Gesangstalent von Yuri_Prigio ================================================================================ Kapitel 1: Die Nachricht ------------------------ „Nein!“, Enyas Blick sprang geschockt zwischen ihren Eltern hin und her. „Nein, Nein, Nein!“ „Liebes, beruhige dich. Das ist eine große Ehre“, versuchte Enyas Mutter ihre Tochter mit weichem Tonfall zu beruhigen. Ja eine sehr große Ehre. Das wusste Enya natürlich. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie sie angelogen hatten! Ihre eigenen Eltern! Der Kloß in ihrem Hals wurde zunehmend schwerer und sie spürte wie sich die Wut in ihrem Bauch mit der aufsteigenden Panik vermischte. Enya ließ sich auf ihre Kuschelkorallen fallen. Sie hatte Mühe ihren Atem ruhig zu halten, da ihr Herz ihr fast aus der Brust sprang. Die Schuppen ihres Fischschwanzes blinkten hektisch zwischen aggressivem Rot und einem ungesunden Algengrün. Ihre rosigen Haarsträhnen schwebten langsam auf und ab. „Mama, Papa. Ihr habt gesagt, der Gesangsunterricht wäre nur zur allgemeinen Bildung gedacht. Damit ich in Musik alles Wissenswerte beherrsche. Habt ihr mir nicht sogar noch vor 20 Monden versprochen, dass ich niemals vor Publikum singen müsse, wenn ich das nicht möchte?“ „Ja das stimmt Liebes, aber bedenke doch, was das für eine Riesenchance ist. Nicht nur die Erfahrungen, die du sammeln wirst, werden dich ewig begleiten. Diese Chance wirst du nur einmal in deinem Leben bekommen. Es ist immerhin die Zeremonie des Lebens!“ Die Zeremonie des Lebens findet jedes Jahr statt, um die friedliche Verbindung der Lebewesen zu Land und zu Wasser zu gedenken. Auf der heiligen Stätte allen Lebens. Umringt von Pflanzen beider Welten werden Konzerte und Lesungen abgehalten. Früher waren wohl auch Menschen aus der Oberwelt dabei, aber das ist schon lange her. Eröffnet wird die Zeremonie mit dem berühmten Solo eines oder einer Künstlerin, welche von den verschiedenen Königspaaren der Meere ernannt wird. Dieses Jahr war das Königreich des Meeres, in welchem Enya mit ihrer Familie lebte, an der Reihe den Künstler zu bestimmen. „Stell dir doch nur mal vor. Du auf der Bühne, alle Blicke auf dich gerichtet. Du wirst fantastisch aussehen und alle mit deinem Gesang und Gefühlen verbinden. Oh was haltet ihr von den Farben Tiefseeblau und helles Violett? Deine Schuppen würden fantastisch aussehen!“, schwärmte ihre Mutter. „Ich will nicht!“, murmelte Enya verzweifelt. „Ich finde so langsam reicht dein Aufstand. Du stellst dich vielleicht an!“ Der Tonfall ihres Vaters war nicht so weich, wie der ihrer Mutter. Er war sauer. „Aber Papa. Ich will das Solo nicht singen!“ Enyas Blick traf genau den seinen. Es tat ihr weh, sie hasste es, sich mit ihren Eltern zu streiten. Doch der eisenharte Blick ihres Vaters spitzte sich zu. „Junge Dame, es reicht!“, erhob ihr Vater mit lauter werdendem Tonfall seine Stimme, wodurch auch Enyas Mutter mit aufschreckte, „Du bist eine fantastische Sängerin, noch dazu unsere Tochter. Die Tochter des Hofkomponisten und einer sehr erfolgreichen Sopransängerin. Wir selbst haben dich dem Königspaar für die Zeremonie empfohlen. Dafür ausgewählt zu werden ist eine unglaubliche Ehre, die du offenbar noch nicht begreifst. Nicht nur für dich, sondern für unsere ganze Familie. Du wirst singen! Keine Wiederrede!“ „Aber Papa…“, Enya kämpfte mit den Tränen. „Kein Aber mehr. Die Proben beginnen morgen früh. Die Zeremonie ist in drei Tagen. Wehe du kommst auch nur einmal zu spät, hast du das verstanden?“ „Ja, Papa.“ Fast versagte ihr die Stimme. Ohne aufzublicken, schwamm Enya an ihren Eltern vorbei. „Schatz, warst du nicht etwas zu hart zu ihr?“ „Nein. Wie soll sie denn sonst Verantwortung lernen?“ Enyas Tränen vermischten sich mit der kalten Strömung, durch welche sie schwamm. Ihre kurzen Haare fielen ihr ständig vor die Augen, aber das war ihr egal. Sie wollte nur noch weg und allein sein. Sie verspürte das Verlangen sich in ein Loch zu verkriechen und in ihrem Kummer zu ertrinken, am besten für immer. Als sie das Riff erreichte, hielt sie inne. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und strich ihre Haare zur Seite. Ihr Blick richtete sich auf das Korallenfeld vor ihr. Die roten und rosa Töne verschmolzen, die Tränen waren zurück. Die Schuppen ihres Fischschwanzes nahmen abwechselnd die Farben von tiefem Trauerschwarz und depressivem Blaugrau an. Meermenschen, die noch nicht volljährig sind, können die Farben ihrer Fischschwänze noch nicht richtig kontrollieren. Doch je älter man wird, desto mehr Kontrolle gewinnt man darüber. Manche verfärben sich nach Emotionen, manche nach Tageszeiten. Die meisten Erwachsenen kleiden sich trotzdem immer in gedeckten Farben, als wären grelle Töne zu auffällig. Selbst ihre Eltern, die engagierten Musiker, tragen kaum andere Farben als Grau, Dunkelblau oder Weiß mit Schwarz. So wie sich das eben gehört. Einzig die Ehrenschuppen in goldener Farbe trägt ihr Vater mit Stolz. Die repräsentiert schließlich seine respektable Stellung am Hofe. Enya legte sich mitten in die Korallen auf den Rücken und verdeckte ihre Augen mit ihrem Arm. Nach wenigen Augenblicken konnte sie wieder erste klare Gedanken sammeln. Ihre Hand auf den Anemonen zur Linken abgelegt und die andere auf ihrer Stirn, blickte sie zur Wasseroberfläche und beobachtete wie das Licht glitzerte. Der Tanz aus Licht und Wasser beruhigte sie langsam. Warum war ihren Eltern das bloß so wichtig? Enya verstand die Welt nicht mehr. Sie hatte das Singen noch nie so wirklich gemocht, und das wussten sie. Zum Unterricht konnten sie ihre Tochter nur überreden, indem sie sie im Glauben ließen, das wäre für ihre gesamtmusikalische Ausbildung von Nutzen. Mehr nicht. Viel lieber beschäftigte sich Enya aber mit Harfenmusik. „Veraltet und langweilig“, wie ihr Vater dazu sagte. Kaum jemand aus ihrem Volk beherrsche die Harfe noch, sie sei ein Überbleibsel von vergangenen Zeiten. Dabei liebte Enya ihren sanften Klang, die Verspieltheit der Saiten, die elegante Schönheit des Instruments. Früher soll es Harfen in vielen verschiedenen Größen gegeben haben, die Gängigste kaum größer als eine Jakobsmuschel. Doch auf alten Zeichnungen sah man auch welche so groß wie Rochen oder Delfine. Enyas kleine Harfe war ein Geschenk ihres Großvaters gewesen, er hatte sich nie über Harfenmusik lustig gemacht. Er hatte sie selbst bis in sein hohes Alter hineingespielt. Ihre Großeltern besaßen sogar eine der seltenen größeren Ausgaben. Wenn ihre Eltern nicht da waren, brachten sie Enya bei, darauf zu musizieren. Sie erinnerte sich gerne an die tollsten Märchen, welche ihr Großvater dazu zu erzählen hatte. Mit Magie und Zauberei sollen ihre Vorfahren Ungeheuer bezwungen oder sie mithilfe bestimmter Melodien kontrolliert haben. An diese Zeit dachte Enya gerne zurück. „Hätte ich meine Harfe doch nur mitgenommen“, stöhnte Enya. Sie hätte jetzt gerne ein paar Melodien gespielt. Danach fühlte sie sich immer besser. Was sollte sie jetzt bloß tun? Allein beim Gedanken an das Konzert, schnürte Panik ihr den Hals zu. „Hi Enya, was lässt du deine Flossen denn hier so hängen?“ „Delf, zum Glück hast du mich hier gefunden.“ Enya streckte ihre Arme nach ihrem Freund aus. Der kleine Falterfisch machte es sich in Enyas Handfläche bequem, nachdem er sich in ihren schimmernden blassblauen Schuppen begutachtet hatte. „Deine Augen sind ja ganz rot, was ist geschehen?“ Enya berichtete ihm vom Streit mit ihren Eltern. „Das ist ja wohl die Höhe! Was erdreisten die sich? Erst ködern sie dich mit diesem unnötigen Gesangsunterricht und jetzt diese Unverschämtheit? Sie wissen doch um dein Lampenfieber am besten Bescheid. Na, denen werde ich mal was erzählen!“ Delf wirbelte rasend im Kreis umher, die Luftblasen kitzelten Enya im Gesicht. „Lass das lieber, mein Vater würde dich doch nur mit seinem Muschelplektrum verwechseln.“ Enyas Laune verfinsterte sich weiter, „Ich habe keine andere Wahl, ich muss zu den Proben und ich muss auf dieser Zeremonie singen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)