Lamentieren auf der Mettaebene von Platan (22. Das Lametta glänzt im Flammenschein) ================================================================================ Lamentieren auf der Mettaebene ------------------------------ „Hui~“, hauchte Edna fasziniert. Harvey stimmte ihr aufgeregt zu: „Und wie! Das ist absolut Hui-tastisch!“ Zusammen mit ihrem geliebten Freund und Komplizen, einem knallblauen Stoffhasen – der mindestens genauso durchgeknallt wie auch blau war – namens Harvey, stand Edna gerade mitten im Speisesaal der Anstalt, zwischen all den anderen Irren. Fast so, als würde sie tatsächlich zu ihnen gehören, aber das tat sie nicht. Sie war geistig vollkommen zurechnungsfähig und gesünder als die Impfung gegen Krebs. Oder als Hulk, der vor lauter Wut blau angelaufen und zu einem übergroßen Schlumpf mutiert war, sagte Harvey. Er hatte wahrlich immerzu die besten Komplimente parat. Eben ein wahrer Komplize. Ein Komplimentize! Edna und die anderen bildeten einen Halbkreis, so dass jeder perfekt ihr grandioses Werk bewundern konnte. Bei jedem löste dieser Anblick eine andere Reaktion aus. Während Petra verträumt ihren dümmlich blonden Kopf gegen Peters Schultern lehnte und wie ein Ferrari auf Hochtouren mit den Wimpern klimperte, stieß er einen tiefen, sehr tiefen, Seufzer aus, der sämtlichen Schmerz der Welt in sich zu tragen schien. „Das ist wie ein Sinnbild meines Lebens ...“, murmelte Peter düster. „Oh ja, wie recht du doch hast!“, gluckste Petra glücklich. „Ein Sinnbild für unsere glühend heiße Liebe.“ Es folgte noch ein Seufzer von Peter. Derweil hielt König Adrian eine äußerst mitreißende und energiegeladene Rede darüber, wie dankbar er sich für dieses Schauspiel fühlte, das zu seiner Huldigung veranstaltet wurde, so dachte er. Der Alumann sinnierte darüber, welche Form von Energien gerade wohl freigesetzt wurden, wobei er seinen Kleiderbügel zur Aufnahme dieser kosmischen Strömung so hoch wie möglich hielt, mit einem gewissen Sicherheitsabstand. Juppy schrie die ganze Zeit etwas davon, dass er sich solcherlei Ablenkungen nicht leiste könne, weil er sich auf sein Telefonat konzentrieren müsse – er hatte sich einen provisorischen Hörer aus Pappe und Papier in der Beschäftigungstherapie gebastelt. Wie amüsant es war, jeden von ihnen zu beobachten. Ungehalten brüllte der Kontrolleur den Alumann wegen irgendetwas an, das mit dem Kleiderbügel zu tun hatte. Ihr Barmann wirkte als einer der wenigen recht unbeeindruckt, der Bienenmann dagegen hielt, ähnlich wie der Alumann, nervös etwas Abstand. Und Droggelbecher … kommentierte das Geschehen so unvergleichbar geistreich und verständlich, wie eh und je. „Droggelbecher! Droggelbecher!“, quasselte er aufgedreht. „Droggelbecher!“ „Genau“, flüsterte Edna schwärmend. In jeder erdenklichen Lage sah Droggelbecher nicht nur einfach viel zu gut aus für diese Welt, er wusste sich auch gescheit auszudrücken. Noch dazu balancierte er das dekorative Kissen auf seinem Kopf mit einer Eleganz, die weit außerhalb jeglichen Fassungsvermögens lag! Zu schade, dass er sich nicht für Edna interessierte. „Aus dem Weg!“, rief plötzlich jemand hinter ihnen. Im nächsten Augenblick drängelten sich Stiesel, Hulgor und der Neue an den Irren vorbei. Hastig stürmten sie vorwärts, zu Ednas Kunstwerk, dem Auslöser für das ganze Aufsehen. Sofort ahnte sie, weshalb die Angestellten der Klinik gekommen waren: Sie wollten diesen schönen Moment ruinieren, indem sie das, in deren Augen, Problem zu beseitigen versuchten. „Du meine Güte!“ Überfordert vergrub Stiesel eine Hand in seinen Haaren. „Der Weihnachtsbaum!“ „Ich hab gleich gesagt, dass es eine dumme Idee ist, den Bekloppten so etwas hier hinzustellen!“, knurrte Hulgor wütend. „Jepp. Äh, ich meine ...“ Stiesel winkte kopfschüttelnd ab. „Spar dir die Predigt, wir müssen etwas tun!“ „Ja, aber was?“, hakte der Neue nach, überraschend ruhig. Träge gestikulierte er dabei mit den Händen. „Ich hatte noch nie einen brennenden Weihnachtsbaum. Wie sind die Vorschriften in einem solchen Fall?“ „Hey!“, mischte Edna sich empört ein. „Das ist nicht einfach nur ein brennender Weihnachtsbaum, sondern Kunst! Banausen!“ „Bananen sausen?“, plapperte Harvey dazwischen. „Das muss ich sehen! Wo denn?! Wo?! Oder wurde im Bann eine Sause veranstaltet? Beides klingt nach Spaß~.“ Außer Harvey schenkte ihr niemand Beachtung, was sie nur noch wütender machte. „Hallo?! Habt ihr mich gehört? Wisst ihr überhaupt was Kunst ist? Außerdem hat dieser schnöde Weihnachtsbaum regelrecht nach einer Erleuchtung geschrien.“ Dafür hatten eindeutig die nötigen Kerzen gefehlt. Nicht mal eine Lichterkette war ihnen diese scheinheilig weihnachtliche Dekoration für die Irren wert gewesen. Nur ein paar rote Kugeln – aus Plastik, wohlgemerkt – hatten den Baum geschmückt. Und silbernes Lametta. Irgendjemand hatte ihn regelrecht darin ertränkt, ohne Sinn und Verstand. Von dem Grün war fast nichts mehr zu sehen gewesen. Jetzt knisterte das Lametta leise im Feuer vor sich hin, sang ein traurig schönes Klagelied und glänzte dabei geheimnisvoll im Flammenschein, bevor es schwarz wurde und zu hässlichen, stinkenden Klumpen verkrampfte. Ein Bild, das zum Nachdenken anregte. Edna nannte dieses Werk: Lamentieren auf der Mettaebene. Hier lag also quasi die Definition von Kunst vor ihnen und diese Stümper erkannten das nicht mal. Unbeholfen versuchten die Angestellten das Feuer mit den Füßen auszutreten, was keinen Erfolg erzielte. Dennoch dürfte es nicht lange dauern, bis auch diesen Idioten ihre eigene zündende Idee käme. Bevor sie sich aber weiter dagegen aussprechen konnte, dass ihr Werk einfach zerstört wurde, rief jemand aufgebracht ihren Namen: „Edna!“ Abrupt zuckte sie zusammen und auch Harvey schluckte schwer, was bei der ganzen Watte in seinem Hals ebenfalls schon als echtes Kunststück bezeichnet werden konnte. Schwere Schritte ertönten hinter ihnen, die sogar das Getrampel von Stiesel und Hulgor übertrafen. „Das ist Dr. Marcel!“, sprach Harvey es zuerst aus. „Schnell, Edna, lauf!“ Zu spät. Jemand packte sie an der Schulter und zog sie von den anderen weg, zur gegenüber liegenden Wand des Speisesaals. Dort befand sich auch die Doppeltür, hinter der ein Gang zu einem Raum führte, in dem öfter Gruppentherapien stattfanden. In einem Versuch, sich zu befreien, zappelte Edna wie verrückt, was den gemeinen Entführer nur noch mehr in Rage versetze. „Hör auf, Edna“, murrte Dr. Marcel angespannt. „Mach es nicht noch schlimmer.“ „Lassen Sie mich los!“, befahl sie. „Dann hör auf dich zu wehren.“ „Hören Sie zuerst auf, mich festzuhalten!“ Zu ihrer Überraschung gab der Doktor ausnahmsweise nach und löste seine Hand von ihrer Schulter. Konnte die Weihnachtszeit etwa sogar jemanden wie ihn erweichen? Nein, ausgeschlossen. Dr. Marcel hatte wohl eher einfach keine Lust darauf wieder ewig mit ihr zu diskutieren. Hinzu kam, dass ein brennender Weihnachtsbaum im Hintergrund sicherlich seine Nerven bereits mehr als genug auf das Maximum strapazierten. „Erkläre mir sofort, was das zu bedeuten hat!“, verlangte er, wobei er mit seiner Pfeife über die Schulter deutete. „Und komm mir jetzt nicht wieder mit Kunst!“ Rebellisch strich Edna ihr violettes Haar schwungvoll nach hinten. „Selbst wenn ich es Ihnen erklärte, würden Sie es nicht verstehen.“ Wären Menschen dazu in der Lage, Laser aus ihren Augen zu schießen, hätte Dr. Marcel sie auf der Stelle gebrutzelt. Auf seiner Stirn hatten sich so tiefe Krater gebildet, da wäre sogar der Grand Canyon neidisch geworden. Seine Augenbrauen waren so dicht zusammengezogen, dass sie nahezu miteinander verschmolzen. Und dieser finstere Schatten auf seinem Gesicht erst, schwärzer als die Nacht an sich. Möglicherweise war er diesmal so absolut-richtig sauer auf Edna. „Ich verstehe nie etwas von dem, was du von dir gibst“, betonte Dr. Marcel mit Nachdruck. „Ich verlange trotzdem eine Erklärung! Was hast du dir dabei gedacht? Wie hast du überhaupt ein Feuer machen können?! Gönnst du den anderen das bisschen Freude so wenig?“ Als ob in dieser Irrenanstalt so etwas Positives wie Freude jemals existiert hätte. Am liebsten würde Edna laut loslachen, doch sie traute sich nicht wirklich. Zwar empfand sie gegenüber Dr. Marcel keinerlei Respekt, aber so etwas wie Angst. Dennoch wollte sie sich von ihm nicht einschüchtern lassen, nicht ohne Gegenwehr. „Schön, wie Sie wollen. Ich erkläre es Ihnen“, begann Edna. Konzentriert atmete sie tief ein und aus. „Eigentlich fing alles damit an, dass ich versucht habe, ein Wattestäbchen mit einem Lichtschalter zu kombinieren, daraus entstand ein lustiger Streichholz-Effekt. Dann hatte ich noch einen anregenden Dialog mit Bobo, dem Gehirn, und die Sache ist etwas eskaliert. Kurz gesagt: Ich bin eine Eskalationistin! Ein Meister meines Fachs eben.“ In der Zwischenzeit gab Stiesel sich dem verzweifelten Versuch hin, das Feuer mit seinem Golfschläger, den er ständig bei sich trug, zu löschen. Den hatte er von seinem Papi, wie Edna wusste – woher auch immer. Mit beherzten Hieben drosch er blind auf den brennenden Weihnachtsbaum ein wie auf eine Piñata bei einer Geburtstagsfeier. Den gewünschten Effekt erzielte er damit nicht. Im Gegenteil, die Flammen schienen dadurch sogar noch wilder zu werden. „Pah!“, stieß Dr. Marcel abwertend aus. „Dieses Wort existiert nicht mal, Edna.“ „Was? Meinen Sie Meister?“ Edna stellte sich blöd und lächelte scheinheilig. „Owww, Sie haben wirklich noch nie etwas von einem Meister gehört? Dabei sind Sie doch der Meister unter den Lügnern, der sich gerne als hohe Persönlichkeit im Bereich der Psychologie ausgibt.“ Moment, hatte sie das ernsthaft gesagt? Harvey, der vor dem Doktor stets aus Nervosität zurückhaltend blieb, jubelte innerlich über ihre verbale Schneide gegen ihn. Dabei hatte Edna nur noch mehr Öl ins Feuer gegossen. Da hätte sie genauso gut vorhin doch einfach nur in Gelächter ausbrechen können. Wie befürchtet verdunkelte sich Dr. Marcels Stimme noch mehr. „Das reicht. Du kommst zurück in deine Zelle. Sofort.“ Oh nein, nicht schon wieder. Dort verbrachte sie schon mehr als genug Zeit. In diesem Raum würde sie früher oder später noch selbst verrückt werden, so wie die restlichen Irren in der Anstalt. Sie wollte nicht den Verstand verlieren. Ihr war sowieso kaum noch etwas geblieben … „Wollen Sie wieder mit meinen Erinnerungen herumspielen?“, zischte sie aufgebracht. „So läuft es doch jedes Mal ab, nicht wahr? Schon morgen werde ich mich an diesen Moment bestimmt nicht mehr erinnern. Genau wie ich mich an mein ganzes Leben kaum noch erinnern kann. Sie haben schon längst alles zerstört! Wie weit wollen Sie denn noch gehen?! Ich kann mich nicht mal mehr daran erinnern, wie Weihnachten mit meinem Vater gewesen war. Egal, wie angestrengt ich versuche, mir diese Tage in Erinnerung zu rufen, da ist nichts mehr!“ Inzwischen klang ihre Stimme ein bisschen weinerlich, wofür sie sich selbst hasste. Es war erniedrigend, vor Dr. Marcel derart offen Schwäche zu zeigen, aber sie konnte sich nicht mehr zurückhalten. Dafür war sie zu aufgewühlt. Wenigstens würde auch diese peinliche Szene dann aus ihrem Kopf extrahiert und terminiert werden. „Haben Sie eine Ahnung, wie es ist, alles zu verlieren?!“, fuhr Edna unbeirrt fort. „Muss lustig sein, am längeren Hebel zu sitzen und die Kontrolle zu haben. Sie sagen, ich hätte den anderen die Freude ruiniert? Etwa die weihnachtliche Stimmung? Wie soll bitte Stimmung aufkommen, wenn die eigenen Erinnerungen an diese schöne Zeit nicht mehr existieren?!“ „Beruhige dich!“, unterbrach Dr. Marcel sie. „Komm zu dir, Edna.“ Energisch klopfte sie sich mit der linken Hand gegen die Brust. „Ich bin doch schon bei mir! Meine Erinnerungen sind es aber nicht!“ Stöhnend rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger über die Nasenflügel. „Gott ...“ „Aber Doktor~“, schaltete Edna auf Anhieb um. „Edna reicht vollkommen.“ „Genug mit dem Unsinn jetzt.“ Er drehte sich zur Seite und richtete lautstark das Wort an seine Angestellten. „Stiesel! Steck diesen verdammten Golfschläger ein und bring diese Unruhestifterin in ihre Zelle!“ „Auf dass es mich erhelle~“, flötete Edna. „Ganz recht“, bestätigte er ihre Worte. „Wie schlecht.“ Hätte sie sich nicht diesen stumpfen Wortwitzen hingegeben, wäre sie vor ihm am Ende wirklich noch in Tränen ausgebrochen. Lieber machte sie sich zum Affen, als ihm diese Genugtuung zu geben. Wie zerbrochen ihre Erinnerungen auch sein mochten, zumindest einen klitzekleinen Rest Würde wollte sie sich bewahren. Gehetzt eilte Stiesel aus der Menge auf sie zu und griff nach Ednas Arm. Plötzlich geschah alles dann sehr schnell. Dr. Marcel wies den Neuen für seine Unbeholfenheit zurecht, scheuchte die Irren zur Seite und wies Hulgor an, den Feuerlöscher zu holen. Unruhig wuselten alle durcheinander und Stiesel führte Edna nur mit Mühe und Not irgendwie durch dieses Chaor zu einem der Ausgänge. Harvey schrie auf. Er wurde Edna regelrecht aus den Händen gerissen, als er zwischen den herumlaufenden Personen steckenblieb. Der Knall, als die Tür vor ihren Augen zufiel, hallte in ihren Ohren nach. Wie ein unheilvoller Fluch. Panisch rief Edna mehrmals nach ihrem Freund, doch Stiesel war so gestresst und frustriert, dass er ihr keinerlei Gehör schenkte. Erbarmungslos zerrte er sie weiter mit sich. Edna war nicht stark genug, sich zu befreien und zurück zu rennen, um Harvey zu holen. Sogar seine Schreie verstummten irgendwann. Jetzt hatte Edna endgültig alles verloren.   ***   Schluchzend hockte Edna in einer Ecke ihrer Gummizelle, mit angewinkelten Beinen. Wie erbärmlich sie sich vorkam. In knapp fünf Minuten hatte sie nicht nur vor Dr. Marcel die Fassung verloren, sondern auch noch Harvey. Ihren einzig wahren Freund. Die Einsamkeit umhüllte sie und erschwerte ihr das Atmen, als säße sie ihm Kokon einer Spinne fest und könnte nur noch auf ihr Ende warten. Warum war sie nur so schwach? Hätte sie die etlichen Stunden in der Gummizelle dazu genutzt, sich Muskeln anzutrainieren, hätte sie Harvey mit Sicherheit festhalten können – vielleicht wäre ihm dann aber der Kopf vom Körper gerissen worden, was kein sonderlich schöneres Schicksal abgab. Wie dem auch sei, sie konnte nichts mehr tun. Nicht lange, dann würde diese traurige Stille sie brechen. Dr. Marcel bekäme also seinen Willen. Noch während dieser Gedanke ihr einen Schauer über den Rücken jagte, hörte sie gedämpft Stimmen vor ihrer Zelle. Rasch rieb Edna sich die Augen mit dem Ärmel ihres Krankenhaushemds trocken und blickte misstrauisch Richtung Tür. Nur ein paar Sekunden später öffnete sie sich und der Doktor höchstpersönlich trat ein. Beide Hände waren hinter seinem Rücken verschränkt, die Pfeife steckte in seinem Mund. Na toll, als ob sie seine Visage heute nicht schon mehr als genug ertragen musste. Statt ihren Gedanken Luft zu machen, schwieg sie. Genau wie er. Stumm starrten sie sich gegenseitig an, lauernd. Etwas an Dr. Marcel hatte sich aber verändert. Seine finstere Mimik wirkte nur noch halb so furchterregend wie sonst. Sie konnte nicht genau bestimmen, was das für eine Emotion war, mit der er sie musterte. Ihre Erfahrung sagte ihr, dass es nur ein schlechtes Zeichen sein konnte. Als er auf einmal einen Schritt nach vorne machte, zuckte Edna kaum merklich zusammen. In ihrem Kopf schleuderte sie ihm hunderte üble Schimpfwörter und Beleidigungen entgegen, um sich nicht noch mehr einschüchtern zu lassen. Solange sie noch nicht vollständig gebrochen war, wollte sie kämpfen. Plötzlich tat Dr. Marcel etwas, womit sie niemals gerechnet hätte. Niemals. Hinter seinem Rücken holte er etwas Blaues hervor. Eine Farbe, so hell strahlend und heilsamer als jedes Wundermittel der Welt. Zumindest für Edna. Harvey. Sofort hielt Edna die Luft an. Vor ihrem geistigen Auge sprang sie bereits auf und stürmte auf den Doktor zu, mit dem Ziel, Harvey zurückzuerobern. So weit kam es aber nicht. Weiterhin schweigend legte er den Plüschhasen vorsichtig auf dem Tisch ab, der mitten in der Zelle stand, zusammen mit einem einzelnen Stuhl. Daraufhin wandte Dr. Marcel sich ab und ging zurück zur Tür. Passierte das wirklich? Befand Edna sich schon in einem Delirium, ohne es zu wissen? „Warum?“, brachte sie heiser hervor. Ratlosigkeit lag in ihrer Stimme. „Was haben Sie vor?“ Dr. Marcel hielt inne und blickte sie über seine Schulter hinweg an. Erst schien er nichts sagen zu wollen, was die gesamte Situation nur noch merkwürdiger und extrem unangenehm machte. Sollte sie sich selbst kneifen? Nur so könnte sie herausfinden, ob sie sich noch in der Realität befand. „Ich weiß, wie es ist“, erklärte Dr. Marcel dann, ungewohnt ruhig – seine Anspannung merkte man ihm dennoch an. „Darum gebe ich ihn dir zurück. Allerdings wird es nur bei diesem einem Mal bleiben, Edna. Und dieser Vorfall mit dem Weihnachtsbaum wird auch noch ein Nachspiel haben.“ Mit dieser Ankündigung lenkte er den Blick zurück nach vorne und verließ die Zelle, gefolgt von dem klackenden Geräusch, als die Tür von außen abgeschlossen wurde. Einen Moment lang war sie nicht dazu fähig sich zu bewegen, sondern saß einfach nur da und blinzelte erstaunt. War das eines dieser sagenumwobenen Weihnachtswunder, von denen man sich erzählte? Anders konnte sie sich diese nette Geste von einem sonst so unausstehlichen Widerling nicht erklären. „Er weiß, wie es ist?“, wiederholte sie nachdenklich. „Was meint der damit?“ „Edna!“, jammerte Harvey kläglich. „Hast du mich etwa schon vergessen?! Warum ignorierst du mich?!“ Entschuldigend stand sie auf. Beide Arme ausgestreckt ging sie zum Tisch und hob Harvey hoch, den sie anschließend erleichtert an sich drückte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte sie ihn in der Nähe des brennenden Baumes verloren. Zum Glück schien er aber unversehrt zu sein. Harvey sah das offenbar anders, denn er war nervös. „Schnell, du musst eine Not-OP durchführen!“ „Was? Eine Not-OP?!“ „Ja, das ist immerhin ein Notfall! Ich war in der Gewalt von Dr. Lügenbaron. Wer weiß, was er heimlich mit mir angestellt hat, nur um dir zu schaden?! Er … er könnte mir eine Bombe eingepflanzt haben! Oder noch schlimmer: Statt Frottee hat er mich mit echten Gänsefedern befüllt oder so. Kannst du dir das vorstellen? Hase mit Gänsefedern?! Wie barbarisch!“ Ohne Unterlass quasselte Harvey weiter, was Edna schmunzeln ließ. Dank ihm war diese erdrückende Einsamkeit schlagartig verflogen und die Stille konnte nur noch hilflos zusehen, wie sie von dem Plüschhasen in Grund und Boden geredet wurde. Auf keinen Fall durfte sie Harvey noch einmal verlieren. Alleine wäre sie sonst verloren … Gerade, als sie sich bei ihm entschuldigen wollte, stieß er einen schrillen Laut aus und fing an hysterisch zu lachen: „Ahahaha! Warte, vergiss die Not-OP! Dr. Kotzbrocken hat sich selbst eine Falle gestellt, dieser Idiot. Mit der Bombe in mir hast du die Notlösung! Wir können die gesamte Anstalt einfach in die Luft jagen! Bumm! Apokalypse! Puff! Und weg ist sie. Dann sind wir frei~.“ „Ach, Harvey“, ermahnte sie ihn. „Von uns wäre dann aber auch nichts mehr übrig.“ „Reizvoll ist es trotzdem, gib es zu!“ Lachend kletterte sie mit ihm auf den Tisch, wo sie es sich am liebsten gemütlich machte. Nur so hatte sie ein wenig das Gefühl, über allem zu schweben. Vor allem über ihren Sorgen. Wie es aussah, war Harvey kein bisschen enttäuscht oder gar böse. Vorwürfe machte er Edna auch nicht. Er war einfach nur für sie da, so wie immer. „Du hast recht. So eine apokalyptische Explosion klingt wirklich reizvoll~.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)