Jahre alter Obelisk ist, den der letzte Pharao Nakhthorheb gestiftet hat.“             „Wa–?“, machte ich. Und in der Tat, als ich auf die Stelle schaute, an der zuvor Thoth gestanden hatte, entdeckte ich dort nur einen Obelisken, verziert mit Hieroglyphen, darunter auch Ibisse, aber ganz sicher keinen Ibismann. „Aber –“, sagte ich fassungslos. „Da war –“             „Warum genau misst du dieser Vogelschau so viel Bedeutung bei?“, unterbrach mich der Kaiser. „Das ist nur ein Ritual, wer glaubt schon wirklich daran?“             Als wäre ich von meinem Körper getrennt worden, spürte ich, wie sich mein Kopf auf meinem Hals sehr, sehr langsam in Richtung des Kaisers drehte; ich fühlte förmlich, wie sich mein Gesicht in eine hässliche Fratze verzog mit einem manischen Grinsen, das nichts mit Freude zu tun hatte, sich blähenden Nasenflügeln und zu weit aufgerissenen Augen. „‚Wer glaubt schon daran‘?“, hörte ich meine eigene Stimme kreischen. Ich erhob mich und sah auf den Kaiser herab. „Hast du eine Ahnung, was ich seit einem Monat durchmache? Die ständige Angst bei jedem Schritt? Angst vor Einsamkeit und Angst vor Gruppen, Angst vor Tag und Angst vor Nacht, Angst drinnen, Angst draußen, und das alles wegen diesem Vogel! Warum misst du dem eigentlich keine Bedeutung bei?“             Der bebende Blick des Kaisers ruhte auf mir, als keine Worte mehr folgten und ich schwer atmend auf den Tempelstufen stand. Langsam erhob er sich und sein Schatten fiel auf mein Gesicht. „Vielleicht solltest du noch mal reingehen und mit dem Priester reden“, sagte er knapp. „Hör dir an, was er über Ibisse und Thoth zu sagen hat.“ Wir starrten einander ohne nachzugeben in die Augen. „Jetzt geh.“             Trotzig und ohne mich umzusehen ging ich am Kaiser vorbei in den Tempel zurück. Der Priester studierte noch immer die Tafel mit den Hieroglyphen und dem Ibisgott. „Ah, junger Mann, du kommst zurück“, begrüßte er mich. „Ich dachte mir doch, dass du mehr über Thoth hören möchtest.“             „Teilweise“, sagte ich. Ich hatte einen Entschluss gefasst. „Ich sehe überall, egal, wo ich hingehe, einen Ibis. Was mag das bedeuten? Ich hoffe, wenn ich irgendwo eine Antwort darauf bekommen kann, dann doch wohl hier.“             Der Priester bewegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Der Ibis hat viele Bedeutungen. Er steht für Wiedergeburt, Schrift und Wissen, für Zusammenarbeit, aber auch für Urteil –“             „Er ist – kein Todesomen?“, fragte ich fassungslos.             „Bei allen Göttern, nein!“, sagte der Priester lachend. „Wie kommst du darauf?“             „Was ist Thoth für ein Gott?“             „In erster Linie der Gott des Mondes und der Schrift, wer immer ein Werk verfasst, opfert zuvor Thoth Wasser aus dem Schreibfass. Er deckt sich mit eurem Hermes.“             „Herm...?“ Ich war kaum in der Lage zu sprechen. „Deswegen Hermopolis.“ Der Priester nickte begeistert. „Aber ... was ... sehe ich dann?“             „Das kann dir vielleicht ein Orakel beantworten“, sagte der Priester. „Das des Ammon unter Umständen. Oder das des Apollon, wenn du das bevorzugst.“             Mir wurde schwindelig. „Der Ibis möchte mir nicht meinen Tod verkünden?“             „Thoth ist jedoch anwesend, wenn die Herzen der Toten gewogen werden, das heißt, er ist durchaus Teil der Sphäre des Todes, so wie Hermes die Seelen der Toten in die Unterwelt geleitet“, warnte er mich. „Von den Göttern verfolgt zu werden ist nie ein gutes Zeichen, egal, von welchen.“             Trotz seiner warnenden Worte verließ ich leichten Schrittes den Tempel. „Hast du dich wieder beruhigt?“, fragte mich der Kaiser von oben herab. Mit einem Zucken meiner Schultern gab ich ein unbestimmtes Ja zur Antwort. „Gut.“ Der Kaiser verdrehte erneut die Augen und wir machten uns auf den Weg zu unserem Quartier für die Nacht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)