Vom Zauber einer orientlischen Nacht von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 1: Glossar ------------------ Akkadisch Erste semitische Sprache, die durch Inschriften (zumeist auf Tontafeln) seit Mitte des 3.Jt. v.d.Zt. belegt ist. Sie wurde – ebenso wie das Sumerische – mittels Keilschriftzeichen wiedergegeben. Assyriologie Studienfach, das sich mit den Sprachen des Alten Orients befasst, als da wären: Sumerisch, Akkadisch, Hurritisch, Hethitisch …   Babylon Antike Stadt, die am Anfang des 2. Jt. v.d.Zt. unter Hammurapi I. ihre erste Hochphase hatte. Ihre zweite Hochzeit erlebte sie unter Newuchadrezzar II., der im 6. Jh. v.d.Zt. regierte und von dessen Potenz nicht nur zahlreiche Bauten, darunter das Ischtartor, der Palast, die Ziqqurat zeugen, sondern auch die Bibel, die ihn mit dem sog. Babylonischen Exil verbindet. Soll heißen: er zerstörte u.a. Jerusalem und führte die Bevölkerung dieses Landstrichs ab 598 v.d.Zt. nach Babylon.   Eme-Sal Ein sumerischer Soziolekt, der ab dem 2.Jt. v.d.Zt. v.a. in Texten greifbar wird, in denen weibliche Wesen (Frauen, Göttinnen) sprechen. Er ist mit dem normalen Neusumerisch (eme-gir) zwar verwandt, unterscheidet sich aber auch durch eine teilweise andere Grammatik und vollkommen neue Vokabeln.   Enki Schöpfergott und Hauptgott von Eridu. Seine Wohnstatt ist der Urozean, der Aspu, aus dem alles Leben hervorgeht.   Eridu Antike, über 6.000 Jahre alte Stadt im Süden Mesopotamiens,im heutigen Süd-Irak, gelegen. Hauptgott war der Schöpfergott Enki (sumerisch: Herr der Welt). Laut einem Mythos hat in Eridu mit dem Herabstieg des Königtums vom Himmel auf die Erde die Geschichte begonnen.   Historisch-Kritische Methode Diese Methode ist eigens dazu entwickelt worden, um die Entstehungsgeschichte biblischer Texte rekonstruieren zu können. Vielleicht sind euch beim Lesen einiger biblischer Passagen / Geschichten schon einmal Dopplungen und Widersprüche aufgefallen - oder auch Stilbrüche? Diese können manchmal - ABER nicht immer!!! - damit erklärt werden, dass dieser Text nicht von einem, sondern von mehreren - oftmals zu unterschiedlichen Zeiten lebenden - Autoren verfasst und gestaltet wurde. Ein Beispiel stellen die beiden Schöpfungsberichte dar. Warum gibt es zwei mit so unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, wenn es doch nur eine Schöpfung gab? Oder lest die Sintflutgeschichte (Gen 6-9) mal aufmerksam und euch werden ziemlich viele Brüche, Dopplungen und Widersprüche auffallen. Könnt ihr die vielleicht erklären? Im Grunde ist es ganz einfach ... ;-) Diese Methode ist zwar, wie ich schrieb, zur Erforschung der biblischen Schriften entwickelt worden, kann aber auch - und das wird in neueren Forschungen getan - auf andere Texte, im Grunde auf JEDEN Text angewendet werden, so auch, wie hier, in dieser Geschichte auf uralte sumerische.   Jt. v.d.Zt / Jh. v.d.Zt. Diese Abkürzungen lesen sich "Jahrtausend bzw. Jahrhundert vor der Zeitenwende". Und was genau ist nun bspw. mit dem 3. Jt.v.d.Zt. gemeint? Ganz einfach, die Zeitspanne zwischen 2.999 und 2.000 v.d.Zt., also exakt diese 999 Jahre. ;-)   Kassiten, die Ein Volk, das ca. ab dem 16. Jh.v.d.Zt. vom Zagros-Gebirge kommend nach Babylonien (heutiger Süd-Irak, auch Mesopotamien genannt) eindringt, um dort im 15. Jh.v.d.Zt. über mindestens 400 Jahre lang die Herrschaft auszuüben. Kennzeichen der Kassiten war deren augenscheinliche Integration, wenn nicht sogar Assimilation in den für sie fremden Kulturbereich. Sie stellen damit ein sehr gutes Beispiel für antike Migration, Kultur- und schließlich Machtübernahme dar.   Newuchadrezzar II. Neubabylonischer König (6. Jh.v.d.Zt.), der v.a. durch seine imposanten Bauten in Babylon (Ischtar-Tor, Marduktempel [Ziqqurrrat] und Palast) sowie das sog. Babylonische Exil (Bibel, vgl. bspw. Jeremia) bekannt geworden ist.   Seleukische Zeit Benannt nach Seleukos I., einem Nachfolger Alexanders des Großen, der 312 vor der Zeitenwende (v.d.Zt.) Babylon einnahm und Herrscher über den gesamten Alten Orient wurde. Die Zeit der Seleukiden währte bis zum Ende des ersten Jahrhunderts v.d.Zt.   Sinkaschid Altbabylonischer König (19. Jh.v.d.Zt.), der v.a. durch seinen Palast in Uruk bekannt geworden ist.   Rollsiegel Ein Rollsiegel ist ein meist ein bis drei Zentrimeter großer Zylinder aus (Edel-)Stein, der mit Gravuren versehen war. In den meisten Fällen diente es als Prestigeobjekt und nannte den Namen des Eigentümers, dessen sozielen Stand u.ä. Das RS wurde an einer Schnur um den Hals getragen. In Mesopotamien ist das RS seit dem 4. Jt.v.d.Zt. weit verbreitet und dient v.a. auch zur Siegelung von Urkunden sowie als Eigentumsvermerk. Ein Beispiel ist hier zu sehen   Sumerisch oder Eme-Gir Weltweit die erste, durch Inschriften (auf Tontafeln) greifbare Sprache überhaupt. Sie ist ab Ende des 4. Jt. V.d.Zt. belegt, Neusumerisch ab dem 3. Jt. V.d.Zt.   Uruk Antike, über 6.000 Jahre alte Stadt, ehedem am Euphrat, in der sog. Schwemmlandebene im heutigen Süd-Irak gelegen. Berühmt ist die Stadt 1) durch ihre Erwähnung im Gilgamesch-Epos, 2) durch seine imposanten Bauten, die von der reichen Architektur der sumerischen Kultur zeugen, 3) durch die Tatsache, dass hier zum ersten Mal am Ende des 4. Jt.v.d.Zt. die Schrift nachgewiesen wurde und die Stadt somit als "Erfinderin der Schrift" gilt. Die Sprache, die hier verschriftlicht zu sein scheint, ist wohl das Sumerische, eine mit keiner anderen toten oder noch gesprochenen Sprache verwandt ist. Hauptgötter der Stadt Uruk waren Anu, der Himmelsgott, und Inanna / Ischtar, die Kriegs- und Liebesgöttin.   Vorderasiatische Altertumskunde Studienfach, das sich mit der Geschichte und der (materiellen) Kultur des Alten Orients (Mesopotamien) befasst.   Weißer Tempel Der sog. Weiße Tempel befindet sich auf einer 12m hohen Ziqqurat im Kult- und Tempelbezirks von Uruk und ist eines der am besten erhaltenen Bauten. Seinen Namen erhielt er durch seine weißgetünchten Wände. Vorgängerbauten datieren bis tief ins 4.000 Jt. v.d. Zt.; sein Zweck, dem Himmelsgott An als Tempel zu dienen, konnte jedoch erst für die seleukidische Zeit sicher nachgewiesen werden. Da man aber aus schriftlichen Quellen weiß, dass An (neben Inanna/Ischtar) einer der Hauptgötter Uruks war, geht man davon aus, dass sich an dieser Stelle auch schon immer sein Tempel befunden hatte - hoch erhoben über der Stadt, wie es einem Himmelsgott zukommt.   Wohnhaus, typisch für den Alten Orient Um einen Eindruck von der Wohnhausarchitekur des Alten Orients zu erhalten, solltet ihr auf http://www.artefacts-berlin.de klicken. Hier seht ihr die Rekonstruktion eines sog. Hofhauses, das aus Lehmziegeln erbaut war. Von einem zentralen Hof gingen zahlreiche - überdachte - Räume ab, in denen die Familie, bestehend aus mehreren Generationen, lebte. Der Grundriss dieses Hauses wurde nicht in Uruk sondern in einer von der Urukkultur beeinflussten Siedlungen namens Habuba Kabira (im heutigen Syrien) freigelegt. Doch er kann, so viel wissen die Archäologen heute, stellvertretend für die Wohnhausarchitektur des AO betrachtet werden. Kurzum: es ist vorstellbar, dass in solch einem Haus auch die in dieser Geschichte auftauchenden Tontafeln gefunden wurden. ;-) Und ich brauche wohl nicht eigens zu erwähnen, dass solch ein Haus von einer reicheren - und somit auch gebildeteren - Gesellschaftsschicht bewohnt wurde.   Ziqqurrat Ein, in fast jeder Stadt im antiken Mesopotamien (vgl. Babylon, Uruk, Eridu, Ur) anzutreffender Turm, der der Form nach an eine ägyptische Pyramide erinnert, jedoch nicht als Königsgrab dient, sondern als Tempel für den jeweiligen Stadtgott.   Kapitel 2: Du mit "U" --------------------- Er war mir sofort aufgefallen: wie er da so saß, eine Reihe hinter mir, in seinem roten Strickpullover und der Jeans. Die langen Beine hatte er zum Gang hin ausgestreckt, das Kinn in die Hand gestützt und den Blick auf das vor ihm liegende Heft gerichtet. Ab und an aber sah er auf und ich konnte seine Augen hinter der randlosen Brille sehen. Braune Augen – darauf mochte ich wetten. Braun und wach dreinblickend. Manchmal reckte er sich für einen Moment vor und kniff die Augen etwas zusammen, so als wolle er das Gesagte genauestens verstehen, ehe er sich wieder seinem Heft zuwandte, in das er sich, wie ich vermutete, Notizen machte … Das war der erste Abend dieser Konferenz gewesen, an der ich – gerade mit meinem Archäologie-Studium fertig – hatte teilnehmen wollen, auch, um neue Kontakte zu knüpfen und alte aufzufrischen. Die Vorträge dauerten alle 30 Minuten, mit anschließender Diskussion. Es ließ sich gut an. Und ich, ich war hochkonzentriert beim ersten Vortrag und auch beim zweiten und machte mir fleißig Notizen. Dann aber drehte ich mich während es dritten um. Vielleicht sah ich ja bekannte Gesichter? Dem war nicht so, jedenfalls nicht an diesem Abend. Stattdessen bemerkte ich ihn. Und schon in diesem Moment durchfuhr es mich und ich verspürte augenblicklich den Wunsch, ihn einfach nur noch zu betrachten. Doch rasch wurde mir bewusst, dass zu langes Starren auffällig wäre. Also drehte ich mich immer mal wieder rein zufällig um oder versuchte, so unauffällig wie möglich, über meine Schultern zu ihm hinüber zu sehen. Denn: Da war was, das wusste ich. Genau mein Typ, der Kerl, mit seinen kurzen grauen Haaren, dem schmalen Gesicht, der geraden Nase und der sportlich-schlanken Figur. Ich schätzte ihn auf Mitte 50, obwohl er viel jünger wirkte. Kurz: ich wollte ihn unbedingt kennenlernen! Nur wie, verdammt noch einmal? „Gut“, sagte ich mir, „eine 4tägige Konferenz bietet Möglichkeiten, miteinander ins Gespräch zu kommen.“ … Ja, ganz sicher für einen normaltickenden Menschen. Doch wenn man sich in der Kaffeepause, die ja gerade dazu diente, neue Kontakte zu knüpfen und alte aufzufrischen, an einen Tisch in der hintersten Ecke stellt und sich dann von einem überalterten Professor über seine Kindheit und Jugend zutexten lässt, ohne auch nur die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, aus der Defensive hervorzukommen, dann könnte die Konferenz ein ganzes Jahr dauern und nichts würde sich an der Kennenlern-Front tun. Ich war einfach viel zu schüchtern. Lieber ließ ich mich bequatschen als selbst anzuquatschen. Zwei Tage gingen so ins Land. Er trug noch immer diesen unübersehbar roten Strickpullover und die, wie ich mittlerweile festgestellt hatte, gut sitzende Jeans, und ich stand wieder in der hintersten Ecke, an einem der Kaffeetische, beobachtete ihn und traute mich nicht. „Es kann ja wohl nicht so stark sein, dieses Gefühl“, sagte ich mir, „wenn du nichts unternimmst, blöde Kuh!“ Aber da irrte ich mich gewaltig, denn meine Träume flüsterten mir anderes zu. Und das nicht etwa nur in der Nacht … Nein! Kaum saß ich nach einer Kaffeepause am anderen Tag wieder an meinem Platz und befingerte meine Mitschriften, die, obwohl ich von meiner Chefin den Auftrag erhalten hatte, ihr ein Protokoll zu jedem(!) Vortrag zu schreiben, äußert mager ausfielen …, kaum wusste ich ihn wieder hinter mir, kaum wurde das Licht gedimmt, um dem neuen Vortragenden die Möglichkeit zu geben, seine Powerpoint im angenehmen Halbdunkel zu präsentieren, da … … da spürte ich seine Hand auf meiner Schulter. Ich drehte mich um, fand seinen Blick. Und er, er strich mir mit dem Finger über die Wange … „Na?“ Um seinen Mund zuckte es. … und dann waren wir auch schon in meinem Zimmer und natürlich war für uns das Bett das größte Möbel im Raum. Er hinter mir kniend, mich umarmend, streichelnd, mir Dinge ins Ohr flüsternd. Und wenn ich mich zu ihm umwandte, berührten sich unsere Lippen nur einen Wimpernschlag lang. Und in mir stieg das Verlangen, ihn richtig zu küssen, ihn zu kosten, in Leidenschaft mit ihm zu verschmelzen, doch nein, dieses köstliche Spiel, diese Ahnung dessen, was kommen würde, wollte ich noch nicht aufgeben. Immer und immer wieder berührten sich unsere Lippen ganz leicht und jedes Mal war es mir so, als ginge ein Stromstoß durch meinen ganzen Körper. Dann flüsterte er: „Leg dich hin.“ Und ich tat’s. „Auf den Bauch.“ Und er begann mich zu streicheln, solange, bis ich es nicht mehr aushielt und mich zu ihm umwandte.   „Komm“, hauchte ich. Er legte sich neben mich und wir sahen uns einfach nur an … „Du“, flüsterte ich und er lächelte. … Ja, so gingen meine Gedanken, bereiteten mir Schmetterlinge im Bauch, aber an der Erfüllung dieser Gefühle arbeitete ich nicht. Ich war bisher noch nicht einmal auf die Idee gekommen, seinen Namen zu erfahren. Und das wäre ganz leicht gewesen, stand er doch auf einem Schildchen, das er, wie jeder Kongressteilnehmer, an der Brust trug. Aber traute ich mich, ihm so lange dahin zu starren, wie ich benötigte, um seinen Namen aus einer Entfernung von mehreren Metern zu entziffern? Selbstverständlich nicht. Und so blieb er vorerst der Unbekannte …   … mein schöner Unbekannter, der mich in seinen Armen hielt, mir Küsse auf die Wange hauchte und der schließlich mit mir schlief – sacht, zärtlich, ein erstes Kennenlernen, das der kommenden Leidenschaft noch nicht gewachsen war. Ich saß im Konferenzraum wie ein Klops, konnte mich weder auf die Vorträge konzentrieren, noch tat ich einen Schritt in die Richtung, aus der ich mir so viel mehr erhoffte als ein Gespräch bei einem Kaffee in der Pause. Ich verfluchte mich dafür selbst, so tatenlos und schwerfällig zu sein. Doch was nützte es, mir zu sagen, die Natur würde an mir vorbeilaufen und mich nie anschauen. Nie anschauen? Sein Blick ging tatsächlich immer an mir vorbei, obwohl ich mir Mühe gab, immer dann nach hinten zu sehen, wenn er den Kopf hob. Aber so, als hätten wir uns darüber geeinigt, dass er mich ignorierte, streifte er mich noch nicht einmal mit Blicken. Es war zum … … und dabei hätte vielleicht ein Wort, ja sogar ein Lächeln genügt. Aber nein, wann immer er in den Pausen in meiner Nähe war – und das kam während dieser 4 Tage äußerst selten vor – senkte ich den Blick und wenn ich das nicht rechtzeitig genug fertigbrachte, versteinerte sich zumindest meine Miene. Er bekam von all dem sowieso nichts mit, denn entweder wurde er von einem Kongressteilnehmer angesprochen oder er sah einfach durch mich hindurch. Es war zum Schulterzucken und Abwinken und Heulen. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass es mir schon immer so ergangen war. Kaum gefiel mir einer, ging ich in den Standby-Modus über oder scharte stattdessen Männer um mich, die mich nicht interessierten – wie eben diesen überalterten Professor, der mir, einmal ins Reden gekommen, seine ganze Lebensgeschichte erzählte. Sonst tröstete ich mich über meine Unfähigkeit hinweg. Ich war eben so, musste damit leben, nicht bemerkt zu werden. Für alle reichte es eben nicht … bla bla bla … Aber diesmal nagte es in mir, weil ich spürte, dass mir der Typ wirklich gefiel. Allein schon wie er sich bewegte, so locker, so gewandt und dann wie er sprach, seine Stimme, die mir so rau in den Ohren klang. Ja selbst seine mühsam hervorgebrachte Frage an einen französischen Referenten bereitete mir eine Gänsehaut: „Djö futrä savoar …“ Aber mehr noch als das, ließ mich die Tatsache wohlig schaudern, dass mich die gleiche Frage wie ihn bewegt hatte und ich drehte mich um und sprach sie im Geiste mit. Auf die Antwort des Vortragenden konnte ich mich allerdings nicht konzentrieren, dafür zwang ich mich endlich dazu, ihm genau auf die Brust zu schauen und endlich herauszufinden, dass sein Vorname mit einem „U“ begann. Uwe? Als ich mich wieder nach vorn umdrehte, fing ich den grinsenden Blick eines anderen Mannes auf. Verdammt! War ich ertappt und entlarvt worden? … Nur nicht von meinem U., der die Seiten seines Heftes mit solch Akkuratesse umzublättern pflegte, dass ich meinen Blick nicht von seinen schlanken Händen lassen konnte, obwohl ich wusste, dass mich der andere noch immer musterte. Und weiter gings … … wieder trafen wir uns in meinem Hotelzimmer. Wir fassten uns bei den Händen, setzten uns aufs Bett. Und dann begann er mich zu küssen, ganz einfach so. Leicht, fast fragend, obwohl wir das Lager schon einmal miteinander geteilt hatten. Und ich schmiegte mich an ihn, lehnte meinen Kopf an seine Schulter. „U“, murmelte ich. „Saschka …“ Unsere Lippen fanden sich und ich schlang meine Arme um seine Hals. „Na“, flüsterte er und zog eine Augenbrauche hoch. „Bitte.“ „Entspann dich.“ Ich nickte, ließ mich aufs Bett gleiten, er über mir, sah mir in die Augen. In der Pause sah ich ihn beim Buchstand. Er unterhielt sich mit dem Verkäufer, wirkte mit dem sehr vertraut, wie er so gestikulierte und lachte. „Los jetzt!“, mahnte ich mich selbst, „wenn nicht jetzt, wann dann? So eine Chance erhältst du nie wieder!“ Unter starkem Herzklopfen machte ich mich auf, den Raum zu durchqueren, mein Ziel vor Augen. Und ich hatte sogar einen Plan: ich würde so tun, als besähe ich mir die Bücher, von denen ich noch nicht einmal die Titel mitbekam, und tastete mich langsam vor, bis …bis ich tatsächlich neben ihm stand und er, mich bemerkend, auswich, ohne sich in seinem Gespräch stören zu lassen. Ich sah, wie er sein Gegenüber anlachte. Sah auch seine Grübchen um den Mund und seine großen weißen Zähne. „Ja, ich gehe noch immer wandern“, hörte ich ihn sagen, „und ich nehme mir dazu immer Energie-Riegel mit …“ „Ich auch“, hörte ich den anderen erwidern. Und wieder lachten beide Männer einander an. Und ich, ich wusste, dass ich hier, zwischen diesen beiden, nicht ewig würde stehen können. Ganz unmöglich, so lange für das Durchblättern eines Buches zu benötigen. Auch wenn es doch dick war. Also gab ich mir einen Ruck, legte das Buch zurück und erhaschte im Vorbeigehen tatsächlich einen Blick auf sein Namensschild und bekam so einen Schreck, dass ich seinen Namen kaum erfassen konnte. Da reihte sich Buchstabe an Buchstabe … U … L Ich war wie geblendet und musste mich richtiggehend zwingen, in diesem winzigen Moment, da ich an ihm vorbeiging, ein R an das U und das L zu reihen. ULR … Vielleicht half mir mein überhitztes Hirn doch dabei, seinen Vornamen schließlich herauszukommen, indem es mir bewies, dass es im Grunde nur einen gebräuchlichen deutschen Männernamen mit dieser Buchstabenkombination am Anfang gab, nämlich ULRICH. Und jetzt noch schnell den Nachnamen. Los, jetzt! „H E N S“, buchstabierte ich, ehe er sich abrupt umwandte. Doch das, was ich erfahren hatte, genügte, um uns in der nächsten Vortragsstaffel wieder in meinem Bett zu sehen … … er über mir, beugte sich hinab, hauchte mir einen Kuss auf die Stirn, die Nasenspitze. Und ich umfasste seine Oberarme. Sie waren muskulös, so wie sie einem gut durchtrainierten Sportler entsprachen. „Ulrich.“ „Saschka.“ Er kam mir näher, so nah. Ich spürte ihn, schloss die Augen und dann, dann hörte ich mich einen Laut ausstoßen. „Tscht“, machte er, „ganz ruhig, oder willst du die anderen daran teilhaben lassen?“   Ich konnte nichts erwidern, sah ihn nur an. Aus Angst, seinen Namen wieder zu vergessen, notierte ich ihn mir unauffällig auf einem kleinen Zettel in Spiegelschrift, damit es niemand anderes lesen konnte. ULRICH  HENSEL Ich war stolz auf mich, aber im nächsten Moment fragte ich mich, was ich damit anfangen sollte. Klar, ich würde daheim nach ihm im Internet forschen, aber dann? Sollte er tatsächlich – wie all die anderen auch – zu einer meiner unerreichbaren Chimären werden? Das war früher ja ganz nett gewesen, aber war ich für solch unerfüllte Träumereien nicht schon etwas zu alt? In meinem Zimmer betrachtete ich mich im Spiegel, sah die schlanke, kleine Frau, die da in ihrer feinen Kongress-Kluft und der runden Brille auf der Nase vor mir stand. Hässlich war sie nicht, nur zu schüchtern.   Ich presste die Lippen fest aufeinander, sah mir tief in die Augen und schüttelte den Kopf. Und dann kam in mir die Frage hoch, wie ich das anstellen sollte. Ihn ansprechen? „Herr Hensel, könnten Sie mir …“ oder: „Herr Hensel, ich bin Sascha Lorach …“ oder: „Was ist eigentlich Ihr Forschungsschwerpunkt?“ Unmöglich! Das würde ich mich nie trauen. Schon genug damit, dass ich die letzten beiden Buchstaben seines Nachnamens herausgefunden hatte. Blut und Wasser hatte ich dabei geschwitzt, als ich mich länger als sonst zu ihm umgedreht hatte. Mindestens 5 Minuten, so schien es mir, hatte ich dafür gebracht. Aber dafür … … hatte ich in der übernächsten Staffel wieder neben ihm in meinem Bett gelegen, vollkommen verschwitzt und erschöpft … nur einschlafen wollend, in seinen Armen … Wie also würde ich an ihn herankommen können? Wie? Ich zermarterte mir den gesamten dritten Tag das Hirn, folgte ihm immer mit Blicken. Ganz egal, dass der Typ, der mich gestern noch angegrinst hatte, wieder in meiner Nähe saß und mich beobachtete. Egal, egal, egal, ich hatte nichts zu verlieren. Als ich am nächsten Morgen erwachte und mir bewusst wurde, dass der vierte Tag angebrochen war und die Veranstaltung heute um die Mittagszeit enden würde, spürte ich eine leise Verzweiflung in mir. Sollte, ja konnte ich wenigstens einmal über meinen Schatten springen und einen fremden Mann einfach so ansprechen? Die Gelegenheit dazu bot sich sogar, als ich mich in der letzten Kaffeepause zwang, mich hinter ihm in die Schlange zu stellen. So hatte ich ihn in seinem roten Strickpullover und der gutsitzenden Jeans vor mir, konnte ihm auch ganz unauffällig näher kommen, einmal, zweimal tief Luft holen, um seinen herben Duft in mir aufzunehmen. Ganz klar, es war ein ganz besonderes Parfum, das er trug. Und dann überlegte ich, wie einfach es jetzt wäre, so zu tun, als stolperte ich, um ihn dann zu berühren, ganz unverfänglich. Würde er sich umdrehen, könnte ich ein „Entschuldigen Sie bitte“, hervorbringen und ihn ganz zuckersüß anlächeln. Ja, das wäre so einfach, aber ich wusste, dass ich es nicht könnte. Dass ich errötete, wäre das Geringste … ich würde augenblicklich zu schwitzen beginnen, meine Atmung würde sich beschleunigen und mein Herz zu rasen beginnen, während ich nur Gestammel von mir geben würde: „Ich … ich … ich … ähm …“ Die letzte Staffel brach an und ich, wissend, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb, überlegte fieberhaft, was ich unternehmen könnte. Immer wieder drehte ich mich nach ihm um. Er saß so da wie zu Beginn der Konferenz: die langen Beine in den Gang gestreckt, das Kinn in die Hand gestützt und auf seine Notizen blickend. „Bitte“, bat ich ihn im Geiste, „sieh wenigstens einmal auf. Nur einmal, damit sich unsere Blicke kreuzen können. Damit ich … damit du … damit … wir … Ulrich, bitte …“ Nichts! In meinem Träumen aber hatten wir in dieser kurzen Zeit so oft miteinander geschlafen. Er war des nachts zu meiner Tür geschlichen, hatte kurz geklopft und dann, dann … ach Ulrich … du bist der erste Mann, in dessen Gegenwart ich mich vollkommen habe entspannen können … Nun war diese Zeit vorbei und wir standen uns in meinem Zimmer gegenüber, hielten uns an den Händen, sahen uns an. Dann zog er mich näher zu sich heran, so nah, dass ich seinen Atem auf den Wangen spüren konnte. „Ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst habe: Dich nicht wiederzusehen oder dich wiederzusehen“, flüsterte er und ich nickte. „Wir tauschen keine Nummern aus.“ „Ja?“ „Hat keinen Sinn. Du hast Frau und Kinder …“ „Ja, okay, keine Nummern und keine Adressen. Überlassen wirs dem Zufall.“ Als ich mich nach dem letzten Vortrag erhob, war ich schweißgebadet und mein Herz raste so sehr, dass es mich schmerzte. Ich hatte einen Zettel in der Hand und wusste, dass das die allerletzte Chance war. Egal wie peinlich es werden würde! Schon sah ich mich neben seinem Tisch. Und ich redete mir ein, dass mir alles egal sei: ob es nun andere mitbekämen, egal! Ich sah zu ihm hinab. „Herr, Herr .. “ Ich räusperte mich. „Herr, Herr Hensel.“ Er reagierte nicht und in mir sank schon der Mut, denn noch lauter traute ich mich nicht zu sprechen. Wieder sah ich ihn nur an. Er, an seinen Nachbarn gewandt lachte und packte seine Sachen zusammen. „Herr … Hensel“, wiederholte ich noch einmal. „Ich wollte …“ Nichts! Keine Reaktion! Doch just in dem Moment, als ich dachte, dass ich gleich unverrichteter Dinge weggehen müsse, um nicht aufzufallen, sah sein Nachbar auf. „Uli“, sagte er und deutete auf mich. Mein Herz begann neuerlich zu rasen. Er wandte sich um und ich bemerkte seinen fragenden, von Unkenntnis gezeichneten Blick. Es bestand kein Zweifel: ich war ihm während der gesamten Konferenz überhaupt nicht aufgefallen! Und wieder sank in mir der Mut und am liebsten hätte ich mich davon gemacht. Stattdessen aber gab ich mir einen Ruck und nahm den Zettel, den ich schon so lange in meinen feuchten Händen gehalten hatte. „Ja?“, fragte er. „Ich … könnte ich Sie kurz sprechen ...?“ „Natürlich. Was möchten Sie?“ „Ginge es … ich meine …“ Er verstand sofort und deutete in eine der hinteren Ecken des Vortragsraumes. „Dürfte ich Sie bitten …“ Ich sah ihm einen Moment lang in die Augen – sie waren so wundervoll braun –, dann drehte ich mich abrupt um, bemüht, mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Meine Knie fühlten sich wie Watte an und ich hatte Angst zu taumeln und zu stolpern. Außerdem war mir leicht schlecht, als ich mich in der Ecke umwandte und ihn vor mir wusste. Lange, das ahnte ich, würde ich es in seiner Nähe nicht aushalten können. „Also?“, begann er. „Ich … ich … wollte Ihnen nur diesen Zettel ...“ Als sich unsere Blicke trafen und er die Hand nach diesem kleinen, vollkommen nassen Stück Papier ausstreckte, hätte ich plötzlich heulen können. Heulen, weil ich mich wie ein dummes kleines Mädchen fühlte, das ich ja auch war … Nie lief es bei mir rund. Immer musste etwas dazwischen kommen, was alles verkomplizierte. Rasch wandte ich mich ab und verschwand zur Tür hinaus. Ich war fix und fertig! Mit meinen mittlerweile 32 Jahren brachte ich es noch immer nicht fertig, einen Mann vernünftig anzusprechen, geschweige denn mit ihm zu flirten. Ich war ein Tölpel, ein Klops … Ich ließ den Kopf hängen und starrte auf das durchgeschwitzte Papier, das ich noch immer in meinen Händen hielt. Hallo, mein Name ist Sascha Lorach. Ich habe mich nicht getraut, Sie während der Konferenz anzusprechen, aber ich weiß, dass Sie mir nicht wieder aus dem Kopf gehen werden. Ich würde Sie gerne wiedersehen. Darunter hatte ich meine Handy-Nummer geschrieben. Ich zerknüllte das Papier. Ich war so wütend auf mich, so verdammt wütend. Die ganze Zeit über hatte ich mir überlegt, was ich auf den Zettel schreiben sollte und dann hatte ich die einmalige Chance gehabt, hatte vor ihm gestanden und war doch wieder ausgerissen. Alles ein großer Mist! Was sollte er jetzt nur von mir denken? Dass er es mit einer Irren zu tun gehabt hatte? Mit einer vollkommen Durchgeknallten? Als ich in mein Zimmer kam, um meine Sachen zu packen, konnte ich nur noch heulen. Auch diese Chance war vertan. Ich würde diesen Ulrich Hensel nie wieder sehen, geschweige denn ihn kennenlernen. Er würde eine dieser Chimären bleiben, ein Hirnfick. Damit musste ich leben. Klar! Wie immer! Ich raffte meine Sachen zusammen, warf sie achtlos in den Koffer, verschloss ihn, schnappte mir meine Jacke und verschwand aus dem Zimmer. Ich wusste, dass ich die Zeit hier nie vergessen würde. Niemals. Und das tat mir so weh! Als ich später die Eingangshalle durchquerte, darauf bedacht, ihm nicht wieder unter die Augen zu kommen, bemerkte ich plötzlich, wie sich mir jemand in den Weg stellte. Abrupt blieb ich stehen, sah auf – da war’s der uralte Professor. Der hatte mir in meinem Schmerz gerade noch gefehlt! Aber anstatt sich wieder über seine Kindheit und Jugend auszulassen, packte er mich am Arm. „Gut, dass ich Sie vor der Abfahrt noch einmal sehe. Sie gestatten doch?“ „Ja, na ja, eigentlich ...“, gab ich wiederwillig von mir, aber er zog mich schon in eine Ecke. „Mädchen“, sagte er leise, „ich habe überlegt, ob ich mich Ihnen gegenüber so offenbaren darf und ob Sie das, was ich Ihnen jetzt gestehe, nicht als Eingriff in Ihre Intimsphäre betrachten könnten. Wenn, dann zeigen Sie mich gerne an. Aber mir liegt es – und das will ich Ihnen hiermit versichern – ganz und gar fern, Sie verunsichern zu wollen.“ Ich betrachtete ihn und fragte mich, was er da bloß für einen Stuss zusammen reden würde. „Aber Sie sind mir nach unserem Gespräch am ersten Abend nicht mehr aus dem Kopf gegangen.“ „Was?“, rief ich, plötzlich hellwach. Das durfte doch nicht wahr sein! Dieser Alte? Er mochte die 90 schon längst überschritten haben. „Ja“, fuhr er ganz ruhig fort und legte seine Hand auf meinen Arm. „Und deshalb habe ich Sie zu beobachten begonnen.“ „Wie? Sie haben …“ Er nickte ungerührt. „Und wenn ich so offen sein darf: Sie sind mir immer sympathischer geworden! Und deswegen habe ich beschlossen, es zu tun!“ Er beugte sich zu mir hinab. Unwillkürlich zuckte ich zurück. „Na, na, keine Angst. Wie gesagt, ich habe Sie beobachtet. Auch wenn Sie sich Mühe gegeben haben, nicht aufzufallen, folgte ich Ihnen mit meinen Blicken. Und ich gebe Ihnen hier nun eine Telefon-Nummer. Meinen Sie, Sie werden anzurufen?“ „Ist das etwa Ihre? Soll ... soll ich Sie anrufen?“, stieß ich hervor, hielt mir aber sogleich die Hand vor den Mund. „Quatsch, doch nicht mich!“, rief er und funkelte mich leicht amüsiert an. „Zwar hätte ich nichts dagegen, aber ich bin doch viel zu alt für Sie. Das müssen Sie doch einsehen.“ Ich war vollkommen perplex. „Schauen Sie mich nicht so an wie ein Student, der keine Ahnung hat!“, blaffte er und grinste. „Ja …“ „Wessen Nummer ist das dann?“ Er grinste. „Der am anderen Ende ist auch etwas … zurückhalten, so wie Sie. Keine Angst, ich kenne ihn sehr gut, er war mein Doktorand. Trauen Sie sich, versuchen Sie es!“ Kapitel 3: Au, au weia! ----------------------- Daheim angekommen, hockte ich mich sofort hinter meinen PC und gab den Namen „Ulrich Hensel“ in die Suchmaschine ein. Was die mir wenige Momente später ausspuckte, ließ mein Herz rasen. „Man!“, stieß ich hervor und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Was sollte dieser Mist? Wollte mich dieser alte Kerl an der Nase herumführen oder war er schon so senil, dass er gar nichts mehr mitbekam? Oder war das gar nicht Hensels Nummer? Ich biss mir auf die Unterlippe, als mir klar wurde, dass ich niemals eine Chance bei ihm hätte. Mit meinem Zettel hätte ich mich wohlmöglich auch noch lächerlich gemacht …   Er war Professor in Heidelberg, war natürlich verheiratet und hatte zwei Kinder … die ganz sich auch noch in meinem Alter? Ich packte den Zettel, auf den der Kerl die Nummer geschrieben hatte, zerriss ihn und warf ihn weg. Es war besser so … besser… aber verdammt! Was machte ich falsch? Warum wollte es bei mir nicht klappen? Warum verliebte ich mich immer in die Unerreichbaren oder ging alten, vertrottelten Heinis auf den Leim? Vielleicht war dieser Depp, der mir die Nummer gegeben hatte, noch nicht einmal Professor, sondern ein dahergelaufener Penner, der sich in die Konferenz eingeschlichen hatte. So dachte ich und wusste mir keinen Rat mehr, als mich gedanklich, ja und natürlich auch gefühlsmäßig von Ulrich Hensel zu trennen. In den nächsten Tagen blieb mir auch wirklich wenig Zeit, an ihn zu denken, denn meine Chefin wollte von mir die Protokolle zu den Vorträgen haben, die ich ihr natürlich nicht liefern konnte. Es reichte nicht, dass ich furchtbar schüchtern war, nein ich hatte mir auch nicht klar gemacht, welche Konsequenzen es hatte, wenn ich mich, statt meinen Arbeitsauftrag zu erledigen, meinen Sexphantasien ergab und mich dann auch so sehr verknallte, dass ich ganz weiche Knie bekam. Meine Chefin war natürlich ... sauer wäre eine Untertreibung gewesen. „Der Lehrstuhl hat Ihnen diese Reisen bezahlt und Sie … Sie hätten doch wenigstens …“, hörte ich sie schimpfen und dabei Gift und Galle speien sehen. Ihre kleinen Augen blitzen böse hinter ihrer Brille. „Was haben Sie denn überhaupt die ganze Zeit gemacht? Waren Sie denn überhaupt da?“ Ich nickte, schwieg aber, weil ich es für sinnlos hielt, mich in Entschuldigungen und Rechtfertigungen zu ergehen. In welchen denn überhaupt? Dass ich Migräne gehabt hatte? Lächerlich! Bauchschmerzen? Noch lächerlicher! Also stand ich vor ihr mit gesenktem Kopf, wieder wie ein kleines dummes Mädchen, dem sie die Leviten las. „So sagen Sie doch etwas!“, forderte sie mich auf. „Ich … ich bringe das in Ordnung“, stammelte ich schließlich. „Und wie, wenn ich fragen darf?“ Ich holte tief Luft, dann zwang ich mich den Kopf zu heben. „Na ja, vielleicht kann ich die Vortragenden anschreiben und sie bitten, mir ein Exposée zu schicken?“ „Unterstehen Sie sich!“, rief sie. „Sie sind ja nicht ganz bei Trost, so etwas tun zu wollen! Machen Sie sich denn gar nicht klar, wie das auf die anderen wirkt, wenn Sie sie – wohlmöglich noch unter meinem Namen – anschreiben?“ Mit meiner Chefin war nicht leicht umzugehen. Umso mehr hätte ich ihrem Auftrag folgen müssen, statt Ulrich Hensel anzuschmachten … Verdammt! „Ich weiß nicht, ob Sie wissen, worum es hier geht? Sie blamieren mich ja bis auf die Knochen, wenn Sie schrieben, dass sie Informationen zu den Vorträgen sammeln wollen. Was meinen Sie, wie schnell wir ins Gerede kommen, wir als der Lehrstuhl, der von den Forschungen anderer lebt.“ Ich wollte schon fragen: Haben wir denn eigene, von denen wir leben könnten?, ließ es aber und senkte wieder den Kopf. Hier ging es nicht um meine Chefin, sondern um mich. Und es stand fest: ich war ein Loser. Was ich auch anpackte, entglitt mir oder ging zu Bruch. „Und außerdem werden Ihnen die Leute sowie nicht schreiben … Niemand wird seine unveröffentlichten Arbeiten hergeben. Niemand! Denn das wäre Schwachsinn.“ Dass die Arbeiten in dem Moment, da man über sie sprach, schon veröffentlicht waren, wollte ich ihr nicht sagen. Und dann dachte ich noch: Vielleicht hätte ich Ulrich Hensel wegen dieser Misere ansprechen und ihn bitten sollen, mir zu helfen, statt hinter ihm her zu sein wie eine Irre? Daheim ließ ich mich in die Kissen meines Bettes fallen und konnte nur weinen. So, wie es jetzt lief, lief es echt scheiße. Aber im Grunde lief es immer so: zu schüchtern, zu blöd, zu … Mein Problem, das hatte mir einmal ein Dozent nach einer nicht bestandenen Prüfung gesagt, wäre es, dass ich mir nichts zutrauen und es deswegen ablehnen würde, Verantwortung zu übernehmen und dadurch auch nicht weiterkäme. Zwar stünde ich, wie alle anderen auch, auf einem 3m-Turm, doch ließe ich, sobald ich springen müsse, immer anderen den Vortritt. Damals hatte mich das sehr verletzt und verunsichert, denn ich fragte mich daraufhin immer wieder, ob ich das Studium überhaupt schaffen würde oder es nicht besser sei, es abzubrechen und eine Ausbildung zu beginnen. Es war eine schlimme Zeit gewesen, doch ich hatte aus ihr nicht gelernt. Zwar entschied ich mich letztlich, auch nach Rücksprache mit meinen Eltern und Christa, einer alten Dame, die ich seit meiner Kindheit kannte und als Oma betrachtete, dafür, das Studium durchzuziehen, aber total gehemmt und von Zweifeln zerfressen.   Heute nun dachte ich über die Worte dieses Dozenten anders: er hatte recht, ich traute mir nichts zu und schob die Verantwortung, wann immer ich konnte, anderen zu. Im zwischenmenschlichen Bereich sah es so aus: gefiel mir einer, duckte ich mich und hoffte, dass er mich ansprach. Im Berufsleben redete ich mir ein, es nicht zu können, bis ich es dann auch tatsächlich nicht konnte und versagt. Aber was nützte mir diese Erkenntnis jetzt, angesichts der Tatsache, dass meine Chefin hatte durchblicken lassen, mein Verhalten nicht weiter zu dulden. Es war das Letzte, was sie mir an diesem Tag gesagt hatte. Es war deutlich, überdeutlich. Was damit gemeint war, konnte ich mir leicht zusammenreimen: die Kündigung. Fest stand, dass wir seit Beginn nicht gut hatten zusammenarbeiten können. Sie war mir keine richtige Chefin und ich ihr wohl keine gute Mitarbeiterin. Ihr Problem war, dass sie oft keine klaren Anweisungen gab, meines, mir keine Gedanken zu machen, was diese oder jene Bemerkung nun zu bedeuten hatte. Oft widersprach sie sich auch und ließ mich im Unklaren darüber, wie sie es nun genau meinte. Fakt war jedoch, dass es mir schnell leid war, mich um sie zu bemühen. Kurz: die Chemie zwischen uns stimmte einfach nicht. Aber das war keine Ausrede für meinen Fehler, der das Fass nun zum Überlaufen gebracht hatte! Bald arbeitslos zu sein – ein unerträglicher Gedanke! Aber obwohl ich wusste, dass man sich die neue Arbeit aus der alten heraus suchte, schaffte ich es nicht, mich an diesem Abend noch einmal hinzusetzen und nach entsprechenden Angeboten zu suchen. Und so blieb ich im Bett liegen, schloss die Augen und wünschte mir alsbald einen traumlosen Schlaf herbei. Am anderen Tag lag die Kündigung zum nächsten Monatsende tatsächlich vor mir auf dem Schreibtisch und ich nahm sie kopfnickend hin. Dass sie sie augenscheinlich so schnell geschrieben hatte, tröstete mich ein wenig, denn mir war klar, dass sie es sowieso geplant hatte, mich loszuwerden. „Sie haben immer gegen mich gearbeitet“, sagte sie und ich betrachte sie. Lang und dürr, mit schütterem blondiertem Haar – sie wirkte wie eine überalterte finstere Elfe oder eine Bohne, der bereits Pelz wuchs oder eben wie eine Stabheuschrecke. Olle, blöde …! Alles kindische Gedanken, aber um mich selbst zu schützen, stellte ich mir meine Chefin obendrein nackt vor: schrumpelige Haut, Hängebrüste, Falten am Hintern … „Und Sie haben mir immer, aber auch wirklich immer Misstrauen entgegen gebracht. Ich habe mich Ihnen am Anfang angeboten, immer und immer wieder, aber Sie meinten nur, ich solle mich nicht aufspielen …“, erwiderte ich leise. „Sie spielen sich ja auch auf und wollen immer im Mittelpunkt stehen.“ Ich konnte über diese Anschuldigung nur grinsen, denn wenn ich etwas am allerwenigsten tat, dann das. Klar hatte ich Ideen für Lehrveranstaltungen entwickelt, aber doch nur, um Studenten, die einmal zu ihr in den Kurs gekommen, beim nächsten Mal wegblieben, mit neuen Angeboten zu locken. Und natürlich machte es mir Spaß, mich in neue Themengebiete einzulesen, aber dass sie mir Geltungsdrang unterstellte – und das, wo gerade sie es war, die jedes Semester neu vor die Studenten trat und im Grunde nur das machen wollte, was sie gar nicht konnte: unterrichten. Ich war ihre Wissenschaftliche Mitarbeiterin und war laut Vertrag dazu verpflichtet, Lehrveranstaltungen abzuhalten. Sie aber meinte, ich solle mich mit administrativen Aufgaben befassen. Und mit der Erstellung von Literaturlisten, von denen ich mehrere noch gar nicht fertig hatte … Vielleicht war es mein Fehler, dass es so weit gekommen war, aber jetzt war ich wirklich davon überzeugt, dass wir beide nie eine Chance gehabt hatten. Wir passten nicht zusammen. Es war besser, dass ich ging. „Sie dürfen sich nicht immer nur die Rosinen aus dem Kuchen picken, denn dafür werden Sie nicht bezahlt“, schalt sie mich. „Ja, Sie haben recht“, erwiderte ich. „Ich habe Ihnen jetzt eine letzte Chance gegeben, die Sie nicht genutzt haben … Was soll ich sagen?“, fragte sie. Was ich nicht sagen wollte, war, dass ich auch etwas über sie und die Art und Weise, wie sie an den Lehrstuhl gekommen war, wusste. Über ihren Doktortitel, die Professur und all das Geld, was dabei geflossen war ... Ihr das aber jetzt unter die Nase zu reiben, wäre billig gewesen, also schwieg ich. Zumal sie ja selbst darum wusste, dass wir im Grunde auf einer akkademischen Ebene standen, sie hatte ihren MA und ich auch ... Daheim nahm ich mir meine Kündigung vor. Ein Monat blieb mir noch, um mich aus meiner alten Arbeit auf eine neue Stelle zu bewerben. Nur wo, da ich doch wusste, dass alle Stellen in meinem Bereich besetzt beziehungsweise Mangelware waren. Ich zog mir das Kissen über den Kopf und wollte nur schlafen und vergessen. Ich kam also in dieser und in den nächsten Wochen nicht dazu, ausführlicher an Ulrich Hensel zu denken. Auch oder gerade dann nicht, als ich mir zur Ablenkung einen hochwissenschaftlichen Beitrag im TV über den Geschlechtsakt ansah, in dem es hieß, dass der Beckenboden beim Samenerguss lockerbleiben müsse, damit das Sperma besser herausspritzen könne … Kapitel 4: Die Lösung? ---------------------- In den nächsten Tagen und Wochen versuchte ich mich irgendwie über Wasser zu halten. Einerseits war ich ja froh, endlich von dieser Chefin wegzukommen, andererseits machte mir der Gedanke an die baldige Arbeitslosigkeit Angst. Sie lähmte mich mitunter so sehr, dass ich nicht fähig war, klar zu denken und mich um einen neuen Job zu bemühen. Und wieder geriet ich in einen Zustand, in dem ich mich als Loser, als Versager, als … als … als … zu beschimpfen begann. Wenn ich es nicht endlich lernte, mir nicht immer einzureden, dass ich alles, aber auch alles mies machte. Klar, an meinen jetzigen Job war nicht durch den Beweis meiner fachlichen Kenntnisse gekommen, die hatte ich an keiner Stelle des ohnehin nicht stattfindenden Auswahlverfahrens, unter Beweis stellen müssen. Vielmehr war es so gewesen, dass einer einen kannte, der wieder einen kannte, der mich kannte und der wusste, dass ich eine Stelle gesuchte hatte. Dass es immer so lief, ja, dass die meisten Jobs nur so vergeben wurden, tröstete mich nicht, denn es half mir nicht dabei, mein Selbstbewusstsein aufzubauen. Kurz gesagt: sie hätten jeden genommen. Na ja, bei der Chefin, die selbst die Grundlagen ihres Fachs nicht ganz verinnerlicht hatte … Sie wusste um ihre Schwächen, ich wusste darum und sie wusste, dass ich darum wusste. Der Doktoren- und Professorentitel waren ihr verliehen worden – für außerordentliche Verdienste in der Wissenschaft, so hieß es offiziell in der Laudatio. Sie hatte sich feiern lassen … aber Unsicherheit über ihr eigenes Unvermögen ließ sie an mir aus. Ich fühlte es, ich wusste es und ich war so wütend darüber. Wenn es doch wenigstens mit diesem Hensel geklappt hätte, wenn … Aber das waren wirklich Chimären, die ich vergessen musste. Doch wenn es geklappt hätte, wir jetzt in Kontakt stünden, ich ihn anrufen und ihm mein Leid klagen könnte und er mich dann trösten würde oder sagen würde: Ich komme morgen zu dir… Ach, wieder diese Träume, die zwar schön waren, aber die mir nichts brachten. Also setzte ich mich an den PC, öffnete den Browser und ging auf Jobsuche, wie man so sagt. Was käme denn für mich in Frage – außer der Wissenschaftlichen Tätigkeit? Im Grunde nicht viel und doch alles: ich konnte als Sekretärin arbeiten, das hatte ich bei meiner Chefin bewiesen. Ich konnte Recherchearbeiten durchführen und Literaturlisten zusammenstellen. Zähneknirschend dachte ich die endlose Arbeit, geistestötend, entnervend und immer noch nicht fertig, weil Madame es so und nicht so und dann wieder so und nicht so haben wollte. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie mir extra Steine in den Weg legte, um mich zu behindern und das bestärkte mich in der Annahme, dass ihr eigenes mageres Selbstbewusstsein sie dazu brachte, mich nicht hochkommen zu lassen. Und ich, bockig wie ein kleines Kind, erledigte die Aufgaben nicht mehr. Wirklich: ich war froh von der wegzukommen. Nur jetzt hatte ich eben die Arbeitssuche am Hals und klickte mich durch diverse Seiten. Keine Stelle traf auf mich zu und ich sagte mir, würde ich nicht bald etwas finden, würde ich tatsächlich auf die Sekretärinnen-Angebote zurückgreifen müssen, nur um etwas zu haben, denn ich hatte keine Lust, auf der Straße zu sitzen. Also suchte ich weiter und vergas vollkommen, dass ich noch einige Literaturlisten zu beenden hatte. Ewig lange Listen, die mir meine Chefin eines Morgens mit stechendem Blick auf den Tisch klatschte. „Wann darf ich mit der Fertigstellung rechnen?“, rief sie. Und ich wollte ihr schon antworten: „Sobald ich fertig bin.“ Verkniff mir die Frechheit aber, weil ich ja wusste, dass alles meine Schuld war. Ich hatte es mal wieder verbockt und musste nun die Suppe auslöffeln. Wie gut, dass ich bald von der wegkam. „Bitte entschuldigen Sie, ich mache mich gleich dran.“ „Sie haben doch nur diese eine Aufgabe und sie ist leicht genug gewesen. Ich frage mich, warum Sie selbst das nicht bewerkstelligen.“ So etwas hatte ich mir die ganze Zeit anhören müssen und war ruhig geblieben. Und auch jetzt biss ich mir auf die Unterlippe und versuchte mich zu beruhigen. „Wenn Sie schon das nicht hinbekommen – und das sind die Grundlagen unserer Arbeit als Wissenschaftler …“ Ich muss wohl unbewusst irgendeine Geste gemacht oder meine Mimik geändert haben, denn sie unterbrach sich abrupt, sah mich an und sagte dann: „Sie sind ein ausgesprochen freches Mensch! Sie haben keinerlei Respekt vor mir – ach, ich könnte mich aufregen und Herzüberschläge bekommen. Und dabei … “ Sie baute sich vor mir zu voller Größe auf. „Und dabei habe ich mich noch für Sie eingesetzt. Niemand wollte Sie damals, nur ich!“ Wieder so ein Seitenhieb! Aber ich blieb ruhig. „Ich werde die Literaturlisten so schnell wie möglich fertig stellen. Das versichere ich Ihnen, doch in den letzten Tagen war ich mit der Suche nach einer neuen Arbeit befasst.“ „Ach so? Na, das stelle ich mir in Ihrem Fall wirklich als sehr kompliziert vor.“ Bei diesem neuerlichen Seitenhieb sah sie mich mit ihren winzigen Augen an. Offensichtlich wollte sie sehen, wie er gewirkt hatte. Doch ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen. „Wenn Sie meinen …“, erwiderte ich ganz ruhig.   „Wo wollen Sie sich denn bewerben?“ Am liebsten hätte ich nicht geantwortet, doch da ich ihren durchdringenden, insektengleichen Blick noch immer auf mich gerichtet wusste, musste ich etwas sagen. „Na ja, ich hatte da so an Sekretariat gedacht. Das, was ich bei Ihnen auch gemacht habe …“ „Aber das können Sie doch gar nicht. Dafür sind Sie doch gar nicht ausgebildet“, fuhr sie fort und sah mich jetzt, wie mir schien, ganz mitleidig an, dann machte sie kehrt und ließ mich sitzen. Und ich, ich war gezwungen, mich um die Literaturlisten zu kümmern. Gegen Mittag erschien sie wieder, baute sich neuerlich vor meinem Tisch auf, diese lange Dürre, und sagte: „Sie, ich hätte etwas für Sie. Aber ich weiß ehrlich nicht, ob ich Ihnen das nach all dem, was Sie sich mir gegenüber geleistet haben, überhaupt weiterreichen sollte. Geschweige denn, dass Sie eine Chance hätten, denn Sie sind ja, wenn ich mich recht erinnere, gar nicht vom Fach.“ Ich sah sie nur an, sagte aber nichts. „Wollen Sie es nun oder nicht?“ „Na ja, ja“, stammelte ich und dachte mir nur: Wenn ich nicht vom Fach bin, dann ist sie es erst recht nicht.   Sogleich legte sie mir einen Zettel vor die Nase. „Aber berufen Sie sich nicht auf mich, sonst …“ Ich hörte nicht mehr, was sonst geschehen würde. Auch wunderte ich mich nicht, dass sie mir hier wohl geholfen hatte, denn das, was auf dem Zettel stand, das verschlug mir die Sprache, ließ mein Gehirn für Sekunden ausgeknockt sein. Ich benötigte einige Zeit, um zu registrieren, was ich da las: Universität Heidelberg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl Prof. Dr. Ulrich Hensel „Das …“, stammelte ich und spürte, wie mein Herz zu rasen begann. „Bewerben Sie sich, versuchen Sie Ihr Glück, aber große Chancen räume ich Ihnen nicht ein“, sagte meine Noch-Chefin und wieder war sie verschwunden. Ich benötigte einige Minuten, um vollkommen zu verstehen, dass Ulrich Hensel, also der Ulrich Hensel eine Stelle für einen Wissenschaftlichen Mitarbeiter zu vergeben hatte. Eine Stelle … „Vielen Dank, Frau Weiß, ich … ich …“, sagte ich wenig später. „Nehmen Sie es als letzte Chance, die ich Ihnen gebe.“ „Hmmm, ja …“ „Im Grunde will ich Ihnen mit der Kündigung ja nichts Böses. Ich wollte Ihnen damit nur helfen. Verstehen Sie?“ Später, als ich daheim ankam, hatte ich den Schock noch immer nicht überwunden, doch jetzt kam das Grübeln hinzu. Was bezweckte meine Chefin damit, mir dieses Stellenangebot auf den Tisch zu legen? War sie vollkommen irre? Oder wollte sie mich demütigen, mir zeigen, dass ich in diesem Bereich, anders als sie, keinen Fuß auf den Boden bekäme? Es bestand kein Zweifel: da sie wusste, dass ich wusste, was mit ihr los war, befanden wir uns in ständiger Rivalität. Das war es, was sie mir am allermeisten ankreidete und vorwarf. Also war dieses Stellenangebot ganz sicher eine Falle. Ich sollte mich bewerben und sollte auf die Schnauze fliegen. So ihr perfider Plan. Abgesehen davon: wie sollte ich mich Ulrich Hensel gegenüber richtig verhalten? Er konnte sich doch ganz sicher an mich erinnern. An mich und meine blöde Zettel-Attacke. Und nochmals abgesehen davon würden meine Gefühle ihm gegenüber ganz sicher wieder hervorbrechen. Und dann …? Und dann? So dachte ich und war schon drauf und dran, den Zettel wegzuschmeißen, als mein Blick auf die endlose Literaturliste fiel, die da noch immer nicht bearbeitet war. Welche Wahl hatte ich also? Entweder diese Literaturliste beenden und dann in die Arbeitslosigkeit gehen oder dieses Stellenangebot. Kapitel 5: Es klingelt ---------------------- Natürlich bewarb ich mich um die Stelle, denn auch wenn sie nicht ganz so passte, hatte ich doch mein Bestes gegeben, um meine Begeisterung für die Sache zum Ausdruck zu bringen. Und so war ich, als ich die Unterlagen in den Briefkasten steckte, richtig stolz auf mich. Ich hatte etwas geschafft, egal, wie es kommen würde: ich hatte etwas angepackt und dabei noch nicht einmal so ein schlechtes Gefühl. Und ich wollte jetzt auch einfach nicht negativ denken, sondern den Tag genießen. An alles Weitere durfte ich nicht denken … Das Was wäre, wenn …verbat ich mir. Und in dieser Stimmung ging ich zur Arbeit. Es war mir auch ganz egal, dass meine Chefin mir sagte, dass ich die Literaturlisten bis Ende des Monats fertig zu stellen hatte. Das war mir sowieso klar: Arbeitsauftrag war Arbeitsauftrag. Auch, dass sie dann nochmals ankam und meinte: „Was machen Sie denn da?“, brachte mich zuerst nicht aus der Ruhe. „Was? Was ist denn?“, erwiderte ich. „Na das da…“ Sie deutete auf eine der Literaturliste. „Ja?“ „Das ist doch total falsch“, ereiferte sie sich. „Aber Sie haben es mir doch nicht anders gesagt. Ich soll die Autoren alphabetisch ordnen …“ „Wie idiotisch ist das denn? Das nützt doch niemandem. Nach Jahreszahlen … nach Jahreszahlen“, rief sie. Innerlich verdrehte ich doch die Augen und überlegte, ob ich die Mail, die sie mir vor Wochen geschrieben hatte, hervorkramen sollte. Die Mail, in der es hieß, dass ich die Liste alphabetisch ordnen solle. Nur das, nichts weiter. Ich unterdrückte den Hinweis, denn vielleicht war es ja tatsächlich mein Fehler und ich hatte einfach nicht mitgedacht? Schweigend machte ich mich also daran, die alphabetische Liste, die bereits ellenlang war, nun auch noch nach Jahreszahlen zu ordnen: 2000 Pearle, Philip: …. Tegmark, Max: …. Als ich am Nachmittag noch immer nicht weiter gekommen war, wusste ich, dass ich die Masse an Namen niemals bis zum Ende des Monats würde ordnen können. Aber meiner Chefin das zu sagen, traute ich mich nicht. Schließlich konnte ich mir das ja auch zur Hälfte anlasten: ich hatte zu spät mit der Arbeit begonnen – ebenfalls ein Fehler von mir – und ich hatte wohl auch nicht mitgedacht. Daheim verfluchte ich mich wieder für meine Dummheit, meiner Chefin nicht Paroli geboten zu haben, denn immerhin stand in der Mail doch, dass … Ach, ich wollte darüber nicht mehr nachdenken, sondern mich auf das konzentrieren, was wirklich wichtig war: diese Bewerbung, die vielleicht meine einzige Chance war. Einen Haken hatte das Ganze allerdings – und das musste ich mir unwillig bewusst machen –, meine Chefin hatte mich auf die Stelle aufmerksam gemacht. Meine Chefin, die mich nicht leiden konnte. Warum sollte sie mir zu einer neuen Stelle verhelfen? Ausrechnet sie? Das wollte mir partout nicht ein, aber ich drückte den Gedanken immer wieder weg. In den nächsten Tagen wurde ich dann auch immer aufgeregter wegen der Bewerbung. Denn ich wusste, dass meine Unterlagen höchstens zwei Tage bis nach Heidelberg unterwegs sein müssten und ich wenigstens mit einer Eingangsbestätigung zu rechnen hätte. Aber die war bisher ausgeblieben und so überlegte ich, ob meine Unterlagen vielleicht verloren gegangen waren und ob ich mich in Heidelberg melden solle. Aber just in dem Moment packte mich wieder diese Nervosität, mein Herz begann zu rasen und meine Hände schwitzten. Furchtbar! Einer 30jährigen Frau nicht angemessen. Aber ich war eben so. Und so zögerte ich diesen Anruf, der mich ja nur ins Sekretariat von Ulrich Hensel geleitet hätte, immer weiter hinaus. Und wieder beschimpfte ich mich für mein Verhalten … so lange, bis ich ganz klein vor mir selbst war und fürchterlich an mir zu zweifeln begann und mir die größten Gedanken und um die kleinsten Dinge machte. Es war zum aus der Haut fahren. Andererseits kam ich mit den Listen nicht weiter und fragte mich, warum Sisyphos ein glücklicher Mensch gewesen sein soll. Mich nämlich überrollte der Stein jedes Mal in Form von Zahlen und Namen, sobald ich auch nur eine der Listen anklickte. Und wenn dann auch noch meine Chefin hinter mir stand und mir auf die Hände starrte, konnte ich gleich gar nichts mehr. Und dann, wenn ich mal Luft hatte – schließlich musste meine Chefin auch einmal woanders hin – klickte ich meine Emails an, in der Hoffnung, dass sie mir in irgendeiner Weise die Erlösung brachten, doch da war nichts und ich beschwor mich: wenn heute Abend keine Mail aus Heidelberg da war, würde ich morgen anrufen. Ganz bestimmt würde ich morgen anrufen. Ganz, ganz bestimmt. Es versteht sich von selbst, dass ich es nicht tat. Und natürlich verfluchte ich mich erneut und erneut begann ich an mir zu zweifeln und mich noch schlechter zu fühlen. „Na, darf ich Sie bitten, keine Fehler zu machen?“, ließ sich meine Chefin vernehmen, die wieder einmal hinter mir stand. „Könnten Sie …“, begann ich zaghaft und schon schwitzte ich wieder. „Könnten Sie …“ „Was?“ „Ich meine, ich würde Sie gerne bitten, nicht immer hinter mir zu stehen. Ich …“ „Sagen Sie bloß, Sie fühlen sich auch noch durch mich bedrängt.“ „Ja.“ „Das … das schlägt dem Fass ja den Boden aus. Das habe ich ja noch nie gehört. So eine Frechheit!“ Sie funkelte mich an, war offensichtlich wirklich aufgebracht über das, was ich da zu wünschen gewagt hatte. Aber im gleichen Atemzug fragte sie mich: „Haben Sie schon etwas aus Heidelberg gehört?“ Und da war es wieder, dieser unsäglich komische Gefühl, dass sie mich in etwas hineinreiten wollte, dass sie ihr Ding spielte. „Sie haben sich doch beworben?“, fragte sie lauernd. Ich nickte und sie lächelte und da wusste ich es: sie wollte mich reinlegen. Sie hasste mich wohl sosehr, dass sie mich auf eine falsche Fährte geleitet hatte und freute sich nun diebisch über mich. Aber – und diese Frage drängte sich mir auch auf: Wenn alles ein Fake war, warum hatte sie sich dann ausgerechnet Ulrich Hensel ausgesucht? Sie konnte doch gar nichts über meine Vorliebe für ihn wissen. Oder etwa doch? Und dann fiel es mir ein: der alte Sack … nur der konnte es gewesen sein! Der musste mit ihr in Kontakt stehen und musste ihr etwas gesteckt haben. Ja, so schätzte ich den wirklich ein! Geschwätzig und indiskret. Und das hieß, dass meine Chefin um … um … verdammt, sie wusste alles! Später, als ich daheim war, hatte sich meine Aufregung doch etwas gelegt und ich versuchte mir einzureden, dass es gar nicht klar war, dass meine Chefin etwas über mich wusste. Es gab auch andere Erklärungen. Vielleicht suchte Ulrich Hensel ja wirklich jemanden. Nur seltsam war es, dass ich das Stellenangebot nicht im Internet gefunden hatte, als ich danach suchte. Und wieder kamen Zweifel in mir hoch. Verdammt! Ich wusste, dass ich kurz vorm Durchdrehen war. Und dann klingelte auch noch das Telefon und ließ mich dermaßen aufschrecken, dass ich mein Wasserglas, was ich neben die Tastatur gestellt hatte, verschüttete. „Mist!“, murmelte ich und huschte zum Telefon. Mein Herz raste, als ich abnahm. „Ja?“ „Ach, schön, dass du mal ran gehst. Hier ist dein Papa.“ „Ach du.“ „Wer denn sonst?“ „Ach, ich dachte …“ „Dann denk mal weiter, aber vergiss den Besuch bei uns nicht.“ „Ach … ach ja, den hätte ich beinahe …“ „Weiß ich. Deswegen rufe ich an.“ „Wann?“ „Sonntag.“ „Soll ich was mitbringen?“ „Hmmm … nein, wir haben alles: Kaffee, Kuchen, Blumen als Zierde für den Tisch … “ „Also nix?“ „Hmm, doch, doch, etwas könntest du mitbringen.“ „Was?“ „Du könntest uns endlich mal einen vernünftigen Freund vorstellen.“ Ich hörte meinen Vater am anderen Ende lachen. Endlich mal einen vernünftigen Freund … „Wäre Ulrich Hensel ein vernünftiger Freund für mich?“, dachte ich unwillkürlich. Wie wäre es, wenn ich ihn meinen Eltern vorstellen würde. „Hallo Papa, hallo Mama, hallo Christa, das ist Ulrich, mein neuer Freund. Wir haben uns auf einer Konferenz kennengelernt. Er ist Professor …“ „Ach, lass doch den Professor weg“, würde Ulrich sagen, mein Uli, und mich in den Nacken zwicken. Und ich würde zusammenzucken, ihn bei der Hand packen und zum Kaffeetisch führen. „Sie sind also Professor“, würde mein Vater beginnen und meine Mutter würde vor Ehrfurcht ersterben. Sie war immer so: Doktoren, Professoren – das waren für sie Übermenschen, obwohl sie ja ständig mit ihnen zu tun hatte. Aber ich musste schon zugeben, dass mich der Gedanke, dass Ulrich Hensel Professor war, nicht gerade kalt ließ, ja, es machte mich sogar richtig an … Macht besitzt eine ganz eigene Erotik. „Also bis Sonntag, du …“, hörte ich meinen Vater sagen. „Jaha. Grüß Mama und Christa schön“, erwiderte ich. „Warum soll ich die grüßen? Die kennen dich sowieso nicht mehr!“ Als ich aufgelegt hatte und mich gerade wieder zu meinem Schreibtisch begeben wollte, um endlich die bereits herabtropfende Nässe zu beseitigen, klingelte das Telefon erneut. Ich verdrehte die Augen, denn es bestand kein Zweifel, dass es noch einmal mein Vater war: der vergaß immer etwas. Das gehörte schon dazu. Kein Anruf ohne Zweiten, manchmal auch Dritten! Ganz sicher hatte ich das Durch-den-Wind-Sein von ihm geerbt. „Ja Papa“, fragte ich denn auch, „was noch?“ Einen Moment lang blieb es still und ich wollte schon frech sein und fragen, ob ihn der Alzheimer bereits befallen hatte, als sich plötzlich eine Männerstimme meldete: „Ja, guten Tag, hier ist Ulrich Hensel, spreche ich da mit Sascha Lorach?“ Unnütz zu sagen, dass mir das Herz in diesem Moment förmlich aus der Hose rutschte. Ich konnte nur noch nach Luft schnappen und ein breiiges: „Ähm“, hervorbringen. „Spreche ich mit Sascha Lorach?“, wiederholte die mir fremde und doch so vertraute raue Stimme am anderen Ende. „Ja … bitte entschuldigen Sie, ich … ich dachte, Sie wären mein Vater!“, stammelte ich und griff mir an die Stirn, hinter der das Blut in meinen Schläfen wie wahnsinnig pochte. „Der … der hatte nämlich gerade angerufen.“ Wieder blieb es einen Moment lang in der Leitung, dann hörte ich Hensel Luft holen. „Schön, dass ich Sie erreiche, Frau Lorach. Ich möchte Ihnen den Eingang Ihrer Bewerbung bestätigen und …“ „M … m … macht das nicht eigentlich die Sekretärin?“, entfuhr es mir. „Ja, genau, eigentlich ja, aber …“ Er unterbrach sich und ich fuhr mir mit zitternder Hand über den Mund. „Es steht so, dass Sie sich auf eine Stelle beworben haben, die vor zwei Jahren ausgeschrieben war. Um ganz offen zu sein, fand ich das sehr befremdlich.“ „Ja, was …? Aber das …“ Augenblicklich traf mich die Erkenntnis, dass meine Noch-Chefin wirklich ein böses Spiel mit mir trieb. Diese dumme alte Spinatwachtel! „Ja, im ersten Moment befremdete es mich, aber dann … nun, ihre Bewerbung gefällt mir, auch wenn Sie, wie Sie selbst schreiben, nicht ganz vom Fach sind. Und da wir Gelder erhalten haben, zusätzliche Gelder, und wir gerade wieder eine Stelle zu besetzen haben, würde ich Sie gerne kennenlernen. Könnten Sie es sich vorstellen, einmal nach Heidelberg zu kommen?“ Kapitel 6: Von jetzt auf gleich ------------------------------- Um Himmelswillen, ich hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass ich mich genau eine Woche nach Erhalt des Telefonats tatsächlich im Zug nach Heidelberg befand. Ich hatte einen Fensterplatz, sah hinaus und bemerkte, wie die Landschaft an mir vorbeizog, gerade so wie auf einer Platte, die sich mit rasender Geschwindigkeit um sich selbst drehte. Und auf ihr Städte, Flüsse, Felder und Wälder … und verdammt noch mal!, wie sollte ich mich Ulrich Hensel gegenüber nur verhalten? Was erwidern, wenn er tatsächlich diese Zettelattacke erwähnte. Ich wäre ohnehin schon schüchtern genug, da brauchte es nicht auch noch das. Ja, da waren sie wieder, die tollen Gedanken, die ich mir so machte, während ich mich unaufhaltsam Heidelberg näherte. Ich spürte dazu wieder meinen Herzschlag, begann auch zu schwitzen. Nur gut, dass ich den Termin bei ihm erst morgen hatte und nicht heute … Aber richtig beruhigte mich das nicht. Vor allem, als ich es tatsächlich gewagt hatte, mir auf der Institutshomepage sein Bild anzusehen, da war es wieder einmal um mich geschehen gewesen. Es ist ein Kreuz mit den Hormonen! Aber ich wollte nicht jammern. Ich hatte meinen Eltern von meinen Vorstellungsgespräch erzählt. Recht glücklich hatte meine Mutter nicht gewirkt. „Ach, wenn das klappt, dann wohnst du ja nicht mehr in unserer Nähe.“ Und Vater daraufhin: „Na und? Weiß sie denn überhaupt noch, dass wir ihre Eltern sind?“ „Nun hör aber auf!“, rief meine Mutter.   „Na ist doch wahr! So wenig, wie sie uns besuchen kommt.“   Das hatte er ganz ernst hervorgebracht, doch dann hellte sich seine Miene auf und er begann die Melodie des Liedes Du hast dein Herz in Heidelberg verloren zu pfeifen. „Na was denn?“, wollte er dann wissen, als Mutter betreten zur Seite sah und ich auch nichts zu erwidern wusste. „Es wird ja doch langsam mal Zeit, oder nicht?“ „Hmmm“, machte ich. „Und wer sagt, dass du da unten nur arbeitest. Heidelberg ist eine wunderschöne Stadt und …“ „Papa, dazu muss ich den Job ja erst einmal bekommen.“ In dem Moment sah meine Mutter wieder hoch und es schien mir, als wäre sie wirklich nicht ganz so unzufrieden, wenn es mit dieser Arbeit nicht klappte. Ganz zu schweigen davon, dass ich mir selbst kaum eine Chance ausrechnete, denn mittlerweile hatte ich die Ausschreibung gefunden. Sie suchten jemanden mit Grabungserfahrung. Hatte ich die? Gut, Ulrich Hensel hatte meinen Bewerbungsunterlagen entnehmen können, dass ich bisher nur Helfer gewesen war und hatte mich trotzdem eingeladen. Aber da gab es sicher unzählig viele andere, die besser waren als ich … Um meine Mutter also zu beruhigen, sagte ich ihr das und dann kam von ihr: „Ach Kind, was soll nur aus dir werden? Du musst doch langsam mal was Gescheites machen.“ Hatte ich also bisher nichts Gescheites getan? Wollte sie mir das damit sagen? Oder sollte ich endlich jemanden finden, den ich heiraten und mit dem ich Kinderbekommen konnte? Aber wenn da niemand war? Meine letzten beiden Freunde waren seltsame Gestalten gewesen, wie sie mein Vater netterweise genannt hatte. Der eine ein Nerd, der nur für seine Forschungen lebte, der andere ein etwas spinnerter Sportler, der mir, als er seinen Sport auf das Bett ausweiten wollte und ich ablehnte, einfach „Adé“ gesagt hatte. Und es war nicht so, dass ich verklemmt war oder so, aber es hatte eben einfach nicht gepasst. Er war ein Sprinter – und das auch im Bett. Da, wo der Nerd noch suchen musste, war der Sprinter schon längst übers Ziel hinausgeschossen. Ja, beide waren seltsame Gestalten und die anderen, tja, die hatte ich eben nur in meinem Kopf. Dass ich zu einem dieser Chimären mal würde fahren müssen, weil es um meine Zukunft ging, das … das hatte ich mir nicht einmal im Traum vorstellen können. Und nun das? Ich kam mir so vor, als würde ich zu einem Star fahren und schon fuhr mein Magen Achterbahn und bescherte mir ein so komisches Gefühl, dass ich während der gesamten Reise nicht einmal ans Essen denken konnte. Und ehrlich, ich suchte die Toilette häufiger auf, als der ältere Herr neben mir, der wohl die Altmänner-Krankheit hatte. Es war … ich war … Alles war vollkommen irre und verrückt und wenn ich mir nicht immer wieder gesagt hätte, dass ich gegen die Konkurrenz eh keine Chance hatte, dass es da Leute gab, die 1000mal besser auf die Stelle passten, dann wäre ich mit dem Kopf durchs Dach gestoßen. Ja, genau so, als säße man unangeschnallt in einem Flugzeug, das in ein Luftloch gerät und sich mal eben so 2000m im freien Fall befindet. Das Ende vom Lied ist eine Kopfverletzung. Und Schuld daran hat die Schwerelosigkeit. Ja, und um mir solch eine imaginäre Kopfverletzung nicht zu holen, sagte ich mir immer wieder, dass ich ja eh keine Chance hatte. Aber dann trat er wieder vor mein inneres Augen. Er – wie sollte ich mich denn ihm gegenüber verhalten? Und vor allem, wie mich richtig präsentieren? Mein Vater hatte mir geraten, ruhig zu bleiben. Hätte noch gefehlt, dass er sagte: „Immer locker bleiben!“ Ja, wie denn, wenn vor einem der Mann sitzt, den man vor Wochen auf einer Konferenz zum ersten Mal gesehen hatte und in den man sich halsüberkopf verliebt hatte. Es hatte einfach Peng gemacht oder … ach, mir fiel jetzt keine andere Umschreibung für meinen Gemütszustand ein. Aber um es kurz zu machen: das Bewerbungsgespräch war das eine, dieses Gefühl für Ulrich Hensel das andere. Zwar wusste ich, dass ich es tunlichst vermeiden sollte, dieses Gefühl auch nur ansatzweise Anklingen zu lassen, doch konnte ich dafür meine Hand nicht ins Feuer legen. Mich hatte es vollkommen erwischt – und das war mir nach Betrachtung seines Bildes im Internet neuerlich klar geworden. Aber um das Ganze nicht noch weiter anzuheizen, verbat ich mir jegliche Träumereien oder Phantasien, die mich zu sehr ergriffen hätten. Ich durfte, wenn ich vor ihm saß, nicht an das denken, was wir zusammen in diesem Hotelzimmer in meiner Phantasie getrieben hatten und auch nicht daran, was ich mir noch vor wenigen Tagen des Nachts erträumt hatte. Oh, mein Gott, ich spürte ihn noch immer. Aber all das gehörte hier nicht her. Ich versuchte mir einen Kochtopf vorzustellen, einen, in dem es kochte und brodelte. Und damit nichts überschwappte, tat ich den Deckel drauf, der da natürlich nicht blieb. Ständig hob er sich, weil der Druck im Topf so hoch war. Also begann ich ihn mit aller Kraft auf den Topf zu pressen … Von Heidelberg bekam ich nicht viel mit. Ich wohnte in einer kleinen Pension in der Nähe des Bahnhofes. Ich wollte nur diese eine Nacht bleiben und am nächsten Tag, gleich nach dem Gespräch, wieder nach Hause fahren. Als ich meiner Chefin davon erzählte, meinte sie: „Oh, hat es geklappt? Grüßen Sie Herrn Professor Hensel von mir.“ „Ok“, hatte ich erwidert und mich gewundert. Hatte sie mir vor zwei Wochen, als sie mir die falsche Ausschreibung anbrachte, nicht gesagt, ich solle sie auf keinen Fall erwähnen? Ja was denn nun? Langsam begann ich wirklich an ihrem Verstand zu zweifeln. Und ich sollte recht behalten … Vorerst schob ich den Gedanken an sie aber ganz weit weg, denn ich musste mich auf das Bewerbungsgespräch vorbereiten. Und das war ein nicht ganz leichtes Unterfangen, denn obwohl ich meinen ohnehin schon schwachen Verstand anflehte, er möge sich die Oberhand erkämpfen, spürte ich immer wieder die vielen Schmetterlinge im Bauch, die da so ungeniert aufflatterten, als hätte ich sie eigenes dazu eingeladen. Und irgendwann in der Nacht, als ich meine Selbstvorstellung zum XtenMal durchgegangen war, ahnte ich, dass das unmöglich etwas werden würde. Ich würde immer und immer wieder … Kurzum ich war viel zu aufgeregt, viel zu nervös, viel zu verliebt und viel zu schüchtern. Am anderen Morgen dann stand ich gequält, da übernächtigt aus meinem Bett auf, schlapfte zur Dusche und schon waren sie wieder da: die Schmetterling. Es war gerade so, als wäre ich in einen ganzen Schwarm hineingeraten, aus dem ich mich allein nicht mehr retten konnte. Ich ging hier schier zugrunde … und meine Verzweiflung wuchs, denn gleich, in nicht einmal 2 Stunden, würde ich ihn wiedersehen. Schon der Gedanke allein bereitete mir ein rasendes Herz und neuerliche Schweißausbrüche. Es war doch alles für den A … Aber just in dem Moment, als ich dachte, dass ich schier wahnsinnig werden würde, kam eine Mail von meinem Vater herein. „Ist das dein neuer Chef in spe?“, schrieb er. „Sieht ja aus wie ein Nerd.“ Im Anhang befand sich ein Bild. „Schaut der immer noch so deppisch in die Welt? Achte mal drauf!“ Ich sah mir das Bild genau an und wusste im ersten Moment nicht, was ich tun sollte. Nur meine Hände zitterten. Ja, das war Ulrich Hensel, kein Zweifel, nur mindestens 15 Jahre jünger. Ein richtiges Kindergesicht sah mir da entgegen. Und auf seiner Nase befand sich eine leicht schiefsitzende Brille, die das rechte Auge etwas verdeckte. Und darunter ein leicht verzogener Kermit-der-Frosch-Mund, so als wüsste er nicht ganz, was er mit der auf sich gerichteten Kamera beginnen sollte: ihr zulächeln oder sich einfach wegdrehen. Mein Vater hatte recht: er schaute aus wie ein Nerd. „Ja, das ist er. Danke, Paps!“, schrieb ich zurück und sah mir das Bild noch einmal an. War es gemein, wenn ich es im Geiste in Ulrich Hensels Büro mitnahm? Nackt durfte ich ihn mir ja nicht vorstellen … Aber dieses Photo von diesem kleinen Jungen, der bereits damals schon in Heidelberg gelehrt hatte, das … das musste helfen. „Verlieb dich bloß nicht in den!“, kam’s postwendend zurück. „Papa!“ „Ach, ich kenne dich doch. Und ich will nicht noch so einen aus dem Raritätenkabinett begrüßen müssen. Zwei reichen!“ Ich biss mir auf die Lippen. „Was du nur denkst! Er ist Professor!“ „Na und? Professoren sind auch nur Menschen. Und oft einsamer, als du denkst.“ Mein Vater war richtig frech, aber manchmal wünschte ich mir, ein wenig mehr Chuzpe von ihm geerbt zu haben. Stattdessen verhielt ich mich wie ein saurer Drops. Tja, andere würden zwischen ihrer Verliebtheit und der Arbeit differenzieren können. Nur ich wieder nicht! Ich brauchte dieses unheimlich bescheuerte Bild, um mich wenigstens etwas abkühlen zu können. Schiefsitzende Brille, leichter Überbiss und obendrein wirkten seine Haare so, als hätte er sie sich gerade nass gemacht oder – noch erotischer – mit Pomade eingeschmiert. … Aber schon damals hatte er diesen unheimlich durchdringenden Blick, der mich nun doch wieder so sehr aufwühlte, dass ich um meine Beherrschung zu fürchten begann, als ich an seine Bürotür klopfte. „Guten Morgen, Frau Lorach.“ Er lächelte mich an und reichte mir die Hand. „Bitte kommen Sie herein.“ Ich folgte ihm und beschwor wieder das Kinderbild von ihm herauf. Ich hätte es sonst nicht ausgehalten. Sein Blick, seine Geste, als er mir einen Platz an einem kleinen Tisch in seinem Raum anbot. „Möchten Sie etwas trinken?“ „Ich … ähm …“ „Kaffee, Tee oder …“ Am liebsten hätte ich „Beruhigungstee“ gesagt, stammelte dann aber „Kamillentee“ und ich sah, wie es augenblicklich um seinen Mund zuckte. Er hatte noch immer diese kleinen Hamsterbacken wie auf diesem Bild. Nur jetzt waren sie viel, viel kleiner, aber eben noch immer da. „Eine gute Wahl“, bemerkte er. „Sehr zu empfehlen bei Magenschmerzen.“ Und dann, als ich nichts erwiderte, weil ich einfach nicht wusste, was, da schlug er die Hände ganz leicht zusammen und meinte: „Schön, dass Sie den weiten Weg hierher auf sich genommen haben.“ „Ja, es … es freut mich auch. Ich hab ja gar nicht da … damit gerechnet“, würgte ich hervor und nahm den Tee entgegen, erleichtert, endlich etwas zu tun zu haben und nicht immer auf ihn starren zu müssen. Er trug, anders als auf der Konferenz, eine Anzugjacke, darunter ein weißes Hemd. Ich biss mir auf die Unterlippe, nahm dann einen Schluck Tee. Und seine Jeans saß wie damals angegossen. „Und Sie haben auch gut hierher gefunden?“, fragte er dann und legte den Kopf schief. „Ja, ja, ja“, erwiderte ich und sah auf meinen Tee. Ich ahnte, würde nicht gleich etwas geschehen, könnte ich das Ganze hier vergessen, denn ich hockte in diesem Moment gedanklich eingeklemmt zwischen seiner schief sitzenden Brille und seiner Gürtelschnalle. Verdammt, was nützte mir dieses bescheuerte Bild, wenn ich selbst diesen kleinen Nerd-Jungen von Ende 30 am liebsten auf seine Überbiss-Lippen geküsst hätte? „Sagen Sie, kann es sein, dass wir uns schon einmal begegnet sind?“, hörte ich ihn dann fragen. Wie vom Donner gerührt ließ ich die Tasse sinken, wohl zu schnell, denn es schwappte etwas Tee auf die Tischplatte. Für mich hätte es nicht noch schlimmer kommen können. „Sorry“, stieß ich hervor. „Na na“, erwiderte er. Und wie er dabei lächelte, mit leicht schräg gelegtem Kopf, gerade so als ginge die Sonne auf. „Wenn Sie Archäologin werden möchten, müssen Sie ihre Motorik zu kontrollieren lernen, sonst sieht es für die Befunde alt aus.“ Bei diesen Worten durchlief es mich heiß und als er mir dann auch noch ein kleines Handtuch reichte, da tobte mein Herz so sehr, dass ich fast glaubte, es wolle aus meinem Körper herausspringen – und ihm direkt in die Hände … So ein Schmarrn! „Danke“, würgte ich neuerlich hervor, vermied es aber, ihn anzusehen, obwohl ich wusste, dass er darauf wartete. Er wollte das Bewerbungsgespräch beginnen, schließlich saßen wir nicht zum Vergnügen hier. Aber wie sollte ich seinem Wunsch nachgeben, wo ich mich doch am liebsten sofort wieder von hier entfernt hätte? „Also, vielleicht können Sie mir einfach etwas über sich erzählen. Wer Sie sind, woher Sie genau kommen – in ihrer Bewerbung schrieben Sie ja nur, dass Sie Archäologie studiert haben. Wo haben Sie bisher gearbeitet?“ Er erhob sich leicht und beugte sich zu seinem Schreibtisch hinüber. „Bitte entschuldigen Sie“, wandte er sich nochmals an mich. „Es ist nicht gegen Sie gerichtet, dass ich Ihre Bewerbungsunterlagen nicht parat hatte. Ich habe nur im Moment so viel zu tun, wissen Sie?“ „Kein Problem.“ „Also, Sie schreiben doch, dass Sie bereits gearbeitet haben …Könnten Sie etwas zu Ihrer damaligen Tätigkeit erzählen?“ Er sah mich fragend an und ich, ich musste, ob ich wollte oder nicht, loslegen. „Ich … ich bin …“ Und während ich meine Sätze zusammenstoppelte, schlich sich dieser kleine Junge von Ende 30 hinterrücks an, schlang seine Arme um mich. Ich neigte den Kopf und er hauchte mir einen Kuss auf den Hals. Dann berührten seine Lippen mein Ohrläppchen. O ja, auch dieser kleine Junge verstand es, mich fertig zu machen. Auch er. Während ich mir vor dem hier sitzenden Ulrich Hensel einen abbrach, kam er mir immer näher. Ich wandte mich um. Wir blickten uns einige Momente tief in die Augen, ehe er mir über die Wange strich, sich hinab beugte und mich küsste. Ich schlang meine Arme um seinen Hals, schloss die Augen, spürte seine weichen Lippen und die leicht kratzigen Bartstoppel – ein so wohliger Kontrast, der mir ein leises Seufzen entlockte. Und wieder näherten wir uns einander und ich sah einige kleinere Pickel auf seinen Wangen. Aber die waren mir vollkommen egal, angesichts dessen, was ich sogleich spürte. „Möchten Sie noch einen Tee?“ Abrupt sah ich auf und direkt in das lächelnde Gesicht meines Gegenübers. „Nein, nein …“, stammelte ich. „Ich … ich würde hier gerne arbeiten, weil …“ „Weil?“ „Weil … weil …“ Verdammt, der Kleine hatte mich voll im Griff. Ich spürte förmlich, wie er mich berührte. Ich war schon drauf und dran, mich umzudrehen, obwohl mir doch klar war, dass da niemand war. Und doch spürte ich wieder seine Berührungen, dann kam er mir wieder näher – seine Lippen an meinem Ohr – ... und ich zuckte etwas. „Ist Ihnen nicht wohl, Frau Lorach?“ „Doch, doch, ich … ich bin nur so …“ „Aufgeregt?“ Ich holte tief Luft, zog die Schultern hoch, faltete die Hände im Schoß und nickte. „Ja, das …“ Ulrich Hensel schmunzelte, dann schüttelte er leicht den Kopf. „Aber das müssen Sie nicht sein. Bleiben Sie ganz ruhig. Hier wird Ihnen nicht der Kopf abgerissen.“ „Ok, ok …“ „Also, Sie haben bereits gearbeitet?“, fuhr er fort. Wieder nickte ich. „Bei Frau Professor Weiß.“ „Mathilda Weiß?“ „Ja.“ Er spitzte die Lippen und nickte neuerlich, ohne etwas zu erwidern. Es entstand eine Pause, in der ich nur auf meine verschwitzten Hände starrte. „Und können Sie mir sagen, in welche Arbeiten Sie Frau Weiß eingebunden hat.“ „Ich habe Literaturlisten erstellt und war für das Sekretariat zuständig.“ „Hat Ihnen die Arbeit bei Frau Weiß Spaß gemacht?“ „Diese Frage ist doch irrelevant“, stieß ich hervor und erntete dafür ein amüsiertes Schmunzeln. „Und doch interessiert mich Ihre Antwort. Aber ich stelle es Ihnen frei, zu antworten.“ „Ich wurde dafür bezahlt“, erwiderte ich und senkte wieder den Kopf. „Hier würden Sie für andere Dinge bezahlt werden, für Dinge, die tatsächlich mit Archäologie zu tun haben, wie etwa dem Katalogisieren und Zeichnen von Tonscherben. Könnten Sie sich das vorstellen?“ Ich zögerte einen Moment lang, dann nickte ich zaghaft. „Gut. Wie Sie vielleicht wissen, leite ich selbst eine Ausgrabung. Mein Team kommt mit der Aufnahme der Funde nicht mehr hinterher, um es einmal so platt zu sagen. Wir benötigen dringend Hilfe. Außerdem ist eine Konferenz geplant …“ Bei dem Wort Konferenz zuckte ich unwillkürlich zusammen. „Frau Lorach, sind Sie sicher, dass es Ihnen wirklich gut geht?“ „Ja, ja … es ist … es klingt nur so toll, was Sie da sagen.“ Er räusperte sich. „Mein Gott, von irgendwoher kenne ich Sie doch. Waren Sie mal in Basel?“ „Nein, nein …“ „Hmm, nicht? Ich hätte es schwören können. Na, ist ja auch egal. Vielleicht fällt es mir wieder ein, denn im Allgemeinen vergesse ich nie etwas.“ Es entstand eine Pause. „Und schließlich, um wieder zur Arbeit zurückzukehren, ist da noch die Ausgrabung im Sommer selber“, fuhr er schließlich fort. „Auf der benötige ich auch einen Scherbenspezialisten.“ Er unterbrach sich. „Das wären im Groben vorerst Ihre Aufgaben. Und nun die Gewissensfrage: Würden Sie sich all das zutrauen?“ Ich sah auf und wieder trafen sich unsere Blicke. „Um was für eine Konf … Konferenz handelt es sich?“ Augenblicklich zuckte es um seinen Mund. „Ich würde es Ihnen überlassen, mir ein entsprechendes Thema zu nennen. Die Planung und Organisation würde ich vollkommen in Ihre Hände geben. Könnten Sie sich das vorstellen? Ach, und dann entfiele auf Sie auch eine Lehrveranstaltung …“ „Lehrveranstaltung?“, wiederholte ich. „Thema?“ „Wie wär’s mit Wahrsagekunst im Alten Orient?“, grinste Ulrich Hensel und klatschte in die Hände. „Sie können sich jedoch auch ein anderes Thema wählen, je nachdem, was Ihnen vorschwebt und was Ihren persönlichen Interessen entspricht. Sie hätten da völlig freie Hand. Um eines möchte ich Sie jedoch bitten: Sofern Sie tatsächlich Interesse an der Stelle haben und meinen, neben all dem auch noch für ihre eigene Dissertation arbeiten zu können, dann schicken Sie mir doch bitte Vorschläge für die Lehrveranstaltung und Seminarplanentwürfe in den nächsten zwei Wochen per Mail zu.“ „Ja“, erwiderte ich matt. Mir war ein wenig schummrig von all dem, was er mir da erzählt hatte. „Also, ich würde mich freuen, von Ihnen zu hören, Frau Lorach.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)